Mutters
Agenda
ersten Band
3. Juli 1957
Auszug aus der Mittwochsklasse
Ich wurde gefragt, ob wir ein kollektives Yoga ausüben und was die Bedingungen für ein kollektives Yoga sind.
Ich könnte euch zuerst sagen: um ein kollektives Yoga auszuüben, muß eine Kollektivität bestehen! Und ich könnte euch die verschiedenen Bedingungen erklären, die für ein Kollektiv erforderlich sind. Aber (lächelnd) letzte Nacht hatte ich eine symbolische Vision von unserem Kollektiv.
Diese Vision kam am Anfang der Nacht, und sie weckte mich mit einem ziemlich unangenehmen Eindruck auf. Dann schlief ich wieder ein und vergaß es. Als ich vorhin an die Frage dachte, die man mir gestellt hatte, kam die Vision wieder. Sie kam mit einer großen Intensität und so zwingend, daß jetzt, als ich euch gerade sagen wollte, welche Art von Kollektivität wir nach dem Ideal, das Sri Aurobindo uns im letzten Kapitel von Das Göttliche Leben gegeben hat, verwirklichen wollen – eine supramentale, gnostische Kollektivität, die allein das integrale Yoga von Sri Aurobindo ausführen kann und sich physisch in einem kollektiven, progressiven und mehr und mehr göttlichen Körper verwirklichen kann –, wurde die Erinnerung so zwingend, daß sie mich hinderte zu sprechen.
Ihr Symbol war sehr deutlich, wenn auch in einer völlig vertrauten Art, aber gerade diese Vertrautheit gab ihr einen Realismus, der keine Zweifel läßt... Wenn ich es euch im einzelnen erzählte, könntet ihr wahrscheinlich nicht einmal folgen: es war sehr kompliziert. Es war das Bild eines (wie soll ich sagen?) unermeßlich großen Hotels, in dem alle irdischen Möglichkeiten in verschieden Wohnungen untergebracht waren. Und all das befand sich in einem Zustand der dauernden Transformation: Teile oder ganze Flügel wurden plötzlich zerstört und wieder aufgebaut, während alle Leute darin wohnten, sodaß, selbst wenn man sich im Inneren dieses ungeheuren Hotels bewegte, man in Gefahr lief, sein Zimmer nicht wiederzufinden, wenn man zurückkehren wollte! Weil alles zerstört worden war und es gerade nach einem anderen Plan wieder aufgebaut wurde. Es gab eine Ordnung, es gab eine Organisation... und es herrschte dieses phantastische Chaos, das ich beschrieb. Und darin war ein Symbol. Es war ein Symbol, das sich gewiß auf das bezog, was Sri Aurobindo hier über die Notwendigkeit der Transformation des Körpers geschrieben hat 1, welche Art von Transformation stattfinden müßte, damit das Leben ein göttliches Leben sein könnte.
Es war ungefähr so: irgendwo in der Mitte dieses ungeheuren Gebäudes gab es ein Zimmer, das reserviert war – in der Geschichte schien es für die Mutter und ihre Tochter zu sein. Die Mutter war eine Dame, eine alte Dame, eine sehr wichtige Matrone, die große Autorität besaß und die ihre Ansichten über die gesamte Organisation hatte. Die Tochter hatte eine Kraft der Bewegung und Aktivität, durch die sie überall zugleich sein konnte, während sie dennoch in ihrem Zimmer blieb; nun, es war etwas mehr als ein Zimmer: eine Wohnung, die vor allem die Eigenschaft hatte, sehr zentral zu sein. Aber sie war in ständigem Wortwechsel mit ihrer Mutter. Die Mutter wollte alles erhalten "so wie es war", mit dem herkömmlichen Rhythmus, das heißt mit dieser Gewohnheit, das eine zu zerstören, um etwas anderes zu bauen und wieder eines zu zerstören und etwas anderes zu errichten; das gab diesem Gebäude einen Anschein von entsetzlichem Durcheinander. Doch der Tochter gefiel das nicht, und sie hatte einen anderen Plan. Sie wollte vor allem etwas ganz Neues in diese Organisation bringen: eine Art Super-Organisation, die die ganze Unordnung unnötig machte. Als es schließlich unmöglich wurde, sich zu einigen, verließ sie das Zimmer, um eine Generalbesichtigung zu machen... Sie machte ihre Besichtigung, sie sah das alles, dann wollte sie in ihr Zimmer zurückgehen, um die endgültigen Maßnahmen zu treffen. Und dann begann etwas... sehr Seltsames.
Sie erinnerte sich genau an den Ort, wo dieses Zimmer war, aber jedesmal, wenn sie einen Weg nahm, um dorthin zu gehen, verschwand die Treppe oder alles war so verändert, daß sie ihren Weg nicht finden konnte! Dann ging sie hierhin, ging dorthin, stieg hinauf, stieg hinab, suchte, ging weg, kam zurück... unmöglich, den Weg zu diesem Zimmer wiederzufinden. Weil all das eine physische Erscheinung annahm – wie ich sie beschrieb, sehr vertraut und sehr gewohnt, wie immer in diesen symbolischen Visionen –, gab es irgendwo eine (wie soll ich es nennen?) Verwaltung dieses Hotels und eine Art Verwalterin, die alle Schlüssel hatte und die wußte, wo alle wohnten. Die Tochter suchte diese Person auf, um sie zu fragen: "Können Sie mir den Weg zu meinem Zimmer zeigen?" – "Ja gewiß! Das ist sehr leicht." Alle um sie herum sahen sie an, als ob sie dächten: "Wie können Sie das sagen?" Aber sie stand auf und verlangte gebieterisch einen Schlüssel, den Schlüssel des Zimmers, und sie sagte: "Ich führe Sie dahin." Dann nahm sie viele verschiedene Wege, aber so komplizierte, so absonderliche! Und die andere, die Tochter, folgte ihr, sehr aufmerksam, um sie nicht aus aus den Augen zu verlieren. Und gerade im Augenblick, als sie offensichtlich den Ort erreichen mußten, wo dieses sogenannte Zimmer lag, war plötzlich die Verwalterin (nennen wir sie die Verwalterin), die mit dem Schlüssel... verschwunden! Und das Gefühl dieses Verschwindens war so durchdringend, daß... gleichzeitig alles verschwand.
Um euch zu helfen, dieses Rätsel zu verstehen, will ich euch sagen, daß die Mutter die gegenwärtige physische Natur darstellt, und die Tochter ist die neue Schöpfung. Die Verwalterin ist das organisierende mentale Bewußtsein der Welt, so wie die Natur es bisher handhabte, das heißt der am höchsten entwickelte organisatorische Sinn, der sich in der gegenwärtigen materiellen Natur manifestiert hat. Das ist der Schlüssel der Vision.
Als ich erwachte, wußte ich natürlich unmittelbar, was die Lösung dieses scheinbar völlig unlösbaren Problems wäre. Das Verschwinden der Verwalterin und ihres Schlüssels war ein offensichtliches Zeichen, daß sie ganz und gar unfähig war, das auf seinen wahren Platz zu bringen, was man als das schöpferische Bewußtsein der neuen Welt bezeichnen könnte.
Ich wußte es, aber ich hatte nicht die Vision der Lösung, das besagt, daß es etwas ist, was noch zu manifestieren bleibt: dieses "Etwas" war in diesem Gebäude (dieser phantastischen Konstruktion) noch nicht manifestiert, und dieses "Etwas" ist genau die Bewußtseinsform, die diese zusammenhangslose Schöpfung in etwas Wirkliches verwandeln würde, in etwas wahrhaft Geplantes, Gewolltes, Ausgeführtes, mit einem Mittelpunkt, der an seinem Platz ist, einem anerkannten Platz, mit einer REALEN wirksamen Kraft.
(Schweigen)
Es ist in seiner Symbolik vollkommen klar, in dem Sinne, daß alle Möglichkeiten vorhanden sind, alle Aktivitäten da sind, aber in einer Unordnung und Verwirrung. Sie sind nicht geordnet, nicht zentralisiert, nicht um die eine zentrale Wahrheit, das eine zentrale Bewußtsein und den einen zentralen Willen vereinigt. Und da kommen wir zurück auf... genau diese Frage eines kollektiven Yogas und des Kollektivs, das fähig wäre, es zu verwirklichen. Und wie sollte dieses Kollektiv aussehen?
Es ist gewiß keine willkürliche Konstruktion, wie die Menschen sie bauen und alles durcheinanderwerfen, ohne Ordnung, ohne Realität, und wo all das nur durch illusorische Bindungen zusammengehalten wird, die hier durch die Mauern des Hotels symbolisiert waren und die in den gewöhnlichen menschlichen Konstruktionen (wenn man zum Beispiel eine religiöse Gemeinschaft nimmt) tatsächlich durch den Bau von Klöstern, einheitliche Kleidung, eine einheitliche Tätigkeit und sogar einheitliche Bewegungen dargestellt werden: alle tragen die gleiche Uniform, alle stehen zur gleichen Zeit auf, alle essen das Gleiche, alle beten zusammen usw., es besteht allgemeine Gleichheit. Und innen herrscht natürlich das Chaos der Bewußtseinsarten, die jede in ihre eigene Richtung laufen, denn diese Art Einheit, die bis zur Einheit des Glaubens und des Dogmas reicht, ist eine ganz und gar illusorische Einheit.
Das ist der gängigste Typ von menschlichem Kollektiv: eine Gruppe bilden, sich durch ein gemeinsames Ideal, durch eine gemeinsame Handlung, durch eine gemeinsame Verwirklichung verbinden und vereinigen, jedoch in einer völlig künstlichen Weise. Im Gegensatz dazu sagte uns Sri Aurobindo, daß eine wahre Gemeinschaft – was er eine gnostische oder supramentale Gemeinschaft nennt – nur auf der inneren Verwirklichung jedes ihrer Mitglieder aufbauen kann, indem jeder seine konkrete, reale Einheit und Identität mit allen anderen Mitgliedern der Gemeinschaft verwirklicht, das heißt der Einzelne darf sich nicht als irgendwie mit allen anderen vereinigt fühlen, sondern wie alle in einem, in ihm selbst. Für jeden müssen die anderen ebenso er selbst wie sein eigener Körper sein, und nicht in einer mentalen und künstlichen Weise, sondern durch eine Tatsache des Bewußtseins, durch eine innere Realisation.
(Schweigen)
Das bedeutet, bevor man hoffen kann, diese gnostische Gemeinschaft zu verwirklichen, muß jeder einzelne vorher ein gnostisches Wesen werden (oder zumindest anfangen, es zu werden). Es ist offensichtlich, daß die individuelle Arbeit vorangehen und die kollektive Arbeit folgen muß; aber es zeigt sich, daß spontan, ohne willkürliches Eingreifen des Willens, der individuelle Weg durch den kollektiven Zustand beeinflußt oder GEHEMMT wird. Es besteht eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem Kollektiv und dem Individuum, von der man sich nicht ganz befreien kann, selbst wenn man es versucht. Und selbst der, welcher sich in seinem Yoga völlig vom Zustand des irdischen und menschlichen Bewußtseins zu befreien versuchte, wäre wenigstens in seinem Unterbewußtsein an den Zustand der Gesamtheit gebunden, der hemmt und nach hinten ZIEHT. Man kann versuchen, viel schneller zu gehen, man kann versuchen, das ganze Gewicht der Bindungen und Verantwortungen fallen zu lassen, aber trotz allem: selbst für den Fortgeschrittensten und Schnellsten auf dem Wege der Evolution ist die Verwirklichung abhängig von der Verwirklichung der Gesamtheit, abhängig vom Zustand, in dem sich das irdische Kollektiv befindet. Und das ZIEHT so stark zurück, daß es manchmal nötig ist, Jahrhunderte zu warten, damit die Erde bereit ist, das zu verwirklichen, was verwirklicht werden muß.
Darum sagte Sri Aurobindo an anderer Stelle auch, daß eine doppelte Bewegung erforderlich ist, daß die Anstrengung für den individuellen Fortschritt und für die individuelle Verwirklichung sich vereinigen muß mit einer Bemühung, die Gesamtheit zu heben und ihren Fortschritt herbeizuführen, der unerläßlich ist, um den weiteren Fortschritt des Individuums zu erlauben: ein Fortschritt der Masse, könnte man sagen, der dem Individuum gestattet, einen weiteren Schritt nach vorne zu tun.
Und jetzt werde ich euch sagen, daß ich aus diesem Grunde dachte, einige gemeinsame Meditationen wären nützlich, um an einer etwas besser organisierten gemeinschaftlichen Atmosphäre zu arbeiten... besser als mein großes Hotel letzte Nacht!
So ist der beste Gebrauch, der von diesen Meditationen gemacht werden kann (sie werden zunehmen, weil wir jetzt auch die "Verteilungen" durch kurze Meditationen ersetzen werden), im Grunde von sich selbst, so tief man gehen kann, den Ort zu finden, wo man eine Atmosphäre der Einheit fühlen, empfangen und vielleicht sogar schaffen kann, in welcher eine Kraft der Ordnung und der Organisation jedes Element an seinen Platz stellen kann und aus dem Chaos, das zur Zeit besteht, eine geordnete neue Welt entstehen läßt.
Jetzt wißt ihr es.
1 The Supramental Manifestation, S. 69 bis 75.