Mutters
Agenda
neunten Band
12. Januar 1968
Da wäre eine Frage, aber...
Eine Frage?
Eine Tatsache, die dir wahrscheinlich nicht entgangen ist...
Was?
Du hattest einen Besuch von E und seiner Frau, aus Italien...
Ja, und...?
Er stellte mir Fragen in bezug auf den "Tantrismus der linken Hand", weißt du, den "Vama Marga"...
Was ist das?
Das sind diese sogenannten Tantriker, die sich der Sexualität bedienen wollen, um "Yoga" zu machen. Er hat mir alle möglichen Fragen gestellt, um herauszufinden, welchen Platz die Sexualität im Yoga hat. Dazu sagte er mir, daß er und seine Frau sich seit einem Jahr darum bemühen, auf einer anderen Ebene und auf andere Art und Weise zu leben. Also habe ich versucht, ihm den wahren Standpunkt zu erklären, und ich gab ihm einen Brief, den ich vor einem Jahr zu diesem Thema geschrieben hatte – einen Brief über das Problem der Sexualität im Yoga, zu dem ich wirklich inspiriert wurde 1 und wo ich am Ende zwei Zitate von Sri Aurobindo gebe, in denen auf den "vitalen Fehler" hingewiesen wird, der hinter diesem sogenannten Yoga steckt. Ich schickte ihm diesen Brief, und drei Tage später kam er ganz verstört mit meinem Brief in der Hand wieder und sagte: "Wissen Sie, daß es im Ashram ein "okkultes Zentrum" gibt, das mit dem Segen von Mutter betrieben wird?"
Wie bitte? Was soll denn das heißen?
Ja, ich fragte ihn auch: "Was für ein okkultes Zentrum soll das sein?" Und er sagte mir: "Das ist ein innerer Kreis für die "fortgeschrittenen Schüler", für die "Eingeweihten", und es gibt auch eine Art Hohepriesterin darin" – und zwar Y [eine europäische Schülerin].
Oh, er bezieht sich auf Y.
Dann sagte er mir: "Ich bin sehr beunruhigt und schockiert. Ich bin fremd hier und erst vor vier Tagen angekommen, und schon ist man von mehreren Seiten mit verschiedenen Anliegen an mich herangetreten. Was soll das heißen, geschieht es wirklich mit Mutters Einwilligung?" Und weiter sagte er, indem er mir den Brief zurückgab: "Was die Leute dort tun oder ihre Art, die Dinge zu sehen, steht nicht im Einklang mit Ihrem Brief". Und er gab mir ein Beispiel: "Sie bilden sich ein, den kleinen R zu einem supramentalen Wesen heranzubilden – aber so schafft man gewiß kein supramentales Wesen, zumindest sollte man versuchen, ein nettes Kind heranzuziehen ..." Ihre Methode ist folgende: sie nehmen das Kind 2, lassen es Musik hören, streicheln es währenddessen, unter anderem auch das Geschlecht. 3 Er fragte mich: "Was soll das heißen? Bewerkstelligt man die Transformation tatsächlich auf diesem Niveau?..." Und dann sagte er: "Geschieht es mit Mutters Einverständnis, daß man ein Wesen verdirbt, anstatt es anständig großzuziehen, und ich weiß nicht was auf es herabkommen läßt?"
Hast du den Kleinen gesehen?
Nein.
Die Eltern haben ihn mir vor ein paar Tagen gebracht, denn... er wird immer kränklicher, so haben sie sich Sorgen gemacht und ihn mir gebracht. Ich glaube, es steht nicht gut um ihn. Jedenfalls ähnelt seine Erscheinung denen, die in einer perversen Vorstellungswelt leben. Eben einer Vorstellungswelt vitaler Sexualität. Er ist bläßlich, macht einen kraftlosen Eindruck, mit Augen, die keinerlei Reaktion zeigen. Und dieser arme Kerl... weißt du, als ich ihn das erste Mal in die Arme nahm, wollte ich die Auswirkung sehen, die das Schweigen auf ihn hat: er fing an zu schreien. 4 Für diesmal hatte ich beschlossen, von Anfang an auf ihn einzureden, also redete und redete ich... er war wie benommen; als ich ihn in meine Arme nahm, schmiegte er sich an mich und wollte sich nicht mehr regen. Sie sind auf dem besten Weg... ich weiß nicht, ob sie ihn umbringen werden, aber auf jeden Fall... 5
Ich weiß, mein Kind! Ich weiß. Aber was tun?... Weißt du, Sri Aurobindo und ich, wir gehören bereits der "Vergangenheit" an; das Bulletin ist ein Instrument der "Vergangenheit" – sie hingegen sind "fortgeschritten". Es ist eine ganze Bande.
Ja, siehst du: der Mann ist seit drei, vier Tagen hier, und schon...
Ja, so ist es.
Er geht übrigens wieder weg.
Er war zutiefst schockiert und sagte: "Also wirklich ..."
Ja, das kann ich sehr gut verstehen.
Sie sagen... sie drücken es noch besser aus: ich sei die "Schülerin von Y". Verstehst du, das ist es: "Ich lerne von Y", ich lerne von ihr über das Leben und den Yoga!
Ich bin mir dessen wohl bewußt. Ich weiß seit geraumer Zeit davon. Es gibt hier Leute von gesundem Menschenverstand, aber sie hatten Schwierigkeiten, sich da herauszuhalten. Und sie wollen nichts sagen, denn die "Schüler" (jene Schüler, die sich einbilden, phantastische Kräfte zu haben) geraten in ungeheure Wut und machen Riesenszenen. Niemand will sich solchen Szenen aussetzen, verstehst du, und so sagt niemand etwas. Man geht nur einfach nicht mehr hin. Das läuft schon lange so, seit über einem Jahr.
Um keine Namen zu nennen: A, G, usw. (es handelt sich um westliche Schüler), wieder die Nicht-Inder, die dorthin gehen. 6
Aber ja! Das hat der Italiener auch gesagt: "Und was ist das für eine Geschichte mit diesem Kanadier und seinem "Mädchen"?... Im Pazifik hat man mir ähnliche Angebote gemacht, sogenannte Initiationen, die darin bestanden, daß man mich drei Tage lang mit einem jungen Mädchen in einer Strohhütte alleine lassen wollte. Macht man das hier im Ashram auch?"
Das "Mädchen" beginnt sich zu ekeln.
Nein, ich hatte schon den Eindruck, daß etwas vor sich ging, aber ich wußte nichts Genaues darüber; die Geschichte nimmt allerdings schon beinahe öffentliche Ausmaße an...
Oh, ungeheure Ausmaße, ganz ungeheuerliche... Die erste, die mich davon in Kenntnis setzte, war S.M., das ist schon lange her, mehr als ein Jahr. Danach kamen andere. Natürlich wurden auch F und R angesprochen (weitere westliche Schüler).
Die Inder haben Unterscheidungsvermögen.
Ja, ihre Spiritualität ist echt (Mutter deutet auf ihr Herz), das berührt sie nicht.
Erinnerst du dich? Als Y angeblich Typhus hatte (sie hatte nichts dergleichen: all das ist Teil des großen Theaters, eine "Transformationskrankheit"), wollte sie mit M ins Krankenhaus in Vellore. Also schrieb sie mir einen Brief, um mich zu bitten, daß alles so organisiert würde, daß sie zusammen ein Doppelzimmer bekämen. Und in diesem Brief schrieb sie mir wörtlich: "Für mich ist M Gott"... Dem armen Kerl ist das alles etwas viel geworden... (Mutter lachte) Das hat ihn selbst krank gemacht... Es ist überhaupt besser, wenn man all das von der lustigen Seite nimmt. Im Grunde kippen diese Dinge vollkommen ins Lächerliche. Ich verhalte mich einfach so (Geste, all das ins Licht zu stellen). Wir werden schon sehen! Ich sage dir, als erstes Ergebnis ist der arme M krank geworden: es traf seine Nieren. Inzwischen hat er kein Fieber mehr, aber er hat auch kein Rückgrat mehr. Und das Amüsanteste daran ist, daß ich (Mutter lacht), obwohl ich ja einer "völlig überholten Vergangenheit" angehöre, dann plötzlich angeschrieben werde, wenn die Dinge schlecht gehen. Man hat mich also um Rat gefragt: ob dies oder das zu tun sei... Du meine Güte, ich habe mir also die Genugtuung nicht entgehen lassen, ihm zu antworten (durch Y), daß seine Krankheit vor allem psychologisch bedingt sei und daß ich mir nicht vorstellen könne, wie ein Arzt dabei helfen soll. Seitdem herrscht Schweigen.
Aber es ist traurig für den kleinen Bengel.
Für den Kleinen... nein. Der Kleine, ich weiß nicht, ob ich dir das erzählt habe, ich hatte nichts gesehen, nichts vermutet, nichts entschieden, sondern nur die beiden gemustert (den Vater und die Mutter): sie war noch nicht geschieden, jedenfalls standen sie am Rande der Gesellschaft. Also dachte ich mir: am besten wäre es, wenn das Kind in Auroville geboren würde, dort herrscht vollkommene Freiheit. Das war alles. Damit fing es an, und damit hörte es auf. Ich hatte nie gedacht, daß es sich bei ihm um ein "besonderes" Wesen handle, nichts dergleichen: einfach ein Kind. Am Vorabend der Geburt (ich glaube, das Kind wurde gegen ein Uhr morgens geboren) bekam ich jedoch ein Telegramm aus Amerika, das das Ableben von Paul Richard ankündigte. Nun, ich weiß nicht, was seither aus ihm geworden ist, aber ich hatte ihn in den Okkultismus eingeführt: er wußte, wie man in einen anderen Körper eintritt. Und ich wußte ebenfalls (durch andere Quellen), daß bei ihm seit langem eine Ambition bestand, hierherzukommen. Wenn man also zwei und zwei zusammenzählte, ergab das... "Ach", sagte ich mir, "wie erstaunlich!" Verstehst du, genau die Zeit, die normalerweise notwendig ist, um aus einem Körper auszutreten und in einen anderen einzugehen. Ich sagte nichts – Amrita brachte mir das Telegramm, wir haben uns angesehen, und ich sagte: "Sieh an!" Das war alles. Am nächsten Tag wußte der gesamte Ashram, daß sich Paul Richard im kleinen R reinkarniert hatte! Dies ging sogar so weit, daß mir jemand schrieb: "Es scheint, als hätten Sie ihm zu dieser Reinkarnation verholfen ..." Und ich rief aus: "Jetzt ist es aber genug!" (Mutter lacht) Das war alles.
Folglich... Paul Richard hatte eine sexuelle Seite, die gar nicht gesund war. Er hatte sehr vielfältige mentale Kenntnisse (ungeheuer vielfältig, eine sehr stark entwickelte Intelligenz), aber nichts von einem spirituellen Leben. Somit war er in keiner Weise ein außergewöhnliches Wesen – ihm geschah, was geschehen mußte.
Nun der Kleine. Ich habe es versucht, aber... Es wird etwas in seiner vitalen Verfassung verfälschen, das ist sicher. Wir werden sehen.
Wir werden sehen.
Sie haben schon ein weiteres Kind mit einer Formation belastet, A.F. 7 (in diesem Falle trifft es zum Glück auf weniger Leichtgläubigkeit). Anscheinend soll es sich um Ramses von Ägypten handeln... Ich habe keine Ahnung davon! Ich habe nichts dergleichen gesehen. Auf jeden Fall ist dieser Junge sehr nett – bis jetzt jedenfalls.
Sie gehen hoffentlich nicht in diese Gruppe?
Ich glaube nicht, aber... Ich glaube nicht, daß dieser Gedanke Fuß faßt.
Der Vater ist jedenfalls sehr nett.
Ja, er ist sehr nett. Für den Kleinen ist es nur unangenehm, daß sich das Blut der Mutter und das Blut des Vaters nicht vertragen. Das bereitet ihm Schwierigkeiten. Ich glaube aber, daß er das durchstehen kann.
(Schweigen)
Unter dem Deckmantel der Freiheit...
Sie machen also aktiv Propaganda?
Ja, der Italiener sagte mir: "Ich bin kaum vier Tage hier, und schon werde ich von verschiedenen Seiten mit Ansuchen behelligt." Und besonders nach dem Lesen meines Briefes sagte er: "Die Gruppe kann doch wohl nicht Mutters Segen haben!" Und er hat mir die Frage gestellt.
Nein, wie ich dir schon sagte, es ist noch besser: ich bin "eine Schülerin"!
Das macht nichts. Das macht überhaupt nichts. Man betrachtet all das (Geste von oben). Im Grunde ist alles ein Spiel des Herrn! (Mutter lacht)
Mich verblüffte, daß ich angeblich zur Schülerin wurde – das ist wirklich köstlich, findest du nicht? Nach so etwas bleibt einem nichts anderes, als schallend zu lachen.
Ich habe diesem Italiener jedenfalls gesagt: "Hören Sie, machen Sie sich keine Sorgen, die Lüge frißt sich selbst."
Aber ja! Genau das ist es. So sieht man jedenfalls, daß es genügt, nur ein klein wenig so zu machen (Geste eines Daumendrucks) ... Für den armen M wirkte das sofort! Es genügte schon (gleiche Geste).
Ich werde den Italiener sehen, er verläßt uns; er hat mir ein paar sehr nette Worte geschickt, um mich zu fragen, ob er mich vor der Abreise noch sehen könne. Er sollte aber nicht sprechen, denn ich höre ihn nicht.
Ich höre nicht... das ist ein seltsames Phänomen: die Leute sprechen mich in einem ANDEREN Bewußtseinszustand an – es ist nicht die gleiche Ebene –, und so habe ich den Eindruck... (Geste nach unten) von Schwingungen, die nicht mit meinem Bewußtsein in Kontakt treten. Ich sehe die Schwingungen so (gleiche Geste), aber... manchmal höre ich einige Laute, sie ergeben aber ÜBERHAUPT KEINEN Sinn. Also lohnt es sich nicht zu sprechen.
(Schweigen)
Du weißt nicht, wie sie sich in ihren "Séancen" benehmen?...
Nein.
(Lachend) Ich hoffe, daß sie sich anständig benehmen. Wenn es sich nur um Sprüche handelt, dann geht es; andernfalls wäre ich gezwungen zu intervenieren.
Nein, ich möchte nichts dazu sagen, denn das würde bedeuten, sich auf das gleiche Niveau hinabzubegeben.
Das geht aber schon lange so: Wenn Y mir einen Brief schreibt, dann schreibt sie auf die Vorderseite des Umschlags "Süße Mutter" und auf die Rückseite, ganz oben auf den Umschlag, ein großes "Y". Wenn ich ihr antworte, nehme ich denselben Umschlag und schicke ihn ihr zurück... einmal erlaubte ich mir einen kleinen Scherz (lachend): nach "Süße Mutter" setzte ich einen Pfeil, der nach oben zeigte und auf der Rückseite bis zum "Y" weiterging. (Mutter lacht)
Das war sehr lustig.
Und sie selbst ist (oder sie wird es sein, ich weiß es nicht, das hängt von den Leuten ab, mit denen sie redet) die Inkarnation von... erinnerst du dich, Sri Aurobindo spricht in seinem Buch Die Mutter vom "Aspekt der Liebe" der Mutter, der sich noch nicht inkarniert hat, weil die Welt noch nicht bereit dafür ist. Das also ist Y. 8
Wenn man sie sieht, hat man nicht diesen Eindruck!
Ach! (Mutter mokiert sich über Satprem) Aber das ist oberflächlich, ein oberflächlicher Eindruck.
(Schweigen)
Es sieht so aus, als hätte ich ihr völlig freie Hand gelassen in der Organisation von Auroville. Sie nannte es "Universitätsstadt". Daraufhin erklärte man ihr, daß dieses Wort in einem bestimmten Sinn gebraucht wird, und sie sagte mir: "Oh, das habe ich schon klargestellt", und auf den Einladungen zum 28. (für die Grundsteinlegung) wollte sie, daß man "Universitätsstadt" schreibe; man hat die Einladungen aber einfach gedruckt, ohne sie zu fragen, und geschrieben: "The city of universal culture" [Die Stadt universeller Kultur].
Das ist immer ein Zeichen von Leuten, die eine rein mentale Gestaltungskraft haben: sie wollen die Worte zwingen, das auszudrücken, was sie sich einbilden. Ich habe ihr gesagt: "So geht das nicht! Egal was du sagst, im Allgemeinverständnis hat das Wort eine andere Bedeutung; erfinde ein neues Wort oder eine Redewendung." (In aggressivem Tonfall) – "Aber es bedeutet GENAU DAS!"...
Sie wollte einen kleinen Orang-Utan haben, denn es scheint, daß diese Spezies dabei ist auszusterben, also wollte sie etwas dafür tun, die Spezies zu erhalten – ich weiß nicht warum... Und als M nach Tahiti reiste, bat sie ihn, einen Orang-Utan mitzubringen. Der arme M!... Das kann keine sehr amüsante Aufgabe sein. Also fragte mich M vor der Abreise: "Es scheint, daß ich einen Orang-Utan mitbringen soll ..." Und ich antwortete ihm: "Mir wäre es sehr viel lieber, wenn Sie keinen finden würden!"
Und er hat auch keinen gefunden.
Addendum
(Ein Brief von Satprem
an einen Freund über den "Yoga der Sexualität")
28. Januar 1967
Ich werde versuchen, Deine Fragen so einfach wie möglich zu beantworten, das heißt, ohne das Problem durch den blauen Dunst geheimnisvoller Traditionen zu verschleiern, sondern indem ich mich unmittelbar auf meine Erfahrung beziehe. Schließlich ist das die beste Art, die Wahrheit der Traditionen zu ergründen, da diese ja auch aus der Erfahrung geboren wurden. Es gibt eine Ebene einfacher Wahrheit, auf der all diese Erfahrungen zur Übereinstimmung kommen.
Man kann damit anfangen, das Problem in einem größeren Zusammenhang zu betrachten, und zwar dem der Evolution. Die Arten haben sich vom Stein zur Pflanze entwickelt, dann zum Tier und zum Menschen. Alles weist darauf hin, daß der Fortschritt der Evolution kein Fortschritt in den Gestalten ist sondern ein Fortschritt des Bewußtseins. Die Formen und Gestalten bilden lediglich eine dem Fortschritt des Bewußtseins immer besser angepaßte Stütze. Wir haben das Stadium des Menschen erreicht, aber es gibt keinen Grund anzunehmen, daß dies das letzte und höchste Stadium ist (sonst wäre es keine Evolution). Sonst hätte ein objektiver Beobachter ebensogut annehmen können, daß das Chamäleon oder der Pavian vor hundert Millionen Jahren der Gipfelpunkt der Evolution sei. Wir sind lediglich in einem entscheidenden Stadium der Evolution angelangt, wo wir bewußt eingreifen können, um den natürlichen Prozeß zu beschleunigen, der andernfalls noch mehrere Millionen Jahre in Anspruch nehmen könnte, von der damit verbundenen Verschwendung gar nicht zu reden. Der Yoga und alle anderen spirituellen Disziplinen sind letztlich nichts anderes als Verfahren zur bewußten Beschleunigung der Evolution in die richtige Richtung.
Hier mag Unschlüssigkeit herrschen in bezug auf die "richtige Richtung". Einige werden Dir sagen, daß der wahre Sinn, die einzig richtige Richtung, nicht hier, sondern ich weiß nicht in welchem himmlischen Jenseits liegt (wie die uns bekannten Religionen). Das ist ein möglicher Standpunkt. Trüge diese materielle Evolution jedoch ihre Bedeutung nicht in sich, bedeutete dies, daß wir uns in Gegenwart einer finsteren Farce befinden, erfunden von ich weiß nicht was für einem göttlichen Masochisten. Wenn Gott existiert, sollte er etwas weniger dumm sein, und man kann davon ausgehen, daß diese materielle Evolution eine göttliche Bedeutung hat und daß sie der Ort einer göttlichen Manifestation in der Materie ist. Unsere spirituelle Disziplin sollte folglich darauf abzielen, diesen göttlichen Menschen zu erreichen oder dann vielleicht dieses andere, uns noch unbekannte Wesen, das sich aus uns entwickeln wird, so wie unser Intellekt sich aus den Urlauten der Menschenaffen entwickelt hat.
Welchen Platz hat dann die sexuelle Funktion in dieser Evolution? Bis jetzt hat sich der Fortschritt des Bewußtseins des Fortschritts der Arten bedient, d.h. die sexuelle Fortpflanzung stellte den Schlüssel zur Verbreitung der Arten dar, um die der Manifestation des Bewußtseins angemessenste Form zu finden. Seit dem Auftreten des Menschen vor zwei oder drei Millionen Jahren hat die Natur keine neuen Arten hervorgebracht, als ob sie im Menschen die angemessenste Ausdrucksform gefunden hätte. Nun kann die Evolution aber nicht zum Stillstand kommen, sonst wäre es keine Evolution mehr. Somit liegt der Schlüssel zur Evolution jetzt nicht mehr in der Vervielfältigung der Arten mittels sexueller Fortpflanzung sondern unmittelbar in der Macht des Bewußtseins selbst. Bis zum Auftreten des Menschen war das Bewußtsein noch zu sehr in seiner materiellen Stütze verhaftet; mit dem Menschen hat es sich hinlänglich befreit, um seine wahre Meisterschaft über die materielle Natur anzutreten und seine eigenen Mutationen selbst zu bewerkstelligen. Vom Standpunkt der Evolutionsbiologie aus betrachtet, bedeutet dies das Ende der Sexualität. Wir stehen an einem Wendepunkt, wo es gilt, von der natürlichen Evolution durch den Sexualtrieb überzugehen zur spirituellen Evolution durch die Kraft des Bewußtseins.
Die Natur zögert im allgemeinen nicht, Funktionen und Organe, die ihre evolutionäre Aufgabe erfüllt haben, zurückzubilden, und es läßt sich somit voraussehen, daß die Funktion der Sexualität sich in denjenigen Wesen zurückentwickeln wird, denen es gelingt, ihre Energie nicht mehr auf die Fortpflanzung auszurichten sondern auf die Entwicklung ihres Bewußtseins. Es ist offensichtlich, daß wir uns noch nicht alle an diesem Punkt befinden und daß die Natur den Geschlechtstrieb noch lange brauchen wird, um ihre Evolution innerhalb der menschlichen Spezies weiterzuverfolgen, das heißt, um den recht rohen Menschen, der wir noch sind, zu einem bewußteren Typus Mensch hinzuführen, der eher fähig sein wird, die Bedeutung seiner Evolution zu begreifen, um schließlich imstande zu sein, von der natürlichen Evolution zur spirituellen Evolution überzugehen. Die ungleiche Entwicklung der einzelnen Individuen ist der offensichtliche Grund, warum man keine allgemeinen Regeln aufstellen oder unfehlbare Rezepte abgeben kann. Jedes Stadium trägt sein eigenes Gesetz in sich. Wie lange auch immer die Zwischenphasen dauern mögen, vom Standpunkt der Evolutionsbiologie ist es offensichtlich, daß sich die Funktion der Sexualität dann erschöpft hat, wenn es ihr gelungen ist, einen hinlänglich bewußten Menschen in die Welt zu setzen. Es ist also logischerweise nicht möglich, eine spirituelle Disziplin zur Beschleunigung der Evolution auf ein Prinzip zu gründen, das der Evolution zuwiderläuft. Es genügt, den schwierigen Grenzpunkt X im Übergang von der natürlichen zur spirituellen Evolution auch nur ein wenig überschritten zu haben, um sich klarzumachen, daß alle pseudo-mystischen Versuche, die sexuellen Beziehungen zwischen Mann und Frau zu verschönern, eine Täuschung sind. Ich habe weiß Gott nichts gegen sexuelle Beziehungen einzuwenden, aber diese mit einer yogischen oder mystischen Phraseologie zu überdecken, ist eine lügenhafte Illusion, ein schlichter Selbstbetrug. Es gibt in dieser Richtung also keinen "Schlüssel wiederzuentdecken", denn es existiert keiner.
Es gibt einen Schlüssel in der Beziehung zwischen Mann und Frau, er liegt jedoch nicht auf sexuellem Gebiet. Die sogenannten "Tantriker der linken Hand" (Vama Marga) sind im Vergleich zum wahren Tantrismus das, was die Erzählungen Boccaccios im Vergleich zum Christentum oder der weinselige römische Bacchus im Vergleich zum Dionysos der griechischen Mysterien sind. Ich kenne den Tantrismus, das ist das geringste, was ich sagen kann. Für die Katharer hege ich die größte Hochachtung, und es wäre ehrenrührig, ihnen zu unterstellen, daß sie einen "Yoga der Sexualität" betrieben hätten. Vom Hintergrund meiner eigenen Erfahrung aus gesehen, erschien mir die Erfahrung der Katharer immer glaubwürdig, und selbst, wenn einige unter ihnen versucht waren, die sexuelle Beziehung mit der wahren Beziehung zwischen Mann und Frau zu vermengen, so haben sie diesen Fehler bald eingesehen. Es ist eine Sackgasse, und der einzige Weg dort heraus ist der, einzusehen, daß sie einen nicht weiterbringt. Die Katharer waren zu aufrichtig und zu bewußt, um auf einer sie belastenden Erfahrung zu bestehen. Denn genau das ist der springende Punkt: die sexuelle Erfahrung (egal ob mit oder ohne Erguß, oder was auch immer der Modus) ist aufgrund ihrer Natur ein automatischer Rückfall in die alten animalischen Schwingungen – daran läßt sich nichts ändern. Du magst all deine Liebe hineingeben, die Funktionsweise selbst jedoch bleibt verbunden mit Jahrtausenden von Animalität – so als wolltest Du in einen Sumpf springen, ohne dabei den Schlamm aufzurühren. Das ist nicht möglich, das "Milieu" ist einfach so beschaffen. Und wenn man weiß, wieviel Transparenz, Klärung und innere Reglosigkeit notwendig sind, um langsam in ein höheres Bewußtsein vorzudringen oder um einem höheren Licht zu gestatten, in unsere Gewässer einzutreten, ohne sofort getrübt zu werden, dann wird klar, daß die sexuelle Tätigkeit einem in keiner Weise helfen kann, in jene leuchtend-reglose Klarheit einzutreten, in der die Dinge möglich zu werden beginnen. Die Einheit, die Verschmelzung zweier Wesen, die wahre und totale Begegnung zweier Wesen geschieht nicht auf dieser Ebene und mit diesen Mitteln. Das ist alles, was ich dazu sagen kann. Ich habe jedoch gesehen, daß sich in der schweigenden Ruhe zweier Wesen von gleicher Bestrebung, die den schwierigen Übergang bewältigt haben, nach und nach etwas völlig Einzigartiges entwickelt, von dem man auch nicht die leiseste Ahnung haben kann, solange man noch im "Zwist des Fleisches" befangen ist, um es frömmlerisch auszudrücken. Ich glaube, die Erfahrung der Katharer beginnt erst nach diesem Übergang. Erst danach erhält das Paar Mann-Frau seine wahre Bedeutung, seine "Wirksamkeit", wenn ich so sagen darf. Sex ist bloß eine erste Form der Begegnung, das erste Mittel der Natur, um die Schale des individuellen Egos zu durchbrechen – danach wächst man und entdeckt etwas anderes, nicht durch Hemmung oder Unterdrückung, sondern weil es etwas anderes, unendlich Reicheres gibt, das dessen Platz einnimmt. Jene, die so erpicht darauf sind, den Sex zu erhalten und ihn zu mystifizieren, um in ein zweites Stadium der Evolution vorzustoßen, erinnern einen an Kinder, die sich weiter an ihren Kinderwagen klammern, obwohl sie ihm entwachsen sind, es ist wirklich nichts anderes als das. Es läßt sich kein Yoga damit machen, aber es geht auch nicht an, sich darüber zu entrüsten. Ich habe also nichts zu kritisieren, ich sehe die Dinge nur so, wie sie sind, und stelle sie an ihren Platz. Alles hängt vom Stadium ab, in dem man sich befindet. Und für jene, die sich aus diesem oder jenem mehr oder weniger sublimen Grund der Sexualität bedienen wollen, mein Gott, mögen sie ihre Erfahrung machen. Wie mir Mutter erst gestern im gleichen Zusammenhang sagte: "Um der Wahrheit die Ehre zu geben, der Herr bedient sich aller Mittel. Man ist immer auf dem Weg zu etwas hin." Man ist immer auf dem Weg, egal durch welches Mittel, aber man muß einen klaren Geist bewahren und darf sich nicht selbst belügen.
Ich werde versuchen, ein oder zwei Abschnitte von Sri Aurobindo zu finden, um Dir seinen Standpunkt aufzuzeigen.
Satprem
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* *
(Zitat von Sri Aurobindo:)
"... Es gibt keinen gefährlicheren Irrtum, als die Einmischung sexueller Begierden und ihrer subtilen Befriedigung unter gleich welcher Form zu akzeptieren und vorzugeben, dies sei ein Teil der Sadhana. Dies wäre das sicherste Mittel, direkt auf einen spirituellen Fall zuzugehen und Kräfte in die Atmosphäre herabzuziehen, welche die supramentale Herabkunft blockieren würden, indem sie stattdessen gegnerische vitale Kräfte herabkommen lassen, die Zwietracht und schlimmstes Unheil säen. Es gilt, diese Abweichung absolut zurückzuweisen, sobald sie aufzutauchen beginnt, und sie aus dem Bewußtsein auszumerzen, damit die Wahrheit sich manifestieren und das Werk sich vollenden kann.
Ebenso ist es ein Irrtum, anzunehmen, es genüge, den sexuellen Akt physisch zu unterbinden und zu glauben, eine innere Nachahmung sei Bestandteil der Transformation des sexuellen Zentrums. Das Wirken der animalischen sexuellen Energie in der Natur ist ein Mechanismus mit bestimmten Zwecken innerhalb des Haushalts der unwissenden materiellen Schöpfung. Die damit einhergehende vitale Erregung erzeugt jedoch eine Schwingung in der Atmosphäre, welche den vitalen Kräften und Wesen eine sehr günstige Gelegenheit zum Eindringen bietet, und diese Vitalwesen haben als einzigen Daseinsgrund eben die Aufgabe, die Herabkunft des supramentalen Lichtes zu verhindern. Die damit verbundene Sinnenfreude ist eine Verzerrung des göttlichen Anandas, nicht seine wahre Form. Das wahre göttliche Ananda im Physischen hat eine ganz andere Qualität, Substanz und Bewegung. Indem es wesentlich in sich selbst besteht, hängt seine Manifestation von nichts anderem ab als einer inneren Vereinigung mit dem Göttlichen. Du sprichst von der Göttlichen Liebe; die Göttliche Liebe aber erweckt keine groben Tendenzen des niederen Vitals, wenn es mit dem Physischen in Berührung kommt. Dem zuwiderzuhandeln bewirkt allein, es zurückzustoßen und es erneut in die Höhen flüchten zu lassen, von denen es bereits so schwierig in das Dickicht der materiellen Schöpfung herabzuziehen ist, das allein aber es zu transformieren in der Lage ist. Suche die Göttliche Liebe durch die einzige Pforte, die sie zu übertreten bereit ist: die Pforte des psychischen Wesens, und weise den Irrtum des niederen Vitals zurück!"
Sri Aurobindo
Letters on Yoga,
Cent. Ed., Bd. 24, S. 1507
1 Am Tag, als Satprem diesen Brief schrieb, sah ihn Mutter in einer Vision zwischen den beiden Flügeln eines violetten "V", dem Symbol des Sieges, sitzend (auf französisch: victoire). Im Anhang wird der Text dieses Briefes angeführt (siehe auch Agenda Bd. 8 vom 4.2.67).
2 Dieses Kind wurde schon im Zusammenhang mit der "Reinkarnation" von Paul Richard erwähnt.
3 Wir unterließen es, die Erklärung der "Hohepriesterin" zu geben: "Die Affenmutter streichelt ihr Junges am ganzen Körper, einschließlich des Geschlechts, folglich ..."
4 Siehe Agenda Bd. 8 vom 13. September 1967.
5 Dieses Kind starb vier Monate später durch einen "Unfall".
6 Auch zwei Inderinnen aus dem Ashram.
7 Ein anderer Säugling gleichen Alters.
8 Siehe Agenda Bd. 8 vom 11. Oktober 1967.