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Mutters

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achten Band

22. März 1967

Sehr interessant... Seit der "Neujahrsbotschaft" 1... sie ist in aller Munde, sie war ein guter Schock; sogar in den Regierungskreisen, überall, und nun gibt sich jeder als "Verteidiger der Wahrheit" aus, und man stellt mir Fragen, und jeder wundert sich, warum die Wahrheit, so wie er sie auffaßt, nicht schon in der Welt begründet ist. In zunehmendem Maße muß ich jetzt die Wahrheit gegen all diese Auffassungen der Wahrheit verteidigen! Das ist recht interessant.

Zum Beispiel gibt es hier diese alten Vorstellungen über vegetarische Ernährung. Manche Leute schreiben mir empört, daß man im Ashram diese "heiligen Regeln" immer öfter breche. Man hatte mir ein erstes Mal geschrieben und um Antwort gebeten; ich antwortete nicht sofort; da schrieb man mir ein zweites Mal und beschwerte sich: "... Wenn Sie nicht antworten, was können wir dann tun?" Ich antwortete (wahrscheinlich werden sie ihre Frage jetzt bereuen):

Die Wahrheit ist kein Dogma, das man ein für allemal lernen und als Richtschnur nehmen kann. Die Wahrheit ist unendlich wie der höchste Herr, und für die Aufrichtigen und Aufmerksamen manifestiert sie sich in jedem Augenblick.

Ich hätte andere Dinge hinzufügen können, die ich nicht aussprach, um keine zu offene Schlacht zu liefern!

Am selben Tag, nämlich heute, erhielt ich einen anderen Brief... der ganze Brief zieht über alles her, was sich im Ashram abspielt: "Was! Dieser Ort ist ja schlimmer als die restliche Welt!" usw. (Und das natürlich im Namen der "Wahrheit".)

Daher (lachend) antwortete ich:

Wenn die Wahrheit sich so manifestieren würde, daß sie von allen gesehen und verstanden werden könnte, wären sie erschreckt über die Ungeheuerlichkeit ihres Unwissens und ihrer falschen Interpretation.

Diesmal habe ich hart zugeschlagen.

Und so geht das weiter.

Tag für Tag geht es so, es spitzt sich zu. Jeder hält sich für einen "Verteidiger der Wahrheit". Beim einen geht es um die Ernährung, beim andern um Geld, bei wieder einem anderen um Geschäfte, bei noch einem anderen um Beziehungen... – jeder hat sein Steckenpferd.

Es ist erstaunlich, daß mir bis jetzt noch kein einziger gesagt hat: "Vielleicht sind meine Ideen nicht wahr" – Nicht einer! "Vielleicht ist meine Art, die Dinge zu sehen und zu fühlen, nicht wahr" – Nicht einer. Sie stehen alle vollkommen in der Wahrheit.

Sehr interessant.

Oft sind die Verteidiger der Wahrheit schlimmer als die Feinde der Wahrheit.

(Mutter nickt bejahend) Aber ich kann nichts dazu sagen, denn ich bin dafür verantwortlich, ich habe ihnen ja gesagt: "Cling to the Truth" [Klammert euch an die Wahrheit].

Nein, sie machen denselben Fehler: sie verwechseln die Wahrheit mit der alten Vorstellung von Tugend. Sie begehen den gleichen Fehler wie die Moralisten.

Vor allem wollen sie eine Wahrheit haben, die sich in wenigen klaren und wohl definierten Worten ausdrücken läßt, worauf man sich sagen kann: "Dies ist wahr", das alte Übel aller Religionen: Dies ist wahr, folglich ist alles andere Lüge.

Wieviele Male... wieviele Male hat Sri Aurobindo (und ich auch) gesagt: "Wenn etwas wahr ist, könnt ihr sicher sein, daß sein Gegenteil auch wahr ist. Erst wenn ihr das verstanden habt, beginnt ihr zu verstehen."

Heute morgen schleuderte man mir ein Zitat von Sri Aurobindo an den Kopf (im Namen Sri Aurobindos bombardiert man mich mit Fragen), und zwar habe er in Die Mutter geschrieben, daß "die göttliche Gnade nur in der Wahrheit wirken kann", dies dürfe ich nicht vergessen! (Mutter lacht) Es gibt ein Zitat von Sri Aurobindo, wo er sagt: "Die göttliche Gnade wird antworten, aber bildet euch nicht ein, daß sie in der Lüge antwortet ..." Ein wunderbarer Satz. Nur wissen sie das nicht: sie sind ja die Besitzer der Wahrheit – die Lüge, das sind die anderen! Aber sogar intelligente Menschen, die doch ein Gehirn haben, gehen in diese Falle. Seltsam, denn es ist eine solche Torheit!

In der Schule ist diese Einstellung ziemlich verbreitet.

(Schweigen)

Man kann sagen, dank all dem (nicht einmal "wegen": DANK all dem) hatte ich in den letzten Tagen, in diesen drei letzten Tagen, die Schau – die konkrete Schau, in jeder Sekunde –, wie dieses höchste Bewußtsein (das ich in meiner persönlichen Ausdrucksweise den "höchsten Herrn" nenne) einen in JEDER SEKUNDE haargenau das tun oder sagen oder sehen oder wissen läßt, was zu tun ist, damit alles so verläuft (umfassende Geste, die mannigfach verzweigte Bewegung der universalen Kräfte ausdrückend). Es ist noch nicht die direkte, allmächtige, überwältigende Bewegung unmittelbarer Kräfte (Geste von oben nach unten wie ein Lichtschwert): es ist eine solche Bewegung (dieselbe umfassende Geste), aber wunderbar! Ein Wunder an Subtilität, Einfallsreichtum und Respekt gegenüber allem; die Bewegung, die zum Ziel führt und die von allem, ja selbst den "Fehlern" Gebrauch macht – die übrigens keine Fehler sind, denn in der Schau des Bewußtseins ist der Fehler kein aus Unwissenheit begangener Fehler: Eine Sache wird gesagt oder getan, weil sie genau das ist, was gesagt oder getan werden muß – dem Anschein nach mag es gar ein grober Fehltritt sein, und doch ist es genau das, was zu tun ist, damit alles strahlend zum gewollten Ziel voranschreiten kann (dieselbe umfassende Geste). Es ist absolut wunderbar! In den winzigsten Details wie auch als Ganzes gesehen. Dieses Wunder an Bewußtsein, das jeden tun läßt, was zu tun ist, jede Sache an ihren Platz stellt, alles richtet. Nur unsere Torheit, unsere völlig unwissende und dumme Sichtweise läßt uns an Fehler und Irrtümer glauben. Jeder stellt ein zu lösendes Problem dar, und all diese Probleme sind miteinander verknüpft, und es ist das GANZE, das zu dieser großartigen Wahrheit (der wirklichen) geführt werden muß. Ich verbrachte Stunden in Bewunderung – einer glückseligen Bewunderung – angesichts dieses Wunders an Organisation, in all den kleinen Dingen, die uns umgeben, all den kleinen Menschen, all diesen unscheinbaren Umständen... Es ist wunderbar, einfach wunderbar!

Und dann diese Anmaßung des Mentals, das nichts versteht und seinen allmächtigen Wissensanspruch geltend macht, oh, was für eine Komödie!

(Schweigen)

Es bedeutet die bestmögliche Nutzung aller Möglichkeiten und aller Unmöglichkeiten, aller Fähigkeiten und Unfähigkeiten; eine bestmögliche Nutzung in einer größtmöglichen Macht und einem größtmöglichen Erbarmen und auch... ein Lächeln! Ein Lächeln, ein Sinn für Humor, oh!... Eine so wohlwollende Ironie, so voller Mitgefühl, phantastisch... Diese mentale Anmaßung ist wirklich ein ungeheures Phänomen – sie verbringt ihre Zeit damit, zu beurteilen, was sie nicht weiß, und über alles zu entscheiden, was sie nicht sieht.

(Schweigen)

Dazu erschien mir die Vision bei den anderen und die Erinnerung an die Zeit, wo all diese Dinge eine große Bedeutung hatten und sehr ernst genommen wurden... dieser ganze moralische Ernst.

Auch das ist amüsant.

 

1 "Menschen, Länder, Kontinente! Die Wahl ist zwingend: die Wahrheit oder das Verderben."

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