Mutters
Agenda
zweiten Band
Aphorismus 66 – Sünde ist das, was früher einmal seinen Platz hatte, aber jetzt fortbestehend nicht mehr an seinem Platz ist. Es gibt keine andere Sünde.
Ich fühle keine Inspiration.
Hast du eine Frage?
Es heißt dort, Sünde sei das, was nicht mehr an seinem Platz ist. Aber hatte zum Beispiel die Grausamkeit je "ihren Platz"?
Genau, was ich mich gerade fragte – ich empfange immer alle Fragen der Leute.
Sofort ergibt sich die Frage: wenn jemand zum Beispiel aus Grausamkeit tötet oder Leid zufügt, war das je an seinem Platz?... Trotzdem ist es ein Ausdruck des Göttlichen (wir kehren immer zu diesem Punkt zurück), aber in seiner Erscheinung entstellt.
Kannst du mir vorlesen, was danach kommt?
Sri Aurobindo sagte stets, die Grausamkeit wäre eines der Dinge, die ihm am meisten zuwider waren, aber er sagt, es ist die Entstellung einer Intensität, man könnte fast sagen, die Entstellung einer Intensität der Liebe: etwas, das sich nicht mit Mittelmäßigem zufrieden gibt, sondern Extreme sucht – das ist gerechtfertigt. Nur führt es dann zu einer Entstellung: das Bedürfnis nach äußerst starken Empfindungen.
Mir war immer klar, das die Grausamkeit, wie der Sadismus, das Bedürfnis nach extrem gewalttätigen Empfindungen ist, um eine dicke Schicht von Tamas 1 zu durchdringen, die nichts fühlt – es erfordert das Extreme, um vom Tamas verspürt zu werden. Mir wurde zum Beispiel immer gesagt (besonders in Japan), daß die Leute des Fernen Ostens physisch sehr tamasisch sind. Insbesondere die Chinesen sind eine Rasse, der man nachsagt, sie würde vom Mond stammen, das heißt, sie wären die Nachkommen der Mondbewohner, die sich auf die Erde flüchteten, bevor der Mond erkaltete (deshalb haben sie so runde Gesichter[!] und solche Augen)... (lachend) So geht jedenfalls die Geschichte! Und sie sind äußerst tamasisch: ihr Empfindungsvermögen fehlt beinahe gänzlich, und sie brauchen fürchterliche Dinge, damit sie es fühlen! Weil das bei ihnen so ist, wenden sie das natürlich auch auf alle anderen an, und deshalb haben sie diese unvorstellbare Grausamkeit. Nicht alle, aber das ist zumindest ihr Ruf! Kennst du das Buch von Mirbeau (ich glaube, so heißt er)? Ich las das vor sechzig Jahren: etwas über die chinesischen Foltermethoden.
Ja, es ist berühmt.
Es ist bekannt.
Aber die Chinesen haben auch große Künstler.
Das stimmt. Ich las dieses Buch, es ist sehr gut geschrieben. Und dabei verstand ich, warum das so ist. Als ich nach Japan kam, wurde das auch bestätigt: viele Japaner haben ebenfalls ein sehr gedämpftes Empfindungsvermögen ("gedämpft" heißt, daß es sehr gewaltsame Empfindungen erfordert, damit sie etwas fühlen). Vielleicht liegt die Erklärung in dieser Richtung?
Am Ursprung bleibt aber stets das Problem, das noch nie gelöst wurde: "Warum ist es so geworden? Warum diese Entstellung? Warum ist all das entstellt worden?..." Dahinter liegen sehr schöne Dinge, sehr intensive, unendlich mächtiger, als wir überhaupt ertragen können – wunderbare Dinge. Aber warum ist all das so... schrecklich geworden? Das ist der Punkt – ich hatte gesagt, ich fühle keine Inspiration, weil sich sofort dieses Problem stellt.
Das ist...
Der Begriff der Sünde ist etwas, das ich nicht verstehe und nie verstehen konnte. Die Ursünde erschien mir immer als eine der monströsesten Ideen, die die Menschen je ersinnen konnten. Die Sünde und ich passen nicht zusammen! Deshalb stimme ich Sri Aurobindo natürlich voll bei, daß es keine Sünde gibt – das ist selbstverständlich, aber...
Manche Dinge kann man als "Sünde" bezeichnen, wenn man will, wie zum Beispiel die Grausamkeit, und dafür sehe ich nur folgende Erklärung: es ist eine Entstellung des Empfindungsvermögens oder des Bedürfnisses äußerst intensiver Empfindungen. Ich habe bemerkt, daß grausame Menschen in diesen Augenblicken ein Ananda erleben: sie verspüren eine intensive Freude. Für sie ist das die Rechtfertigung. Nur ist dies eine solche Entstellung, daß es widerwärtig ist.
Aber die Idee, daß die Dinge nicht an ihrem Platz sind, begriff ich schon von klein auf. Die Erklärung dafür bekam ich dann bei Théon, denn in seinem kosmologischen System erklärte er die aufeinanderfolgenden Pralayas 2 der verschiedenen Universen damit, daß sich mit jedem Universum ein bestimmter Aspekt des Höchsten manifestiere. Jedes Universum würde auf einem bestimmten Aspekt des Höchsten beruhen, und jedes würde schließlich wieder in den Höchsten zurückgegeben. (Er gab die verschiedenen Aspekte an, die sich der Reihe nach manifestiert hatten, und die Logik ihrer Reihenfolge war bemerkenswert! Irgendwo habe ich das notiert, aber jetzt weiß ich es nicht mehr.) Ich erinnere mich nicht genau, das wievielte es jetzt ist, aber diesmal wäre es dasjenige Universum, das nicht mehr zurückgezogen würde und einen nahezu endlosen Werdensfortgang verfolgen könnte. Dieses Universum stand unter dem Zeichen des Gleichgewichts – kein statisches sondern ein fortschreitendes Gleichgewicht. 3 Gleichgewicht bedeutet (so erklärte er), daß jedes Ding an seinem Platz ist: jede Schwingung, jede Bewegung hat ihren Platz. Und weiter unten hat jede Form, jede Tätigkeit, jedes Element einen genauen Platz in Beziehung zum Ganzen.
Das fand ich sehr interessant, weil Sri Aurobindo genau dasselbe sagt: Es gibt nichts eigentlich Schlechtes, sondern die Dinge sind einfach nicht an ihrem Platz – nicht nur bezüglich des Raumes, sondern auch in der Zeit –, an ihrem universellen Platz, ihrem Platz im Universum, angefangen bei den Welten, den Sternen usw.: jedes Ding genau an seinem Platz. Wenn jedes Ding, vom unermeßlichsten bis zum mikroskopischsten, dann genau an seinem Platz ist, wird das Ganze in FORTSCHREITENDER Weise den Höchsten ausdrücken, ohne zurückgezogen werden zu müssen, um erneut hervorgebracht zu werden. Hierauf begründete Sri Aurobindo auch die Tatsache, daß in dieser Schöpfung, im gegenwärtigen Universum, die Vollkommenheit einer göttlichen Welt manifestiert werden kann – was er das Supramental nannte.
Das wesentliche Gesetz dieser Schöpfung ist das Gleichgewicht, und dies ermöglicht die Verwirklichung einer Vollkommenheit in der Manifestation.
Im Zusammenhang mit diesem Gedanken der Dinge, die "an ihrem Platz" sind, kam mir eine andere Frage: Welche Dinge wird die supramentale Kraft bei ihrer Herabkunft als erstes aus dem Weg räumen wollen?
Was sie als erstes aus dem Weg räumt?
Ja, sowohl individuell als auch kosmisch – damit alles an seinem Platz ist.
Wird sie irgend etwas "aus dem Weg räumen"?... Wenn wir Sri Aurobindos Gedanken annehmen, wird sie die Dinge einfach an ihren Platz stellen, mehr nicht.
Eines wird notgedrungen aufhören, und zwar die Entstellung, das heißt der Schleier von Lüge über der Wahrheit, denn das ist verantwortlich für alles, was wir hier sehen und was hier existiert. Wenn man diesen Schleier entfernt, werden die Dinge automatisch völlig anders sein: sie werden so sein, wie wir sie empfinden, wenn wir aus diesem entstellten Bewußtsein herauskommen. Wenn man dieses Bewußtsein verläßt und in das Wahrheitsbewußtsein eintritt, wundert man sich sogar, daß es Dinge wie Leiden, Elend und Tod überhaupt geben kann. Man ist erstaunt, spürt, daß... man begreift nicht, wie das vorkommen kann (wenn man wirklich die andere Seite erreicht hat). Während dieser Bewußtseinszustand gewöhnlich mit der Erfahrung der Unwirklichkeit der Welt, wie wir sie kennen, verbunden ist, sagt Sri Aurobindo, daß für das supramentale Bewußtsein die Wahrnehmung der Unwirklichkeit der Welt nicht erforderlich ist: es ist nur die Unwirklichkeit der Lüge und nicht die der Welt. Das ist äußerst interessant. Es bedeutet, daß die Welt eine UNABHÄNGIGE Wirklichkeit hat, unabhängig von der Lüge.
Ich vermute, dies wird die erste Auswirkung des Supramentals sein – vielleicht auch die erste Auswirkung im Individuum, denn dort wirkt es zuerst.
Dieser Bewußtseinszustand 4 muß wahrscheinlich zu einem dauernden Zustand werden, doch dann stellt sich ein Problem: wie kann man eine Verbindung mit der gegenwärtigen entstellten Welt bewahren? Denn eines habe ich bemerkt: Wenn dieser Zustand in mir sehr stark ist – so stark, daß er allem, was ihn von außen bombardiert, widersteht –, dann verstehen die Leute KEIN WORT von dem, was ich sage! Folglich scheint das eine wirksame Verbindung zu unterbrechen.
Wie würde eine kleine supramentale Schöpfung als Handlungszentrum, das auf die Erde ausstrahlt, aussehen? (Um nur die Erde als Beispiel zu nehmen.) Wäre das möglich?... Ein Zentrum einer übermenschlichen Schöpfung ist durchaus vorstellbar – übermenschlich, das heißt Individuen, die Menschen waren und denen es durch die Evolution und Transformation (im eigentlichen Sinn des Wortes) gelang, die supramentalen Kräfte zu manifestieren. Ihr Ursprung bleibt aber menschlich, und deshalb besteht notgedrungen eine Verbindung: selbst wenn alles transformiert ist, selbst wenn die Organe in Kraftzentren transformiert wurden, bleibt trotzdem ein menschlicher Rest, wie eine Färbung. Diese Übergangswesen, sagen die Überlieferungen, werden das Geheimnis der direkten supramentalen Schöpfung entdecken, das heißt, ohne den Vorgang der gewöhnlichen Natur benutzen zu müssen. Und durch sie werden die wirklichen supramentalen Wesen geboren werden, die notwendigerweise in einer supramentalen Welt leben müssen. Aber wie wird die Verbindung zwischen diesen Wesen und der gewöhnlichen Welt möglich sein? Wie kann man sich eine ausreichende Transformation der Natur vorstellen, damit diese supramentale Schöpfung der Erde stattfinden kann? – Ich weiß es nicht.
Natürlich wissen wir, daß es eine beträchtliche Zeit erfordern wird, damit etwas derartiges geschehen kann, und wahrscheinlich wird es Zwischenstufen, Grade geben, neue Fähigkeiten werden auftreten, die wir gegenwärtig nicht kennen oder uns nicht vorstellen können und die die Verhältnisse der Erde verändern werden. All das liegt mehrere Jahrtausende in der Zukunft.
Die Frage bleibt: Ist es möglich, sich dieses Raumbegriffs zu bedienen – ich meine den Raum auf der Erdkugel? 5 Kann es einen Ort geben, wo der Embryo oder der Keim der zukünftigen supramentalen Welt geschaffen werden kann?
Was ich gesehen hatte... Der Plan war in allen Einzelheiten erschienen, aber es ist ein Plan, der in seinem Geist und Bewußtsein überhaupt nicht dem entspricht, was gegenwärtig auf der Erde möglich ist (in seiner materiellen Manifestation basierte er jedoch auf den bestehenden irdischen Bedingungen). Es ist die Idee einer idealen Stadt, die der Kern eines kleinen idealen Landes wäre, das nur rein oberflächliche und äußerst belanglose Kontakte mit der alten Welt hätte. Das würde bereits eine ausreichende Macht voraussetzen (was nicht unmöglich ist), um einerseits einen Schutz gegen Aggressionen und Böswilligkeiten zu gewähren (das wäre der leichtere Teil) und andererseits gegen Infiltration und Vermischung... Aber das wäre letztendlich vorstellbar. Vom sozialen, organisatorischen Standpunkt und aus Sicht des inneren Lebens sind dies keine schwierigen Probleme. Die Schwierigkeit liegt in den Beziehungen zu dem, was nicht supramentalisiert ist, um das Eindringen, die Vermischung zu verhindern, das heißt verhindern, daß dieser Kern in eine niedrigere Schöpfung zurückfällt – es ist ja eine Übergangszeit.
(Schweigen)
All jene, die über dieses Problem nachdachten, stellten sich immer einen abgelegenen, der restlichen Menschheit unbekannten Ort vor, wie eine Schlucht im Himalaja. Aber das ist keine Lösung. Das ist überhaupt keine Lösung.
Nein, die einzige Lösung ist die okkulte Macht. Aber das... Das bedeutet, daß eine bestimmte Anzahl Individuen bereits eine sehr große Perfektion der Verwirklichung erreicht hat, bevor irgend etwas getan werden kann... Wenn das machbar ist, wäre jedenfalls ein von der Außenwelt abgegrenzter Ort vorstellbar (ohne Verbindungen), wo alles genau an seinem Platz wäre – als Beispiel oder Vorläufer. Jedes Ding, jede Person, jede Bewegung ist genau am richtigen Platz, und zwar in einer aufsteigenden, fortschreitenden Bewegung ohne Rückfall (also genau das Gegenteil von dem, was im gewöhnlichen Leben geschieht). Das bedeutet natürlich eine Art Vollkommenheit und auch eine bestimmte Einheit. Es bedeutet, daß die verschiedenen Aspekte des Höchsten manifestiert werden können. Notwendigerweise würde eine außergewöhnliche Schönheit und vollkommene Harmonie herrschen. Und es gäbe eine ausreichende Macht, um die Naturkräfte fügsam zu halten: wäre dieser Ort zum Beispiel von zerstörerischen Kräften umgeben, so wäre der Schutz ausreichend, daß diese Kräfte keine Wirkung hätten.
All das erfordert eine sehr hochgradige Perfektion der Individuen, die etwas derartiges organisieren wollen.
(Schweigen)
Etwas ähnliches muß beim Erscheinen der ersten Menschen stattgefunden haben.
Weiß man eigentlich, wie die ersten Menschen entstanden, die erste mentale Verwirklichung? Weiß man, ob es einzelne Individuen waren oder Gruppen? Geschah es inmitten von anderen oder in der Abgeschiedenheit? – Ich weiß es nicht. Es könnte Entsprechungen mit der zukünftigen Schöpfung geben.
Es ist nicht schwer, sich in der Einsamkeit des Himalajas oder eines Urwaldes ein Individuum vorzustellen, das allmählich seine kleine supramentale Welt um sich herum gestaltet. Doch die Voraussetzung wäre dieselbe: dieses Individuum müßte eine solche Vollkommenheit erreicht haben, daß seine Macht automatisch jedes Eindringen von außen verhindert.
Weil es notgedrungen Angriffen von außen ausgeliefert wäre?
Es müßte automatisch beschützt sein, das heißt jedes fremde oder entgegengesetzte Element müßte ferngehalten werden.
Es werden ja solche Geschichten berichtet, von Menschen, die in einer idealen Einsamkeit leben. Das ist durchaus vorstellbar. Wenn man in Verbindung mit dieser Macht steht, sieht man deutlich, daß es ein Kinderspiel ist, sobald sie in euch ist! Es gäbe sogar die Möglichkeit, eine Ansteckung auf die umgebenden Schwingungen und Formen auszuüben, daß sie automatisch allmählich supramentalisiert würden. All das ist möglich – es liegt jedoch auf der Ebene des Individuums. Nehmen wir hingegen das Beispiel dessen, was hier stattfindet: das Individuum bleibt mitten in all diesem Chaos – dort liegt die Schwierigkeit!... Bedeutet diese Tatsache nicht die Unmöglichkeit, eine bestimmte Vollkommenheit der Verwirklichung zu erreichen? Aber auch der andere Fall, der Einzelgänger im Urwald, ist stets dasselbe: ein Beispiel, das aber keineswegs beweist, daß der Rest folgen kann. Dahingegen würde das, was hier geschieht, bereits eine sehr viel weitreichendere Wirkung bedeuten. Irgendwann MUSS es geschehen – es muß geschehen. Die offene Frage bleibt: kann es gleichzeitig mit oder vor der Transformation des Individuums verwirklicht werden?
(Schweigen)
Die Verwirklichung unter diesen Bedingungen der Gemeinschaft oder Gruppe ist offensichtlich sehr viel vollständiger, umfassender und wahrscheinlich vollkommener als jede individuelle Verwirklichung, die auf der äußeren, materiellen Ebene immer, NOTGEDRUNGEN eng begrenzt ist, weil es sich nur um eine Seinsart, eine Manifestation handelt: nur ein mikroskopisches Schwingungsfeld wird berührt.
Vom Standpunkt der Leichtigkeit der Arbeit gibt es aber wohl keinen Vergleich!
(Schweigen)
Dann bleibt dieses Problem. Alle die Leute wie Buddha und die anderen erreichten ZUERST ihre Verwirklichung und traten danach wieder in Verbindung mit der Welt. So ist es sehr einfach. Aber für das, was ich beabsichtige, ist es vielleicht eine unerläßliche Voraussetzung, innerhalb der Welt zu bleiben, damit die Verwirklichung vollständig sein kann.
Das...
(Mutter bleibt lange in sich gekehrt und blickt in die Ferne)
Die ganze Zeit sehe ich Bilder! Keine Bilder, sondern lebendige Dinge, als Antworten auf Fragen. Gerade formte sich ein prächtiger Pfau (der Pfau ist das Symbol des Sieges). Er breitete seine Schwanzfedern aus, und darauf erschien eine Konstruktion, wie die eines idealen Ortes... Schade, daß man diese Welt nicht fotografieren kann! Wir brauchten genügend empfindliche Filme – Leute haben es versucht. Das wäre höchst interessant, denn es bewegt sich wie im Kino: das sind keine festgehefteten Dinge, es bewegt sich.
Was war jetzt deine Frage?
Ich glaube, du hast sie beantwortet!
Ich erinnere mich nicht mehr, ich war anderswo – unterwegs.
Ich fragte dich: Welche Arbeit wird deine Kraft oder die supramentale Kraft jetzt als erstes anfangen?
Ach ja.
Sie wird die Dinge an ihren Platz stellen?
Das weiß ich aus eigener Erfahrung, und je mehr diese Kraft sich bündelt, um so mehr geschehen die Dinge genau im Augenblick, wo sie geschehen sollen: die Leute kommen genau, wenn sie sollen, oder tun genau das, was sie sollen. Die Gegenstände um mich herum ordnen sich, als ob... völlig natürlich, genau an ihrem Platz. Und das reicht bis in die GERINGSTEN Einzelheiten. Gleichzeitig bringt das ein solches Gefühl der Harmonie, der Eurhythmie, der Freude – eine sehr lächelnde Freude in der Anordnung der Dinge, als würde alles freudig an dieser Neuorganisation teilnehmen. Man will zum Beispiel jemandem etwas sagen: die Person kommt. Man braucht jenen anderen für eine Arbeit: er erscheint. Man will etwas organisieren: alle für die Organisation notwendigen Elemente finden sich zusammen. All das in einer Art Harmonie, die wunderbar ist, ohne eine Wunder zu sein! (Im wesentlichen ist es wirklich ganz einfach die innere Kraft, die auf ein Minimum von Hindernissen trifft, und deshalb passen sich die Dinge ihrer Wirkung an.) Das passierte mir sehr, sehr oft, und manchmal bleibt es stundenlang.
Es ist aber sehr empfindlich, wie ein äußerst empfindliches Räderwerk: die geringste Kleinigkeit kann alles aus dem Gleichgewicht bringen. Hat zum Beispiel jemand eine schlechte Reaktion oder einen falschen Gedanken oder eine Vibration der Aufregung, der Beunruhigung oder ähnliches, so löst sich die ganze Harmonie auf. Für mich drückt sich das sofort durch ein körperliches Unbehagen aus, und zwar von einer ganz besonderen Art. Damit kommt die Störung: man fällt wieder in das Gewöhnliche. Da muß ich sozusagen die Gegenwart des Herrn wiederherstellen und sie überall durchsetzen – manchmal gelingt das schnell, manchmal dauert es lange. Bei einigen etwas radikaleren Störungen dauert es länger.
Dieses Auge [eine Hämorrhagie] ist zum Beispiel das Ergebnis einer solchen Störung einer sehr dunklen Kraft, die jemand hereinließ – nicht absichtlich oder wissentlich, sondern aus Schwäche und Unwissenheit, die natürlich immer mit Begierde, Ego und all dem vermischt sind (ohne Begierde und Ego hätten diese Kräfte keinen Halt, aber das ist ja ein sehr verbreiteter Zustand). Jedenfalls war das sehr deutlich die Ursache, ich merkte es sofort. Manchmal kommt es so (Mutter legt die Hand an ihren Hals), wie ein schwarzer Schatten, der einen erwürgt. Innerlich ist man nicht einmal berührt! Wenn ich nicht auf die rein äußerliche Reaktion achtete, würde ich nicht einmal merken, daß etwas passiert ist (dies ist das Große Spiel). Aber die äußeren Zeichen sind augenblicklich: eine halbe Stunde später hatte ich diese Hämorrhagie im Auge. Ich wußte, daß dies der Grund war, denn ich kämpfte gegen eine höchst unliebsame Störung. Oberflächlich betrachtet war die Ursache... unbedeutend. Die Ereignisse, die man für schwerwiegend oder wichtig hält, sind nicht immer diejenigen, die die schlimmsten Folgen haben – im Gegenteil: manchmal ist es eine VÖLLIG UNBEDEUTENDE Störung der Lüge aus völlig unbedeutenden Gründen – was man allgemein als Dummheit bezeichnet. Aber das kommt daher, daß die gegnerischen Kräfte stets auf der Lauer sind, um bei der geringsten Bresche hervorzustürzen.
Das Unverständnis des Zweifelns (ein Zweifel, der stets von einer egoistischen Bewegung rührt) ist zum Beispiel sehr gefährlich. Sehr gefährlich. Man braucht nicht einmal im psychischen Bewußtsein zu sein, schon in einem erleuchteten vitalen Bewußtsein kann es euch nichts mehr anhaben – nur HIER, in diesem materiellen Gewimmel.
Ich sehe nicht, wie diese ganze Arbeit in der Einsamkeit des Urwaldes oder des Himalajas getan werden kann. Man läuft sehr leicht in Gefahr, in dieses sehr unpersönliche universelle Bewußtsein einzutreten, wo die Dinge alle relativ leicht sind – die materiellen Konsequenzen liegen so fern, weit unten! Sie haben keine große Bedeutung mehr. Man kann aber nur direkt handeln, wenn man DARIN lebt.
Zur Zeit wird mir jedenfalls keine Wahl gelassen – und ich versuche nicht, zu wählen: Die Dinge sind, was sie sind, wie sie sind. Und so, wie sie sind, muß die Arbeit getan werden. Die Art, wie die Arbeit zu tun ist, hängt vom Zustand der Dinge ab.
Aber es ist so schön, wenn diese Harmonie kommt! Verstehst du, man stellt etwas zusammen, ordnet Papiere, räumt eine Schublade auf, und alles singt, ist schön, freudig, leuchtend... es ist so charmant! Alles, alles ist so. Das bemerke ich: alle materiellen Dinge, alle Tätigkeiten – zu essen, baden, alles –, alles ist in diesem Zustand charmant. Das ist so harmonisch! Es gibt keine Reibung. Man sieht... Eine freudige, leuchtende Gnade manifestiert sich in allen, ALLEN Dingen, sogar in denen, die wir gewöhnlich für völlig bedeutungslos halten. Wenn sie sich aber zurückzieht, wird mit DENSELBEN Bedingungen, DENSELBEN Dingen, DENSELBEN Umständen alles mühselig, ärgerlich, langwierig, schwierig, anstrengend, uff!... Es ist so und so (Mutter dreht ihre Hand zur einen, dann zur anderen Seite, wie auf einem schmalen Grat), so oder so.
Das gibt einem das deutliche Gefühl, daß nicht die Dinge an sich zählen. Was wir "an sich" nennen, stimmt nicht! Das stimmt nicht, sondern es ist die Beziehung des Bewußtseins zu diesen Dingen. Das ist von großer Macht, denn im einen Fall berührt man etwas, und es zerbricht oder kommt zumindest falsch zu liegen, und im anderen ist es so schön: es ordnet sich! Sogar die schwierigsten Bewegungen gelingen mühelos. Das bedeutet eine unglaubliche Macht! Und nur weil sie keine großartigen Auswirkungen zeigt, schreiben wir ihr keine Bedeutung zu – sie hat keine großartigen Auswirkungen. Es gibt gewiß begnadete Zustände, wenn man vor einer großen Schwierigkeit steht und plötzlich alle Macht besitzt, um damit fertig zu werden – das ja, das ist selbstverständlich. Aber dies hier ist nicht so, sondern es wirkt im alltäglichen Leben.
Neulich erlebte ich ein Beispiel davon: jemand schrieb mir einen Brief in einer abscheulichen Verfassung, und es war mir unmöglich zu antworten, ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich richtete einfach die Kraft darauf und blieb so (Geste der Hingabe an das Licht). Ich sagte: "Wir werden sehen." – Ich wußte, daß ich diese Person einige Stunden später treffen würde, und ich wußte nicht einmal, ob ich den Brief erwähnen sollte, das heißt ich wußte nicht, ob das, was ich ihr sagen würde, davon beeinflußt sein würde. Ich wußte also wirklich nichts. Dann begegnete ich der Person: am selben Morgen war ein unbedeutender Umstand eingetreten... der alles veränderte! So wußte ich sofort, was ich sagen und tun mußte, und alles richtete sich.
So geschieht es. Das ist nur EIN Beispiel. Ich erwähne es, weil es vorgestern war, aber das passiert ständig.
Deshalb habe ich mir angewöhnt, mich immer so zu verhalten (selbe Geste der Hingabe). Wenn sich ein Problem stellt, verhalte ich mich so, gebe es dem Herrn hin und lasse es. In dem Augenblick, wo die Lösung kommen soll, kommt sie – kommt in Tatsachen, in Taten, in Bewegungen.
Allerdings werde ich erst dann zufrieden sein (kann man je zufrieden sein?), jedenfalls werde ich erst dann anfangen zufrieden zu sein, wenn dies ein beständiger und vollständiger Zustand wird, das heißt unter allen Umständen und in allen Augenblicken, Tag und Nacht. Ist das möglich... bei dieser FLUT von Dingen, die mich ständig von außen befallen! Als ich heute morgen auf und ab ging, war ich... wie ein Beobachter: was da nicht alles für Dinge kamen! Eines nach dem anderen kam von außen, eine solche Mischung! Von allen Seiten, von allen Leuten, von allem. Und nicht nur von hier, sondern von weit, weit weg auf der Erde und manchmal von fernen Zeiten, aus der Vergangenheit: vergangene Dinge, die sich präsentieren, um eingeordnet zu werden, um im neuen Licht gesehen und an ihren Platz gestellt zu werden. Es ist immer dies: jedes Ding möchte an seinen Platz gestellt werden. Das ist eine ständige Arbeit... Es ist, als bekäme man ständig neue Krankheiten, die es zu heilen gilt.
Jedesmal muß eine neue Störung geordnet werden.
Im Grunde sind wir sehr faul.
Ja, zu meinem großen Trost sah ich, daß Sri Aurobindo schrieb, er wäre sehr faul! – Wir sind sehr faul. Wir würden uns gerne (lachend) in Wonne der Früchte unserer Anstrengungen erfreuen!
Jetzt ist es Zeit, mein Kind.
1 Tamas: das Prinzip der Trägheit und Dunkelheit.
2 Pralaya: die Zerstörung eines Universums oder das Ende eines Zyklus. In der hinduistischen Kosmologie beginnt jedes Universum mit einem "Zeitalter der Wahrheit" (Satya-Yuga), das allmählich zerfällt – wie die Sterne –, bis keine Wahrheit mehr bleibt und das "schwarze Zeitalter" einsetzt (Kali-Yuga), wie das unsrige, das mit einem Weltuntergang endet. Daraus entsteht dann ein neues Universum, und der Zyklus wiederholt sich. Dies würde einer modernen Entstehungstheorie entsprechen, die besagt, daß das Universum aus einem Urknall des "Ur-Eies" entstand. Anfangs streben die Galaxien auseinander, dann werden sie immer langsamer und fallen schließlich wieder zusammen, bis zur nächsten Explosion. Eine scheinbar endlose und ziellose Folge kosmischer Geburten – ähnlich unseren eigenen menschlichen Geburten –, die sich entwickeln, einen "Gipfel" erreichen, und dann wieder zusammenbrechen, um stets von neuem anzufangen. Laut Théon wäre unser gegenwärtiges Universum das siebente – doch wo ist der "Anfang"?
3 Die heutige Astronomie kennt zwei Theorien: die der endlosen Zyklen von Explosion-Ausdehnung-Zusammenfall und die einer unbegrenzten Ausdehnung nach dem Urknall (dem "Big-Bang"), die sich aber ebenso katastrophal annimmt, weil sich das Universum mit zunehmender Ausdehnung abkühlt und schließlich in einer kalten Unendlichkeit verliert – wie ein Geschoß, das von keiner Schwerkraft mehr zurückgehalten wird –, bis... bis was? Die Astronomen erklären, daß die genaue Konzentration der Materie im gegenwärtigen Universum bestimmt, welche der beiden Theorien zutrifft: gibt es mehr als ein Atom pro 400 Liter Raum, so genügt die Schwerkraft, um die Ausdehnung allmählich zu bremsen und das Universum schließlich wieder zusammenfallen zu lassen, worauf sich der Zyklus mit einem neuen Urknall wiederholen würde. Bei weniger als einem Atom wäre die Materiedichte unzureichend, die Schwerkraft wäre zu schwach, um die Galaxien in ihrem unsichtbaren Netz zu halten, und alles würde sich bis in alle Ewigkeit ausdehnen – es sei denn, wir entdecken mit Mutter eine dritte Stellung, die des "fortschreitenden Gleichgewichts", in der sich die Materiedichte des Universums als eine Bewußtseinsmenge entpuppt und Ausdehnung wie Zusammenfall von Gesetzen des Bewußtseins bestimmt würden.
4 Wenn der Schleier der Lüge verschwindet: das supramentale Bewußtsein.
5 Als Satprem Mutter später über die Bedeutung dieses Satzes fragte, lachte sie: "Ich sprach von der anderen Seite! Auf dieser Seite ist der Begriff des Raumes nicht mehr so konkret!"