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Mutters

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zehnten Band

10. Mai 1969

Was gibt's Neues?

Nichts, liebe Mutter.

Weißt du, es ist wie ein Teich, den man mit einem Stock aufrührt: Alles steigt auf... ein Ding nach dem anderen, überall, im ganzen Land – eine Fäulnis. Als werde alles, alles, alles bloßgestellt.

(Schweigen)

Man schreibt mir... Früher spielten sich viele Dinge unten ab (im Büro des Ashrams); man redete mit Amrita, man "arrangierte" sich; jetzt schreiben sie mir... Gerade bekam ich da so einiges zu hören, weißt du... (Bewegung wie ein sich entleerender Kippkarren). Ich hatte schon ein Gefühl, daß etwas nicht gut lief, aber niemals hätte ich an so etwas gedacht.

Wie geht es dir denn?

Gut, liebe Mutter.

Hast du nichts zu sagen?... Ich glaube, ich hatte etwas; aber inmitten von alldem erinnere ich mich nicht mehr.

Oh, aber ständig ist wirklich eine Gnade am Werk, um... wenigstens einen Anschein von Harmonie zu bewahren, sonst sind da Sachen... Zwei Dinge scheinen an diesem Bewußtsein zu zerren: das Geld und der... (Mutter legt ihre Hand an die Stirn, als hätte sie vergessen)... Ach, es ist weg – es will nicht, daß ich darüber spreche.

Die Politik?

Nein.

In die Politik hat es mich voll hineingezogen. Man bat mich, einen neuen Präsidenten auszusuchen, um den eben Verstorbenen 1 zu ersetzen. Und das Beste daran ist, daß dieses Bewußtsein sofort vorschlägt, was zu tun ist... Wir werden sehen.

Aber was das Geld betrifft, sagte es mir nicht, wie man es ersetzen könnte. Es will ja, daß das Geld eine zirkulierende Kraft werde. Das ist völlig wahr, aber...

(Schweigen)

Ich wollte dir vieles sagen, aber... (Geste zur Stirn) es ist aus meinem Kopf entwichen, verdrängt durch das ganze Sumpfloch des Ashrams 2 . (Mutter lacht)

Aber du, hast du nichts?

Nichts Interessantes, nein.

Worum geht es denn?

Jemand schickte ein Foto von dem Ort, wo Leonardo da Vinci gestorben ist. Interessiert es dich, das zu sehen?

Ich kenne den Ort, ich bin dort gewesen (Mutter schaut das Foto an).

Das ist der Ort, wo er gestorben ist.

Aber es ist in Frankreich.

Ja, er ist in Frankreich gestorben 3 .

Es wurde gesagt, Sri Aurobindo sei Leonardo da Vinci gewesen... Aber Sri Aurobindo hat es mir nie selber gesagt 4 . Ich weiß nicht. Man sagte auch oft, ich sei Mona Lisa gewesen, aber ich selber habe keine Ahnung.

(Mutter betrachtet das Foto) Ja, das ist der Ort. In welchem Schloß war es?

In Amboise.

Richtig. Man hat dort eine Gedenktafel angebracht. Ich habe sie gesehen. Aber wer schickte es dir?... Immerhin ist es jemand, der denkt, es sei Sri Aurobindo.

(Mutter schaut) Ja, ich habe diesen Ort gesehen.

Dies ist noch... (Mutter schüttelt den Kopf) eine kindliche Weise, es auszudrücken. Weißt du, man steckt eine Puppe in die andere, dann nimmt man sie heraus, um sie wieder in eine andere zu stecken... So ist das nicht.

(Schweigen)

Tag für Tag etwas Neues, und stets die augenblickliche Schlußfolgerung: Ich weiß nichts, verstehe nichts, kenne nichts, bin nichts... Die Verneinung von ALLEM – das ganze Gerüst des Mentals und des menschlichen Bewußtseins ist eingestürzt. Für die kleinen Dinge, für die großen Dinge, für alles. Und dann die Frage nach dem Tod: "Was ist der Tod? Was geschieht?..." Für dieses Bewußtsein ist der Tod... offensichtlich ein sogenannter "Unfall", aber ein Unfall, der... sich über seine Zeit hinaus fortsetzt. Und jetzt zeigt es, wie man stirbt, das heißt, wie der Körper plötzlich aus den Fugen gerät – aber wie er auch sehr gut hätte zusammenhalten können.

Und stell dir vor: Es zeigt mir Beispiele anhand von Leuten. Jemand kommt und bittet mich darum zu sterben; das einzige, was ich tue und tun kann, ist, auf anhaltende Weise und ohne Vermischung den Kontakt herzustellen zwischen... (wie soll ich sagen?) der Bestimmung dieses Körpers und dem Höchsten Bewußtsein. Allerlei Dinge sind daraufhin passiert: der eine ist innerhalb einer Stunde fortgegangen – starb in absolut guter Verfassung, verstehst du? Kürzlich hatte ich wieder ein ganz außergewöhnliches Beispiel: jemand kommt und bittet mich, weggehen zu dürfen; ich lasse meine ganze Kraft auf ihn wirken – jetzt ist er völlig geheilt. Man hatte ihn mir im Rollstuhl gebracht, er konnte nicht mehr gehen... und nun läuft er herum, er kommt ganz allein. Und alt: fast neunzig Jahre alt 5... Ein anderer will nicht loslassen; da sagt mir seine Tochter: "Er ist unglücklich, er fühlt sich miserabel, können sie ihn nicht weggehen lassen?" Ich schaue und sehe etwas Angespanntes (Mutter preßt mit all ihrer Kraft zwei Finger zusammen), ein schwarzer Knoten. Ich sage dem Mädchen: "Ja, ich will gerne helfen, aber ich kann ihm nicht den Kopf abschneiden! (lachend) Etwas in ihm will nicht loslassen (die gleiche Geste)." Zwei Tage später: weg!

Meine Vorgangsweise ist immer die gleiche: volle Konzentration des Höchsten Bewußtseins auf die Person, alle Hindernisse beseitigend. Und es wandert hier, da, dorthin (Geste). Dabei veranschaulicht es anhand von konkreten Tatsachen, daß ALLE von uns in unserem Bewußtsein aufgestellten Regeln absolut idiotisch sind. Sie entsprechen nicht der Wahrheit. Da ist noch... etwas. Da ist etwas.

Gestern (lachend) zeigte es mir all die Willenskräfte oder Schwingungen (denn im Grunde läuft es auf Schwingungsqualitäten hinaus), die zu kleinen Unannehmlichkeiten, bis hin zu großen Katastrophen führen – sie haben alle dieselbe Beschaffenheit. Und wie die physischen Zellen darauf reagieren. Hin und wieder, sozusagen als Belohnung für die Anstrengung, kommt dann: Das, was zu tun ist, die wahre Sache. Aber das vergeht wieder – es kommt wie ein leuchtendes Staunen, dauert aber nicht an. Wir sind... Es scheint sehr schnell vorangehen zu müssen, denn was das Bewußtsein betrifft, stecken wir wirklich noch in einem Sumpfloch, und es geht so (Geste eines unwiderstehlichen Vormarsches), oh, es setzt sich durch.

Dieser arme Körper... er beklagt sich nicht. Er macht weiter und hat ständig irgendwo ein Leiden – doch er verharrt in einem seligen Zustand, und zwar im Bewußtsein der Zellen. Da ist etwas... Ständig leidet er irgendwo, aber er weiß, daß dies nur von seiner mangelnden Durchhaltefähigkeit abhängt – doch er muß, er wird durchhalten müssen.

Unglaublich. Eine unglaubliche Geschichte... außergewöhnlicher als alles nur Vorstellbare.

Warum? Warum plötzlich diese Gewohnheit der Auflösung? Warum?... Offensichtlich ist das nicht erst seit dem Auftreten des Menschen so, denn bei allem Vorangehenden war es dasselbe: es formte sich, löste sich auf, formte sich wieder – formte sich, lebte, wuchs und löste sich schließlich auf –, alles, alles: die Pflanzen, die... Das Mineralreich hatte eine größere Stabilität wegen seiner Unbewußtheit, aber alles übrige war so beschaffen: ständig im Wechsel der Entstehung und Wiederauflösung... Doch erst der Mensch machte eine dramatische Geschichte daraus. Und weil er ein Drama daraus gemacht hat, unternimmt er eine Anstrengung... nicht um da herauszukommen, sondern um sich anzupassen – um zu verstehen und sich anzupassen. Und wenn man sich in einem bestimmten Bewußtsein befindet, erscheint es ganz einfach wie eine Dummheit. Aber warum?... Liegt es daran, daß der menschliche Körper unfähig ist zu... Nicht einmal das; so läßt sich das auch nicht sagen. In manchen Minuten (nur Minuten, es dauert nicht an) hat der Körper den Eindruck, diesem Gesetz entkommen zu sein. Aber es hält nicht an, es bleibt nur eine Minute, und dann ist es wieder wie zuvor. Das Bewußtsein des Körpers beginnt sich jedoch zu fragen, warum das so ist. Warum ist es nicht... ein unbegrenztes Wachstum von Licht und Bewußtsein? Warum? Der Körper selber fragt sich: Warum? Außerdem wird er ständig angegriffen von der ganzen... ja, der allgemeinen Korruption; und nur von Zeit zu Zeit, wie ein kurzer Blitz während... einiger Sekunden: plötzlich etwas anderes. Etwas anderes und... ein wunderbares Bewußtsein; dann setzt die alte Routine wieder ein.

Die Leute kommen mit all ihren Gedanken... Einige kommen, setzen sich mir gegenüber und beginnen zu denken: "Vielleicht sehe ich sie zum letzten Mal ..." Solche Geschichten, verstehst du. All das kommt (Geste wie ein sich entleerender Kippkarren), und deshalb ist es... ein wenig schwierig.

In diesem Bewußtsein gibt es kein Ja oder Nein: überhaupt nichts, da ist nichts, es verharrt so (neutrale, unbewegte Geste). Nur eine konstante Gegenwart, und der Körper findet Zuflucht in dieser Gegenwart. Aber weißt du... andere Dinge kommen auch (die guten), doch die... die gibt es sozusagen... ach, vielleicht ein–, zweimal in vierundzwanzig Stunden: plötzlich ein Licht, das rein ist. Etwas, das rein ist... Das bewirkt, was man eine Minute der Ewigkeit nennen könnte. Das ist gut, aber es kommt selten.

Der Körper weiß enorm viele Dinge über das, was geschieht (eigentlich alles, was im Umkreis seiner Tätigkeit geschieht), aber mit einem Verbot, es zu sagen. Und es kommt auch in einer solchen Form, daß es gar nicht gesagt werden kann, weil es unverständlich für die anderen wäre. Nicht sprechen, nicht sprechen.

Die Anzahl von Formationen in der irdischen Atmosphäre, die man als "defätistisch" bezeichnen könnte, ist jedenfalls gewaltig. Man wundert sich, daß nicht alles zermalmt wird, so sehr... Alle Leute rufen ständig, ständig Katastrophen herbei: sie erwarten das Schlimmste, sehen das Schlimmste, haben nur das Schlimmste im Auge... Die Reaktionen, ach... Weißt du, das zeigt sich bis in die kleinsten Dinge: der Körper beobachtet alles. Wenn die Reaktion in Harmonie stattfindet, geht alles gut; wenn es jedoch zu einer Reaktion kommt, die ich jetzt defätistisch nenne, und zum Beispiel jemand gerade einen Gegenstand nimmt, läßt er ihn fallen. Das passiert ständig. Es besteht nicht der geringste Grund, daß so etwas eintritt: es liegt an der Gegenwart des defätistischen Bewußtseins. Jemand nimmt einen Gegenstand und läßt ihn fallen; er möchte etwas tun: das läßt ihn etwas anderes tun... Und ich sah: Wenn der Körper den Fehler begeht, jemandem den tatsächlichen Sachverhalt sagen zu wollen, reagiert diese Person völlig bestürzt... Erst vor zwei Tagen ist das wieder passiert – eine einfache Sache wurde so dargelegt, wie sie ist, und die Person reagierte mit tiefer Bestürzung.

Aber weißt du, das Bewußtsein ist amüsant, es zeigte diesem Körper die beachtliche Anzahl von Wünschen, daß er sterbe. Es gibt sie überall. Er sieht das alles, und es beeinträchtigt ihn überhaupt nicht, ihm ist das völlig egal. Er scheint vor allen auf ihn zukommenden Dingen gänzlich beschützt zu sein. Das ist ihm ganz egal. Meistens bringt es ihn sogar zum Lachen. Aber das ist gewaltig... Dann, von Zeit zu Zeit, eine kleine Flamme, so hübsch! Und diese Gegenwart... Diese Gegenwart... Die Zellen sind wie Kinder: Wenn sie das fühlen, verschwindet alles andere außer dieser Gegenwart. Dann empfinden sie etwas wie einen Seufzer der Erleichterung. Aber äußerlich ist nichts sichtbar: wenn er litte, sähe er genauso aus. Normalerweise beschwert er sich nicht, wenn er leidet: er ruft... Er ruft, ruft, ruft... Dabei weiß er sehr wohl, daß es völlig vergeblich ist und daß es ausreichen würde, wenn er nur... in die Unbewegtheit, in das Schweigen einzutreten verstünde. Sobald er das tut...

Aber ich bin mir nicht völlig sicher (denn er versucht nicht, es zu erfahren), ob alle diese Schmerzen, die er überall fühlt, nicht von all den üblen Willen herrühren... Sie bestehen ja überall auf der Erde. Und die meiste Zeit ist es kaum bewußt...

Warum ist das so?... Warum nur?... Kannst du mir sagen, warum die Materialisierung mit dieser fast totalen Unbewußtheit begann? Nicht insgesamt, aber hier auf der Erde: eine fast totale Trägheit. Warum mußte es damit beginnen?... Warum?

Das Mental hat sich allerlei großartige Gründe ausgemalt, es konstruiert Gedankengebäude – das erscheint einem wie Kinderzeug... Warum?

Dann gibt es die ganze buddhistische und nihilistische Seite usw., nach welcher (für kindliche Gemüter ließe sich das so übersetzen) sich der Höchste Herr "getäuscht" hat. (Mutter lacht) Er machte eine Dummheit, folglich... werden wir ihm helfen, aus seiner "Dummheit" herauszukommen.

Und das andere Extrem: nur DEINE EIGENE Dummheit bewirkt, daß du es so empfindest – aber warum steckt die Dummheit dann in mir, woher kommt sie?

Ohne Zweifel war alles so gewollt, und alles ergibt einen Sinn.

Ja, sicherlich. Sicherlich.

Gewiß.

Und... Man hat den Eindruck: Nur weil wir zu klein sind, können wir nicht verstehen.

Aber warum drückt es sich so aus: durch... Leiden, Leiden...?

(langes Schweigen)

Wir werden sehen.

 

1 Zakir Hussain, der am 3. Mai verstarb.

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2 Pavitra liegt gerade im Sterben. Vielleicht müßte man sagen: "stirbt gerade daran".

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3 Leonardo da Vinci war 1515 nach Frankreich gezogen, wo er 1519 starb.

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4 Ein Schüler hatte Sri Aurobindo folgende Frage gestellt: "Ist es wahr, daß das Bewußtsein, das die Form Leonardo da Vincis angenommen hat, sich vorher in Augustus Cäsar, dem ersten Kaiser von Rom, manifestiert hatte? Wenn es wahr ist, können Sie mir erklären, was Cäsar genau in der europäischen Geschichte repräsentiert und wie sich das Werk Leonardo da Vincis mit demjenigen von Cäsar verbindet?" Sri Aurobindo antwortete: "Augustus Cäsar organisierte das Leben des römischen Reiches, und diese Organisation diente als Rahmen für die erste Einführung der griechisch-römischen Zivilisation in Europa – er kam für diese Arbeit, und die Werke von Vergil, Horaz und anderen trugen weitgehend zum Erfolg seiner Mission bei. Nach dem Zwischenspiel des Mittelalters wurde die Zivilisation ein zweites Mal in eine Form geboren, die sich Renaissance nannte, in diesem Falle unter dem intellektuellen Aspekt statt unter dem vitalen, und Leonardo da Vinci repräsentierte einen höchsten Intellektuellen, der die Arbeit wiederaufnahm und in sich selbst das zusammenfaßte, was der Keim des modernen Europa werden sollte."

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5 Es handelt sich um einen Arzt. Vor einiger Zeit hatte er eine Bauchfellentzündung, und er hatte sich geweigert, sich operieren zu lassen, sehr wohl wissend, daß dies den sicheren Tod bedeuten würde – und der Tod trat nicht ein. Keiner der Ärzte, zu denen er gebracht worden war, konnte das Wunder erklären.

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