Mutters
Agenda
elften Band
DIE SCHRECKLICHE AGENDA
(Mutter wirkt abgespannt. Sie spricht nur mühsam,
als sei sie außer Atem.)
Ich habe nichts zu sagen. Wenn du etwas fragen willst, kann ich ein wenig sprechen.
(langes Schweigen,
Mutter hat einen keuchenden Atem)
Was hast du zu sagen?
Als du das letzte Mal von dieser langen Periode sprachst, sagtest du, das, was geschehen sei, habe gleichzeitig etwas Gewaltiges und... fast "Banales" an sich, so einfach sei es – du sagtest: "fast banal".
Ich erinnere mich nicht mehr.
Es ist zugleich gewaltig und... fast banal, so einfach ist es.
Es gab nur... Zum ersten Mal war das Gehirn beeinträchtigt, insofern als ich unkontrollierbare Zuckungen hatte. Ich kann sie kontrollieren, aber nur... Das ist sehr lästig. Deshalb verbringe ich völlig schlaflose Nächte. Ich muß wach bleiben, um... Aber etwas geschah – an dem Tag, wo du gekommen bist; welcher Tag war das?
Mittwoch.
Mittwoch abend lag ich so ausgestreckt, ohne zu schlafen, als ich plötzlich den Heiligen Petrus vor mir sah, und von ihm gingen Strahlen aus, die auf mich zukamen. Da verstand ich, daß sie Magie ausübten. Im ersten Augenblick war ich vollkommen... (wie soll ich sagen?)... wie verzweifelt – ich war müde und... (Mutter nimmt ihre Stirn zwischen die Hände und verharrt lange schweigend)
Ich kann nicht sprechen, ich bin es nicht mehr gewohnt...
Da rief ich Sri Aurobindo und sagte es ihm; er erwiderte: "Was soll dir das anhaben! Was können sie schon ausrichten? Sie können nichts tun, sie haben keine Kraft!" Das genügte. Und natürlich kam die Kraft, aber was für eine Kraft!... Unglaublich. Sie wirkte so (zerschmetternde Geste) auf die gesamte Welt. Ich verbrachte die Nacht in einer Art weißen Macht, die die Angriffe zurückstieß und Schläge austeilte... Mindestens sechs Stunden einer beherrschenden Macht, wie ich sie niemals zuvor verspürt hatte... Aber der Körper zieht daraus keinen Nutzen, das ist das Ärgerliche daran; mein Körper ist in einem Zustand...
Das [die Erfahrung der weißen Macht] hatte ich noch nie in meinem Leben. Mindestens sechs oder sieben Stunden lang eine weiße Macht, die alles zurückwies und... als zerschmetterte sie die Dinge... Es ist jedoch so, als ziehe der Körper keinen Nutzen daraus. Die Zuckungen sind fast unter Kontrolle – noch ein oder zweimal am Tag. Aber das 1... ist vorbei, es war so, und dann war es vorbei. Es kam nicht wieder.
Der Körper ist sehr müde – nein, es ist keine Ermüdung: unfähig!... Nicht, daß ich versuchen würde, die Dinge zu tun, und es nicht könnte, aber es ist kein Wille vorhanden, es zu versuchen.
Dennoch sagte der Arzt, daß es vom äußeren Standpunkt aus gesehen besser wäre, etwas zu tun und zu arbeiten, zum Beispiel Fotos zu signieren, solche Dinge: eine mechanische Arbeit.
Das... das ist abscheulich.
Ja.
Dies will nicht heilen (Mutter berührt ihre Brust). Es geht besser, aber es heilt nicht. Ich habe immer noch denselben Husten. Es scheint, es ist eine Lungenentzündung (Mutter deutet auf die linke Lungenspitze).
(keuchendes Schweigen)
Siehst du, ich habe Atemnot.
Ich weiß nicht... Manchmal ist der Körper müde; das bedeutet, daß er aufhören möchte. Aber es dauert nicht an, nur im Bewußtsein ist... Er hat immer noch sehr viel Energie – sogar Kraft; aber es ist... ich weiß nicht, im Bewußtsein ist etwas wie eine... Er weiß nicht, was von ihm erwartet wird: ob man von ihm die Energie erwartet, sich wieder aufzurappeln und normal zu leben, oder ob er... ob er weggeht (Geste eines Zerbröckelns). Und das ist abscheulich 2, es ist...
Verstehst du, er ist des Kämpfens müde.
(Schweigen
Satprem ist erschüttert)
Um ihn herum ist eine Atmosphäre... eine gemischte und komplexe Atmosphäre all jener, die nicht an die Möglichkeit glauben... Er glaubt an die Möglichkeit einer Verlängerung des Lebens – aber nicht unter diesen Bedingungen – nein, so nicht, das ist absurd!
So kann man nicht fortbestehen, das ist idiotisch.
Ich sehe deutlich, daß es von den Verhältnissen abhängt, denn in manchen Fällen sehe ich fast nichts mehr, und andere Male sehe ich fast klar... Dies (Mutter deutet auf ihr sehr geschwollenes linkes Auge) ist natürlich wieder ein Unfall, ein Emphysem, wie es scheint... Diese physische Störung ist unerträglich. Die Ärzte sagen alle, es sei durchaus heilbar... Mehr weiß ich nicht: es kann wieder völlig in Ordnung kommen. Wenn das der Fall ist, ist es gut. Aber...
Das Bewußtsein hier oben (über den Kopf weisende Geste) hat sich nicht verändert, aber... (Mutter nimmt ihre Stirn zwischen die Hände) die physische Übertragung ist nicht mehr sehr gut. Doch sie sagen, auch das könne wieder in Ordnung kommen.
Der Zustand ist folgender: Mal besteht ein Wille, und es gibt offensichtlich einen Fortschritt, dann wieder ist da... etwas wie ein Überdruß vor weiteren Anstrengungen.
(keuchendes Schweigen)
Das ist es, ständig bin ich außer Atem.
(Schweigen)
Vorher konnte ich mich immer in das Schweigen und die Konzentration flüchten, doch jetzt kommt immer diese Sache 3 – das war die größte Schwierigkeit. Im Schweigen und in der Konzentration konnte ich Stunden über Stunden verbringen, aber jetzt kommen diese unkontrollierten Bewegungen... das ist... das betrübt mich wirklich, verstehst du?
(Satprem fühlt, wie ihm die Tränen über das Gesicht laufen)
Denn früher konnte ich den ganzen Tag in konzentriertem Schweigen verbringen – diese Freude wurde mir genommen.
(Mutter nimmt einige Suppenpäckchen und reicht sie Satprem)
Ich habe große Schwierigkeiten zu essen.
(Dann tritt sie in eine lange Meditation,
bald beruhigt, bald nach Atem ringend,
aus der sie mit einem Zucken aufschreckt 4)
So ist es ständig.
(Mutter wechselt die Stellung und taucht erneut ein,
mal keuchend, mal erleichtert, schreckt wieder auf und schüttelt den Kopf, fällt dann zurück in ihr Keuchen, unterbrochen von kurzen Momenten der Ruhe. Plötzlich richtet sie sich auf.)
Auch schmerzen meine Beine.
(Sujata und Satprem versuchen, ihre Beine etwas zu massieren)
Die Beine tun mir weh.
(langes Schweigen,
mal erleichtert, mal sichtbar leidend,
dann schreckt Mutter erneut auf)
Das ist sehr ermüdend... Nicht wahr, zu keiner Stunde des Tages irgendeine Möglichkeit, sich wirklich auszuruhen.
Das ist es.
(langes Schweigen)
Wenn ich mich gehenließe, würde ich schreien.
Und Schreien erleichtert nichts, es wird nur schlimmer.
(Schweigen, Mutter taucht ein, um dann wieder aufzuschrecken)
Schrecklich!... Weißt du... In jener Nacht sagte ich mir: Ja, so ist die Hölle.
Schrecklich, einfach schrecklich.
Ich sehe nicht, warum ich da hindurch muß... Denn so war auch der Tod keine Lösung. Das ist schrecklich.
(Die Uhr schlägt, Satprem legt seine Stirn auf Mutters Schoß)
Ich bin versucht zu sagen: Bete für mich!
Ja, liebe Mutter.
(Mutter hat Tränen in den Augen) Weißt du, es ist so schrecklich... Ich möchte wirklich sagen: Bete für mich!
Ja, liebe Mutter 5 .
(Satprem legt seinen Kopf auf Mutters Schoß und geht dann in Sri Aurobindos Zimmer)
1 Wir nehmen an, daß Mutter von der Erfahrung dieser weißen Macht spricht.
2 Diese allgemeine Auflösung.
3 Diese unkontrollierten Bewegungen.
4 Während dieser ganzen Meditation war Satprem in einem solch intensiven Gebet, und es war wie eine leuchtende Macht, fast weiß, bläulich, solide, und ständig stiegen dieselben Worte in ihm auf, als kämen sie aus diesem Licht: Wir werden siegen, wir werden siegen...
5 Etwas später erinnert uns Sujata an das Gedicht von Sri Aurobindo, A God's Labour ("Eines Gottes Arbeit"): Ich grub durch der stummen Erde schreckliches Herz Und hört' ihre Schwarz-Messen-Glocke. Ich sah ihrer Todespein Quelle, Und den tiefen Grund der Hölle.... (Deutsche Übersetzung aus Flammenworte, Pondicherry, 1953) Vor einiger Zeit hatte ein Schüler, dessen Visionen Beachtung verdienen, folgendes gesehen: "Mutter stieg immer weiter hinab, drang in die Erde ein, dann war sie ganz wie von einer Kohlenschicht umhüllt. Dort, wo sie war, war Licht, aber der Faden, der sie mit ihrem Ursprung verband, war sehr gespannt, ein dünner Lichtfaden, der die Kohlenschicht durchdrang. Manchmal wurde der Kontakt unterbrochen, der Faden verschwand, und Mutter war in Schwierigkeiten."