Die Seele der Nationen
Evolution und Heilung
Inhalt
Seele? Nation? Eine Einleitung
KAPITEL 1. DIE EVOLUTION DER SEELE
Deutsche Romantiker und Idealisten
Memes von Mythos und Moderne – Spiral Dynamics
Dekonstruktionen der ersten Ebene
Exkurs: Von echten und falschen Mythen
KAPITEL 2
POLITISCHE VERSUS KULTUR-NATION – DER SUBJEKTIVE FAKTOR
Liberal und republikanisch – die politische Willensgemeinschaft
Kollektiv beseelt – das mythische Kultur-Volk
Der Untergang der Kulturnation deutscher Provenienz
Keine Frage von Territorium und Abstammung
Die seelische Nationenidentität
KAPITEL 3
DIE SEELE EINER NATION – VON BESTIMMUNG ZUR SELBSTBESTIMMUNG
Ein integrales Nationenverständnis
Reifestadien zur Weltgemeinschaft
Vom Volksgeist zur Nationenseele
KAPITEL 4
INTEGRALE FALLSTUDIE DEUTSCHLANDS – TEIL 1: DER AMBIVALENTE VORLAUF
Die Doppelnatur der deutschen Seele
Lebensreform und Nobelpreisflut
Weltranking deutscher Kreativität
Sinn- und Seelensuche in Film und Literatur
KAPITEL 5
INTEGRALE FALLSTUDIE DEUTSCHLANDS – TEIL 2: ABSTURZ UND LÄUTERUNG
Transformation zur Bescheidenheit
Fazit 1: Anerkennung wiedererlangter Integrität
Fazit 2: Innerdeutsche Integration
Fazit 3: Ein neues Selbst-Verständnis
KAPITEL 6
MODELLE ZUR SEELISCHEN INTEGRATION UND HEILUNG EINES LANDES
Heilungs- und Integrationsprozesse
Wahrheitskommissionen zur Vergangenheitsbewältigung
Integrationsakte nationaler Symbolik
Willy Brandt – Seelengeste für Deutschland
Wider die Schwere – die Wende der deutschen Flagge
Neigung zu deutscher Selbstkasteiung
Verhüllte Offenbarung – Reichstags-Impressionen
Die Macht der “Ersten Adressen”
Feiern und Gedenken – Zeiten der inneren Standortbestimmung
Licht und Schatten eines deutschen Novembertages
KAPITEL 7
WELTPOTENZIAL MIT SCHATTEN – PERSPEKTIVEN DER USA
Selbstverwirklichung über die Gattung hinaus
Der Schatten der Auserwähltheit
Visionssuche und Tiefenökologie
KAPITEL 8
VOR-GLOBALES EXPERIMENT – DIE EUROPÄISCHE UNION
Antragstellung mit Schattenarbeit
Modellversuch zur Weltgemeinschaft
Ein kritisch-integraler Ausblick
KAPITEL 9
TRANSFORMATORISCHE PRAXIS – DIE BEDEUTUNG DES EINZELNEN
Die Ähnlichkeit der Schattengestalt
Workshop zur Begegnung mit Seele und Schatten der eigenen Nation
Systemische Aufstellungen zum Nationenerbe
Seelische Langzeitfolgen kollektiver Traumata
Gruppenmeditationen als Heilungsfelder
Die multinationale Weltgemeinschaft
Jenseits aller Erzählungen – Fazit und Beginn
Seele? Nation?
Eine Einleitung
Es kann wohl nur einem Deutschen einfallen, das konzeptionelle Minenfeld nationaler Identität heute erneut aus visionärem Antrieb heraus durchqueren zu wollen. Diesmal jedoch weder um neue Minen zu legen, noch um vorhandene zu deaktivieren, sondern um zu erfahren, was jenseits des Feldes zu entdecken sein könnte. Die Deutschen hatten schließlich in ihrer heute nahezu vergessenen geistigen Hoch-Zeit des Idealismus und der Romantik eine genuin beseelte Philosophie zum Sein und Werden von Nationen entwickelt – und trotzdem später mit dem “Dritten Reich” eine furchtbare und seelenlose Realität ihres Landes geschaffen.
Ein Buch und eine Betrachtung von Seele ist deshalb immer auch eine Studie über Verführbarkeit. Seele markiert beim Einzelnen wie beim Land dessen stärkste und individuellste Instanz. Doch ihr Schatten ist zugleich unsere größte Schwäche. Wenn uns jemand positiv auf unsere “Besonderheit” anspricht, können wir meist nicht anders, als positiv zu reagieren. Was wir besser tun sollten, ist zu lernen, zu unterscheiden.
Die schattenhafte Vision der Nazi-Ideologie konnte deshalb ihre ungeheure Wucht entfalten, weil sie in verzerrter Form und perfekter Perfidie einer tiefen und legitimen Sehnsucht der Deutschen entsprach. Die Nazis vermochten es, den Deutschen scheinbar aus der Seele zu sprechen. Eine Interpretation dieser Art offenbart das “Dritte Reich” als völlig entgleistes, kollektiv seelisches Selbstverwirklichungsprojekt der Deutschen. Trotz der großen Seelen-Philosophien der deutschen Geistesgeschichte war die Masse der “Volksgenossen” für eine authentische Unterscheidung zwischen Seele und Schatten nicht vorbereitet. Sie jubelten ihrem Führerhelden angesichts dessen scheinbar heroischen Entschlossenheit zur Verwirklichung des Schicksals ihres Landes und ihres Deutschseins begeistert zu. Diese Mobilisierung tiefer seelischer Kräfte und Bestrebungen der Deutschen hilft zu erklären, warum es den Nazis darüber hinaus gelang, zumindest anfänglich auch einen Teil der geistigen Elite des deutschen Volkes – Künstler, Wissenschaftler, Denker – auf ihre Seite zu ziehen.
Der Nationalsozialismus tat dies im Gewand eines zur damaligen Zeit weltweit erwachenden, aber die deutsche Seele im besonderen Ausmaß ansprechenden neuen Zeitgeists. Dessen evolutionäres Ziel war und ist die Transformation dafür bereiter Individuen und Kollektive in ein neues, Mystik und Ratio integrierendes und zugleich transzendierendes Bewusstsein. Adolf Hitler und die mit ihm verbundenen Kräfte machten sich diesen Zeitgeist zunutze, um im Schatten jener Zukunftsvision den Rückfall und den Sturz Deutschlands in dunkle Atavismen des Menschlichen herbeizuführen.
Deutschland hat seitdem einiges im Spiegel seiner blinden Reaktion auf diese Reichs-Verführung gelernt und Einsicht gelobt. Doch noch immer herrscht Befangenheit angesichts der Frage, inwieweit und warum gerade Deutschlands Vision einer seelischen Evolution des Nationalen beim Versuch ihrer Umsetzung zum Zerrbild mutierte. Es ist die Frage nach dem Entwicklungsstand der deutschen Seele.
Meine Nachkriegsgeneration sah ihr Erbe an nationaler Identität jedenfalls auf das Pflichtteil reduziert. Eine eher schmale Lebensbasis, denn Deutsche sind, oder zumindest waren sie es in ihrer romantischen und idealistischen Vergangenheit, als “Seelensucher” bekannt. Seelensuche gehört sozusagen zu den konstituierenden Bestandteilen deutscher Natur.
Doch fast gleichermaßen bekannt sind die Deutschen für ihre Neigung, ihre Schatten, ihre dunklen Anteile zu beklagen. Dichtern wie Hoffmann von Fallersleben fiel schon vor fast 200 Jahren diese notorische deutsche Selbstverurteilung ins Auge. “Liebend alle Welt umfassen, sich verachten, sich nur hassen, kann’s der Deutsche niemals lassen?”1 Tatsächlich muss beides im Gleichgewicht stehen: die Integration der eigenen Seele sowie die Aufmerksamkeit für die sie begleitende Schattengestalt. Das gilt für die nationale Gesellschaft als Ganzes wie auch für jeden Einzelnen von uns, die wir alle von Licht und Schatten unseres jeweiligen Landes geprägt sind. Nach seelischer Wahrheit und Aufgabe hinter nationaler Identität zu fragen ist für mich selbstverständliche Folgerung aus deutscher Geschichte. Im Unterschied zu Idealismus und Romantik haben wir heute allerdings die Einsicht und auch das Rüstzeug, um zugleich einen kritischen Blick auf die Beschaffenheit und das Integrationspotenzial des Schattens dieser nationalen Essenz zu werfen.
Beide Perspektiven zusammen ergeben das ganze Bild. Es ist eine integrale Gesamtschau aus zugleich transpersonaler wie aufgeklärter Selbsterkenntnis. Sie bedeutet keine Rückkehr zum unhinterfragten Mythos des Nationalen, aber auch nicht das Verharren in dessen unabschließbar scheinender Dekonstruktion.
Diese zunächst vom Einzelnen bei sich selbst erlebte Integrations- und Heilungs-Erfahrung ist es, die eine entsprechende Weiterentwicklung der nationalen Gesellschaft ermöglicht und initiiert. Jeder Mensch teilt – im unterschiedlichen Maß – Seelenqualitäten wie Schattenaspekte mit seinem Land (oder mit mehreren Ländern). Schatten, so beschreibt es der Schweizer Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung, sind abgespaltene, unzeitgemäße, übersteigerte und unintegrierte Teile unseres wirkli chen Selbst. In integraler Folgerung weisen Nationen gleich Individuen eine entwicklungsmäßige Spannung zwischen Seelenqualitäten und Schattenaspekten auf. Nationale Gesellschaften müssen und werden deshalb bei ausreichender individueller Initiative den gleichen Integrations- und Klärungsprozess vollziehen. Der Einzelne und dann die Gemeinschaft müssen die seelischen Qualitäten der Nation zu unterscheiden gelernt haben, um sich nicht von deren egoischem Schatten festhalten zu lassen. Deutschland ist ein Fallbeispiel für diese letztlich Reifung bringende, doch in ihrer Unaufgelöstheit oft als bitter und leidvoll erfahrene Interaktion von Licht und Dunkel. Die Kriegsund Nachkriegsgenerationen zeigen sich in der Haltung zu ihrem Land besonders gespalten. Die Älteren erleben diese – ihre eigene – Gebrochenheit oft als leidvoll, jüngere Deutsche macht sie eher ratlos.
Der akademische Diskurs des Nationalen lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass nationale Identität heute in vielen anderen Ländern ebenfalls als gebrochen wahrgenommen wird. Es scheint verständlich: Die Schatten des Nationalismus waren im vergangenen Jahrhundert ins Unermessliche gewachsen und sind auch heute als potenzielle Bedrohung präsent. Nicht nur in Deutschland resultiert aus dieser Gebrochenheit eine oft bedrückende Entmutigung, die der möglichen Vision und Vorstellung einer tragfähigen Weiterentwicklung nationaler Identität entgegensteht. Es ist ein Mangel an Vertrauen, der sich trotz – aber auch: wegen – EU, Internet und Globalökonomie nicht von selbst aufheben will.
Was also fehlt, um jenseits der meist als fremdbestimmt erlebten politischen, wirtschaftlichen und Sicherheits-Strategien tief in uns selbst den Mut und die Vision für diesen nächsten Schritt zu finden? Was können wir tun, um sowohl unsere eigene nationale Erfahrung zu leben als auch uns für das neu entstehende Potenzial des Globalen und Postnationalen zu öffnen? Wie können wir frei werden für Europa und die künftige Weltgesellschaft, ohne dabei die Essenz unserer eigenen Länder zu verlieren?
Vor Jahren war ich mit anderen im Haus eines Freundes bei Münster. Wir trafen uns als Arbeitskreis zum internationalen Auroville-Projekt in Südindien. Unsere Aufgabe bestand darin, einen der Länderpavillons in einem Viertel der entstehenden Modellstadt zu entwerfen. Ein Gebäude, dessen Gestaltung und Funktion “deutsche Seele” zum Ausdruck bringen soll.
Wir versuchten gemeinsam, uns von verschiedenen Seiten dem fremden und unerschlossenen Terrain zu nähern. Aus kontemplativem Schweigen heraus antwortete jeder mit Stichworten auf scheinbar einfache Fragen wie: Was magst du nicht an diesem Land? Die Antworten darauf kamen schnell und klangen vertraut. Die deutsche Prinzipienreiterei gehörte dazu, der pathetische Militarismus seiner jüngeren Geschichte, der humorlose Bierernst der Teutonen.
Doch der Koan lautete anders. Was ist es, was du an Deutschland – liebst? Er traf mich wie ein Schlag, wie eine jähe Sturmbö, die mich an einen tiefen Ort in mir wirbelte. Um mich herum schattenhafte und riesenhafte Gestalten mit strengen Stimmen: Was wagst du da zu fragen?! Weißt du nicht, dass genau dieser Weg zum Wahn der Nazis führt?! Ich fühlte mich zutiefst ertappt und erschrocken. Nur schwer gelang es mir, den Stimmen und ihrem Druck standzuhalten.
Und genau das führt(e) zum Durchbruch. Direkt vor meinem inneren Auge schob sich ein riesiger dunkler Felsblock zur Seite und gab den Blick frei auf eine weite und lichterfüllte Landschaft. Nicht in spezifisch deutscher Gestalt, sondern stellvertretend für das jeweilige Stückchen unserer Erde, das wir als unsere Heimat empfinden. Es war wie ein sich offenbarendes Gemälde, das mich mit nie gekannter Freude und Leichtigkeit erfüllte. Die einfache Frage, so unschuldig in den Ohren der Angehörigen vieler anderer Nationen, konnte bei mir die Sperre durchbrechen und mich von meinem internalisierten deutschen Kollektiv-Trauma befreien. Ein unbefangener Zugang zum “deutschen” Teil meiner Identität wurde endlich sichtbar.
Das vorliegende Buch richtet sich jedoch keineswegs nur an Deutsche, es wendet sich gleichermaßen an seine weltweiten Nachbarn. Alle Nationen, seien sie Sucher ihrer Identität oder nicht, agieren im Verborgenen aus ihrem seelischen Potenzial heraus. Sie entwickeln dabei, gleich Individuen, zunächst und für lange Zeit im Vordergrund stehende nationale Ego-Formationen und Schattenprojektionen. Deutschlands jüngere Geschichte verdeutlicht die Risiken und das egoistische Selbsttäuschungspotenzial, denen sich jedes Land bei dem Versuch der Integration seiner Qualitäten und Aufgaben ausgesetzt sieht. Deutschland bietet aber auch Anschauungsmaterial für die Aufarbeitung der möglichen Mega-Katastrophe auf diesem Weg. Beides kann zum Versuch der “Selbstverwirklichung” eines Landes gehören.
Gleichwohl wird mancher fragen, ob “Selbstverwirklichung” mit ihren Anforderungen innerer Integration und Schattenarbeit nicht doch ein eher müßiges Vorhaben oder einen unangemessenen Begriff darstellt. Die Antwort lautet: Für die dafür bereiten Nationen verkörpert sie im Gegenteil die evolutionär dringlichste, und das heißt eine für das Überleben der von ihnen abhängigen Menschen und Länder ausschlaggebende Notwendigkeit. Selbstverwirklichung ist unabdingbare Vorbereitung für ein neues integrales Bewusstsein, das uns stärker von unserem wirklichen Selbst aus und weniger schattengetrieben mit anderen zusammenleben lässt. Sie ist sowohl für das Kollektiv wie für den Einzelnen die evolutionäre Basis für eine friedliche und auch innerlich weltumspannende Existenz. Das Freisetzen unserer von Ego geläuterten, “ureigensten” seelischen Qualitäten ist die stärkste Kraft, die wir zur Evolution und zu unserer eigenen Entwicklung beitragen können.
Analog der individuellen Seele durchläuft die nationale Psyche einen evolutionären Prozess der Individuation. Die Nation erfährt sich schließlich im Tiefsten, relativ unabhängig von Konstituenten wie gemeinsamer Sprache, Abstammung, Hautfarbe und Religion, als seelische Werte- und Schicksalsgemeinschaft, als eine definierte Menschengruppe mit spezifischen Erfahrungen und Aufgaben.
Doch was bedeutet dieser Reifungsprozess konkret, was können wir heute von einem Akt der Integration nationaler Qualitäten und der Arbeit an kollektiven Schatten erwarten?
• Nur wenn eine Gesellschaft und ihre Angehörigen die authentischen und jeweils einzigartigen Qualitäten des eigenen Landes ausreichend integriert, das heißt sich seelisch bewusst und zu eigen gemacht hat, kann sie die Herausforderung des nationalistischen Egos rechter Fanatiker und Populisten mit wirklicher Substanz beantworten. Sie wird deren meist vereinfachten und mythisch verbrämten Parolen nicht nur mit guten Argumenten, sondern vor allem aus der inneren und zeitgemäß verstandenen Wahrheit der seelischen Wertegemeinschaft heraus begegnen, die diese Nation ausmacht.
• Insofern sich eine Gesellschaft der sich entwickelnden Werte und Qualitäten ihrer nationalen Individualität sicher ist, kann sie neuen Minderheiten und Einwanderern gegenüber eine klare Integrationspolitik formulieren. Sie führt keine Kopftuchdiskussionen, aber sie weiß, wo sie für ihre essenziellen, oft bitter errungenen Freiheiten und Erkenntnisse einstehen muss.
• Übernationale Zusammenschlüsse wie die Europäische Union setzen zumindest ein gewisses Maß an kollektiv-seelischer Bewusstheit und Differenzierung bei den Mitgliedsnationen voraus. Dazu bedarf es auch der Arbeit an den jeweiligen nationalen Schattenaspekten der beteiligten Länder. Werden unzureichend integrierte Minderheiten, zu hohe soziale Spannungen oder eine unaufgearbeitete Vergangenheit nicht von dem betreffenden Land selbst angegangen, werden diese Schatten den anderen Unionsmitgliedern zur Last fallen. Überschreitet die Zahl dieser sich kaum oder zu langsam entwickelnden Mitglieder eine kritische Masse, droht die Gemeinschaft zu stagnieren oder wieder zu zerfallen.
• Die stärkste Kraft für eine harmonischere und nachhaltigere Entwicklung zu supranationalen Unionen und zu einem weltzentrierten Bewusstsein liegt jedoch darin, dass eine genügende Zahl von Menschen heute eine grundlegende Erfahrung sucht (und findet), die nicht zuletzt dank gewachsener Bewusstseinsfreiheit und komplexerer Weltperspektive im größeren Ausmaß als in der Vergangenheit realisiert werden kann. Es ist die Erfahrung der seelischen Einheit und Identität der Menschen und Völker, so wie sie bisher vor allem von Mystikern, Philosophen und Weisen aller Zeiten und aller Kulturen bestätigt wurde. Dieses tiefste Wissen universaler Verbundenheit findet heute seine integrale Synthese: Es geht einher mit dem gleichzeitigen Erkennen der Einzigartigkeit des seelisch-individuellen Entwicklungsganges jedes Menschen und jeder Nation.
Viele große Denker und Visionäre bestätigen uns, dass wir gegenwärtig an einem evolutionären Wendepunkt, integral gesehen an der Schwelle eines transnationalen und weltzentrierten Bewusstseins stehen. Der Schritt dahin scheint paradoxerweise zunächst in einer neuen und differenzierteren Wahrnehmung der eigenen nationalen Identität zu liegen.
Was wir brauchen, um hierbei der Falle des Nationalismus zu entgehen, um nationale Seele von nationalem Ego unterscheiden zu können, sind neue Werkzeuge und Perspektiven.
Gemeinsam mit der US-Psychologin Soleil Aurose entwickelte ich vor mehreren Jahren “Soul of Nations”-Workshops, die seitdem in einer wachsenden Zahl von Ländern mit viel Zustimmung angeboten werden. Die Teilnehmer erfahren dabei ihre internalisierte Teilhabe an den jeweils einzigartigen Qualitäten der kollektiv-seelischen Schicksals- und Wertegemeinschaft, die wir unser Land nennen. Und oft ist es erst diese Erfahrung, die eine wache Betrachtung der ebenso spezifischen und uns mitprägenden Schatten des nationalen Egos erlaubt und erfordert.
Dieses zunächst vom Einzelnen, dann von der Gemeinschaft erlebte Gewahrwerden der seelischen Individualität der Nation ist Voraussetzung für deren Schritt in die evolutionär nächste, in die postnationale Stufe. Integration beginnt, wenn genügend Angehörige einer Nation den Prozess bei sich selbst vorwegnehmen. Es sind diejenigen, die als Erste dem evolutionären Ruf nach der Tiefe und Weite eines weltzentrierten Bewusstseins Folge leisten.
Wir haben die Wahl. Die Optionen sind zum einen die leidvolle, evolutionäre Wildwasserfahrt ins Unbekannte mit vielen über Bord gehenden Opfern. Zum anderen aber bietet sich erstmals, vergleichbar etwa wie beim Weltthema Ökologie, die Möglichkeit einer ko-evolutionären und integralen, das heißt einer “alle und alles” in bestmöglicher Weise integrierenden Transformation. Es ist ein Weg, der herausführen kann aus der widersprüchlichen Dynamik nicht enden wollender Kreisläufe nationaler Identitätsfindung auf der einen und hoffnungstragender, aber zu kurz angesetzter Globalisierungstrends auf der anderen Seite.
Lange Zeit lag diese Entwicklungsoption im Schatten des Kriegs- und Rassenwahns des 20. Jahrhunderts. Das verhinderte den erneuten Blick in den Abgrund, damit aber auch in die Tiefe des Nationalen. Diese Tiefe wird durch unsere seelische Dimension vorgegeben, doch nur zu oft stoßen wir zuerst auf abgründiges Ego.
Vielleicht ist jetzt, nachdem das Trauma der nationalen Exzesse des vorigen Jahrhunderts in zweiter und dritter Generation zu heilen beginnt, der frühestmögliche Zeitpunkt gekommen, um das Thema der Evolution und Transformation nationaler Identität individuell und kollektiv erfahrbar zu machen. Da die Gefahren unerfüllter Nationalität jedoch weiterhin weltweit virulent sind und den ohnehin steigenden Entwicklungsdruck unserer Gegenwart erhöhen, ist es für diesen Schritt zugleich höchste Zeit.
Es ist Kairos, die richtige Zeit eben.
Kapitel 1
Die Evolution der Seele
Nationale Weltanschauungen und die mit ihnen verbundenen Strömungen haben in der Geschichte vieler Länder ihre Schatten geworfen. Angesichts dieses Leids und Unrechts gerät jedoch in Vergessenheit, dass Schatten sowohl auf dem individuellen als auch auf dem kollektiven Erkenntnisweg nichts anderes als verzerrte (Seelen-)Aspekte sind, die der Heilung bedürfen. Doch was ist “Seele” überhaupt?
Dass Mensch und Welt ein sie bestimmendes Selbst aufweisen, etwa als Seele oder als inneres Wesen (lat. essentia) bezeichnet, darüber war und ist sich der größte Teil der Menschen in fast aller Vergangenheit und Gegenwart einig. Nach Ansicht des an der amerikanischen Yale-Universität lehrenden Entwicklungspsychologen und Kommunikationsforschers Paul Bloom “handelt eine der aufregendsten Theorien der Kognitionswissenschaft von einer vorgegebenen Grundeinstellung des Menschen. Sie besagt, dass Dingen, Menschen und Ereignissen eine unsichtbare Wesenhaftigkeit innewohnt, die sie erst zu dem macht, was sie sind.”2
Anthropologen und interdisziplinär forschende Wissenschaftler haben darauf aufbauend die Hypothese aufgestellt, dass diese Annahmen instinktiv vorhanden und weltweit verbreitet sind.
Die apriorische Wesenhaftigkeit, die der Mensch an sich selbst und in der Welt wahrnimmt, ist Grundlage für die große Mehrzahl traditioneller und philosophischer Welt- und Men schenbilder. Als Atman, Tao oder Buddha-Natur bildet sie Bestandteil der meisten spirituellen Psychologien des Ostens und findet in fast allen Philosophien und monotheistischen Religionen des Abendlandes und des Nahen Ostens ihre Entsprechung. Deren Mythen beschreiben eine uns innewohnende Seele als Ausdruck und Spiegelung eines göttlich-geistigen Ursprungs. Diese Essenz ist der buchstäbliche Grund, in dem und warum wir im tiefsten Innern eins mit der Welt sind. Sie “wird … als die authentische, fundamentale und gegebene Natur dessen angesehen, wer wir sind. Ihre Erfahrung und Realisierung ist in allen Traditionen die zentrale Aufgabe spiritueller Arbeit und Entwicklung.”3
Doch diese Traditionen blieben nicht ohne Gegenüber. Die moderne Hirnforschung sieht in Seele und Ich anstatt emotionaler oder gar mythischer Wesenhaftigkeit lediglich das Konstrukt eines neurophysiologisch generierten Selbst-Impulses.4 Entsprechend bestünde keine Veranlassung mehr, die traditionelle Unterscheidung zwischen Seele und ihrem Schatten, dem Ego, vorzunehmen.
In der Alltagssprache beziehen wir uns heute mit Seele meist auf eine Art empfindlich-emotionales Selbstwertgefühl, das uns eine weitgehend unbewusste, spezifische Prägung verleiht.
Das sich rational erkennende und definierende Ich, so klären uns Neurophysiologie und Hirnforschung bisher noch behutsam auf, ist bloßes Konstrukt, ist ein Nichts in fassadenhafter Individualität. Allerdings mit evolutionsbiologischer Bedeutung für Gattung und Individuum. “Genau genommen gibt es das Ich nicht … Das Gehirn erzeugt diese Illusion, um sich besser in der Welt orientieren zu können.”5
Dabei repetiert neue Wissenschaft hier nur altes Wissen. Buddhismus und Veden hatten die Persona, die Maske, schon lange als solche bloßgestellt. Sie ist bei ihnen der Schatten einer tieferen Seins-Wirklichkeit.
Wäre es nun denkbar, dass Neurophysiologie wie Geistestradition jeweils nur Teile des Ganzen sehen und dass das wahre Ich beides ist: ein uns mit unserer Erschaffung gegebenes und uns alle vereinendes Sein – und zugleich eine in jedem Menschen, dessen einzigartiges Werden zum Ausdruck bringende Kraft? Könnte unser innerstes Selbst sowohl ein Potenzial höchsten Bewusstseins darstellen als auch aus einer sich in relativer Freiheit individualisierenden und evolvierenden Ausdrucksform dieses Bewusstseins bestehen? Wobei dieses werdende Selbst dann zunächst ein vorbereitendes Schatten-Ich, ein “Ego”, in unserem äußeren Alltagsbewusstsein konstruieren würde?
Es ist eine revolutionäre Vorstellung unseres tiefsten Selbst, die über die zyklischen und unveränderlichen Wahrheiten von Mythen und Religionen wie auch über die neurophysiologische Realitätsreduktion postmoderner Erkenntnis hinausgeht. Was sich darin ausdrückt, ist ein drittes und beide Haltungen integrierendes Paradigma, das heißt nicht weniger als ein neues Welt- und Selbstverständnis des Menschen.
Um in der Lage zu sein, nationale Seele zu ermessen, einen Blick in den Abgrund und damit auch in die Tiefe dieses kollektiven Selbst zu werfen, bedarf es einer Integration jener seelischen Qualitäten und eine ausreichende Heilung der egoischen Schatten des Einzelnen wie der Nation. Es ist dieser Prozess, der es ermöglicht, evolutionäres Potenzial freizusetzen und letztlich Nationen und Menschheit aus den bestehenden Krisen zu führen.
“Evolution” in erweiterter Interpretation ist tatsächlich der Schlüsselbegriff des als integral bezeichneten ganzheitlichen Denkens und Bewusstseins. Das Modell einer Evolution des Bewusstseins in verschiedenen, aufeinander aufbauenden Stufen steht dabei im Zentrum aller integralen Entwicklungslehren. Philosophiegeschichtlich war es Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der dabei das Grundelement stufenweiser Entwicklung als Erster vorgab. Jede These ruft eine Antithese hervor, beide finden sich in einer nächsten Stufe, der Synthese, in transformierter Form vereint. Diese wird, “wenn ihre Zeit erfüllt ist”, selbst wieder zur These. Im Gegensatz zeigt sich eine tiefer liegende, verborgene Einheit, ein Zusammengehören des Verschiedenen. In seiner Phänomenologie des Geistes beschreibt Hegel die dialektische Bewegung als “den Gang des Geistes in seiner Selbsterfassung”6.
Integrale Denker wie der Jesuit und Wissenschaftler Teilhard de Chardin, der Yogi und Evolutionsphilosoph Sri Aurobindo Ghose, der Kulturtheoretiker Jean Gebser, der Anthroposophie-Begründer Rudolf Steiner sowie zeitgenössische Bewusstseinsforscher wie Ken Wilber, Don Beck und andere trugen seit Beginn des vorigen Jahrhunderts jeder auf seine Weise zur komplexen Sicht der Entwicklung des Bewusstseins als der grundlegenden Evolutionsschiene bei.
Diese Evolution der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung liegt damit nicht nur der materiellen Weltentstehung, sondern auch der menschheitlichen Geschichte und letztlich dem Leben jedes Einzelnen zugrunde. Es ist dies allerdings keine teleologische Zielgerichtetheit, also göttliche Bestimmung, wie sie etwa christliches “Intelligent Design” proklamiert. Integral verstandene Bewusstseinsentwicklung hat einen evolutionären Freiheitscharakter, fast könnte man sagen, eine Unbestimmtheitskomponente, die neuesten Modellen des aktuellen Evolutionsdiskurses entnommen sein könnte7.
In der Darstellung Ken Wilbers und anderer integraler Lehrer bildet Bewusstseinsevolution den reziproken Prozess der vor dem Urknall in unvorstellbarer Zeitverdichtung vollzogenen Involution höchsten, das heißt absoluten Seins und Bewusstseins in die Materie8.
Diese Evolution ist in Sri Aurobindos Sicht sowohl die schrittweise Entfaltung jener zugleich immanenten wie transzendenten Information und Seinsqualität als auch deren unendlich vielgestaltige Individuation in der manifesten Welt9. Dies beschreibt und definiert das Bild einer evolutionären, integralen Seele in aller lebendigen Natur. Im fortgeschrittenen Grad der Individualisierung ist sie sowohl im einzelnen Menschen als auch im gewissen Maß in menschlichen Gemeinschaften wie der Nation zu finden.
Im Folgenden seien drei für die Darstellung von Struktur und Evolution nationaler Identität besonders hervorzuhebende Wegbereiter und Ausdrucksformen dieses integral-evolutionären Welt- und Selbstbildes vorgestellt. Den deutschen Idealisten und Romantikern widmen wir uns, weil ihnen als früh-integralen Denkern eine oft verkannte Schlüsselrolle in der jüngeren deutschen Seelengeschichte zukommt. Der Blick auf Spiral Dynamics kann uns das derzeit umfassendste integrale Evolutionsmodell kollektiven Bewusstseins erschließen.
Und das integrale Seelenverständnis Sri Aurobindos ist für uns wichtig, weil es erstmals die Struktur einer evolutionären Essenz auch in Nationen wahrnimmt.
Deutsche Romantiker und Idealisten
Jahrzehnte vor Darwin lehrten und diskutierten in Jena, Tübingen und Weimar die – meist jungen – deutschen Idealisten und Romantiker neue Ideen der Weltentwicklung. Ihre Philosophie schulen nahmen das integrale Paradigma erstmals in philosophischer Herleitung vorweg. Hegel und andere idealistisch und romantisch orientierte Denker definierten Weltgeschichte als Evolution des Bewusstseins10.
Weltentwicklung wird von ihnen seit deren Beginn, das heißt also bereits vor dem Auftauchen des Menschen, als fortschreitende irdische Offenbarung des “Absoluten Geistes” im Zusammenspiel sich entfaltender menschlicher Freiheit verstanden.
Entsprechend ist Geschichte “nicht das blinde Ungefähr der (zeitgenössischen) Materialisten, dem Zufall und dem seelenlosen Mechanismus preisgegeben. Sie ist sinnhaft, wenn auch nicht auf ein geistig vorweg erfassbares Ziel hin geordnet. Die Verwirklichung der Humanität ist ein experimentum mundi, ein offener Prozess, dessen Verlauf vom Menschen abhängt, auch wenn im Hintergrund eine Naturabsicht wirkt11.”
Der Philosoph Johann Gottfried Herder (1744–1803) war ein entscheidender Inspirator der deutschen Romantik und des deutschen Idealismus. Er vertrat die Ansicht, dass der Mensch nach seinem Auftauchen innerhalb der Abfolge der Lebensformen zunehmend zum Mit-Träger der Evolution wird, zum koevolutionären Subjekt. Diese Sicht ist nicht zu verwechseln mit mythischer Anthropozentrik. Im Gegensatz zu dieser, die dem Menschen schon bei der Schöpfung eine festgelegte Rolle zuweist, kommt in idealistischer und später in integraler Interpretation erst dem entstehenden Menschen im Laufe der Evolution eine ko-kreative Bedeutung zu. Diese Bedeutung ist zunehmend und entspricht der jeweiligen Entwicklungsphase seines Bewusstseins bzw. dem Reifegrad seines seelischen Wachstums.
Herders Ideen zur Entwicklung und Entfaltung eines der Welt und dem Menschen innewohnenden Bewusstseins wurden von Johann Wolfgang von Goethe, Hegel und Friedrich Schiller aufgegriffen und erweitert. In ihrer Gesamtheit entwarfen diese deutschen Philosophen und Visionäre die Umrisse einer neuen, zugleich postreligiösen wie postmaterialistischen Weltsicht. In dem Weltbild einer geistig intendierten und beseelten Evolution mit der Reifung des Menschen zum ko-evolutionären Partner der Natur trat ein zentrales Merkmal des evolutionären oder integralen Paradigmas zum ersten Mal als Weltanschauung in Erscheinung. “Insbesondere in dem genuin romantischen, aber zugleich durch und durch rationalen Geist Schellings … nahm eine bemerkenswerte Vereinigung von Wissenschaft und Spiritualität erste Formen an. Indem er die evolutionären Gedanken eines ganzen Jahrhunderts mit der idealistischen Philosophie des Kant-Schülers J. G. Fichte verband, präsentierte Schelling eine Alternative zu dem immer weiter vordringenden Materialismus, … einen evolutionären Idealismus12.”
Wir werden in Kapitel 4 und 5 bei der Betrachtung der jüngeren deutschen Seelengeschichte sehen, wie sehr dieser Idealismus Ausdruck eines inneren Strebens dieses Landes ist – und wie sein Schatten die Deutschen gleichwohl ins Verhängnis führte.
Memes von Mythos und Moderne – Spiral Dynamics
Das Modell von Spiral Dynamics (SD) beschreibt die evolutionäre Bewusstseinsentwicklung von Gesellschaften. Das Konzept wurde von den US-Soziologen Don Beck und Chris Cowan auf Grundlage der Theorien von Clare W. Graves entwickelt und erstmals 1996 in einem gleichnamigen Buch vorgestellt.
Das Modell kann helfen, eine Gesellschaft evolutionär zu verorten, und damit im Kontext ihrer jeweiligen Seelenstruktur deren besondere Chancen und Aufgaben bei jedem Entwicklungsschritt deutlich machen. Hier soll das speziell am deutschen Beispiel geschehen.
Beck und Cowan bezeichneten die einzelnen Stufen der kollektiven Welt- und Selbstbilder als (Wert-)Memes. Sie stellen da mit das kulturelle Pendant zur biologischen Gen-Dynamik dar – ein Meme markiert hier einen Bewusstseinsinhalt im Sinne eines definierten Weltbildes oder Paradigmas, der durch Kommunikation weitergegeben wird und sich damit vervielfältigt.
Seinen Namen hat SD durch die im Modell in Form einer Spirale repräsentierten Bewusstseinsentwicklung. Sowohl Don Beck als auch Ken Wilber sind der Auffassung, dass jedes Meme gesunde und ungesunde (pathologische) Versionen aufweist. Man könnte auch sagen, dass es jeweils einen spezifischen Gewinn, aber auch einen bestimmten Verlust an Erkenntniskraft und Moral bewirkt. Eine derart interpretierte Bewusstseinsevolution steht demnach nicht für einen simplifizierten und stetigen “Fortschritt zum Besseren”. Im Gegenteil macht die Meme-Darstellung deutlich, dass erst die integrierende und würdigende Gesamtschau aller bisherigen Bewusstseinsstufen und die gleichzeitige Unterscheidung ihrer Qualitäten und Schattenseiten einen wirklichen Fortschritt bilden können.
Heute sind weltweit in unterschiedlicher Verbreitung eine Reihe der in SD aufgelisteten Memes im – meist schwierigen – Miteinander zu finden. Die gegenwärtige Entwicklung nationaler Gesellschaften wird besonders von folgenden, in ihrer evolutionären Chronologie aufgelisteten Weltbildern oder “Memes der ersten Ebene” bestimmt:
• Mythos/Religion
• Ratio/Moderne
• Postmoderne
In SD-Perspektive markiert die postmoderne, sozusagen die fortgeschrittene Rationalität, die Voraussetzung und Schwelle zum großen Schritt in eine völlig neue Meme-Kategorie, eine ungleich komplexere und tiefere Bewusstseinsart. Dieses integrale Bewusstsein der “zweiten Ebene” ist vergleichbar mit dem Dimensionswechsel vom flachen zum räumlichen Sehen.
Die zweite Meme-Ebene beginnt mit den ersten, systemischen Stufen des integralen Bewusstseins. Dieses ist in allen seinen Stufenfolgen dadurch gekennzeichnet, dass es erstmals die Essenz aller vorhergehenden Memes in einer sich evolutionär ergänzenden Zusammenschau erkennen kann.
Über die weitergehenden, d.h. in die Zukunft reichenden Stufen und Entwicklungen des integralen Bewusstseins leistet SD keine spezifischen Vorhersagen.
Wir stehen heute, am Ende der Postmoderne, in der SD-Skala direkt am Beginn dieser neuen Evolutionsperspektive, an der Schwelle der Entfaltung dieses menschlichen Bewusstseins zweiter Ordnung. Wie wir weiter unten am Beispiel der seelischen Evolutionszyklen Sri Aurobindos und integraler Schattenarbeit sehen werden, kann erst diese meme-integrierende Sichtweise einen entscheidenden Schlüssel zum Verstehen und Bewältigen nationaler Geschichte und internationaler Konflikte liefern.
Dekonstruktionen der ersten Ebene
SD bietet das Bild einer Spirale, anfänglich mit sehr flachem Anstieg, Tausende von Jahren fast gleichbleibend, heute jedoch sich fast exponentiell beschleunigend. Die Memes der ersten Ebene unterscheiden sich, wie erwähnt, von denen der zweiten Ordnung vor allem dadurch, dass sie deren Integrationskraft, die wesentliche Qualität der integralen Bewusstseinsstufen, noch nicht aufweisen. Die Stufen der ersten Ordnung oder Ebene kämpfen deshalb in der Regel erbittert gegeneinander. Jedes Meme dieser Ebene spricht den jeweils vorangegangenen Paradigmen (Memes) praktisch allen Wert ab. Sie degradieren oder bekämpfen deren Exponate und Exponenten mit den Mitteln, die dem neuen Meme immanent sind. Die Skala reicht von brutaler Hinrichtung und physischer Zerstörung bis hin zu linguistischer Diskreditierung und Dekonstruktion.
Exkurs: Von echten und falschen Mythen
Von den Rückzugsgefechten des religiös-mythischen Memes gegen den weltweiten Vormarsch des wissenschaftlich-rationalen Memes können wir heute täglich in den Nachrichten lesen. Sie finden auf globaler Ebene vor allem im Terror des mythischen Memes in seiner fundamentalistischen Ausprägung gegen das oft selbstherrlich und imperial auftretende, rational-aufgeklärte Zivilisationsmodell ihren Ausdruck.
Doch in subtilerer Weise ist auch eine reziproke, meme-ideologische Dekonstruktionsdynamik bei uns im westlichen Alltag zu beobachten.
Es braucht dazu keine äußere Gewalt mehr, es ist die viel wirksamere, völlige Entwertung des zentralen Wertes des religiösen Memes: Mythos, so der Religionshistoriker Mircea Eliade, ist unveränderliche Schöpfungsgeschichte, ist ewige, uns überlieferte Wahrheit13.
Der Begriff Mythos geriet in moderner Umgangssprache nicht zufällig zum verbreiteten Synonym für Lüge, Illusion, Ammenmärchen, kurzum für naives und unaufgeklärtes Denken. In alltäglichem Sprachgebrauch perpetuieren und bestätigen so das postmoderne und das moderne Meme die vernichtende Dekonstruktion des Kernbestandteils ihres Vorgänger-Memes. Wer darauf achtet, kann einer Vielzahl ehemals respektierter, spiritueller Begriffe in ihrer positivistischen Neudeutung und Abwertung wiederbegegnen: Guru, Avatar, Esoterik und New Age sind nur ein paar dieser negativierten Wörter.
Dazu jedoch eine Anmerkung. Keineswegs soll das bedeuten, dass es keine falschen Mythen gäbe. Es macht sich nur keiner die Mühe mehr, sie von echten Mythen zu unterscheiden. Welche fatalen Folgen dieser Mangel an Unterscheidungskraft zeigen kann, werden wir weiter unten in der erschreckenden Wirkungskraft der Pseudo-Mythen des Nazi-Kultes erkennen können.
Herrschende Memes der ersten Ordnung sprechen auch einem neu auftauchenden Weltbild allen potenziellen Wert ab, da für sie völlig neue Erkenntnisprämissen kaum vorstellbar erscheinen. Aufgrund dieses impliziten – und aller Erfahrung widersprechenden – Absolutierungsanspruchs wird etwa eine rein wissenschaftliche Weltsicht neue Erkenntnisthesen aus dem Bereich der Spiritualität nur pauschal als Versuch des Regresses und Rückfalls in vormoderne Zeit empfinden können. Ken Wilber nennt dieses aus jener Fixierung resultierende Phänomen eine “Prä-/Trans-Verwechslung”. Gemeint ist, dass in obigem Beispiel etwa eine spirituelle Erfahrung und Perspektive “unweigerlich” als zum vormodernen Bereich der Religion gehörig gesehen wird, obwohl sie auf ganz anderen, postrationalen Erkenntnisvoraussetzungen beruhen mag. Tatsächlich kann sie zu integralen Resultaten führen, die weit jenseits der konventionellen Definitionen von Religion und Metaphysik liegen14.
Seelische Evolutionszyklen
Auch für Sri Aurobindo Ghose (1872–1950), einen Pionier des integralen Bewusstseins, ist der Durchgang durch die Struktur rationalen und aufgeklärten Denkens ein zentraler Schritt im Hinblick auf ein integrales, postmythologisches Bewusstsein. Der Cambridge-Absolvent und profunde Kenner indischer Philosophie war in seinen jüngeren Jahren ein führender Freiheitskämpfer für die Unabhängigkeit Indiens. Später wurde er zu einem wichtigen Denker des modernen Indien mit dem Ruf eines weltweit anerkannten Entwicklungsphilosophen15.
Die Ursprünge des “Seelischen Wesens”, wie Sri Aurobindo den evolvierenden Teil unseres Selbst nennt, liegen in einem Höchsten Bewusstsein. Dieses ist der gemeinsame und unbewegte Grund unserer und aller Welten. Es ist ein allumfassendes Selbst, das unser gemeinsames Sein bestimmt. Aber auch die unseren jeweiligen Individuationsprozess bestimmende evolutionäre Dimension der Seele ist von Anfang an keimhaft vorhanden. Deren schrittweise Offenbarung insbesondere im Verlauf der Noosphere, das heißt der in der Darstellung Teilhard de Chardins auf die biologische Evolutionsphase folgenden Periode menschlicher Bewusstseinsentwicklung, bildet den eigentlichen Inhalt bisheriger Evolution16.
Der äußere Ablauf von Sri Aurobindos Evolutionslehre lässt sich zusammengefasst und vereinfacht als drei aufeinanderfolgende Phasen beschreiben. Die erste Abschnitt deckt sich äußerlich mit der in der Evolutionsbiologie behandelten Artenentstehung. Ein zweiter Abschnitt beginnt mit dem durch das Erwachen zu sich selbst gekennzeichneten Auftauchen des Menschen und folgt dessen Bewusstseinsentfaltung bis zur Entwicklung eines genügenden Maßes rationaler Individualität, gesellschaftlicher und innerer Freiheit und Bewusstseinsunabhängigkeit sowie denkerischer Komplexität. Ebendas ist der Punkt, an dem wir uns heute befinden und der den Beginn der dritten Evolutionsphase kennzeichnet, die dem menschlichen Bewusstsein die Chance gibt, seine tiefere Individualität und Seinsebene zu erkennen. Dieses integrale Bewusstsein erlaubt und fordert dann die ko-evolutionäre Mitwirkung zunächst des Einzelnen und dann der Gemeinschaft. Die Nation stellt dabei die evolutionär individualisierteste Gemeinschaftsform und damit die am besten vorbereitete Plattform für diesen integralen Entwicklungsschritt dar17.
Dies bedeutet eine völlig neue und heute erst mögliche Sicht auf etwas, was man als evolutionären Sinn und Bedeutung des Phänomens der Nationenbildung verstehen kann. Wie in den folgenden Kapiteln dargestellt, sind Nationen eben mehr als die bloße Fortsetzung der genetischen Linie von Familie, Sippe und Stamm. Sie bringen das für einen künftigen “erfolgreichen” Evolutionsverlauf notwendige Element denkerischer Selbstbestimmung und Freiheit über das Individuum hinaus in die menschliche Gemeinschaft. Dieses Verständnis der Rolle des Nationalen als evolutionärer Zwischenschritt erschließt einen auf tiefe Weise heilenden und visionären Zugang für unser persönliches Leben wie für das Land.
Für Sri Aurobindo ist diese Vision allerdings keine bloße philosophische Erkenntnis, sondern Ausdruck einer heute beginnenden Erfahrungsmöglichkeit unserer seelischen Ebene. Sri Aurobindo ist unter den Lehrern eines neuen integralen Bewussteins derjenige, der die zentrale Rolle eines evolutionär erstmalig oder neu zu erfahrenden Seelen-Zentrums am stärksten betont.
Es gibt ein weiteres und wesentliches Merkmal bei der Beschreibung dieser Evolutionsphasen, das Sri Aurobindo nicht nur von den damaligen Evolutionisten, sondern auch von einem integralen Pionier wie Rudolf Steiner oder den Theosophen unterscheidet. Sri Aurobindo verknüpft die menschheitliche Bewusstseinsentwicklung nicht mehr mit bestimmten Völkern, Kulturzonen und “Rassen” (ein vor 1945 üblicher Ausdruck für Arten, der durch den faschistischen Rassenwahn zumindest in Europa völlig diskreditiert wurde).
Der indische Philosoph, und nach ihm die wichtigsten integralen Denker und Denkmodelle, sehen die Abfolge der Bewusstseinsphasen als letztlich für alle menschlichen Gesellschaften gültig und zutreffend an18.
Der Übergang zwischen den Phasen ist in Sri Aurobindos Darstellung fließend. Letztlich braucht es die “kritische Masse” einer Gesellschaft oder Nation, um ein evolutionär neues Bewusstsein (oder Meme im SD-Modell) nachhaltig zu realisieren. Im Vorfeld sind es jedoch Einzelne und Gruppen, die das neue Bewusstsein als Paradigma oder Weltbild zuerst erkunden und dann in die Gesellschaft einbringen19.
Die Vergegenwärtigung des evolutionären Idealismus der Deutschen, die integrale Sicht der memischen Entwicklungsstruktur gesellschaftlichen Bewusstseins sowie die seelische Komponente in einem derartigen Stufenmodell sind die Bausteine zu einem neuen Verständnis des Nationalen, speziell in seiner teilweise so leidvoll erfahrenen, deutschen Ausprägung.
In den folgenden Kapiteln sollen mit ihrer Hilfe das Evolutionsmodell von Nationen und das heute auch ermutigende Zeichen gebende, deutsche Beispiel näher vorgestellt werden.
Kapitel 2
Politische versus Kultur-Nation – der subjektive Faktor
Mit der eigenen Nation verbinden sich bei vielen Menschen Gefühlsreaktionen, die an die Beziehungen zu den eigenen Eltern erinnern: Man ist unwillkürlich stolz, wenn die Landsleute Spitzenplätze in viel beachteten internationalen Wettbewerben einnehmen, und man ist beschämt und wütend, wenn andere Menschen scheinbar despektierliche Bemerkungen über das eigene Land und seine Bewohner fallen lassen. Oft, und auch das ist mit der Beziehung zu den Eltern vergleichbar, bemerkt man diese gefühlten Zeichen einer geteilten “Schicksalsgemeinschaft” ohne oder mitunter sogar gegen seinen eigenen Willen an sich.
Heute mehr als früher.
In der Zeitepoche vom Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bildeten vor allem in Europa das Schicksal und die Aufgaben von Nationen und Kulturräumen ein beliebtes Thema, sowohl in populärer als auch akademischer Form. Nach 1945 verstummte diese Diskussion und Rezeption des Nationalen fast schlagartig20. Die nationalen Exzesse des Ersten und dann endgültig des Zweiten Weltkrieges hatten der Welt gleichsam zu diesem Thema die Sprache verschlagen. Das Ausmaß des als Nationalismus erfahrenen Schattens nationaler Identität ließ viele Menschen das Vertrauen in einen möglichen authentischen und positiven Kern von Nationen verlieren. Im Forschungsbereich war es die weiter unten dargestellte Schwierigkeit einer eindeutigen Definierung des Begriffs der Nation, die – besonders im “na tional vorbelasteten” Deutschland – das Thema einer akademischen Karriere und Anerkennung nicht dienlich erscheinen ließ. Nicht zuletzt schien die Frage nationaler Identität mit der rasanten Entwicklung der Europäischen Union und der beginnenden ökonomischen und medialen Globalisierung viel von seiner Relevanz verloren zu haben. All diese Gründe sorgten dafür, dass das Thema jahrzehntelang praktisch von der Bildfläche verschwand bzw. fast schon obsolet wirkte.
Doch das änderte sich mit der Wende-Zeit von 1989/90. Die Welt erlebte die Implosion des Ostblocks und den Offenbarungseid von Chimären menschlicher Einheit wie der “Sozialistischen Internationale” oder der “Sozialistischen Bruderländer”. Diese mit “historischem Materialismus” begründete Transnationalität zerfiel in ihre nationalen oder genauer gesagt nationalistischen Bestandteile. Was in fast allen betroffenen Ländern offenbar wurde, war das Fehlen der Voraussetzungen, die, wie zu zeigen ist, für eine nachhaltige, übernationale Vereinigung unumgänglich sind: eine genügende Erfahrung nationaler Selbstbestimmung und die Erfüllung einer wie immer gearteten eigenen, nationalen Agenda.
Dazu gesellten sich vor allem in Westeuropa und teilweise auch in den USA praktische Herausforderungen durch drastisch ansteigende Immigrantenzahlen. Nicht assimilierte Emigrantenkulturen stellen bis heute die Werte und die Integrationsfähigkeit vieler Einwandererländer auf die Probe. Diese Minderheiten wie auch das gerade in ihrem Gefolge zu beobachtende Erstarken rechtspopulistischer Parteien lösten neue Diskussionen darüber aus, was nationale Identität ausmacht. In Deutschland wurde diese Identität unter Vermeidung aller “Nationalität” als Leitkultur bezeichnet.
Doch was ist das für eine Kerngemeinschaft, die in einem Land – und mit welcher Berechtigung – “leiten” will?
Nation ist bis heute ein vieldeutiger und in verschiedenen Kulturen unterschiedlich verwendeter Begriff. In der deutschen Sprache hat Nation die engste Bedeutungsanlehnung mit “Volk” oder mit dessen heutigem Euphemismus “Ethnie”. “Land” dagegen verweist auf das geografische Gebiet, und “Staat” steht für eine rechtliche, Verwaltung ausübende und gesetzgebende Körperschaft. Verwirrenderweise werden Nation und Staat oft synonym gebraucht.
“Natio” ist der lateinische Wortstamm für “etwas Geborenes”. Nation nach diesem etymologischen Verständnis wäre eine Gruppe von Menschen, die aufgrund ihrer gemeinsamen genetischen Abstammung und Verwandtschaft, d.h. Familie, Klan oder Stamm, zusammengehören.
Nation als Begriff gelangte im späten Mittelalter als Bezeichnung für eine aus einem gemeinsamen Land stammende, illustre Gemeinschaft kirchlicher Ratgeber zu fast aristokratischer Ehre und Ansehen. Hier erfuhr der Term Nation seine erste Erweiterung des reinen Abstammungszusammenhangs. Der Grundstein für seine spätere Bedeutung als Gemeinschaft eines durch Geld und Wertschätzung gekennzeichneten “nationalen” Bürgertums wurde gelegt21.
Nachstehend sind zunächst einige der objektiven Kriterien für das im Westen seit dem 18. Jahrhundert entstandene Nationenmodell aufgelistet:
• historische Landeinheit
• gemeinsame Mythen und geschichtliche Bezüge
• gemeinsame Volkskultur (mit gemeinsamer Sprache und gemeinsamer Religion)
• ein gemeinsames Rechtsverständnis mit gleichen Rechten und Pflichten für alle Mitglieder
• eine gemeinsame Wirtschaft mit Bewegungsfreiheit innerhalb dieses Gebietes für alle Mitglieder.
Das zunächst Irritierende: Aus diesen Kriterien allein lässt sich noch keine schlüssige, allgemeingültige Nationen-Definition bilden. Nation ist sozusagen ein “ungeschützter Titel”. Die Vereinten Nationen als Organisation verlangen für die Mitgliedschaft keinen “Nationennachweis” (den es nicht gibt), sondern den Beleg staatlicher Einheit. Die UNO bietet deshalb eigentlich den Rahmen für Verein(ig)te Staaten – doch der Titel war bei der UN-Gründung schon vergeben. Unter den derzeit 193 Mitgliedsländern der UN wird man jedenfalls kein einziges finden, das alle oben aufgeführten, objektiven Nationen-Kriterien beinhaltet, jeder Staat wird jedoch sicher mindestens eines aufweisen können.
Es ist für Systematiker ein verwirrendes Bild. Großbritannien, die USA, Australien und andere Länder haben beispielsweise mit Englisch eine gemeinsame Sprache, bilden aber keine gemeinsame Nation. Das Gleiche gilt für einige südamerikanische Länder, die die gleiche Religion und Sprache haben, aber eine Vielzahl von Nationen entwickelten. Die Schweiz hat vier verschiedene Sprachen und Kulturen, und trotzdem formt sie eine Nation.
Oft wird in Diskussionen zudem die Frage aufgeworfen, welche nationale Einheit und Authentizität die im kolonialen Kontext oft am grünen Tisch entworfenen Länder in Afrika, Asien und Südamerika aufweisen? Dabei wird meist übersehen, dass die Grenzen der politischen Nationen Europas und Nordamerikas auf ebenso willkürlich scheinenden Kolonialisierungen, Eroberungen, Erbteilungen, Annexionen und Abspaltungen beruhen.
Nationenbildung folgt offensichtlich keinem einheitlichen, sozusagen organischen Muster. Manche dieser historischen und bis zur Gegenwart andauernden “Zusammenwürfelungen” von Stämmen, Volksgruppen und Regionen führten und führen zu einer eigenen Nation, andere zerfallen wieder.
Das zusätzliche subjektive und entscheidende Kriterium, das die Sozialwissenschaft deshalb – fast resignierend – einräumen muss, könnte man zusammenfassen als: Eine Nation ist eine Gruppe von Menschen, die eine Nation bilden wollen (oder eben nicht oder eben nicht länger). Warum, können wir nicht abschließend definieren22.
In der Tat sind Nationen auch im gegenwärtigen Europa keineswegs gesicherte Gebilde. Die wallonische und die flämische Volksgruppe in Belgien etwa scheinen in den letzten Jahren ihren subjektiven Willen zum Zusammenleben verloren zu haben. Belgien gelingt es nach fast 200 Jahren seiner staatlichen Unabhängigkeit deshalb nur noch mit Mühe, eine gemeinsame Regierung zu bilden, und der zukünftige Bestand seiner nationalen Einheit erscheint ungewiss.
Ob also Menschen eine Nation bilden und als solche aus freien Stücken zusammenbleiben und sich erbittert verteidigen, erschließt sich nicht allein aus objektiven Faktoren, so viele es auch sein mögen. Angesichts dieses Dilemmas resümieren Forscher, dass “alle Versuche, einen terminologischen Konsens zur ›Nation‹ zu finden … zum Scheitern verurteilt (sind)23”.
Wer eine tiefere und hinreichendere Auskunft zur Lösung des Nationen-Enigmas sucht, wird sie auf postmoderner Meme-Ebene nicht finden. Es ist erst integrales Denken, das mit evolutionärer Hermeneutik und Unterscheidungskraft in der Lage ist, eine sich entwickelnde, seelische Nationenebene (neu) zu beschreiben. Bevor wir uns dieser Definition nähern, wollen wir uns zum besseren Verständnis auch dem anderen zentralen Dilemma des konventionellen Nationendiskurses zuwenden.
Es ist die Frage danach, ob eine Nation vor allem Ausdruck einer kulturellen Einheit darstellt oder mehr einen gemeinsamen politischen Willen dokumentiert. Diese Frage ist hochaktuell, und die Gegenwart etwa des arabischen Raums ist von der Suche nach einer übergreifenden Antwort bestimmt. Sie sollte beispielsweise in der Lage sein, Religion und kulturellen Mythos mit einem säkularen Rechtssystem kompatibel zu machen.
Diese beiden in der Realität durchaus in Mischformen vorzufindenden, aber im memischen Kern sich widerstrebenden Optionen sollen zunächst jede für sich vorgestellt werden.
Liberal und republikanisch – die politische Willensgemeinschaft
Reunion ist ein tropisches Eiland im Süden des Indischen Ozeans. Gut 800 000 Einwohner leben hier, die meisten sind Kreolen oder afrikanischen Ursprungs. Die Welt außerhalb ihrer Insel liegt für die hier Geborenen in weiter Entfernung, wenige von ihnen haben ihre Heimat je verlassen, geschweige denn eine Reise ins ferne Europa unternommen.
Doch diese einheimischen Fischer und Bauern sind legale EUBürger, sie sind Angehörige der Grande Nation mit allen Rechten und Pflichten, sie leben auf französischem Territorium. Rein rechtlich gesehen ist Reunion eine europäische Insel.
Klingt das irgendwie merkwürdig? Nur in manchen Ländern. Franzosen haben für ihre transkontinentalen Republikteile lediglich ein zustimmendes Achselzucken übrig, ein US-Amerikaner mag an den Insel-Bundesstaat Hawaii oder an Puerto Rico denken. Für viele Deutsche oder auch Osteuropäer jedoch wird sich diese rein rechtlich bzw. politisch definierte Zugehörigkeit zu Frankreich als künstlich konstruiert und unauthentisch anfühlen. Für einen Japaner wäre sie etwas kaum Vorstellbares. Es ist ein Punkt, an dem sich seit Gründung der modernen Nation, nicht zuletzt gerade durch Frankreich, die Geister scheiden. Die Volksgeister, möchte man sagen, so man diese für möglich hält.
Die EU-Insel Reunion ist Ausdruck des politischen Nationenverständnisses. Eine liberale, republikanische und demokratische Auffassung sieht die Gründung einer Nation vor allem als Willenserklärung ihrer (künftigen) Mitglieder. Es bleibt dabei sekundär, ob sie einer gemeinsamen Kultur, Sprache und Historie angehören. Beispiele dieser politischen Nationengründungen sind Frankreich und die angelsächsischen Länder, im Besonderen die USA. Ein Vielvölkerstaat kann deshalb eine Nation sein, bzw. diese kann verschiedene Volksteile umfassen. Nation meint hier eben nicht ein Volk mit einer homogenen Volkskultur oder Abstammung. Ein Volk oder auch unterschiedliche Volksteile, die sich als gemeinsamer Staat organisieren (wollen), werden zur Nation24.
Diese politische oder Willens-Nation liegt historisch im Kontext des Liberalismus begründet. Im 17. Jahrhundert war Liberalismus im Gefolge der Aufklärung das führende Thema. Autoren wie John Locke und später Ernest Renan erstellten erstmals systematische Theorien zur Nationalität und ihrer politischen Bedingungen. Der Herrschaftsanspruch der absolutistischen Monarchie wurde von den Liberalen hinterfragt. Sie stellten ihm das Gegenbild des freien Bürgers gegenüber, der den traditionellen Untertan ablöste. Die staatliche Souveränität wechselte vom Monarchen zur Nation. Die Kriterien dieser politischen Nationalität basierten auf rationaler Aufklärung, individueller Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz. Ethnische und kulturelle Gesichtspunkte blieben weitgehend außen vor. Die politische Nation offenbart damit ihre Verwurzelung im rationalen Meme.
Das evolutionäre Fanal für die Gründung politisch aufgeklärter Nationen wurde in erster Linie durch die Verfassungen des revolutionären Frankreich und der unabhängig gewordenen USA gesetzt. Auch die teils mit und teils ohne Revolution erzielten politischen Nationengründungen in Nord- und Südamerika, Asien und Afrika seit dem 19. Jahrhundert sind zumeist Aus druck des Kampfes oder zumindest Strebens um (bürgerliche) Freiheit und Selbstbestimmung angesichts kolonialer oder imperialer Fremdherrschaft. Die meisten dieser neuen Länder wurden – nicht zuletzt entsprechend der Meme-Zugehörigkeit des Großteils ihrer früheren Kolonialherrscher – politische Nationen, d.h. bei ihrer Grenzziehung wurde kaum Rücksicht auf bestehende kulturelle Räume und Zugehörigkeiten genommen.
Sie stehen damit im Widerspruch zur Kultur-Nation, die zumindest zu einem großen Anteil im Geist eines anderen Memes gegründet wurde.
Kollektiv beseelt – Das mythische Kultur-Volk
Historisch gesehen entstand die Kultur-Nation als erklärte Alternative zur politisch-liberalen Nation, obwohl sie auf ein älteres Meme zurückgreift. Sie sieht – oft in Erbe und Fortführung mythischer, d.h. gottgegebener Festlegung – in historisch miteinander geteilten, kulturellen Ausdrucksformen wie Abstammung, Sprache, Brauchtum und Religion die wahre Grundlage der Nationenbildung.
Japan etwa kann als Verkörperung einer kulturell-mythisch definierten Nation gelten. Das asiatische Land bezieht seine nationale Identität vor allem aus seinen (Shinto-)Mythen sowie der großen kulturell-genetischen Homogenität der Bevölkerung. Das Land bildet in diesem Sinn einen deutlichen Gegenpol zu den ethnisch heterogenen und auf einen rationalen Traum gegründeten USA, dem Prototyp einer politischen Nation.
Im Grenzgebiet zwischen dem überwiegend rationalen Meme der Aufklärung des Westens und dem traditionell mythischen Meme östlicher Kultur und Spiritualität ist das Land angesiedelt, das im 19. Jahrhundert, im Zeitalter der Nationengründungen, das mythische Nationenmodell in rationaler Philosophie repräsentierte. Deutschland wurde vielleicht auch aufgrund dieser ambivalenten Struktur zur “verspäteten Nation”. Wie in den Kapiteln 4 und 5 zu zeigen sein wird, lässt sich ein Grund für diese Ambivalenz darin finden, dass Deutschland von seiner inneren Natur her in beiden Memes zugleich verwurzelt ist. Es ist das besondere Spannungsfeld eines zugleich mythisch-mystischen wie rational orientierten Nationalcharakters, der eine übergreifende Synthese in Ansätzen schon in Idealismus und Romantik suchte: “Die Kulturnation der deutschen Romantik hat zwar eine traditionell orientierte Prägung, doch zeigt sie zugleich, etwa bei Johann Gottfried von Herder (1744–1803), einem der bedeutendsten Initiatoren dieser Romantik, eindeutig tolerante und (damit essenziell) aufgeklärte Haltungen25.”
Im Unterschied zum politischen Modell bleibt jedoch bei Herder die ethnische Definierung der Nation als höchster Punkt einer biologischen Stufenleiter vom Einzelnen, Familie, Stamm zum Volk gleich Nation bestehen. Herder war es dann auch, der philosophiegeschichtlich zum ersten Mal hinter diesem ethnisch mehr oder minder homogenen Volk die Idee eines gemeinsamen Geistes sah, den er Volksseele oder Nationenseele nannte. Er sah diese Seele als kulturelle Identität, die in Sprache und Literatur einer Nation zum Ausdruck kommt: “Jedes Volk besitzt eine unnachahmbare Individualität. Volkspoesie ist ihm der Ausdruck dieser seelisch geistigen Welt: Sie verkörpert am reinsten die Seele eines Volkes26.”
Die essentialistische oder primordiale Nationendefinition, die dem Zeitgenossen Herders und maßgeblichen Idealisten Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) zugeschrieben wird, sieht den Geist einer Nation als überzeitlich existent an und lediglich noch der Manifestation bedürftig. Fichte betrachtet die Nation als eine von Gott geschaffene, in alle Ewigkeit und unabhängig von der Geschichte bestehende ontologische Einheit27.
Die Deutschen waren damit zwar keineswegs die einzigen Repräsentanten einer “seelisch-geistig-mythischen Kulturnation”, aber mit die artikuliertesten. Die deutsche Gründung zum Nationalstaat geschah Ende des 19. Jahrhunderts – bzw. als Republik erst Anfang des 20. Jahrhunderts. Wie in Frankreich vollzog sich die moderne Nationengründung vor dem Hintergrund einer rund tausendjährigen nationalen Kulturgeschichte. Im Unterschied zu Frankreich werteten die Deutschen jedoch – zumindest zunächst – die Rolle von Geschichte und Mythos bei der Bestimmung ihrer Nation stärker als den Platz der neuen und rational begründeten Ideen von Demokratie und Fortschritt. Gegen die vor allem im angelsächsisch-französischen Raum sich ausbreitende Vorstellung einer formbaren politischen Nationalität artikulierte sich das deutsche und überwiegend auch osteuropäische und asiatische Modell einer durch Mythos und Abstammung bestimmten Kulturnation.
Eine solche war Deutschland auch in den Augen seines größten Dichters, Johann Wolfgang von Goethe. Politische Einheit und staatliche Selbstständigkeit erschienen ihm demgegenüber unwesentlich28. Goethe sah die Deutschen ihre nationale Kultur finden – und dann über sie hinausgehen. Zusammen mit Schiller, dem Dichter einer Reihe europäischer Nationalepen, veröffentlichte er das Xenion “Deutscher Nationalcharakter”: “Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche vergebens. Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus29.”
Goethe geht noch weiter – nach der Erfahrung späterer Geschichte würden wir heute sagen: zu weit: “Denn ist es nun einmal die Bestimmung der Deutschen, sich zum Repräsentanten der sämtlichen Weltbürger zu erheben30.”
Was nichts anderes bedeutet, als die Entwicklung zur weltorientierten Identität als Teil der eigenen Nationalkultur zu definieren. Wie wir jedoch wissen, erwuchs aus derartigen Visionen die Verzerrung eines Weltbürgertums, das darin bestand, dass die ganze Welt deutsch werden sollte.
Letztlich kann auch Goethe als Beispiel dienen, wie der Nati onenbegriff im 19. Jahrhundert vor allem durch deutsche Interpreten eine unpolitische, mythisch-seelische Dimension erhielt. Die damit leicht zu verbindene Auslegung und Proklamation einer “Vorbestimmung” und “Schicksalskräften” vollständig unterliegenden “Volksseele” geschah jedoch nicht durch Goethe und die Romantik.
Der Untergang der Kulturnation deutscher Provenienz
Es waren spätere deutsche Philosophen, die mit einer Art pseudo-seelisch-mythischen Legitimation den Weg für die finsterste Ausprägung des Nationalismus bereiteten. Zu nennen ist etwa Oswald Spengler, der 1922, hundert Jahre nach Romantik und Idealismus, den “Untergang des Abendlandes” beschwor. An Nietzsches starken Subjektivismus anknüpfend, überträgt Spengler den Seelenbegriff auf Kulturen: “Jede große Kultur beginnt mit einer Grundauffassung der Welt, sie hat eine Seele, mit der sie der Welt gestaltend gegenübertritt. Kulturen formen sich geistig und materiell ihre je eigene Wirklichkeit als den Inbegriff aller Symbole in Bezug auf eine Seele31.”
Weit entfernt von Herders aufgeklärtem Volksgeist kreiert Spengler jedoch als Erster die nachfolgend so unheilvolle Verknüpfung der Seele eines Volkes mit “Blut und Boden”, das heißt mit ausgrenzender Rassengenetik und imperialem Territorialanspruch. Aus dieser archaischen Kennzeichnung der Bewohner eines Landes leitete der Nationalsozialismus “deutsche Seele und nationale Mission” ab.
Diese “national-mythische Seelenhaftigkeit” und ihre entstellende Rechtfertigung für schlimmste nationalistische Exzesse waren die Gründe dafür, warum nach 1945 außerhalb des verstummten Deutschland das Modell der primordial-mythischen, von einer Volksseele getragenen Kulturnation akademisch und politisch fast einstimmig diskreditiert wurde.
Keine Frage von Territorium und Abstammung
Doch eigentlich sahen sich die Faktoren “Blut (Abstammung) und Boden (Territorium)” zur zentralen und gar ausschließlichen Bestimmung einer Nation schon vor der Nazi-Ideologie eindeutig widerlegt.
Die polnische Nation etwa war nach den drei polnischen Teilungen, von 1795 bis 1918, also 123 lange Jahre lang, als solche völlig von der Landkarte Europas verschwunden. Trotzdem fand Polen nach dem Ersten Weltkrieg – nach mehr als hundert Jahren ohne Territorium – seine nationale Identität wieder. Das wiederholte sich zum Teil nach dem Zweiten Weltkrieg, als Polen ca. ein Drittel seines Gebietes an die Sowjetunion abgeben musste und (dafür) etwa ein Drittel des ehemaligen Deutschen Reiches erhielt. Auch trotz dieser erheblichen Landverschiebung blieb Polens nationale Identität als solche erhalten.
Und auch Deutschland kann nach dem Zweiten Weltkrieg als Beispiel gelten. Trotz ersatzlosen und endgültigen Verlustes von rund einem Drittel seines Staatsgebietes und trotz zeitweiliger Teilung des Restes hat es heute seine nationale Identität wiedergefunden. Vielleicht sogar eine integriertere als jemals zuvor (siehe Kapitel 5).
Wenn nun schon ein bestimmtes, fest umrissenes Landgebiet zur Definierung nationaler Identität nicht zwingend erforderlich ist, so ist das noch sehr viel weniger der Fall mit einer “rassengenetisch” geschlossenen Abstammungskette.
Auch hier ein bemerkenswertes Beispiel, das gleichwohl kaum jemand kennt. Es besagt nicht weniger, als dass in genetischer Hinsicht die heutigen Griechen kaum als Nachfahren der klassischen Hellenen anzusehen sind. Folgt man bloßer Vererbungslehre und Abstammungsgenetik, leben so gut wie keine “genetischen Griechen” im zentralen Griechenland. Doch wer sind dann die heutigen Bewohner des Landes? Vom sechsten bis zum achten Jahrhundert nach der Zeitenwende strömten slawi sche und später albanische Invasoren und Einwanderer ins peloponnesische Kernland. Sie drängten die dort lebenden Nachfahren der historischen Hellenen in die Küstengebiete und größtenteils auf die Ägäischen Inseln und nach Kleinasien. Zurück blieben die Immigranten, die sich allerdings erstaunlich verhielten: Ungeachtet ihrer Herkunft adaptierten die Invasoren im vollen Ausmaß die griechische Sprache und Kultur und identifizierten sich mit griechischer Geschichte und Mythos (“unsere hellenistischen Vorfahren”). Das bedeutet nichts anderes, als dass die genetische Abstammungskette der heutigen Bewohner der zentralen Regionen Griechenlands zu ihren Ahnen in Athen und Sparta entscheidend unterbrochen ist – und dass sich gleichwohl die heutigen Bewohner dieses Landes als echte und authentische Griechen empfinden. Und das auch sind32.
Die seelische Nationenidentität
Man könnte glauben, dass die damaligen Usurpatoren mit einem subtilen “griechischen Identitätsfeld” in Berührung gekommen waren und dort eine Transformation erfahren hatten. Doch was für ein Feld ist das, das ohne gemeinsame genetische und kulturelle Abstammung und andererseits auch weitgehend unabhängig von einer bewussten politischen Willensentscheidung nationale Identität bewirken kann?
Es ist hier, dass wir das integral definierte Feld der Seele einer Nation betreten. Wie wir dort sehen können, ist es das Bild einer Menschengruppe, die sich jenseits von zuvor geteilten oder nicht geteilten Mythen, Sprache, Rasse, Geschichte und Geografie hinaus zu einer Gemeinschaft entwickelt hat, der Menschen unterschiedlichster Abstammung, Sprache, Religion und Hautfarbe angehören können. Was sie im Tiefsten verbindet, ist der Wille, an der Erfahrung, den Aufgaben und der Entwicklung dieser bestimmten Gruppe teilzuhaben, die durch ihr Schicksal und durch ihre Seelengeschichte einzigartige Grundwerte, Einsichten und Lebensweisen errungen hat und weiter entwickelt. Diese Seelengeschichte kann 20 oder 2000 Jahre alt sein. Die integrale Nation ist eine sich ihres seelischen Zentrums bewusst gewordene oder werdende Wertegemeinschaft. Das bedeutet, sie hat die innere Einheit aller Nationen erfahren, und sie kennt zugleich die besondere Mission ihres Landes in deren jeweiliger zeitlicher Anpassung. Sie weiß von der unumgänglichen Schattenarbeit am nationalen Ego, und sie trägt der Tatsache Rechnung, dass es zunächst dem Individuum, dem auch von nationaler Seele und Schatten geprägten Einzelnen obliegt, diese seelische Integration und Heilungsarbeit bei sich vorwegzunehmen. Das Kollektiv und der Einzelne wissen, dass dieser Prozess über die persönliche Heilung und Realisierung des Individuums hinaus entscheidend zur Vorbereitung der Nation für den anstehenden Weg in eine multinationale Weltgesellschaft beiträgt.
Wenn wir eingangs unser Verhältnis zur Nation mit dem zu den Eltern verglichen, so wäre jetzt das Bild, wie die erwachsen gewordenen, das heißt aus ihrer einseitigen Abhängigkeit heraus gewachsenen Kinder mit ihren alternden Eltern eine Partnerschaft mit dem Ziel der gegenseitigen Unterstützung eingehen. Ein Seelenbündnis, wie wir sehen werden.
Kapitel 3
Die Seele einer Nation – von Bestimmung zur Selbstbestimmung
Der historische Ausgangspunkt für das heute neu definierte, integrale Selbst-Verständnis des Nationalen liegt in Deutschland. Ihre erste Formulierung erfuhr diese Sichtweise durch Herder, Schellling, Hegel und andere Idealisten und Romantiker, wie wir sie bereits kennengelernt haben. Man kann die von ihnen charakterisierte Volksseele als ersten Versuch sehen, die neu entstandenen Nationen nicht nur politisch, sondern auch mit ihrer geistigen Substanz und Entwicklung zu begreifen. Die Romantiker betraten damit Neuland, denn es existierte bis dahin keine “mystische Tradition” des explizit Nationalen, und es gab vor allem zu jener Zeit noch keinen paradigmatischen Rahmen, in dem sich die seelische und die politische Dimension einer Nation zugleich hätten definieren lassen. Wie wir sahen, zielten jedoch die Aussagen Herders, eines Urvaters deutscher Romantik, genau auf diese Zusammenschau.
Kein Wunder also, dass die früh-integrale Dimension der romantischen Volksseele eine typische Prä-/Trans-Verwechslung erlitt und nicht als Zeichen eines neuen Paradigmas erkannt, sondern sich, vielfach bis heute, als Gegenaufklärung missverstanden sah. Dieser Wahrnehmung wurde insofern Vorschub geleistet, dass von den Nazis tatsächlich ein Zerrbild romantischer Volksseele gegenaufklärerisch instrumentalisiert wurde (siehe Kapitel 4 und 5).
100 Jahre nach der deutschen Romantik erfuhr das Thema in einer anderen Region des gemeinsamen indoeuropäischen Kulturraums eine Weiterentwicklung seiner integralen Bedeutung. Mehrere der Werke Sri Aurobindos widmen sich dem Sein und Werden des Nationalen im komplexen Zusammenspiel politischer und kollektiv-seelischer Faktoren. Zentrale Gedanken der unten stehenden Charakterisierungen eines nationalen Seelenfeldes stammen von diesem integralen Denker.
Doch bevor wir dazu kommen, ein kurzer Blick auf einen deutschsprachigen Apologeten einer sich entwickelnden Volksseele, den Anthroposophie-Begründer Rudolf Steiner.
In der von Steiner beschriebenen Seelenstruktur leben sich die einem Volk gemeinsamen charakteristischen “Empfindungen, Stimmungen, Sympathien und Antipathien und Gewohnheiten” aus. Sie ist die seelische Atmosphäre, in die alle Mitglieder eines Volkes mehr oder weniger stark eingebunden sind. Diese jeweils einzigartige Seelenstimmung eines Volkes macht einen Entwicklungsprozess durch. Dazu bedarf es aber der schöpferisch-inspirierenden Tätigkeit des Volksgeistes. Er ist es, der die Volksseele beeinflusst.
“Volk” im Sinn von Ethnie entspricht bei Steiner in etwa dem, was wir als Kulturnation gekennzeichnet haben. Steiner steht in diesem Sinne dem romantischen Geist nahe. Er lehnt den Begriff “Nation” ausdrücklich ab, weil er ihn mit einer Art seelenlosem Materialismus, einem letztlich zerstörerischen Nationalismus gleichsetzt. Der Anthroposoph folgt hier der erwähnten goetheschen Ablehnung der Nation, so wie sie sich zumindest auf Deutschland bezieht.
Vielleicht ist das ein Hinweis darauf, wie diese auch an anderer Stelle der deutschen Geistesgeschichte anzutreffende Verweigerung dazu beitrug, dass die deutsche Politik so lange brauchte, um sich auf eine liberal-politische Nationendefinition zu einigen. An ihre Stelle trat in unheilvoller und kultischer Ausformung die von dem Idealisten Hegel postulierte, geistig-seelische Überhöhung des Staates. Auch dies wurde so zu einer der Sollbruchstellen des deutschen Idealismus mit faschistischer Wirklichkeit.
Ein integrales Nationenverständnis
“Die Nation oder Gesellschaft hat dem Einzelnen entsprechend einen individuellen Körper, ein spezifisches moralisches und ästhetisches Temperament, eine sich entfaltende und spezifische Denkweise und eine hinter all diesen Manifestationen verborgene Seele”, beschreibt Sri Aurobindo ein nationales Seelenfeld33.
Man mag bei diesen Worten an das anthropomorphe Gesellschaftsbild des zu seiner Zeit einflussreichen britischen Philosophen Herbert Spencer (1820–1903) denken. Doch der entscheidende Unterschied liegt in der Definition des zum Vergleich herangezogenen Anthropos. Spencer legt das darwinistische Modell zugrunde, Sri Aurobindo erweitert und vertieft dieses Menschenbild integral-kategorisch um eine evolvierende und mit dem höchsten Bewusstsein verbundene, seelische Dimension. Der von beiden Denkern – wie später in Spiral Dynamics – als historische Abfolge von Weltbildern geschilderten Entwicklung von Kultur und Nation liegt bei Sri Aurobindo die Entfaltung und schrittweise Offenbarung dieser Tiefendimension zugrunde.
Die Nationenseele ist wie das tiefe Selbst des Einzelnen durch eine welt- und ursprungsverbundene Seinsgrundlage wie auch durch eine sich in jeweils einzigartiger Weise individualisierende Konstellation von Qualitäten gekennzeichnet: “Wie im individuellen Leben liegt der höchste Zweck der Gesellschaft, Gemeinschaft oder Nation darin, dass sie ihre eigene Selbsterfüllung sucht34.”
Sri Aurobindo schildert in seiner integral-soziologischen Studie “Zyklus der menschlichen Entwicklung” die verschiedenen Bewusstseinsstadien der sich entwickelnden Gesellschaft. Man kann dies als einen Weg verstehen, der vom kindlichen Angehörigen eines Vaterlandes und von der ungefragten Zugehörigkeit zu einer Muttersprache zur gereiften seelischen Partnerschaft mit dem eigenen Land verläuft.
Der Geburt einer politischen Nation liegt ein denkerischer Willensakt eines Kollektivs zugrunde. Er ist Ausdruck des rationalen Memes in der Spiral-Dynamics-Typologie und entspricht der mentalen Bewusstwerdung und Selbstdefinition des zunächst egoischen Ichs im Individuum (“Ich denke, darum bin ich”, setzte Descartes als neues Kriterium). Das vitale, vorher stark hierarchisch strukturierte Kollektiv transformiert sich in ein mentales, selbstbestimmtes “Wir”.
Diese Ebene der Nationenselbstfindung nimmt eine evolutionär entscheidende Rolle ein innerhalb der aufsteigenden Gliederung kollektiver Kategorien von Familie, Stamm/Klan zu Land und Nation. Allerdings ist zunächst die politische Nation gemeint. Während bei einer auf strikter ethnischer und kultureller Homogenität aufgebauten Nation das genetische Element und biologische Sippenloyalität dominieren, kommt in der politischen Nation die Qualität genuin menschlicher und denkerischer Freiheit erstmals zum Ausdruck. Sie erlaubt dem Einzelnen, sich für (oder gegen) die besondere Werteordnung der eigenen Nation auszusprechen, so wie diese sich aus ihrer Anlage und ihrem besonderen seelischen Werdegang heraus entwickelt hat und ständig weiterentwickelt. Es ist eine Freiheit, die auch darin bestehen kann, sich eine andere Nation zur neuen Heimat zu wählen.
Auch auf kollektiver Ebene ist es erst die politische Nation, die sich umfassend selbst bestimmen kann. Es sind in der Regel nicht die Familie oder der Stamm, aber auch nicht die mythisch religiöse Gemeinschaft, die es erlauben, sich selbst neu zu bestimmen und zu definieren. Der politische Verein kann das in ideeller Weise vornehmen, aber auch er muss sich dem realen Rechtssystem und der Gesellschaftsordnung seines Heimatlandes unterordnen. Es geschieht erst auf der Ebene der politischen Nation, dass sich das Kollektiv etwa mit einer Verfassung einen fast unbegrenzten eigenen und selbstbestimmten Lebensrahmen geben und diesen definieren kann. Nation – und nicht Kultur, Religion oder Partei – ist damit die geeignetste Plattform für die evolutionäre Transformation und Weiterentwicklung von Individuum und Gesellschaft.
Doch die politische Gründung der Nation, so notwendig sie als Evolutionsschritt ist, kann noch nicht den vollständigen Ausdruck ihres seelischen Selbst darstellen. Sie spiegelt noch vor allem das nationale Ego, auch wenn dieses schon eine fortgeschrittene, denkerisch-mentale Gestalt zeigt. Dieses strukturell immer auf sich selbst begrenzte, sich als getrennt vom Ganzen empfindende und nationalistische “Wir” ist das pionierhafte, evolutionäre Vorläuferkonstrukt tieferer, das heißt seelischer Identität und Individualität. “Die Natur kreierte das Ego, damit sich der Einzelne aus dem Unbewussten und Unterbewussten der Masse lösen kann und einen unabhängigen Verstand, Lebenswillen, Seele und Geist entwickelt35.”
Der Mensch kann das jedoch nicht unmittelbar realisieren, er ist noch zu nahe dran an der “kosmischen Unbewusstheit” und noch nicht nahe genug an der “ursprünglichen Allbewusstheit”. Er muss sich zuerst als mentales und vitales Ego finden, bevor er sich als Seele und Geist entdeckt.
Reifestadien zur Weltgemeinschaft
Ein Vergleich an dieser Stelle mit Spiral Dynamics. Bei dessen Entwicklungsschema ließe sich eine Dreiteilung vollziehen in die vorrationalen Memes der ersten Ebene, in die Schwellensituation der spätrationalen Postmoderne bzw. beginnenden Integralität der Gegenwart sowie in die kommenden postrationalen, integralen Memes der zweiten Ebene.
Entsprechend lassen sich dazu in Familie/Stamm, Nation und Weltgemeinschaft die drei korrespondierenden, evolutionären Gemeinschaftsformen zum Erreichen der kollektiven Einheit der Welt verorten. Jede von ihnen impliziert eine bestimmte Aufgabe, ruft nach einer spezifischen Erfüllung, wird zu einem Abschnitt der integralen Bewusstseinsevolution. Zunächst ist es die Familie, die für die Erfüllung vitaler und emotionaler Bedürfnisse und Lernfelder steht. Die im rationalen Meme erfolgende politische Nationengründung setzt dann “überfamiliäre”, meist liberale und rational legitimierte Werte. Die Entdeckung der seelischen Tiefenstruktur der Nationen am Ende der postmodernen Fortsetzung des rationalen Memes bildet im weiteren Verlauf sowohl die Erfüllung der nationalen Periode als damit auch deren Übergang in eine Weltgesellschaft. Deren seelische und evolutionäre Aufgaben wiederum liegen noch unerschlossen in der Zukunft36.
Das Erwachen zum seelischen Selbst in jedem Einzelnen wie in nationalen Gemeinschaften ist deshalb die entscheidende Herausforderung der gegenwärtigen, von Sri Aurobindo so bezeichneten Subjektiven Bewusstseinsphase (sie entspricht etwa der spätpostmodernen Meme-Stufe in SD).
Analog wie beim Individuum warnt der indische Philosoph vor der ungeheuren Verwechslungsgefahr von nationalem Selbst und nationalem Ego, von Seele und deren Schattengestalt. Er sieht die traditionelle geistige Bevormundung durch Mythen und Religion als historischen Versuch, diese Gefahren zu vermeiden – der jedoch letztlich zu unserem (geistigen) Gefängnis wurde. Deshalb muss das gefährliche Abenteuer der seelischen Bewusstwerdung gewagt werden, zunächst vom Einzelnen, dann von der Nation37.
Der integrale Denker widmet sich in seinem Werk einer besonderen involutionären Kraft des höchsten Bewusstseins, die unserem eigenen evolutionären Bemühen heute entgegenkommt. Doch bedeutet das keineswegs eine Garantie für einfachen Erfolg. Eher ließe sich der Hinweis übersetzen als: “Lerne deine Seele von deren Schatten zu unterscheiden, dann hilft dir Gott!” Dies gilt für Individuum und Nation gleichermaßen.
Vom Volksgeist zur Nationenseele
Noch ist es nur eine kleine Zahl von Philosophen und Lehrern, die ihre Anschauungen zum seelischen Werdegang einer Nation öffentlich macht. Der Großteil der kontemplativen Lehrer der Gegenwart scheint seine ganze Aufmerksamkeit darauf zu richten, dem einzelnen Sucher den Weg in ein erlösendes oder erleuchtendes Jenseits zu weisen. Man könnte darin eine Reduktion auf das Individuelle sehen, die die Möglichkeit der essenziellen Entwicklung der Gesellschaft eines Landes ausklammert und in diesem Ausweichen eine Parallele in dem generellen Verstummen des Diskurses des Nationalen nach 1945 findet.
Bei den historischen und bis heute vorliegenden Aussagen zum Thema des nationalen Selbst lässt sich jedenfalls eine Tendenz bei der Definition der Essenz einer Nation finden. Die Entwicklungslinie, die sich in diesen Darstellungen abzeichnet, beginnt bei der bereits aus individueller Freiheit heraus mitbestimmten Volksseele (Herder). Noch aber bezieht diese sich auf ein homogenes Kulturvolk mit gemeinsamer Tradition und Sprache. Das gilt auch für die sich historisch später auf eine Volksseele beziehenden Theosophen und Anthroposophen, die diese Seele zudem unter dem Einfluss subtiler Lenkungskräfte sahen. Besagte Linie findet ihren vorläufigen Endpunkt im Bild einer sich entwickelnden und individualisierenden Gruppenseele, deren Träger die Angehörigen der nationalen Gesellschaft sind.
Als Vision führt dieses Seelenfeld zu einer ausgeprägt liberalen Gesellschaftsordnung, die die Selbstverwirklichung und (memische) Weiterentwicklung des Einzelnen unterstützt und zugleich die Transformation der Nation in eine multinationale Weltgesellschaft vorbereitet.
Gemessen an unserer Definition der integralen Bewusstseinsstruktur und -evolution bietet diese Darstellung der Nationenseele damit deren bisher reifsten und memisch entwickeltsten Ausdruck.
Was gleichwohl zu tun bleibt, ist diese Definition des Seins und Werdens von Nationen auf unsere evolutionäre Gegenwart fortzuschreiben.
Die integral definierte Nation ist, wie wir erfahren haben, eine seelische Wertegemeinschaft, die im Laufe der Bewusstseinsevolution zunehmend vom Individuum her gedacht wird. Sie ist im Tiefsten eine Schicksalsgemeinschaft von Einzelnen, die eine gemeinsame Entwicklungsperiode durchlaufen. In der in einem gegebenen Land zu gegebener Zeit sich – zumindest potenziell – entwickelnden, einzigartigen Konstellation von Qualitäten finden sie die besten Voraussetzungen für ihren eigenen Entwicklungsgang. Nicht zufällige Geburt oder eine aus rein pragmatischen Motiven unternommene Einwanderung bestimmen in dieser Sicht die innere Zugehörigkeit zu einem Land, sondern die Affinität des eigenen seelischen Wesens mit den besonderen Werten und dem unverwechselbaren Werden der Nation.
Diese Werte und Qualitäten finden ihre evolutionäre Ausgangslage in den geografischen und subtilen Kräften sowie den spezifischen Gegebenheiten des Landes. Daraus erwachsen die mythischen Vorstellungen der dort lebenden Bewohner, ihre metaphysische Entstehungsgeschichte, ihre Sprache und Dialekte, Bräuche und idiosynkratischen Regionalkulturen. Entsprechend der Geistesstruktur der Bewohner in dieser Phase liegt die hierarchische Führung des Landes bei Stammesherrschern, Priestern und Feudalherren.
In der Meme-Abfolge von Spiral Dynamics entwickelt sich daraus die rational aufgeklärte politische Nation. Aus Landeskindern werden Staatsbürger. Regionalkultur, gemeinsame Sprache, Abstammung und Religion treten als wesentlich oder allein konstituierende Elemente zurück, und die politische Ausrichtung und Verfassung der Gemeinschaft werden zur zentralen Ausdrucksform des miteinander geteilten Erlebnisraums.
Der darauf folgende und gerade beginnende Evolutionsschritt ist der Kategorienwechsel ins Integrale. Die demokratische, liberal-politische Nation entdeckt ihre seelische Individualität mit ihrem Licht und ihrem egoischen Schatten. Diese Individualität offenbart sich nicht mehr in vormoderner Weise als neuer Glaubensmythos, sondern stellt für die Angehörigen der Nation eine subjektive und intersubjektive Erfahrungsmöglichkeit dar. Die Charakteristika der Nation haben sich an dem Punkt weitgehend aus dem ursprünglichen Entstehungszusammenhang von Geografie, Sprache, Stammes- und Brauchtumskultur und Religion hinaus entwickelt.
Es wäre etwa das Bild einer Fußballnationalmannschaft von elf starken Individualisten aller Hautfarben und mit unterschiedlichen persönlichen Träumen, die, geeint durch einen spezifischen und nationaltypischen Spielgeist und einer daraus in langer Erfahrung abgeleiteten Strategie, ihre höchsten Ziele erreicht. Die ihrer seelischen Qualitäten bewusst gewordene Nation kann ihre in die Wiege gelegte Mission entwickeln und erfüllen und ihre Schatten klären. Sie wird reif für den transnationalen Zusammenschluss mit anderen Nationen, für den Beitritt und den Übergang in eine vielgestaltige Weltgesellschaft.
Der Weg dahin mag mitunter verführerisch kurz wirken, und seine Ziele scheinen in Sichtweite zu sein. Doch kann er sich, so er ohne genügend Vorbereitung beschritten wird, auch als katastrophaler Irrweg und Rückschritt erweisen.
Von einem Land, das sich verführen ließ, diesen Irrweg bis zum bitteren Ende zu gehen, handeln die beiden folgenden Kapitel. Doch es gibt Hinweise darauf, dass Deutschland seitdem einiges an Voraussetzungen geleistet hat, um mit geläuterter seelischer Navigation den Weg nach Europa und in seine Zukunft zu finden.
Kapitel 4
Integrale Fallstudie Deutschlands – Teil 1: Der ambivalente Vorlauf
Der deutsche Fall scheint ein besonderer zu sein. Zumindest drängt sich der Eindruck auf, wenn man der überwältigenden Menge an Analysen und Kommentierungen zum Themenkomplex Drittes Reich, Nationalsozialismus und Adolf Hitler gegenübersteht. Amazon listet zu diesen Stichworten eine außerordentlich hohe Anzahl an deutschen Titeln auf, dazu kommen unzählige fremdsprachige Werke in aller Welt. Eine gewaltige und bis heute nicht enden wollende Flut, die auf einen allmenschlichen Dammbruch in den “1000 Jahren” zwischen 1933 und 1945 zu deuten scheint.
Doch wurde der Damm der Menschlichkeit nicht schon lange vorher und auch nachher weltweit mit monströsen Massakern und erbarmungslosen Völkermorden gebrochen? Fielen nicht Millionen Sowjetbürger Stalins brutalen “Säuberungen” zum Opfer, starben nicht innerhalb weniger Wochen fast eine Million ruandischer Tutsis unter den Machetenhieben ihrer vormaligen Hutu-Nachbarn? Kamen nicht unzählige Kambodschaner in ihrer zu Killing Fields mutierten Heimat unter Folter und Schwerstarbeit zu Tode?
In ihrem Totalverlust an Menschen und menschlichen Werten stehen diese dämonischen Pogrome dem deutschen Massaker in nichts nach. Doch wir können nicht anders als versuchen zu ver stehen, was an Sinnhaftigkeit und bitterer Erkenntnis in diesen abgründigen Geschehnissen liegen mag. Wir suchen nicht nur nach äußeren Gründen, sondern wir untersuchen auch die innere Konstellation, die letztlich in jedem einzelnen dieser Fälle zur Katastrophe führte. Wir tun das im Tiefsten deshalb, weil wir getrieben sind von einem uns innewohnenden und nicht ausrottbaren Streben zur Transformation des irdischen Schattens, zum lernenden Freilegen eines inneren und lichtvollen Kerns der Welt und des Lebens.
Integrales Bewusstsein fügt diesem evolutionären Lern- und Aufklärungsprozess ein neues Werkzeug, eine buchstäblich integrierende Sicht- und Erfahrungsweise hinzu. Die Erfahrungsund Heilungspraxis zum nationalen Schatten über den Weg unserer eigenen Teilhabe ist in Kapitel 9 beschrieben. Sie bestätigt die um die seelische Dimension erweiterte Erkenntnis und Sichtweise, dass die Handlungen von Menschen und Gemeinschaften nicht nur von gegebenen materiellen, kulturellen, sozialen und psychologischen Bedingungen abhängig, sondern erst vor dem Hintergrund deren evolvierenden Seelen und Memes ganz zu verstehen sind. Es ist diese Metaperspektive, die das postmodern-kontextuale Weltbild entscheidend erweitert oder besser: vertieft. Sie bietet das Scharnier, das erstmals eine Gesamt- und Zusammenschau subjektiver und objektiver Faktoren ermöglicht. Ein vollständigeres Bild dieser Art hilft auch zu verstehen, warum Hitlers Wahnideen und dem Schicksal der Deutschen und ihrer Opfer bis heute weltweit eine derartige Aufmerksamkeit zukommt, während andere – in ihren mörderischen und faktischen Auswirkungen nicht minder schreckliche – Irrsinnsideologien und Völkermorde dem globalen Vergessen anheimfielen.
Viele Kommentare und Werke der etablierten NS-Forschung stehen unter dem Eindruck der beispiellosen inneren und äußeren Mobilisierung, die die Nazis in Deutschland entfesseln konnten. Sie finden sowohl in den damaligen äußeren Bedingungen wie in der psychologischen Konstellation der Deutschen Gründe und Motive, die diesen Höllensturm verstehbarer machen sollen. Sie liefern aufschlussreiche und für ihr Teilgebiet gültige Perspektiven – und doch bleibt in der allgemeinen Debatte meist ein Letztes unerklärt und verweist auf ein schwer fassbares Mysterium. Man könnte es als die “Einzigartigkeit”, eben die Besonderheit dieser Tragödie umschreiben. Doch wenn eines fehlt im soziologischen und forschenden Instrumentarium wissenschaftlicher Provenienz, dann ist es die Referenz für das Besondere. Yehuda Bauer, einer der renommiertesten Holocaust-Forscher, führt für den singulären Charakter des Holocaust unter anderem an, dass kein anderer Genozid so “vollständig auf Mythen und Halluzinationen” basiere, die dann auf so rationale Weise in die Tat umgesetzt wurden38.
Doch diese Beobachtung findet das Beispiellose nur im erschreckenden Modus des Geschehens, nicht aber in seiner ebenso unverwechselbaren Ursache. Abgesehen davon, dass kein Konsens darüber besteht, was “Mythen und Halluzinationen” eigentlich sind, bleibt offen, warum gerade die Deutschen an diesem Punkt ihrer Geschichte eine “rational betriebene Pseudo-Mythologisierung” betrieben.
Das Unverwechselbarste, das “Besonderste”, was wir haben und sind, ist in integraler Erkenntnis der individualisierte Teil unserer seelischen Identität. Doch auch deren Schatten, ihre dunklen Gegenspieler, tragen unser besonderes Signum. Ein integraler Ansatz wird also den Blick sowohl auf die Seele in ihrer integralen Definition als auch auf ihre Schatten richten und dort nach der Besonderheit des Geschehens suchen. Antworten lassen sich dann vielleicht in der speziellen Beschaffenheit der deutschen Seelenqualitäten finden. Deren Konstellation lässt sich, wie zu zeigen ist, durchaus als prädestiniert für den weltweit begonnenen Paradigmen- und Memewechsel zum integralen Bewusstsein interpretieren. Zugleich aber, und das wurde Deutsch land zum Verhängnis, hatten die Deutschen bis dahin nicht die Werkzeuge entwickelt, um diesen Wandel und diese Transformation aus ihrer Seele heraus zu gestalten. Das heißt, vor allem hatten sie nicht gelernt, ihre kollektive Seele und deren authentische Repräsentanten vom nationalen Schatten und dessen Rattenfängern zu unterscheiden.
Gleichwohl hatte Deutschland, so die These, zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Höhepunkt in seiner geistigen und kreativen Entwicklung erreicht, der wichtige Beiträge zu einem neuen, integralen Bewusstsein hätte liefern können. Für Jürgen Habermas und andere bedeutete die ungeheure Diskrepanz zwischen diesem damaligen geistig-kulturellen Standort der Deutschen und ihrer unfassbar scheinenden Entscheidung für die Regression einen “Zivilisationsbruch”. Der Begriff soll vor allem den restaurativen, zivilisationsfeindlichen Charakter der deutschen Nazi-Bewegung verdeutlichen und deren ablehnende Reaktion auf den Humanismus der Moderne zum Ausdruck bringen. Diese Reaktion als “Bruch” zu kennzeichnen lässt jedoch den Standort des Betrachters im rationalen Paradigma oder Meme der ersten Ebene vermuten. Nur aus dieser Perspektive heraus ist die Moderne und deren Zivilisationsgestaltung der höchste und einzige, der “ungebrochene” Evolutionsmaßstab. Wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, unterliegen Memes der ersten Ebene strukturell der Gefahr einer evolutionären Verabsolutierung und eines Mangels an transzendierender Visionskraft. Die damit unvermeidliche Prä-/ Trans-Verwechslung würde in dem Fall lauten, dass eine Ablehnung der Moderne, gleich ob intendiert oder nicht, den automatischen Rückfall in die Vormoderne impliziert. Rationale wie teilweise auch postmoderne Memes können nicht anders, als Ziele wie Transrationalität und Transmodernität als Illusionen und Widergänger der Vormoderne zu deuten. Die Möglichkeit zu prüfen, ob der Anspruch der nationalsozialistischen Bewegung, eine “neue Zeit” und einen “neuen Menschen” zu schaffen, sich, wenn auch in entstellter Weise, auf eine reale evolutionäre und seelische Konstellation bezog, wird deshalb aus der Perspektive der ersten Spiral-Dynamics-Ebene heraus nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden. Diese konventionelle Haltung findet ihre Bestätigung darin, dass der Nationalsozialismus in entscheidender Beziehung tatsächlich in archaische Evolutionszeit und in regressives Bewusstsein abstürzte. Verständlicherweise lässt das bisher nur sehr vereinzelt der Betrachtung Raum, ob dies vielleicht nicht deshalb geschah, weil es keine transrationale und transmoderne Zukunft geben kann oder geben darf, sondern weil die Deutschen sie durch ihre Unzulänglichkeit und ihre unbearbeiteten Schatten tragisch und unheilvoll verfehlten.
Wie wir sahen, weisen evolutionäre Prozesse oft einen mäandrierenden Charakter auf, vollziehen sich in Wellen und können manchmal auch teilweise Rückentwicklungen beinhalten. Angesichts der erwähnten und im Folgenden näher dargestellten Voraussetzungen der Deutschen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts scheint es deshalb weiterbringender, das damalige Geschehen auch als Teil einer missglückten kollektiv-seelischen oder Bewusstseins-Evolution zu deuten. Sie wäre dann über den Versuch einer “nationalen Selbstverwirklichung” hinaus die Pervertierung eines eigentlich anstehenden menschheitlichen Evolutionsschrittes in Richtung eines neuen, integralen Bewusstseins:
“Der Nationalsozialismus versuchte von Anfang an, die scharfe Trennungslinie zwischen ihm und dem Neuen Bewusstsein zu verwischen, um die so überaus starken Impulse dieses […] Bewusstseins für seine Zwecke zu missbrauchen […]. Darum wird auch seine damalige Faszination unverständlich bleiben, solange man nicht zuerst das Neue Bewusstsein und seine Ziele ins Auge fasst39.”
So betrachtet bildet der deutsche Fall weniger einen “Zivilisationsbruch” denn einen evolutionären Absturz menschheitlicher Bewusstseinsentwicklung. Ein Absturz auf oder von hohem Niveau. Die irregeleitete seelische Beteiligung, die evolutionäre Katastrophe und vor allem die beispiellose Fallhöhe mögen ein wesentlicher Grund dafür sein, warum der deutsche Wahn eine so welterschütternde Bestürzung hervorrief, die weit über empathische Kriegs- und Massakerverarbeitung hinausgeht und bis heute nachklingt.
Die Doppelnatur der deutschen Seele
Wie ist sie also beschaffen, die “deutsche Seele”, und wie und warum konnten die Nazis ihre spezielle Wesensart so passgenau für ihre Ziele missbrauchen?
Die Besonderheit der seelischen Identität der Deutschen, darüber sind sich unterschiedliche deutsche wie ausländische Beobachter einig, liegt in ihrer Simultanität von geistiger und praktischer Ausrichtung und Begabung. Sri Aurobindo sieht bei den Deutschen eine rare Parallelität von spiritueller Geistessehnsucht und materialistischem Forschungs- und Gestaltungswillen. Es ist eine in dieser Form einzigartige seelische Doppelnatur des Objektivierenden und des Subjektiven. Sie ist es, die den archetypisch-deutschen Dr. Faustus zwei Seelen, besser Seelenteile, in seiner Brust finden lässt.
Als Polarität zweier scheinbar gegensätzlicher, sich jedoch in ihrer Entwicklung und Realisierung komplementierenden Qualitäten sieht sie auch der britische Historiker Peter Watson. Er beschrieb 2010 in einem in Großbritannien viel beachteten 500-Seiten-Opus diesen “Deutschen Genius40”: “Das Ausleuchten der inneren Erfahrungswelten ging bei den Deutschen selbst im darwinistischen Zeitalter nie ganz verloren, obwohl der (biologische) Evolutionismus unter deutschen Gelehrten mehr Anklang fand als in irgendeinem anderen Land”, zitiert ihn der zeitgenössische Ulmer Philosoph Martin Spura41.
Watson listet entsprechende Beispiele deutscher Persönlichkeiten und Qualitäten auf und wertet dabei “Innerlichkeit” positiv als einen zentralen deutschen Wesenszug. Das ist insofern mutig, da das heutige Deutschland seine spezifische Innerlichkeit als vermeintlichen Wegbereiter der, wie Spura es nennt, “trunkenen Neigung für die Mystizismen des nationalsozialistischen Blut- und Bodenrausches” ablehnt und tabuisiert. Spura stimmt dem britischen Autor darin zu, dass sich jedoch ebendiese deutsche Innerlichkeit zugleich als Quelle vieler wegweisender und kreativer Ideen und Innovationen erwiesen hat42.
Johannes Heinrichs, auch er ein zeitgenössischer philosophischer Querdenker, formuliert es so: “Die Frage der deutschen Identität ist nun mal an die Philosophie gebunden. In ihr ist deutsche Identität mit den Wortpaaren Klarheit und Tiefe, Rationalität und Intuition, Intellektualität und Spiritualität gekennzeichnet. Diese fruchtbare Spannung durchzuhalten, kann ›typisch deutsch‹ genannt werden43.”
Doch diese Doppelnatur birgt, so wie jede evolutionär-seelische Konstellation, sowohl ihre spezifischen Chancen als auch ihre besonderen Gefahren. Letztere lernten die Deutschen, und leidvoll mit ihnen die jüdische Nation und ein großer Teil der Welt, in bitterer Weise kennen. Unter dem Eindruck der mörderischen Mesalliance der beiden deutschen Seelenteile in einem pseudomythologischen Nazi-Darwinismus zeigte sich Thomas Mann unmittelbar nach dem Krieg in seinem amerikanischen Exil tief pessimistisch ob der Möglichkeiten nicht nur einer glücklichen, sondern überhaupt einer innerseelischen deutschen Vereinigungschance der beiden Seelenhälften. In der Sicht des deutschen Literaten ist Deutschlands (innere) Verfassung dergestalt, dass sie “Geist und Leben, Kunst und Politik in zwei völlig getrennten Welten hält44”.
Sri Aurobindo sieht die Verbindung dieser Seelenteile zwar verborgen, doch zumindest möglich und im Ansatz realisiert. Die wahre Quelle dieser “subjektiven Kraft” entstamme den großen Philosophen und Komponisten und somit jenen Anteilen der deutschen Seele und des deutschen Charakters, die diese repräsentierten. Mit “subjektive Kraft” ist hier die Bereitschaft zur Inaugurierung des seelischen Bewusstseins gemeint. Doch die idealistischen, romantischen und mystischen Philosophen und Dichter des Landes verkörpern nur die eine Seite der deutschen Seele. Den anderen Teil sieht Sri Aurobindo in Deutschlands Forschern, Erziehern, Wissenschaftlern und Organisatoren repräsentiert. Ein Volk, sagt er, mag in seinen seelisch-geistigen Fähigkeiten hoch begabt sein, doch wenn es versäumt, auch die (seelisch-)praktische Seite unserer komplexen Natur zu kultivieren, “dann wird es nicht in der Lage sein, jene Brücke zwischen Idee und Imagination und der Welt der Tatsachen zu bauen, zwischen der Vision und der Kraft, welche die Realisation möglich macht”.
Und dennoch fand eine Vermittlung statt. Im 18. und 19. Jahrhundert “richtete Deutschland einen tiefreichenden Blick auf sich selbst wie auch auf Dinge und Ideen, um die Wahrheit seines eigenen Wesens und der Welt zu finden”. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt Deutschlands Suchen dann vor allem der empirisch-wissenschaftlichen Forschung, “um die objektiven Mittel zur Organisation dessen zu erhalten, was es gefunden hatte”.
Sri Aurobindo sah Deutschland deshalb in der frühen Weimarer Zeit in einer evolutionären Schlüsselposition: “Eine Nation ›wie die deutsche‹ […] ist eindeutig dazu prädestiniert, die Führung in der Wende zum Subjektivismus zu übernehmen und am Beginn des subjektiven (seelischen) Zeitalters ein tiefgreifendes Ergebnis zu zeitigen, zum Guten wie zum Bösen45.”
Der indische Philosoph schrieb diesen Text zwischen 1919 und 1922. Wie er und wir erfahren mussten, geriet Deutschlands Führungsversuch eindeutig zum Bösen.
Doch auch andere hatten entsprechende Erwartungen an Deutschland. Friedrich Schiller scheint in seinem Fragment “Deutsche Größe” eine Art prophetische Schau einer evolutionären Rolle des Landes bei dem in Spiral Dynamics beschriebenen, kategorischen Übergang in eine nächste Meme-Ebene zu offenbaren:
Jedem Volk der Erde glänzt
Einst sein Tag in der Geschichte,
Wo es strahlt im höchsten Lichte
Und mit hohem Ruhm sich kränzt,
Doch des Deutschen Tag wird scheinen
Wenn der Zeiten Kreis sich füllt46.
Bevor wir uns der Schlussfolgerung aus dieser deutschen Doppelnatur für die heutige Gegenwart zuwenden, ist es gut, die Fakten zu kennen. Was haben die Deutschen tatsächlich mit ihrem seelischen Reichtum unternommen? In der Weimarer Zeit, im “Dritten Reich” – und in der Nachkriegszeit bis heute?
Die folgenden Kapitelabschnitte betrachten etwa die letzten 150 Jahre jüngerer deutscher Geschichte im Lichte dieser kollektiv-seelischen Realisierungsdynamik. Es ist die Zeit, in der es das Land nach mehr als 1000-jährigem, kulturellem Wachstum von Stämmen und Kleinstaaten anging, sein mentales Selbstverständnis als “deutsche Nation” zu finden.
Lebensreform und Nobelpreisflut
Eine Ausstellung der Darmstädter Mathildenhöhe im Jahr 2002 hatte sich erstmals zum Ziel gesetzt, den künstlerischen, kulturellen, spirituellen und gesellschaftlichen Gehalt der in ihrer (post-)modernitätsprägenden Nachhaltigkeit oft unterschätzten Lebensreformbewegung mit gebotener Differenziertheit und Würdigung freizulegen. Dabei ging es keineswegs um eine rein historische Darstellung. Was in der Präsentation vielleicht zum ersten Mal deutlich herausgearbeitet wurde, war die oft unterschätzte und bis heute nachhaltige Impulssetzung dieser um 1900 aktiven Reformbewegung für die “Geburt des modernen Menschen”. “Unser gegenwärtiges Wissen um den Wert biologischen Nahrungsanbaus und aufgeklärter Gesundheits- und Hygieneregeln ist ebenso Miterbe der Lebenreformbewegung wie unser ökologisches Bewusstsein und das Ausmaß der sexuellen Unbefangenheit unserer heutigen Gesellschaft47.”
Tatsache ist jedoch auch, dass nicht wenige Inhalte und Anhänger dieser Reformideen im Nationalsozialismus Eingang suchten und fanden. Die zentralen Themen der Lebensreformbewegung deshalb als “braune Ideologie” kennzeichnen zu wollen und sie als überholt anzusehen ist allerdings in heutiger historischer Sicht falsch und unangemessen.
In der Lebensreform wie generell im kulturellen Zeitgeist Deutschlands in der Zeit circa zwischen 1880 und 1930 lassen sich – in erstaunlicher Gleichzeitigkeit mit wilhelminischer Enge und militaristischem Pathos – die ersten Anzeichen eines neuen integralen Bewusstseins erkennen. Und das trotz des Weltkriegs, wirtschaftlicher Depression und politischer Unruhen. Diese Epoche kann deshalb mit guten Argumenten als eine der kreativsten, geistig fruchtbarsten und innovativsten Perioden deutscher Geschichte gedeutet werden.
Erstaunlich nur auf den ersten Blick, dass diese deutsche Hoch-Zeit in Deutschland bis heute kaum als solche gewürdigt wird und im öffentlichen Leben daran praktisch keine Erinnerung besteht. Zum Verhängnis, so der Verdacht, wurde dieser fruchtba ren Zeit ihre Vorläuferschaft zu einer furchtbaren Periode. Insbesondere die spirituelle, geistig suchende Dimension des damaligen deutschen Zeitgeistes und damit der eigenen Seelenbefindlichkeit wird bis heute totgeschwiegen oder in ihrer Bedeutung heruntergespielt.
Beides wird nicht nur dem Geschehen nicht gerecht, sondern versperrt vor allem das Verständnis für die nachfolgende Katastrophe. Wenn innere Geistessehnsucht und rationaler Forschungsdrang im besten und komplementären Sinn deutsche Seelenqualitäten sind, so lassen sie sich, wie fast alle diese Qualitäten, auch mit ihren Zerrbildern, ihren egoischen Entstellungen verkennen.
Die These lautet deshalb, dass zumindest ein Teil dieser damaligen Geist- und Seelensuche zu Beginn des Jahrhunderts in die Irre ging und stattdessen in Weltkriegseuphorie und vor allem im folgenden Nationalsozialismus der dunkelsten Form des deutschen Seelenschattens folgte und anheimfiel48.
Aus der “romantisch” inspirierten Wandervogelbewegung und der Bündischen Jugend erwuchs eine fanatisch, auf falschen Mythos eingeschworene Hitlerjugend. Pseudomystische Lichtdome blendeten viele der für mythologische Formen der Spiritualität offenen Zeitgenossen.
Nachfolgend zum besseren Verständnis einige Fakten und Zusammenhänge aus dem Deutschland zur Zeit der Jahrhundertwende um 1900 und den ersten 30 Jahren jenes Jahrhunderts. Sie können in keiner Weise eine vollständige Darstellung des ungemein facettenreichen und kreativ-geistigen Lebens der damaligen Gesellschaft leisten. Wohl aber sollen und mögen sie eine Ahnung von einer bestimmten Tiefe des seelischen Lebens jener Zeit und ihrer Menschen vermitteln. Es war vielleicht die Zeit, in der Deutschland der integralen Realisierung und Erfüllung sowohl seiner geistig-seelischen als auch seiner rationalforschenden Seelenhaltungen am nächsten kam.
Wie wir heute wissen, mündeten diese historischen Voraussetzungen einer kollektiven Selbstverwirklichung jedoch nicht in ein neues Bewusstsein, sondern in einen dämonisch-archaischen Größenwahn. Gleichwohl verweisen sie auf das seelenwirkliche Potenzial Deutschlands, auf das sich zu beziehen wegen des Traumas durch das damalige Scheitern seiner Realisierung nach dem Krieg fast unmöglich wurde.
Weltranking deutscher Kreativität
Deutschland war zwischen 1902, dem Beginn der Nobelpreisverleihungen, und 1933, dem Jahr von Hitlers Machtergreifung, weltweit mit Abstand das Land mit den meisten Preisträgern. Der Großteil wurde für naturwissenschaftliche Glanzleistungen in den Kernbereichen Physik, Chemie und Medizin verliehen, etliche auch für Literatur. Im Widerspruch zum Bild der ausschließlich kriegslüsternen Deutschen – die ja in der Tat innerhalb weniger Jahrzehnte zwei Weltkriege oder vielmehr Kriege gegen die Welt entfesselten – gingen in der gleichen Zeit nicht weniger als drei Friedensnobelpreise nach Deutschland49.
Dies sind deutliche Hinweise darauf, dass im Deutschland der Jahrhundertwende und besonders der Weimarer Zeit neben seinen bekannten aggressiven und reaktionären Ausdrucksformen auch ein ungeheuer reiches visionäres und kreatives Potenzial vorhanden war.
Der französische Soziologe Raymond Aron war der Ansicht, das 20. Jahrhundert hätte auch das deutsche Jahrhundert werden können: “Man könnte … sagen: Deutschland erst hat in zwei Kriegen das 20. Jahrhundert zum amerikanischen gemacht50.”
Der Reichtum lag sowohl im naturwissenschaftlichen als auch im philosophisch-literarisch-künstlerischen Feld. Materialistisch-rassistische Schriften und völkisch-dumpfe Pamphlete lagen Seite an Seite mit Manifesten spiritueller Visionen und ganzheitlicher Lebensmodelle. Letztere entwarfen neue Vorstellungen von positiven materiellen wie geistig-ethischen Entwicklungen der Gesellschaft, wovon eben auch die Verleihungen der Friedensnobelpreise Zeugnis geben können.
Tatsächlich erfuhr im Deutschland jener Zeit neben naturwissenschaftlicher Forschung auch die geistige Suche eine außerordentliche Blüte und Ausbreitung. Viele der damals zu findenden spirituellen Bewegungen definierten sich, jenseits von konventioneller Religiosität, als Erben von Idealismus und Romantik. Sie setzten ihren Schwerpunkt in die Suche nach transreligiösen wie transrationalen und vor allem “eigenen” (deutschen) seelischen Ausdrucksformen und Definitionen.
Die damals weltweit prosperierende Theosophie erhielt unter ihrem Generalsekretär Rudolf Steiner ab 1912 eine “mitteleuropäische” Interpretation. Als unabhängige Anthroposophie entwickelte sich daraus eine der einflussreichsten esoterisch-spirituellen Bewegungen im Deutschland der Neuzeit. Unter den konventionellen Religionen war es vor allem der Buddhismus, der in der Weimarer Zeit viel Interesse fand, aber auch er in eigenständiger Ausdrucksform. Buddhistische Philosophie hatte in Deutschland schon im 19. Jahrhundert, vor allem durch den Philosophen Arthur Schopenhauer und über ihn durch Friedrich Nietzsche, einen europäisch geprägten Ausdruck gefunden. Richard Wagner plante für einige Zeit eine Buddha-Oper, auch dies im weiteren Sinn auf der Suche nach einem neuen Bewusstsein51. Wagner teilte diese Synthese mit den Romantikern und fand mit seinen Werken allerdings auch großen Zuspruch bei Hitler und führenden Nationalsozialisten. 1924 wurde von Paul Dahlke mit dem “Buddhistischen Haus” in Berlin-Frohnau das älteste buddhistische Kloster in Deutschland (und Europa) errichtet.
Das Staatliche Bauhaus in Weimar, gegründet 1919 von Walter Gropius, war dagegen nach Art und Konzeption etwas völlig Neues. Die Design- und Architekturschule wurde vor allem be kannt für ihren rationalen und funktionalen Stil der Neuen Sachlichkeit. Weniger bekannt ist, dass gleichwohl auch Repräsentanten einer freien und postreligiösen Spiritualität zum inneren Kern des Bauhaus zählten. Zu ihnen gehörten sein früherer Leiter Johannes Itten oder auch der anthroposophisch orientierte Maler Wassily Kandinsky. Letzterer war zusammen mit Franz Marc Begründer der romantisch beeinflussten Künstlergruppe Der Blaue Reiter. Marc und das Bauhaus-Mitglied August Macke vertraten die Auffassung, dass jeder Mensch eine innere und eine äußere Erlebniswirklichkeit besäße, die durch die Kunst zusammengeführt werden sollte. Entsprechungen dazu finden sich heute in der – für das rationale Meme revolutionär wirkenden – integralen und parallelen Perspektivenrealität des Subjektiven und des Objektiven.
Sinn- und Seelensuche in Film und Literatur
Der deutsche Film konnte in der Weimarer Epoche einen Grad an expressiver und stilistischer Kühnheit und in dessen Gefolge weltweiter Anerkennung erreichen, dem er später nie mehr nahekam. Ihren Ausdruck fand dieses Schaffen zunächst in der expressionistischen Filmkunst der Stummfilme zwischen 1918 und 1929, gefolgt vom frühen Tonfilm bis 1933. Viele dieser cineastischen Werke machten Deutschland – von den Deutschen selbst heute fast vergessen – zu einem Pionierland der internationalen Filmgeschichte. Das Genre des besonders geschätzten deutschen phantastischen Films im Erbe von Malerei und Literatur der Romantik hatte eine starke esoterische und okkulte Prägung52.
Diese Werke erfuhren nicht nur im eigenen Land großen Zuspruch. “Der Golem, wie er in die Welt kam” von Paul Wegener war der international erfolgreichste deutsche Film vor 1920, er lief monatelang in ausverkauften Häusern von den Vereinigten Staaten bis nach China.
Ab 1919 erlangte der deutsche expressionistische Film Weltruhm. Als Grundstein und Höhepunkt zugleich gilt “Das Cabinet des Dr. Caligari” (1920) von Robert Wiene. In diesem Film fand der Expressionismus, so wie er seit 1905 durch die Künstlergruppe “Brücke” propagiert wurde, seinen ersten Niederschlag im Film.
Die Nationalsozialisten verstanden es jedoch auch hier, die deutsche Seelenstimmung zu Romantik und übersinnlicher Phantastik in deren cineastischen Ausdrucksformen für ihre Zwecke zu nutzen.
Der 1932 erstellte Film “Das blaue Licht” war ein Mysterien-Drama der genialen, aber sich später ganz in den Dienst des Nazi-Kultes stellenden Filmemacherin Leni Riefenstahl53. Dieses Licht führt in Riefenstahls Interpretation zu einem verborgenen Schatz hoch oben in den Bergen, der nur der reinen, aber verkannten Heldin vorbehalten ist. Der von der “New York Times” gelobte54, in London und Paris erfolgreiche und in Venedig preisgekrönte Streifen illustriert die von sehnsuchtsvoller Romantik getragene deutsche Seelenstimmung jener Zeit, derer die Nazis sich bedienten und aus der sie ihre Bilder schöpften. Hitler wurde durch diesen Film auf Leni Riefenstahl aufmerksam, und sie wurde in dessen Gefolge zur Propagandacineastin des “Dritten Reichs55”.
Unberührt von dieser Last der Deutschen mit ihrer eigenen Vergangenheit entwickelten Hollywood und andere Filmzentren das Genre des phantastischen Fantasy oder Mystery-Films bis heute zu einem ihrer populärsten und innovativsten Schwerpunkte. In Deutschland dagegen, einem Pionierland des Genres, war und ist nach dem Krieg die Diskussion und Produktion des phantastischen Films praktisch erloschen. Zu dominierend scheint auch hier noch das Irrationalitätstrauma der deutschen Nachkriegsgenerationen zu wirken, das in der eigenen Romantik und dem deutschen Idealismus nicht einen frühen und vielver sprechenden Aufbruch zu integralem Denken, sondern nur ein verhängnisvolles Aufgeben streng rationaler Wirklichkeit erkennen kann.
Die nachkriegsdeutsche Abwehr ihrer eigenen Seelen-Romantik spiegelt sich in Beurteilungen – oder besser: prä-/trans-verwechselnden Selbstverurteilungen –, wie sie etwa 1947, noch unter dem Eindruck des Geschehens, in dem in den USA erschienenen Aufsatz des Soziologen Siegfried Kracauer sichtbar werden, der den bezeichnenden Titel “Von Caligari zu Hitler” trägt56: So spiegelten nach Kracauer “die Häufung von Schreckgestalten und Schreckensvisionen in den Filmen der Weimarer Republik […] eine kollektive Abkehr von rational nicht mehr durchschaubarer Realität wider, eine Flucht in das ›Reich der Seele‹, die schließlich zu einer selbstgewählten politischen Unmündigkeit der Deutschen und zur Machtergreifung Hitlers führte57”.
Man könnte es als weiteres Beispiel dafür sehen, wie das eigene Erbe infolge seines partiellen historischen Missbrauchs ausgeschlagen und das darin enthaltene kreative Potenzial nicht gelebt wird. Kreativ meint hier auch die (r)evolutionäre Qualität des konstruktiven Infragestellens des eigenen Paradigmas, um den Boden für die Entwicklung des nächsten Memes vorzubereiten – eigentlich Vorrecht und Pflicht einer freien und unabhängigen Kunst und Intelligenz.
Ebendiesen Mut und Tiefe bewiesen die Autoren eines für die Weimarer Epoche nicht minder kennzeichnenden Genres. Einzelne Werke dieser phantastischen, spirituellen und esoterischen Literatur, und auch dies ist heute kaum mehr bekannt, erfuhren gleich dem phantastischen Film eine weltweite und später nie mehr erreichte Popularität und Anerkennung.
Doch gilt es auch zu registrieren, dass kein geringer Teil dieser Literatur einen Hang zum Dunklen bzw. zum unheilvoll Dogmatischen offenbarte. Einige Machwerke bereiteten ganz unmittelbar die bevorstehende Höllenfahrt vor. Der Einfluss von völkischen Okkult-Schreibern wie Guido von List oder Jörg Lanz von Liebenfels sowie einiger anderer, gleichgesinnter Autoren auf das Denken Adolf Hitlers wird von manchen Beobachtern als erheblich größer angesehen als es ihnen die Mehrzahl der etablierten Historiker in Deutschland zugestehen will58.
Diese Schattengestalten trugen das Ihre dazu bei, dass, vergleichbar dem phantastischen Film, auch die “lichtvollere” Literatur dieses Genres heute vergessen scheint. Wohlgemerkt in Deutschland – keineswegs, wie zu zeigen ist, im Ausland.
Als einer der Ersten im deutschen Sprachraum, nach Paul Scheerbart und dem Romantiker E.T.A. Hoffmann, verfasste Gustav Meyrink phantastische Romane. Die Inhalte seiner häufig im alten Prag spielenden Werke befassen sich hauptsächlich mit übersinnlichen Phänomenen und dem metaphysischen Sinn der Existenz (Der Golem, Das grüne Gesicht, Der weiße Dominikaner, Der Engel vom westlichen Fenster).
Weniger das phantastische als das ebenso reiche mystische Erbe der deutschen Sprache und Kultur klingt bei einem anderen Schriftsteller jener Zeit an.
Bis in die Gegenwart ist Rainer Maria Rilke (1875–1926) weit über Deutschlands Grenzen hinaus als Dichter bekannt und geschätzt. Unter dem Einfluss von Schopenhauer und vor allem Nietzsche ist Rilkes Werk geprägt durch Kritik sowohl an der Jenseitsorientierung des Christentums als auch an einer einseitig naturwissenschaftlich-rationalen Weltdeutung. Auch bei Rilke ließe sich so die Suche nach neuen Ausdrucksformen jenseits von konventioneller Religion und Rationalität, die Suche nach einem “Weltinnenraum” als Ziel und Zeichen eines neuen (integralen) Bewusstseins verorten. “Wir sind nicht sehr verlässlich zu Hause, (allein) in der gedeuteten Welt59”, sagt Rilke.
Doch der Dichter empfiehlt dabei eben nicht den Rückgriff auf die mythologische Ordnung der Welt als Ausweg aus rationaler Reduktion.
Das tat auch Hermann Hesse nicht, der bis heute im Ausland meistgelesene und geschätzteste Schriftsteller deutscher Sprache60.
Es ist schwer, sich der aus dieser Spitzenstellung folgernden Einsicht zu verschließen, dass Hesse einen Nerv dessen trifft, was die Welt von deutschen Dichtern erwartet oder, allgemeiner gesagt, was die Welt am deutschen Geist schätzt. Er ist, eigentlich in unübersehbarer Deutlichkeit, der Weltspiegel einer besonderen deutschen Seelenqualität, die sich als sehnsuchtsvolle und zugleich radikale Sinn- und Seelensuche beschreiben lässt. Hesses Thema (und Leben) war die Frage nach der eigenen Seele, nach tiefster eigener Bestimmung und Selbstbestimmung. Auch Hesse erhielt einen Literaturnobelpreis, allerdings erst 1946. Sein Werk lag nach dem Krieg auch der Gründung eines der wichtigsten deutschen Verlage zugrunde (Suhrkamp).
Nichtsdestoweniger wurde und wird Hermann Hesse in den Nachkriegsjahren im eigenen Land in deutlich polemisch wirkender Weise gern als “Jugendschriftsteller” betitelt, seine Werke damit zur schwärmerischen Lektüre für pubertierende Jugendliche reduziert61. Diese widersprüchliche und gespaltene Rezeption Hermann Hesses veranschaulicht das gebrochene Verhältnis großer Teile der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit gegenüber dem Phänomen der besonderen deutschen Seelensuche in der eigenen Geschichte und zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Man kann damit auch sagen: gegenüber sich selbst.
Die Suche nach einem neuen, gesellschaftskulturellen Entwicklungsmodell für Deutschland kennzeichnete auch eine Gruppe Weimarer Intellektueller mit einem aufschlussreichen Programm. Die “Konservative Revolution” ist der Sammelbegriff für eine Gruppe ideologischer Strömungen und der sie tragenden Reprä sentanten. Charakterisiert wird die vornehmlich literarisch-publizistische Bewegung unter anderem durch ihre Suche nach einem dritten Weg sowohl jenseits von erstarrtem christlichen Konservatismus als auch rational reduzierten Liberalismus62.
Aus heutiger Sicht lässt dies an die integrale Suche nach einem neuen politischen Paradigma erinnern: “Tatsächlich traten viele Autoren der konservativen Revolution nicht für eine konservative Restaurierung, sondern für eine radikale Erneuerung der Gesellschaft ein. Ihre Gedanken waren nicht antimodern, zielten aber auf eine ›andere, eine deutsche Moderne‹. Die Konservative Revolution grenzte sich dabei ebenso von den alten, als reaktionär begriffenen Konservativen wie vom (als kalt und ›seelenlos‹ verstandenen) Liberalismus ab63.”
Die Wikipedia-Seite “Konservative Revolution”, von der diese Einführung stammt, stellt das auch heute etwa im Kontext der US-Tea-Party noch oder wieder aktuelle und weltweite Ringen um diesen Begriff vor. Seine innere Widersprüchlichkeit kann als beispielhaft gelten für den Übergang zwischen zwei Memes, für das gleichzeitige, inkohärente Echo zweier antagonistischer Bewusstseinshaltungen und Weltbilder auf den Ruf des Neuen.
Unter den Mitgliedern der Konservativen Revolution waren auch Vertreter des “Geheimen Deutschland”, einer geistig-nationalen Erneuerungsbewegung, zu der sich etwa der Widerstandskämpfer Graf von Stauffenberg bekannte und zu deren prägendster Gestalt der Dichter Stefan George zählte. Zum Kreis oder Umfeld der Bewegung gehörten, mit unterschiedlicher Gewichtung, u. a. Oswald Spengler, Arthur Möller van den Bruck, die Brüder Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger, Ernst von Salomon, August Winnig, Georg Quabbe, Edgar Jung, Othmar Spann, Hans Freyer, Ernst Niekisch, Wilhelm Stapel, Hans Zehrer und der Tat-Kreis, Carl Schmitt, Ludwig Klages, Thomas Mann, Martin Niemöller, Hugo von Hofmannsthal und die Lensch-Cunow-Hänisch-Gruppe.
Der bereits an anderer Stelle erwähnte Oswald Spengler schrieb mit dem “Untergang des Abendlandes” einen der populärsten Titel jener tragischen Zeit und Bewegung. Spengler setzte dabei das für ihn positiv besetzte Wort Kultur in Gegensatz zu dem für ihn negativ konnotierten Begriff Zivilisation, den er mit Dekadenz gleichsetzte. Goebbels bemühte sich allerdings später vergeblich, Spengler auf seine Seite zu ziehen. Das zeigt, wie schwer sich das “Dritte Reich” im Umgang mit Autoren der Konservativen Revolution wie Spengler tat64.
Thomas Mann, Martin Niemöller und einige andere zogen sich wieder aus der Gruppe zurück, wohl im Bewusstsein deren zu großen Spannungsfeldes. Kennzeichnend für jene wurde zunehmend die Betonung mythischer, hierarchisch geordneter Kollektivität.
Was sich im Schicksal dieser Bewegung zeigt, war das seelische Unvermögen der damaligen Deutschen, die integrale Herausforderung zu meistern. Diese Meisterung hätte darin bestehen können, die Essenz der traditionellen mythisch-mystischen Werte eben mit rationaler Liberalität und Individualität zur integralen Synthese einer nationalen seelischen Identität zu bringen. Der deutsche Weg führte stattdessen gleich zweimal hintereinander in kollektivistische und trotz ihres teilweisen Anspruchs denkbar “gottlose” Gesellschaften.
Die metaphysischen Grundlagen der Konservativen Revolution betonten die “Wiedereinsetzung aller jener elementaren Gesetze und Werte, ohne welche der Mensch den Zusammenhang mit der Natur und mit Gott verliert und keine wahre Ordnung aufbauen kann. Anstelle der Gleichheit tritt die innere Wertigkeit, anstelle der sozialen Gesinnung der gerechte Einbau in die gestufte Gesellschaft65.”
Wie eine Betrachtung dieser tragischen Bewegung heute darlegen kann, bedeutet die simultane Neufassung von Ratio und Religio noch keineswegs automatisch die evolutionäre Entde ckung des Integralen. Wenn die Schatten in ihrer unbearbeiteten Form überwiegen, kann im Gegenteil, wie wir erfahren mussten, ein rationalmythischer Bastard finsterster Provenienz entstehen.
Eine besondere Rolle im kreativ-integralen Aufbruch Deutschlands jener Zeit fiel nicht zuletzt auch einer spezifischen Gruppe von Menschen zu, der meist in einem späteren und tragischen Kontext gedacht wird. Sie waren geprägt durch die Weimarer Zeit, obwohl viele von ihnen unmittelbar danach den Weg in die Emigration antreten mussten. Die Rede ist von den deutsch-jüdischen Denkern, Wissenschaftlern, Literaten und Philosophen dieser Epoche, viele von ihnen weltbekannte Namen und Träger der erwähnten Nobelpreise. Diese Emigranten trugen als solche wesentlich dazu bei, dass Deutschland im Jahr 1933 als Land mit den meisten Nobelpreisen von den USA abgelöst wurde. Doch der Wandel war erzwungen. Es war eine kreative Elite, die ihr Werk in Deutschland begann und im Ausland vollenden musste.
Steven E. Aschheim ist als Professor Emeritus im Bereich Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem ein renommierter Verfasser zahlreicher Bücher über deutsche und jüdische Geschichte. In einem Aufsatz widmet er sich den deutsch-jüdischen Intellektuellen und Wissenschaftlern der Weimarer Zeit. “Zu Beginn des 21. Jahrhunderts”, so Aschheim, “[repräsentieren] bestimmte jüdische Denker aus der Weimarer Republik – insbesondere Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Walter Benjamin, Franz Rosenzweig, Gershom Scholem und Leo Strauss – […] zentrale Gestalten, ja Kultfiguren oder Ikonen der angloamerikanischen und eigentlich eines Großteils der westlichen intellektuellen und akademischen Kultur66.”
Aschheims Auflistung ließe sich ergänzen um Namen wie Albert Einstein, Sigmund Freud, Klaus Mann, Magnus Hirsch feld, Arnold Zweig, Carl Zuckmayer, Hugo von Hofmannsthal, Alfred Döblin, Heinrich Heine, Franz Kafka, Clemens Brentano – eine Auswahl deutsch- oder deutschsprachig-jüdischer Wissenschaftler, Literaten und Denker zu Beginn des 20. Jahrhunderts67.
Und obwohl es eine lange Tradition erfolgreicher deutschjüdischer Intelligenz gibt, sticht die Weimarer Zeit besonders heraus. Aschheim ist sich dabei völlig im Klaren darüber, wie zweischneidig sich der Mythos der Weimarer Republik insgesamt darstellt. Er sieht in ihm einerseits die anhaltende Warnung vor dem Scheitern der Demokratie, dem Zusammenbruch von Gesellschaft und Moral und den Aufstieg des Faschismus. Andererseits “steht er auch für eine idealisierte Variante des wagemutigen experimentellen Geistes, der Mentalität der Abweichung, der revolutionären Eruption gedanklicher Neuerungen und künstlerischer Kreativität, wie sie jene Jahre gekennzeichnet hat68”. Entsprechend paraphrasiert Aschheim Jürgen Habermas: “Gäbe es die deutsch-jüdische Sensibilität nicht, wir müssten sie um unserer selbst willen erfinden. In einer zunehmend konformistischen Kultur handelt es sich um ein Vermächtnis, das wir sorgfältig hüten sollten69.”
Die meisten dieser deutsch-jüdischen Denker folgten der deutschen Aufbruchsstimmung jener Zeit. Auch – und vielleicht gerade – sie schienen ein Gespür für die Notwendigkeit einer Meme-Evolution, eines neuen Bewusstseins entwickelt zu haben, gleichermaßen angetrieben von der als unerträglich empfundenen Obsoleszenz sowohl religiös erstarrter als auch rational verflachter Denkformen.
Sie alle dachten in Kategorien, die auf die Erfahrung eines ihrer Überzeugung nach unumkehrbaren Untergangs der alten politischen und begrifflichen Ordnung verwiesen. Sie plädierten dafür, von Grund auf umzudenken und neue Wege zu erschließen, um die Auflösungserscheinungen der europäischen Zivilisa tion nach dem Ersten (und später dem Zweiten) Weltkrieg zu verstehen und radikale Lösungen für die damit entstandene desolate Lage zu finden.
Ken Wilber kennzeichnet integrales Bewusstsein als postpostmodern und will damit zum Ausdruck bringen, dass integrales Denken notwendigerweise die Postmoderne durchlaufen hat, bevor es die evolutionäre Spiritualität entdeckt und ein völlig neues Meme schafft. In scheinbarer Entsprechung sieht Aschheim diese deutsch-jüdischen Vordenker die spätere Postmoderne nicht nur vorwegnehmen, sondern sogar überholen, von heute aus gesehen die Vorahnung eines post-postmodernen Bewusstseins. “Gerade weil ihre Projekte mehrdimensional und wandelbar waren, weil sie gegen bestehende Grenzen anstürmten und Brüche betonten, weil sie die positivistische und historistische Vernunft kritisierten, wurden sie als Vorläufer der Postmoderne identifiziert70.”
Andererseits sieht Aschheim jedoch die Unterschiede für noch bedeutsamer an und hält sie für den wahrscheinlichen Grund, dass diese deutsch-jüdischen Denker der Weimarer Zeit die “Bewegung der Dekonstruktion” wahrscheinlich überdauern werden. Die heutige Postmoderne, so Aschheim, kokettiere mit der Abwesenheit eines transzendenten Zieles und dem Fehlen eines übergeordneten Sinns. Bei den Weimarer Intellektuellen ging dagegen auch in postmoderner Haltung das Suchen nach “Endgültigkeit” nicht verloren.
Es bleibt eine besondere Tragik jener Zeitepoche, dass nicht zuletzt mit der Vernichtung und der erzwungenen Emigration jener Elite eine mögliche erste Verwirklichung des deutschen Seelenpotenzials und damit eines für die ganze Menschheit bedeutsamen, evolutionären Schritts zumindest zu jener Zeit verhindert wurde. Es lässt sich nur erahnen, was ohne Hitlers Dämonen aus dieser deutsch-jüdischen Kreativität und Bewusstseinsreife hätte entstehen können.
Dieses besondere Potenzial der Weimarer Zeit ist bisher in Deutschland kaum gewürdigt worden. Der Grund mag in dem Ausmaß an traumatisierend wirkender Schuld und Scham liegen, das verbot, angesichts des späteren Geschehens hier etwa auch das Moment einer verfehlten Chance zur Entwicklung eines neuen Bewusstseins zu erkennen.
Jene Zeit und ihre Menschen verdienen jedoch unsere Würdigung. Um ihr Scheitern und ihr Opfer nicht umsonst sein zu lassen und um Opfer und Täter wieder in die deutsche und jüdische Seelengeschichte zu integrieren. Wie eine solche seelisch konnotierte Würdigung aussehen könnte, ist in Kapitel 6 beschrieben.
Bis heute sind bei den Nachkommen sowohl der – vor allem jüdischen – Opfer als auch der deutschen Täter Auswirkungen des Traumas zu spüren, das aus dem realen Horror dieser pervertierten Vision erwuchs. Doch auch weit über die Nachfahren der unmittelbar Beteiligten hinaus ist bis heute im kollektiven Unbewussten der Weltöffentlichkeit eine Verunsicherung im Gefolge des deutschen National- und Herrenmenschen-Wahns spürbar. Die kulturellen und akademischen Diskurse zu Struktur und Zukunft der Nationalität wie auch zu Visionen einer Weiterentwicklung des Humanen waren nach 1945 lange unterbrochen und erfahren, zumindest in Deutschland, auch heute noch überwiegend Ablehnung und negative Konnotation. Die Ursache dafür liegt nicht zuletzt in der Beunruhigung darüber, dass trotz intensiver Analyse keine schlüssige Antwort darauf gefunden werden konnte, wie ausgerechnet eines der zu jener Zeit kultiviertesten, gebildetsten und entwickeltsten Länder der Erde einen zivilisatorischen Rückfall dieses Ausmaßes nicht nur als Zukunftsvision begrüßen, sondern sogar mit fanatischer Entschlossenheit umsetzen konnte.
So gesehen könnte man sagen, Teil des eigentliches Schocks ist die Fallhöhe des deutschen Falls. Es liegen viele Anzeichen dafür vor, dass sich Deutschland in der Zeit vom Ende des 19. bis in die Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts in einer Schwellensituation zur Entwicklung des genannten integralen Paradigmas befand. Der Übergang in dieses Bewusstsein “zweiter Ordnung” ist jedoch von spezifischen Gefahren begleitet und bedarf der vorbereitenden Integration und Klärung. Trotz seiner guten evolutionären Voraussetzungen blieb Deutschland mit seiner unbearbeiteten Egostruktur diesen Gefahren weitgehend blind gegenüber.
Was aus dieser Blindheit erwuchs und wie die Deutschen nach dem Krieg wieder oder in gewisser Weise erstmals sehen lernten, ist Inhalt des folgenden Kapitels.
Kapitel 5
Integrale Fallstudie Deutschlands – Teil 2: Absturz und Läuterung
Es sind vor allem Autoren und Forscher außerhalb Deutschlands, welche die seelische, meist als religiös-mythisch beschriebene Motivations- und Wirkungsebene der nationalsozialistischen Bewegung als essenziellen und in Deutschland bislang weitgehend vernachlässigten Faktor stärker ins Blickfeld rücken. Einen Durchbruch in dieser Beziehung markiert die 2000 erschienene, ungemein materialreiche Studie des US-Historikers Michael Burleigh. In dieser Untersuchung wird zum ersten Mal in konsequenter Durchführung eine Gesamtschau des Phänomens des Nationalsozialismus mit besonderer Berücksichtigung seines Potenzials als politischer Religion vorgenommen71.
Einige der seit Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden esoterisch-okkulten Gruppierungen trugen, so lässt sich heute historisch belegen, mit ihren Gedanken zur brutalen Philosophie der Nazis bei. Eine nüchterne und kompetente Zusammenstellung historisch gesicherter Erkenntnisse zu mythologischen Konnotationen des Nationalsozialismus liefert auch Rüdiger Sünner mit seinem TV-Film72 und gleichnamigen Sachbuch “Schwarze Sonne73”.
Sünner beleuchtet unter anderem Persönlichkeiten esoterischer Zirkel, die Pate standen bei der Formulierung von Hitlers Credo (nachzulesen etwa in “Mein Kampf”). Sie legten mit der Vermittlung medialer Erkenntnisweisen und bildkräftigen Ausdrucksformen psychisch wirkungsmächtige Werkzeuge in die Hände einer Gruppe fanatischer Täter und Fehlgeleiteter. Diese Werkzeuge mögen ein gesuchtes Puzzle-Teil sein, das – vor dem Hintergrund bereits definierter ökonomischer, soziologischer, kultureller und politischer Faktoren – die ungeheure Ausstrahlung einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Fanatikern auf ein ganzes Volk zu erklären hilft74.
Burleigh und andere Autoren belegen ihre These, dass der Nationalsozialismus nur im Kontext seines pseudomystischen Seelenappells und seiner kollektiv-mythologischen Realisierungsverheißung ganz zu verstehen sei, mit Textanalysen zentraler Werke und Reden führender Nazis. Deutlich wird dabei, wie diese unheilvolle Bewegung weit über politische Programmatik hinaus eine geistig-seelische Sehnsucht der Deutschen zu erfüllen versprach:
“Unsere Gegner irren sich grundsätzlich, wenn sie uns als Partei der Wirtschaftspartei, den Demokraten oder den marxistischen Parteien gleichsetzen. Allen diesen Parteien fehlte die Seele, das geistige Band. Adolf Hitler kam mit einer politischen Religion75.”
Die “Schicksalhaftigkeit” des Dritten Reichs und damit die “Seelenmission Deutschlands” klang in vielen von Hitlers Reden an. So etwa am 31.3.1938: “Es gibt eine höhere Bestimmung, und wir alle sind nichts anderes als ihre Werkzeuge76.”
Wie bereits in der Einführung angeklungen, arbeitet Verführung mit ebendiesem Werkzeug: dem Versprechen, den Einzelnen zu etwas Besonderem zu erheben und ihm seine Seele zu offenbaren – wenn er denn bedingungslos einem Führer, einem Guru folgt. Dass jeder Einzelne von seiner Natur her etwas Besonderes ist, bleibt dabei außen vor. Und diese Verführung geschieht nicht allein auf politischer Ebene – auch wenn sie hier ihr unheilvollstes Potenzial entfalten kann: Es ist das tiefste Bedürfnis eines jeden, sich selbst, seine seelische Bestimmung zu erkennen und so angenommen zu werden. Die Nazis waren – wie an dere Faschisten – Meister der Verführung. Sie streuten eine Vision ungekannten Ausmaßes – und das in einem wirtschaftlich gebeutelten Staat, in dem Arbeitslosigkeit und Hunger herrschten. “Der Glaube war das Einzige, das uns aufrechterhalten hat. Eines Tages wird die Welt erkennen, dass das Reich, das wir mit Blut und unter Opfern errichtet haben, dazu bestimmt ist, der Welt Frieden und Glück zu bringen77.”
Diese Referenzen auf zentrale seelische und spirituelle Inhalte können angesichts des faktischen Geschehens jener Zeit nur Fassunsgslosigkeit auslösen. Zutiefst erfüllt von der Pseudospiritualität der Nazis zeigten sich dabei erwartungsgemäß besonders die Angehörigen der SS, des Prätorianer-Ordens des Nazi-Kultes. “Wir glaubten damals, zu neuen, höheren Werten zu gelangen. Galt es doch, den Materialismus und Egoismus des Einzelnen zu bekämpfen bzw. zurückzudrängen. Dass es hierbei zu einer Umkehr der Werte kam, dass man immer weiter von Humanismus abrückte, wurde mir damals noch keineswegs klar”, sagte etwa ein ehemaliges Mitglied einer SS-Einsatzgruppe anlässlich seines Prozesses im Jahre 1962 aus78.
Diese Worte und der Beleg ungezählter weiterer entsprechender Aussagen, so zynisch sie uns heute auch erscheinen mögen in ihrem irregeleiteten Streben nach Mythos und Mystik und in ihrem motivierenden Aspekt zumindest für einen Teil der Nazibewegung, blieben im öffentlichen Diskurs Deutschlands bis heute weitgehend unbeachtet oder marginalisiert. Wissenschaft und Kultur hatten und haben sich mit einem in der Nachkriegszeit aus kompensatorischen Gründen einseitig rational interpretierten Menschenbild und der damit erfolgten weitgehenden Ignorierung seelischer Realitätsebenen selbst der entscheidenden Werkzeuge für ein differenziertes Verständnis- und Verarbeitungsraster der Nazi-Zeit beraubt. “Das mythologische Element wurde entweder geleugnet oder zu einer peripheren Erscheinung reduziert, obwohl bereits in den Dreißigerjahren scharfsinnige Beobachter wie Ernst Bloch, C.G. Jung, Dennis de Rougement, Thomas Mann oder Karl Kerényi diese starke Kraft erkannt hatten79.”
Die Nazis aktivierten und missbrauchten mithilfe eines perfiden Instrumentariums zentrale Anteile des charakteristisch deutschen Seelenstrebens. Sie taten dies aus eigenen Machtgelüsten und auch aus eigener Verblendung heraus. Das große Unglück bestand darin, dass sie damit die moralische Entgleisung eines ganzes Volkes – und somit potenziell jedes Individuums dieses Kollektivs – mit einer Art “geistiger Legitimation” versahen.
Die Nazi-Bewegung zielte auf die Kernidentität Deutschlands, auf seine Seele. Das wird nirgends deutlicher als in den Schriften ihres Chefideologen Alfred Rosenberg. Mit seinem 1930 geschriebenen Hauptwerk “Der Mythos des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit” trug Rosenberg entscheidend zur Metaphysik und Pseudo-Mythologie der NS-Ideologie bei. In seinem Werk trat Rosenberg für eine neue “Religion des Blutes” ein, deren Vision es war, ein Christentum, das von “jüdischen Einflüssen” durchdrungen war, mittels einer “Metaphysik der Rasse” und des ihr innewohnenden “kollektiven Willens”, abzulösen. Die “Rasse” stellte sich Rosenberg als eigenständigen Organismus mit einer kollektiven Seele, der “Rassenseele” vor; alles Individuelle wollte er unterdrückt wissen80.
Dies steht in trauriger Konsequenz mit einigen zentralen Zielen der Konservativen Revolution, welche die Unterordnung des Einzelnen unter das “Volksganze” forderte. Sie liefert zugleich, bei allen pseudoromantischen Anklängen der Nazi-Ideologie, erneut einen klaren Beleg für deren Widerspruch zu Kernaussagen des deutschen Idealismus und der Romantik (mit denen Rosen berg nachweislich sehr vertraut war). Diese deutsche Philosophie betrachtete, wenn auch nicht durchgehend und nicht bei allen ihren Repräsentanten, vornehmlich das Individuum und seine seelische Entwicklung als zentralen Inhalt. Erinnert sei an Herder, einem der geistigen Gründerväter der Romantik und Schöpfer des Begriffs “Volksseele”: “Der Einzelne, der sich zum Individuum bildet, ist und bleibt [für Herder] das Sinnzentrum, auch wenn er der Gemeinschaft bedarf. Für Herder ist der Mensch als Individuum eingebettet in die (Volks-)Gemeinschaft, einer Art größerem Individuum. [Doch] auch diese größeren Gemeinschaften werden vom Individuum her gedacht81.”
Wie wir im ersten Kapitel lesen, ist ein genügendes Maß an innerer und äußerer Freiheit und Individualität des Einzelnen Voraussetzung für die mögliche Entdeckung seiner tieferen seelischen Identität. Mit der sich bis zu einem hohen Grad vergleichbar individualisierenden Gruppenseele seines Landes kann der seines tieferen Selbst bewusst werdende Mensch in eine Art Partnerschaft treten (siehe Kapitel 9). Diese inter-seelische Verbundenheit mit seiner Nation ist in der heute beginnenden Evolutionsphase in keiner Weise mehr an abstammungsmäßige oder volkskulturelle Faktoren gebunden.
Gemessen an dieser im integralen Paradigma beschriebenen evolutionären Entwicklungstendenz wird die ungeheure Verdrehung und Täuschung der Nazi-Ideologie deutlicher. Der Begriff einer kollektiven Seele erlitt durch die mit ihm verbundene Ausgrenzung des freien Ich des Einzelnen sowie durch den pseudobiologischen Rassenbezug eine so perfide Ausdeutung, dass für Nachkriegsdeutsche die Vorstellung einer nationalen Kollektivseele nachgerade zum Tabu geriet.
Darüber hinaus wurden in dessen Gefolge auch weitere Teile des reichen deutschen Geisteserbes für die Nachkriegsgenerationen unzugänglicher, da Rosenberg diese finstere “Kollektiv-Rassen”-Regression in Referenz auf deutsche Mystiker und Meister zu legitimieren versuchte. In seinem zentralen Werk spielt er die gesamte Klaviatur deutscher Geistesgeschichte und bezieht östliche Geistesgrößen mit ein.
Erwähnung finden in seinem Buch u.a. Meister Eckhart (102-mal), Kant (68-mal), Hegel (sechsmal), Fichte (dreimal), Konfuzius (19-mal), Lao-tse (13-mal), Buddha (siebenmal), Mohammed (zehnmal), Goethe (88-mal), J. S. Bach (48-mal), Hölderlin (13-mal) und Beethoven (23-mal). Der genuin deutsche Begriff “Geist” taucht 359-mal in unterschiedlichen Wortzusammenhängen auf, zudem “Werte” (222-mal), “Gott” (330-mal), “Liebe” (218-mal), “Bewusstsein” (104-mal) – und Seele gar 514-mal82.
Der Kontext, in welchen Rosenberg diese Bezüge stellt, macht deutlich, dass er die Schattenseiten des mythischen Memes mit dessen kollektiver Ordnung in der Gegenwart wiederzubeleben versuchte: “[Es] ist die rassengebundene Seele mit ihrem Höchstwert der Ehre und der Seelenfreiheit, die die architektonische Gliederung der anderen Werte bestimmt. … Das ist … der neu erwachte Mythos unseres Lebens83.”
Die von Rosenberg zur Rechtfertigung der archaischen Nazi-Mytholgie vorgenommene Deutung insbesondere des Begriffs Seele, dieses Zentralbegriffs der Romantik und des Idealismus, lässt erahnen, warum die Deutschen der Nachkriegszeit das Vertrauen in ihre romantisch-idealistischen Vordenker und letztlich in ihre eigene Seele bis heute fast verloren haben.
Der Agitator schrieb vor seiner Hinrichtung: “Der Nationalsozialismus war eine europäische Antwort auf die Frage eines Jahrhunderts. Er war die edelste Idee, für die ein Deutscher die ihm gegebenen Kräfte einzusetzen vermochte84.”
Diese letzten Worte lesen sich wie ein wahrhaft höllisches und höhnisches Echo auf den evolutionären Ruf, der auch die Deutschen zur Entwicklung der seelischen Qualitäten ihres Landes auffordert. Der sich an jede Nation richtende Ruf ist seit dieser Zeit und seit diesen Worten vermintes Gelände in Deutschland. Doch erst die Verzerrrung dieses mit tiefsten kollektiven Sehnsüchten korrelierenden Entwicklungsimpulses durch die Nazis kann im Letzten zu verstehen helfen, warum jene Bewegung eine derart beispiellose Kraftentfaltung bei den Deutschen bewirken konnte. George Orwell hatte bereits 1941 erkannt: “Hitler weiß, dass die Menschen nicht allein Wohlstand, Sicherheit, kurze Arbeitszeiten etc. wollen. Sie wollen ebenso, zumindest zeitweilig, Kampf und Selbstopferung … Hitler sagt ihnen: ›Ich biete euch Kampf, Gefahr und Tod.‹ Und daraufhin wirft sich ihm die ganze Nation zu Füßen85.”
Die zu lange dauernde Verkennung der Nazi-Ideologie mit dem Ideal einer kollektiven Selbstverwirklichung – verbunden mit der Erwartung all ihrer psychologischen, aber auch sehr materiellen “Belohnungen” – führte mit dem Untergang dieser Ideologie bei einer Mehrheit der Deutschen zur traumatisch bedingten Abwehr zentraler Merkmale der eigenen Identität.
Diese tragische Verkennung und Verdrängung auf einer seelischen Ebene haben sich die Deutschen bisher kollektiv nicht ins Bewusstsein geführt, bzw. es steht ihrer Aufarbeitung ein bis heute wirksames Tabu im Wege. Sosehr auch nach langem und zunächst verschlepptem Prozess die deutsche Schuld an den NS-Verbrechen vor aller Welt eingestanden wurde, so sehr fehlt doch immer noch eine zentrale Selbsterkenntnis der Deutschen: das Eingestehen der bereitwilligen Auslieferung ihrer innersten Sehnsucht, ihres seelischen Potenzials, an ein mephistotelisches Versprechen.
“Der Nationalsozialismus war die Zerrform einer in der Substanz berechtigten deutschen Visionssuche, die wir zunächst einmal als solche begreifen müssen, um an Tiefenschichten unseres Bewusstseins heranzukommen”, beging der Berliner Autor Jochen Kirchhoff als einer der Ersten den Tabubruch der Benennung des Unaussprechlichen86.
Deutschland folgte seinem vitalen (Ego-)Schatten und verkannte ihn für das Licht und die Kraft seines kollektiven Selbst. “Für Mensch und Nation gibt es keinen größeren Fehler als diesen87.” Der Schatten kann zum Einfallstor werden für das elementar Böse, wie immer wir es definieren mögen. Diese Konstellation führte im deutschen Fall zum Holocaust.
Auch der Philosoph und Politiker Rudolf Bahro bezog sich auf diese durch die Nazis verzerrte Aufgabenstellung: “Ich halte die Frage nach dem Positiven, das vielleicht in der Nazibewegung verlarvt war und dann immer gründlicher pervertiert wurde, für eine aufklärerische Notwendigkeit, weil wir sonst von Wurzeln abgeschnitten bleiben, aus denen jetzt Rettendes erwachsen könnte88.”
Der Akt der seelischen Bewusstwerdung und Realisierung (ob kollektiv oder individuell) stellt aus integraler Sicht die einzige Möglichkeit dar, um die Kraft für den anstehenden, ko-evolutionären Entwicklungsschritt zu gewinnen. Diese Quelle ist das tiefste Mobilisierungspotenzial, das wir haben, gleich ob als Individuum oder als Nation. Es ist die Hinwendung zu unserer seelischen Bestimmung und Selbstbestimmung. Ohne Vorbereitung hören wir jedoch nur das, was uns andere oder, genauer gesagt: unsere Schatten uns glauben machen wolllen.
Aus dieser Perspektive betrachtet, war nationalsozialistische Ideologie das dämonische Zerrbild eines Entwicklungsschrittes in integrales Bewusstein, das sich ja gerade dadurch auszeichnet, dass es die Totalität sowohl mythischer als auch rationaler Dogmen und Bestimmungen zurücklässt.
Die Erfordernisse für diese Initiative sind Mut zum eigenen Selbst und Vertrauen an die der Welt innewohnende Evolutionskraft. Diese Hingabe bedeutet in vedischer Sprache Vertrauen in die Kraft und Liebe der Shakti, der Großen Mutter, des weiblichen und evolutionären Aspekts des Göttlichen Bewusstseins.
Doch Selbst-Vertrauen und Hingabe an die Evolutionskraft sind zwar Voraussetzung, aber sie sind nicht genug. Es kann, so die deutsche Mahnung, auch die Hingabe an eine falsche Kraft und das Vertrauen in einen trügerischen Teil unserer selbst sein. Heute sind es die seelisch erwachenden Einzelnen selbst, die sich aufgefordert sehen, sich sowohl in eigener Schattenarbeit als auch in wechselseitiger Hilfe und Zuwendung zu üben. Wir brauchen vorbereitende und begleitende Arbeit an unseren Schatten, auf dass wir sie früh genug erkennen, wenn wir ihnen – fast unvermeidlich – auf dem Weg der eigenen Selbstverwirklichung begegnen.
Notwendig ist ebenso eine geschulte Achtsamkeit, um die helfenden und auch kritischen Rückmeldungen unserer Freunde und Seelengefährten erkennen und unterscheiden zu lernen. Auf diesem selbstverwirklichenden Weg bedarf es zumindest eine gewisse Zeit über der Spiegelung und Kommentierung von anderen. Es braucht den Blick “von außen”, besser: von unserem “äußeren Innern”, um die schwierige Transformation und unterscheidende Gratwanderung zwischen egoischer und seelischer Individualität vollziehen zu können. Zu groß ist ohne diese solidarische Achtsamkeit und Zuwendung die Gefahr, dass das Ego einer inflationären Ausdehnung unterliegt und sich die Seelenqualitäten in verdrehter Weise zu eigen macht89.
Transformation zur Bescheidenheit
In der Nachkriegszeit war das Grauen wohl noch zu nah, und man musste sich mit strenger Rationalität gegen die irrationalen Komponenten des Nationalsozialismus und der damit verbundenen eigenen nationalen Identität schützen. Für das Selbstverständnis der heute lebenden Deutschen hat jedoch die anhalten de Verkennung und Verleugnung der auf einer mythisch-seelischen Tiefenschicht wirkenden Ziele des Dritten Reichs sowie die nach dem Zusammenbruch erfolgte Verdrängung der “geistig-spirituellen” Seelenanteile aus dem Erbe ihres Landes prägende Konsequenzen: Millionen von Zeitgenossen des Dritten Reichs versiegelten die missbrauchten Ideale ihrer Jugend in einem inneren Verlies und schwiegen fortan aus Scham und aus der Furcht heraus, von den Nachfolgenden nicht verstanden zu werden. Als Ausgleich und Alibi für den damaligen Irrtum überbetonte der intellektuelle und kulturprägende Teil dieser unglücklichen Deutschengeneration nach dem Krieg einen ausgeprägten Rationalismus.
Die Nachkriegsgeborenen wuchsen mit der Verdrängung und dem Schweigen ihrer Eltern auf. Sie lernten, dass “Deutschsein” etwas scheinbar schamvoll zu Verschweigendes und eher Unangenehmes ist. Als kleiner Junge las mir meine Mutter abends beim Zubettgehen mythische Sagen und Balladen aus deutschen Regionen vor. Ich lauschte gebannt, und bei mir entstand das beglückende Gefühl, dass dies die besonderen und mein Herz berührenden Geschichten “meiner Heimat und meiner Leute” seien. Aber über Deutschland als Ganzes, als Nation und als Land, sprach auch meine Mutter nicht. In Familie, Schule und Medien hörte ich manchmal dunkle Andeutungen, die kein rechtes Bild ergaben. Es ging mir damit nicht anders als Generationen seit dem letzten Krieg geborener Mitbürger. Bei ihrer Sozialisation als Deutsche werden in buchstäblicher Selbst-Zensur zentrale geistorientierte und mystische Bestandteile der deutschen Kulturtradition herausgefiltert. Übrig bleibt ein “modernes”, einseitig-rationales Selbstbild.
“Die Sensibilität für die Transzendenz, die selbst einander so kritisch gegenüberstehende Denker wie Adorno und Heidegger kennzeichnet, löst im heutigen Geistesleben Deutschlands – zumindest wenn man die öffentlichen Auseinandersetzungen ver folgt – Misstrauen, ja Hohn aus. [Ich] empfinde das in Deutschland als besonders schmerzlich, wo ich, wenn ich ankomme, instinktiv nach dem Vermächtnis, den Spuren der großen deutschen Kultur suche90”, konstatierte der ungarische Historiker László Földényi.
Um eine erneute Beschäftigung mit ihrer nationalen Seele werden die Deutschen nicht herumkommen. Allein schon deshalb, um die kollektiv-seelische Verletzung durch den Nationalsozialismus, die bis heute von jedem Bewohner des “deutschen Feldes” mehr oder minder geteilt wird bzw. geteilt werden muss, zu verstehen und zu heilen. Spürbar ist diese Gebrochenheit ohne Zweifel auch für die vielen Angehörigen von Minderheitskulturen im Land, die mit ihnen leben wollen (und müssen). Damit sie mit der gastgebenden deutschen Kultur eine größere Gemeinschaft bilden können, braucht es auf deutscher Seite ein höheres Maß an Selbstachtung und Selbsterkenntnis91.
Die Deutschen werden heute in der Welt durchaus respektiert (siehe unten) – aber eben nicht unbedingt geliebt. Hermann Hesses weltweit ungebrochene Rezeption ist dabei sprechender Beleg, dass die Deutschen mit ihrem technik- und forschungsorientierten Vermögen Respekt erzeugen, aber eben nur mit ihrer geist- und sehnsuchtsvollen Innerlichkeit Liebe auslösen können.
Doch wenn diese Innerlichkeit und Seelenbezogenheit denn wirklich Teile des deutschen Wesens sind, kann es nicht anders sein, dass sie trotz aller geschehenen Verkennung über kurz oder lang wieder ihren authentischen und legitimen Platz in Selbstwahrnehmung und Bewusstsein der Deutschen einnehmen werden. Bevor es jedoch dazu kommt, bedarf es einer Klärung: Haben die Deutschen aus ihrer bitteren Erfahrung genügend gelernt, dass sie diesen Teil ihres Selbst wieder annehmen können? Höchste Aufmerksamkeit muss jedenfalls darauf liegen, dass die sehnsuchtsvolle und geistorientierte Poesie und Philosophie der Deutschen nicht erneut mit dem mit ihnen kaum verbundenen, aber ebenso deutschen, materialistischen Forschungs- und Gestaltungsdrang eine pervertierte Liaison eingehen kann. Jede tiefere Standortbestimmung des Landes wird vor allem auf Fortschritte oder Rückschläge hinsichtlich dieser Selbstintegration achten müssen.
Der Versuch der “kollektiven Selbstverwirklichung” wird jedoch immer von Gefahren begleitet werden. Wie fast alle evolutionären Realisierungen geschieht sie in mehreren Anläufen oder Wellen. Eine von ihnen wird schließlich das neue Land oder, in dem Fall besser: die neue Zeit, erreichen. Und wenn sie gelingt, wird sie sich, so wie jede wahre Selbstverwirklichung, für andere nicht zur furchtbaren Last, sondern zum fruchtbaren Segen auswirken.
Immerhin haben, wenngleich noch kaum erkannt und noch vielen Widerständen ausgesetzt, vor allem Künstler, Literaten und Philosophen in jüngerer Zeit damit begonnen, die nachhaltige Deformation der geistigen Tradition des Landes mit der sie konstituierenden Sinnsuche durch die Nazis zu begreifen und zu beschreiben. Das Nachkriegstrauma der abgespaltenen und verletzten deutschen Identität beginnt sich heute langsam aufzulösen. Die bundesdeutsche Kultur ist dabei, Humor und Gespür wiederzuentdecken und zum ersten Mal seit Generationen ein untragisches und unmartialisches Verhältnis zur Nation zu entwickeln.
Die Szenen fröhlich feiernder Fans der 2006 im eigenen Land ausgetragenen Fußballeuropameisterschaft sowie der Fußballweltmeisterschaft 2010 zeigten einer erstaunten Welt und noch mehr den von sich selbst überraschten Deutschen, wie unbefangen sie mittlerweile wieder gelernt haben, ihre Nationalität zu leben.
Welches Land übt in den Augen der Welt den besten Einfluss auf die internationale Gemeinschaft aus92? Die britische BBC stellt jährlich eine Rangfolge der angesehensten Nationen auf und befragt dazu rund 30 000 Menschen in 28 Ländern. Es erwies sich dabei, dass in den letzten drei Jahren der Titel immer an denselben Staat ging. So weit muss das noch nichts Besonderes sein, doch was auffällig war: Die Medien des Umfragegewinners hielten diese eigentlich doch recht positive Meldung weitgehend zurück, sodass in dem betreffenden Land bis heute kaum jemand von dem stolzen Ergebnis weiß. Ja, von Deutschland ist die Rede. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, die hiesigen Medien betrachteten ihre Leser als nicht für reif genug, um von der hohen internationalen Anerkennung ihres Landes zu erfahren. So als befürchteten sie, die Deutschen würden diese Bestätigung wieder in die falsche Kehle bekommen und dem Größenwahn verfallen.
Ist solche Sorge berechtigt, oder bietet nicht eher das Ergebnis der Umfrage selbst einen Hinweis auf eine mögliche kollektiv-seelische Bewältigung dieses Wahns?
Die deutsche Geistesgeschichte ist unbestritten reich, und die kulturellen, wissenschaftlichen, philosophischen, technologischen, künstlerischen und gesellschaftlichen Beiträge der Deutschen kennt und schätzt die ganze Welt.
Das war aber nicht das Thema der Umfrage. Es ging hier nicht um die renommierten Highend-Limousinen und die legendäre industrielle Markenqualität deutscher Gegenwart. Das Interesse galt stattdessen dem politisch-moralischen Eindruck im internationalen Vergleich. Und auch wenn manche es kaum wahrhaben wollen, ist Deutschland in den Augen vieler weltweiter Beobachter ein gutes Stück darin vorangekommen, seine nach Holocaust und Angriffskrieg zutiefst zerstörte Integrität und Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. Vielleicht spiegelt die zum Ausdruck kommende Wertschätzung einen geglückten Schritt bei der inneren Integrationsaufgabe des Landes. Dann ist es dieser kollektive Seelenprozess, der heute eine wichtigere Botschaft birgt als die Ideen und Produkte des deutschen Technik- und Wissenschaftsbetriebs. Was an ihm sichtbar werden kann, ist die weitgehende Läuterung einer Nation angesichts ihrer vorangegangenen und katastrophalen seelischen Verirrung. Es spricht für die Deutschen, dass dieser Prozess der äußeren und inneren Wiedergutmachung, um diesen fast kindlich anmutenden Ausdruck aufzugreifen, ohne allzu viel internationalen und nationalen Pathos vonstattenging. Er vollzieht sich sogar in einer solch integrierten Form, dass die heilenden Auswirkungen seiner inneren Dynamik von den Beteiligten kaum wahrgenommen werden. Auch deshalb braucht es mitunter den Blick von außen, um sich selbst (neu) zu bestimmen.
Wir wissen, dass viele der heutigen Nationen Schwierigkeiten haben, sich nachhaltig zu den dunklen Teilen ihrer Vergangenheit zu bekennen: Wie etwa die Genozide an den nordamerikanischen Indianern und türkischen Armeniern, die Gräuel japanischer Besatzung in China oder die – teilweise – Leugnung serbischer Massaker im Bosnienkrieg. Jedes Land braucht seine eigene Zeit, die Dinge zu verarbeiten, und alle wissen oder spüren, wie viel dem entgegensteht, sich den kollektiven Schatten zuzuwenden. Die deutsche Nation scheint bisher eines der wenigen Beispiele zu sein, die relativ klar und unmissverständlich Verantwortung für ihre belastete Vergangenheit übernommen hat. Deutschland zeigte und zeigt seine Bereitschaft, inneren und äußeren Ausgleich zu leisten und gegenüber Opfern und Tätern Konsequenzen aus dem Geschehen zu ziehen.
Nicht zuletzt können die Deutschen akzeptieren, dass ihr Land um rund ein Drittel reduziert wurde, ohne dass sie, wie in der Vergangenheit, mit Revisionsforderungen neue Konflikte heraufbeschwören würden.
Vielleicht am eindrucksvollsten aber ist für den distanzierten Betrachter, dass Deutschland zwar seine Stärke wiederfand, sich jedoch nicht erneut von der eigenen Macht korrumpieren ließ.
Diese geläuterte “Bescheidenheit des Starken” ist es, welche auf friedliche transnationale Transformation von scheinbar übermächtigen nationalen Egoismen hoffen lässt. Sie legt auch Zeugnis davon ab, wie sich in seelisch-evolutionärer Entwicklung eine zur Heilung und Transformation notwendige Qualität neu formieren kann, obwohl zuvor eher ihr Gegenpol – ein aggressiver Militarismus – als “deutsches Charakteristikum” gelten konnte. Der gewaltlose Fall der Berliner Mauer und die friedliche Wiedervereinigung können als Beleg für einen vorangegangenen Reifungsprozess gesehen werden. Ein Phänomen dieser Art wird von der Realität heutiger Nationen bisher noch wenig flankiert, und ein gelebtes Beispiel für diesen Prozess findet deshalb umso mehr Anerkennung. Es war ein britischer Journalist, der 2011 sagte: “Deutschland ist heute wohl das erwachsenste Land der Erde93.”
Eine im Jahr 2009 vorgenommene, repräsentative Untersuchung der GfK Marktforschung im Auftrag der deutschen Identity Foundation führte unter anderem zu der Erkenntnis, dass eine Mehrheit der Deutschen inspirierende Visionen deutscher Identität in der öffentlichen Sphäre vermisst. Die Deutschen sollten und dürften die Ergebnisse der BBC-Umfragen also ruhig erfahren.
Als Nachtrag: Es kann diese Rückmeldung natürlich nicht als genereller Freibrief für Deutschlands Weltpolitik verstanden werden. Seine rigide Austeritätshaltung kostete das Land in den letzten Jahren in Europa einiges an Sympathien, und solange Deutschland an führender Stelle seine Hochleistungswaffen in zweifelhafte Weltgegenden exportiert, so lange lebt es mit einem ungeheilten Schatten seiner technischen Fähigkeiten.
Fazit 1: Anerkennung wiedererlangter Integrität
Deutschland erfährt immerhin in den letzten Jahren im zunehmenden Maße Anerkennung für seine neu oder wiedererlangte Integrität, so wie sie aus der Bewältigung seines tiefen Falls erwachsen ist. Das Land durchlief nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs verschiedene Phasen der Läuterung und erbrachte eine Reihe von äußeren und vor allem seelischen “Wiedergutmachungsleistungen”. Ohne dass diese Tiefenprozesse explizit und öffentlich als solche benannt worden wären, leistete besonders der Westen Nachkriegsdeutschlands spätestens seit der kulturellen Wende von 1968 und verstärkt seit der Wiedervereinigung 1989 zusammen mit dem Osten Bemerkenswertes bei der Bewältigung des selbst verschuldeten Traumas. Das deutsche Modell der Vergangenheitsbewältigung wurde Ermutigung für andere Länder, erfolgreiche Initiativen zur Integration und Heilung ihrer verübten und erlittenen kollektiv-seelischen Verletzungen zu starten.
Fazit 2: Innerdeutsche Integration
Ein noch ausstehender Schritt liegt für Deutschland in der Wiederaneignung seiner spezifischen Innerlichkeit und Seelenbezogenheit als Teil seiner Identität und Geschichte. Das Land hat den vergangenen Missbrauch dieser Subjektivität verarbeitet und einen beachtenswerten Läuterungsprozess unterlaufen. Deutschland könnte sich in nicht ferner Zukunft erneut vor eine große, vielleicht seine historisch wichtigste Aufgabe gestellt sehen. Er läge darin, seinen Beitrag zur Transformation in ein evolutionär neues und integrales Meme und Bewusstsein zu leisten und damit sein eigenes, durch seine spezifischen Qualitäten vorgezeichnetes und durch seine Geschichte herausgefordertes Schicksal zu erfüllen und zu verwirklichen. Diesmal jedoch nicht in schattenhafter Verzerrung, sondern mithilfe seines gesamten Seelenpotenzials.
Fazit 3: Ein neues Selbst-Verständnis
Innerhalb Deutschlands hat das Trauma des Dritten Reichs seine lähmende Wirkung in zunehmenden Teilen der Öffentlichkeit verloren. Trotzdem wird von maßgeblichen intellektuellen, politischen und kulturellen Kräften auch angesichts der positiven Rückmeldungen ausländischer Beobachter bei der öffentlichen Anerkennung des eigenen Läuterungsprozesses noch immer große Zurückhaltung an den Tag gelegt.
Es wäre hilfreich für die noch zu führenden Diskussionen, wenn die Deutschen heute einen über Schuldbekenntnis, Wiedergutmachung und Läuterung hinausgehenden Schritt angingen. Es ist die Bewusstmachung der pseudo-seelischen Dimension der eigenen Mobilisierung. Die Täuschung lag dabei sowohl in der falschen Verheißung der Verwirklichung der Mission ebendieser deutschen Seele als auch in der irregeleiteten Interpretation eines evolutionär neuen Weltparadigmas.
Mit der Differenzierung und Unterscheidung dieser nationalen Seelendynamik lässt sich sowohl die Tiefenebene der Katastrophe als auch des späteren Läuterungsprozesses besser verstehen. Darüber hinaus kann das Geschehen als Beispiel für Chancen und Gefahren bei der anstehenden Weiterentwicklung des Nationalen kenntlich werden. Es ist ein Beispiel, dessen Bedeutung nicht hoch genug angesetzt werden kann. Deutschland hat den traurigen Beweis dafür angetreten, dass der Schatten eines Landes, wenn er denn im falschen Versprechen nationaler Selbstverwirklichung freigesetzt wird, höllische Feuerstürme im Ausmaß von Auschwitz und Holocaust entfesseln kann. Authentische Selbstverwirklichung kann nur im bewussten Bezug auf die eigenen Seelenkräfte geschehen. Sie ist alternativlos, denn sie verkörpert den nachhaltigsten Weg, um ein Land zum Frieden mit sich selbst und mit seinen Nachbarn zu führen und damit auch die Voraussetzung für seine Transformation in eine multinationale Gemeinschaft zu schaffen. Die Mittel der Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Licht, zwischen wirklicher Seele und der egoischen Chimäre ihres Schattens, sind so vielfältig wie die verschiedenen Profile der Länder.
Doch der immer gleiche erste Schritt besteht darin, die Essenz des Landes und die mit ihr verbundenen Missionen wie auch Herausforderungen zu erkennen und vor allem selbst zu erfahren. Das gilt für das heutige, vom missglückten Versuch immer noch “gebrannte” Deutschland ebenso wie für alle anderen vor vergleichbaren Entwicklungsprozessen stehenden Länder.
Kapitel 6
Modelle zur seelischen Integration und Heilung eines Landes
Im Folgenden sollen, anknüpfend an die chronologische Schilderung jüngerer deutscher Seelengeschichte, integrierende und heilende Aktionen und Initiativen auf Länderebene vorgestellt und beschrieben werden. Manche sind bereits umgesetzt oder wurden zumindest begonnen, andere bilden ein noch unerschlossenes Potenzial. Einige sind unspektakulär, andere wirken wie aufsehenerregende Tabubrüche. Sie zielen auf subtile Werte wie seelische Würde und innere Symbolik – und können dabei sehr reale und positive politische, soziale, kulturelle und ökonomische Veränderungen und Weiterentwicklungen im Leben der jeweiligen Nation bewirken. Auch wenn manche dieser Impulse auf den ersten Blick vielleicht klein erscheinen mögen, liegt in ihnen – insofern sie authentisch umgesetzt werden – dennoch das Potenzial zu einer Heilung verletzter Würde und Gerechtigkeit.
Es waren zutiefst menschenverachtende Bilder, die im Januar 2012 um die Welt gingen. Sie zeigten US-Soldaten, die auf die blutigen Leichen afghanischer Aufständischer urinierten. Diese Bilder lösen nicht nur beim fernen Betrachter Entsetzen aus, sondern genau sie sind es auch, die der Hydra im Kriegsland neue Köpfe wachsen lassen.
Eine Studie 94zu “Persönlichkeitsmerkmalen von Selbstmordattentätern und deren Ausbildern” widmete sich den in den letzten Jahrzehnten besonders im islamischen Raum sprunghaft angestiegenen Selbstmordattentaten und ihren Motiven. Entgegen einem weitverbreiteten Glauben kommt sie zum Schluss, dass nicht radikaler Fundamentalismus, sondern die Verletzung “nationaler Würde” deren zentrale Ursache ist: “Es ist nicht die glühende Religiosität fanatischer Muslime, die Selbstmordattentäter antreibt. Wesentlich wichtiger als religiöse Gefühle ist der Zorn über nationale Erniedrigung”, so die Studie. “Die Männer wollten für die von der Gemeinschaft erlittene Schmach Rache üben95.”
Auf “nationale Seele” kann sich diese Reaktion allerdings nicht berufen. Eine racheerfüllte Suizidattacke lässt sich eher als Reflex egoischer Kränkung und schattenhaften Nationalstolzes werten, der die Stelle eines angemessenen Eintretens für die seelische Würde und Eigenheit des Landes eingenommen hat.
Es scheint also an der Zeit, die Würde von Individuen und Nationen im ausgehenden Zeitalter der Moderne und Postmoderne neu und integral zu definieren. Das Wissen von der Bedeutung seelischer Würde kann im nicht geringen Ausmaß dazu beitragen, gefährliche Spannungen zwischen Nationen abzubauen oder gar nicht erst entstehen zu lassen.
Würde in antiker, christlicher, kantscher oder idealistischer Ausprägung ist der (mit ihm sprachverwandte) “Wert”, welcher den Menschen als solchen auszeichnet. Wenn sein seelisches Wesen die Essenz des Menschen ist, dann macht sie auch seinen letzten oder höchsten Wert aus. Seele bedeutet jedoch nicht nur universales Sein, sondern auch sich individualisierendes Werden. Seelisch-integrale Würde umfasst deshalb – in evolutionärer Erweiterung von mythischer, unveränderlicher Würde – die zeitgemäße Anerkennung der werdenden seelischen Einzigartigkeit sowohl des einzelnen Menschen als auch sich entwickelnder Ge meinschaften wie einer Nation. Aus der Würdigung der universalen seelischen Gleichheit und Einheit leitet sich einerseits eine unveränderliche Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit ab, nicht nur auf die Mitmenschen, sondern auf die ganze erschaffene Welt bezogen. Die Würdigung der Einzigartigkeit andererseits bedeutet das freie Werden jedes Einzelnen und jeder evolutionären Gemeinschaft, und das heißt das Recht auf die freie Entwicklung und Entfaltung deren besonderen Seelenindividualität.
Tatsächlich sieht sich die globale Gegenwart jedoch noch weitgehend bestimmt vom Widerstreit der mythischen Würde des Kollektivs mit der scheinbaren Würdelosigkeit der Moderne. Das rationale Meme scheint im kategorischen Gegensatz zum Würdebegriff des mythischen Menschenbildes zu stehen. Spätestens die Postmoderne bricht mit dessen Tradition, und moderner Naturalismus betrachtet in letzter Konsequenz den Menschen “nüchtern” als bloßes Tier unter Tieren, dessen geistige (geschweige denn seelische) Fähigkeiten sich von denen anderer Lebewesen nicht prinzipiell, sondern höchstens graduell unterscheiden. Daraus folgt, dass dem Menschen entweder keine besondere Würde zukommt oder dass alle Lebewesen gleiche Würde haben.
Bevor wir diese memisch bedingte Widersprüchlichkeit und ihre mögliche Auflösung auf der Ebene des Nationalen betrachten, sei noch ein anderer, mit Würde eng verwandter Term in Augenschein genommen. Beim Begriff “Gerechtigkeit” wird dessen menschliche Exklusivität deutlicher: In der nur ansatzweise individualisierten animalischen Welt von Herde, Nest oder Gruppe wird soziale Rollenverteilung im Wesentlichen durch Macht definiert und nicht durch Gerechtigkeit bestimmt. Erst in menschlicher Individualität, gleich ob in Familie oder größerem Kollektiv, wird das Bedürfnis nach Gerechtigkeit vorherrschend96. Was haben nun Würde und Gerechtigkeit mit nationaler Identität zu tun? Von Plato stammt ein Hinweis, der auch die Aussage der eingangs erwähnten Attentatsstudie unterstützen kann: Es ist die Nichtanerkennung unserer Seele, die die schlimmsten Verletzungen in menschlichen Beziehungen auslöst. Plato bezeichnet in seiner Politeia Ungerechtigkeit als Nichtwürdigung des Wertes (= der Würde) der Seele, gleich ob eines Einzelnen oder eines Kollektivs. Er sieht diese Nichtwürdigung, also die Nichtanerkennung sowohl der Besonderheit wie der Ebenbürtigkeit der Seele (aller Seelen) als eines der größten Übel an für jene97.
Und in der Tat war und ist solcherart definierte Ungerechtigkeit und fehlende Würdigung, gleich ob real oder nur als solche empfunden, Auslöser unzähliger privater und kollektiver Dramen. Sie zerstört Familien wie auch den Frieden in und zwischen Völkern, sie löst Kettenreaktionen aus an Kränkung, Hass und Rache, begründet revisionistische Ansprüche und Vergeltungsaktionen, kurz, sie schafft fortwährend neue Ungerechtigkeiten in persönlichen wie internationalen Beziehungen.
Ungerechtigkeit und Nichtwürdigung verletzen also nicht nur den Stolz der Ego-Persönlichkeit, sondern fordern, so Plato, unser seelisches Wesen zum Handeln heraus. Die seelische Antwort kann in äußerer Aktion wie auch im bewussten inneren Verzicht auf diese bestehen. Eine so definierte Seelenebene hilft zu verstehen, dass etwa verschiedene Volksgruppen innerhalb einer Nation nicht nur in egoistischer Eifersucht die “gerechte” Wahrung etwa des materiellen Interessenausgleichs bei Beteiligung und Zugang zu staatlichen Machtpositionen oder bei der Verteilung nationaler Ressourcen fordern, sondern damit mindestens ebenso sehr nach – legitimer – Anerkennung und Würdigung ihrer tieferen Gruppenidentität verlangen.
Gleiches gilt auch für die Beziehungen zwischen Ländern, Religionen und Kulturen, so man sich diese im integralen Verständnis mit einer mehr oder minder individualisierten Seelenpersönlichkeit vorstellt.
Heilungs- und Integrationsprozesse
Evolution, so unsere integrale Definition, bedeutet im Tiefsten den Stufengang des erwachenden Bewusstseins zu seiner seelischen Individualität. Diese Evolution liegt sowohl der Entwicklung von Individuen als auch, mit etwas anderen Regeln, der Geschichte von nationalen Gesellschaften zugrunde. Mit dem Gewahrwerden ihrer seelischen Individuation tritt die Nation in ihre integrale Evolutionsphase, das heißt, sie beginnt verstärkt aus ihren spezifischen Qualitäten heraus zu leben und wird fähig, ihre Schatten zu heilen. Jene stammen in der Regel aus einer Historie voll erlittener und verübter Verletzungen und Entwürdigungen. Grundsätzlich ist das die Aufgabe und “das Schicksal” jeder Nation, die es als solche bis zu dieser evolutionären Schwelle geschafft hat.
Die nachstehenden Beispiele sollen zeigen, wie Integrationsund Heilungs-Impulse auf der Ebene seelischer Nationalität in der Vergangenheit verliefen oder sich in Zukunft umsetzen ließen.
Wahrheitskommissionen zur Vergangenheitsbewältigung
In den letzten Jahrzehnten ließ sich in verschiedenen Ländern mit vorausgegangenen ethnischen Auseinandersetzungen und Bruderkriegen das Auftauchen einer neuen Art Heilungsprozess wahrnehmen. Sein Ziel war und ist es, Gerechtigkeit im Land wiederherzustellen. Nicht im strafrechtlichen, sondern im seelischen Sinn. Wahrheits- und Versöhnungskommissionen sorgen dafür, dass vor den Augen aller die vorenthaltene seelische Respektierung und Würdigung nachgeholt und die Wahrheit dieser tieferen Realität bestätigt wird.
Was nicht jeder weiß: Die deutsche Vergangenheitsbewältigung war einer der Taufpaten dieser nationalen Schattenarbeit in aller Welt. Für manche Deutsche ist Vergangenheitsbewältigung eine Art spezielle deutsche Marotte mit masochistischem Charakter, über die andere sich eher lustig machen. In Wirklichkeit “wird dieser deutsche Begriff heute weltweit auf entsprechende Aktivitäten übertragen, in denen Staaten oder Gesellschaften ihre eigene Geschichte aufarbeiten, soweit sie von Diktatur, Verbrechen staatlicher Organe oder Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet ist98”.
Der Umgang der Deutschen “mit der NS-Diktatur wird inzwischen häufig als Vorbild für die Aufarbeitung diktatorischer Vergangenheit angeführt und scheint sich als eine Art Norm zu konstituieren, an der andere europäische (und andere) Staaten sich orientieren und ihre jeweiligen Aufarbeitungsprozesse messen99”.
“Vergangenheitsbewältigung” als kollektiv-seelischer Integrationsprozess, der weit über Entschädigungsleistungen und Sühnezahlungen hinausgeht, ist entsprechend als Lehnwort in andere Sprachen eingegangen.
Wahrheitskommissionen können trotzdem kein Universalrezept sein. Offen bleibt beispielsweise, wie weit trotz der Arbeit einer Wahrheitskommission ein konventionelles Rechtsempfinden zusätzlich berücksichtigt werden muss. In einigen Fällen lässt sich das gar nicht entscheiden, da wie in Argentinien nach dem Ende der Militärjunta 1983 oder in Chile 1990 die Kommissionen bedroht wurden, Menschenrechtsverletzungen in jedem Fall nicht an die Strafjustiz weiterzuleiten.
Eine bedenkenswerte Frage ist auch, ob die deutsche Vergangenheitsbewältigung ohne die vorausgegangenen Nürnberger Prozesse, also ohne die neu eingeführte internationale Rechtsprechung und die konventionelle Bestrafung einiger Haupttäter, in der Form hätte stattfinden können. Die Frage lässt sich nur spekulativ beantworten. Vielleicht hätte sie stattgefunden, aber in einem ungleich dramatischeren und längeren Prozess. Für eine in jedem Fall stattgefundene Bewältigung spricht das im Ansatz vorhandene Potenzial evolutionärer Reife, das vor der Machtergreifung der Nazis im Lande zu erkennen war. Auch wenn dieses Potenzial nicht ausreichte, spricht der von manchen Kritikern als zögerlich, im weltweiten Vergleich jedoch letztlich klare und entschiedene Wille zur deutschen Nachkriegsbewältigung dafür, dass es eben nicht vollständig zerstört wurde.
Unterm Strich: Wahrheitskommissionen und Vergangenheitsbewältigung dienen weniger dem materiellen Täter-Opfer-Ausgleich, sondern vor allem der seelischen Bewältigung erlittener Ungerechtigkeiten innerhalb einer Nation. Der so bewusst wie möglich erfahrene gemeinsame Bewältigungsprozess von Opfern und Tätern mit Reue, Vergebung, Scham, Trauer, Loslassen und Läuterung kann einen immens heilenden und fördernden Faktor für die Weiterentwicklung der Gesellschaft wie ihrer betroffenen Mitglieder beinhalten.
Es lassen sich Vorläuferelemente dieses bürgerrechtlichen Prozesses in einigen Formen traditioneller Kulturen finden, die dem rituellen Ausgleich innerhalb der Gemeinschaft dienten. In die komplexeren Strukturen einer multi-ethnischen, pluralistischen Nation fällt diesem Ausgleich jedoch eine evolutionär neue Bedeutung zu. Die kollektiv unternommene Bewältigung wird zur psychischen Entlastung für den Einzelnen, so wie umgekehrt die Arbeit des Einzelnen am internalisierten nationalen Schatten eine kollektive Bewältigung fördert (siehe Kapitel 9).
Das Phänomen zeugt davon, wie am heutigen evolutionären Wendepunkt neue Werkzeuge entstehen, welche für die Transformation des Nationalen gebraucht werden. Der seelische Ausgleich und die psychologische Aussöhnung zwischen Staat, Ethnien und Gruppen des Landes sind ein unabdingbarer Integrationsprozess für die integrale Weiterentwicklung einer Nation.
Integrationsakte nationaler Symbolik
“Es ist ja nur symbolisch gemeint!” Mit anderen Worten: nicht wirklich. Dieser Satz ist geeignet, die gesamte memische Reduktion und Verkennung seelischer Realität zum Ausdruck zu bringen. Symbole können sowohl stellvertretende Wirklichkeit als auch eine tiefere und sehr wirkungsvolle Handlungs- und Seinsebene verkörpern. Es ist ursprünglich magisch-mythisches Wissen, das auf nationaler Ebene wenige so gut beherrschten wie die Nazis. Das allein sollte Grund sein, zwischen der positiven und der negativen Wirkungskraft seelischer National-Symbolik unterscheiden zu lernen. Aristoteles betrachtete Sprache als ein Symbolon, welches den verborgenen “Vorgängen in der Seele” Ausdruck gibt. Symbolik wäre damit kodierte Widerspiegelung seelischer Realität. Mit anderen Worten: Die Sprach- oder allgemeiner: Formgebung der Symbolik ist Teil des ständigen Rapports mit unserem Selbst100.
Nationale Seelen-Identität unterliegt zumindest zum Teil einem evolutionären Wandel und kreiert und verlangt deshalb, entsprechend der immer wieder neu zu erfolgenden, normativen Selbstbestimmung der nationalen Gesellschaft, fortlaufend veränderte und weiterentwickelte symbolische Ausdrucksformen. Es ist ein Fluss an Gestaltungen, der den jeweils aktuellen inneren Entwicklungsstand der zu symbolisierenden Identität dokumentiert. Diese Neugestaltung geschieht im kollektiven Feld. “So wie die Nation nicht auf objektiven Kriterien der ›ethnischen‹, kulturellen oder politischen Zugehörigkeit beruht, sondern erst durch einen sinnhaften Bezug der sie konstituierenden Mitglieder über einen ›Akt der sozialen Magie‹ (Bourdieu) hervorgebracht wird […] wird auch der Sinn der nationalen Symbolik immer von neuem von der Gemeinschaft zugewiesen101.”
Diese Neugestaltung des Symbolischen kann jedoch nicht in bloßer Ausführung von gewünschten oder geforderten Zielset zungen geschehen. Sie bedarf des intuitiven und oftmals künstlerisch begleiteten Abgleichs mit der authentischen Entwicklungsstufe der Gemeinschaft. C. G. Jung, dessen Forschung sich viel dem Zusammenhang und der Entsprechung von mythischen und seelischen Prozessen widmete, schreibt in “Über psychische Energetik”, dass Symbole nie bewusst ersonnen werden, sondern dass sie das Unterbewusste auf dem Wege der Offenbarung oder Intuition produziert102.
Das soll und kann jedoch nicht heißen, dass es nicht bis in die Gegenwart hinein mehr oder minder perfektionierte Versuche zur Symbolschöpfung in manipulativer Absicht gegeben hätte. Wenngleich diese Pseudosymbolik auch keine authentische seelische Wirklichkeit reflektiert, so vermag sie dennoch für eine begrenzte Zeit deren Wirkungsmächtigkeit simulieren.
Totalitäre Systeme inthronisieren pseudomythische und pseudosymbolische Nationalfeiertage, Flaggen und Hymnen. Die deutschen Nationalsozialisten etwa schufen ein überaus wirkungsmächtiges Instrumentarium kultischer und dunkler Kollektiv-Symbolik. Das allein eigentlich sollte die fahrlässige Unterschätzung bloßstellen, die viele Intellektuelle der Symbolik von Flaggen, Gedenktagen, künstlerischen Mahnskulpturen etc. zukommen lassen.
In Reaktion auf den Missbrauch nationaler Seelensprache lässt sich jedenfallls bis in die deutsche Gegenwart eine große Zurückhaltung und Unsicherheit bei der Verwendung und Akzeptanz nationaler Symbole beobachten. Was sich damit zu bestätigen scheint, ist uneingestandenes Wissen um die Wirklichkeit und Wirkungskraft nationaler Seelenzeichen.
Doch vielleicht ist es an der Zeit, dieses Wissen wieder anzunehmen und positiv anzuwenden. Authentische nationale Symbolik ist nicht nur passive Spiegelung. Sie kann, wie im erwähnten Beispiel der totalitären Pseudosymbolik im negativen Kontext, auch im integrativen Sinn seelische Entwicklungspro zesse der Gemeinschaft unterstützen. Sie trägt so dazu bei, den jeweiligen Stand der Entwicklung der nationalen Gesellschaft zu einem für alle sichtbaren Ausdruck zu bringen.
Authentische Symbole sind Zeitzeichen, sind Spiegel unserer seelischen Gegenwart. Sie verlieren jedoch ihre Authentizität, wenn sie nicht an tiefgehende neue seelische Entwicklungen des Landes angepasst werden. Aus überholten Perioden stammende Symbole drohen obsolet gewordene Orientierungen des Nationalcharakters festzuschreiben, es sind Momentaufnahmen einer anderen Seelenzeit unseres selbst. Wenn wir es versäumen, diese evolutionäre Symbol-Dynamik laufend an die Gegenwart anzupassen, stehen wir damit unserer seelischen Entwicklung und unterscheidenden Bewusstseinsbildung im Wege. Letztere ist jedoch schon deshalb unerlässlich, um nicht Gefahr zu laufen, in Zukunft erneut semiotischen Großmeistern kollektiver Täuschung und falscher Symbolsprache anheimzufallen.
Im Folgenden einige Beispiele und Anmerkungen zu den nationalen Symbolbereichen Flagge, Ehrentage und Gedenk- und Erinnerungs-Stätten. Die Betrachtungen sollen veranschaulichen, wie sehr eine Veränderung und Gegenwartsanpassung in diesen Bereichen eine integrierende und heilende Entwicklung auf nationaler Ebene unterstützen kann.
Den Anfang macht ein eindrucksvolles und weltbekanntes Beispiel für Symbol-Politik. Es stammt aus Deutschland.
Willy Brandt: Seelen-Geste für Deutschland
Manchmal geschieht es, dass sich die symbolische Aktion eines einzelnen nationalen Repräsentanten zu einer Art “seelischer Geste” des Landes verdichtet. Solch ein Ereignis fand am 7. Dezember 1970 statt, unmittelbar vor der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland. Willy Brandt legte als damaliger Bundeskanzler vor dem Ehrenmal der Helden des Ghettos in Warschau einen Kranz nieder. Nach dem Richten der Kranzschleife verharrte er nicht wie üblich stehend, sondern kniete spontan und zur großen Überraschung der Gastgeber und der eigenen Delegation auf der regennassen Treppe nieder, verharrte sichtlich bewegt einige Zeit, erhob sich wieder und entfernte sich an der Spitze seiner Delegation. “Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt103.”
Diese singuläre Demutsbekundung eines der höchsten Repräsentanten der deutschen Nation wurde international als Bitte um Vergebung gewertet und ebnete der Ostpolitik den Weg, für die Willy Brandt 1971 konsequenterweise der Friedensnobelpreis zuerkannt wurde.
Seelen-Initiativen dieser Art entsprechen nicht immer der Meinung der Mehrheit, immer jedoch einer tieferen Wahrheit und Einsicht. In der deutschen Öffentlichkeit stieß die Geste auch auf Ablehnung. Einer SPIEGEL-Umfrage zufolge fanden damals 48 Prozent der Westdeutschen den Kniefall übertrieben, 41 Prozent für angemessen, 11 Prozent hatten keine Meinung dazu.
Ein SPIEGEL-Redakteur war es jedoch auch, der zusammenfasste, warum eine einzige Geste zuweilen eine größere seelische Reife des Landes offenbart, als man sie aus bloßen Umfragen vermuten könnte. “Wenn dieser […] für das Verbrechen nicht mitverantwortliche, damals nicht dabeigewesene Mann nun dennoch […] dort niederkniet – dann kniet er da also nicht um seinetwillen. Dann kniet er da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland104.”
Im Rückblick ist man sich einig, dass der Kniefall eine außerordentlich hilfreiche Rolle bei der Entspannung zwischen den Blöcken spielte. Der am gleichen Tag unterzeichnete Warschauer Vertrag akzeptierte die Unverletzlichkeit der faktischen polnischen Grenzen. Deutschland hatte damit rund ein Drittel seines Staatsgebietes, das heißt seiner früheren körperlichen Gestalt, verloren. Mit Kniefall und Unterzeichnung erkannte die Nation diesen Verlust eines großen Teils ihres Territoriums auch als Verantwortung und Sühne für ihre Vergangenheit an.
Seelisch war Deutschland damit jedoch gewachsen.
Wider die Schwere – die Wende der deutschen Flagge
Der deutsche Ausdruck “Flagge zeigen” bedeutet, seine wirkliche Absicht und sein wahres Gesicht zu offenbaren. Nationalflaggen sollen in grafisch-visueller Umsetzung die Identität eines Landes repräsentieren. Doch Identität meint in postmoderner und integraler Sicht auch einen Prozess und ist damit ständiger Veränderung und Entwicklung unterworfen. Auch heute entstehen neue Nationen und neue Flaggen. Bestehende nationale Identitäten wechseln und die Flaggen mit ihnen. Die meisten Länder durchlaufen jedoch eher subtile Entwicklungsprozesse, die von den Beteiligten selbst kaum wahrgenommen werden. Doch mit diesen Veränderungen kann eine Zeit kommen, die das Land “plötzlich” in entscheidenden Punkten in einem neuen Licht erscheinen lässt. In diesem Licht werden andere Farben sichtbar, und es mag der Moment sein für die nächste vexillografische, also designsymbolische Neu- oder Umgestaltung der Nationalflagge.
Auch Deutschlands Farben stellen sich heute anders dar, als es die bittere Nachkriegszeit bei der Abstimmung über die bundesrepublikanische Fahne erlaubte. Eine authentische Anordnung der heutigen Fahne würde eher an die ursprüngliche und vergessene Gestaltung dieser Flagge anlässlich eines vielfarbigen deutschen Aufbruchs anknüpfen.
Am 27. Mai 1832 formierte sich auf dem Marktplatz in Neustadt an der Haardt ein großer Zug mit mehr als 30 000 Teilnehmern aus allen deutschen Fürstentümern und Staaten, aber auch aus Polen, England und mehreren anderen europäischen Ländern. Es herrschten Festtagsstimmung und Zukunftshoffnung unter den meist jungen Teilnehmern. Musik und Lieder klangen durch die Straßen und auf dem Weg zum Schloss Hambach, dem Ziel des Zuges. Die Demonstration und die anschließende Versammlung galten liberalen und nationalen Forderungen: Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Bürgerrechte, nationale Einheit, eine Neuordnung Europas auf der Grundlage gleichberechtigter Völker, Volkssouveränität und religiöse Toleranz.
Die Teilnehmer trugen zum ersten Mal in größerer Zahl auf deutschem Boden Fahnen mit den verbotenen Farben Gold, Rot und Schwarz, der in den Napoleonischen Befreiungskriegen 1813–1815 geborenen Flagge. Die drei Farben hatten ihren Ursprung in den Uniformen des lützowschen Freikorps, einer Freiwilligeneinheit des preußischen Heeres unter Führung von Ludwig Adolf Wilhelm von Lützow. Dessen Truppe trug schwarze Uniformen mit roten Vorstößen und goldfarbenen Messingknöpfen.
Zeitgenössische Gemälde des Hambacher Festes bezeugen, wie diese Flagge auch aussah: schwarz unten, rot in der Mitte, gold oben. Die symbolische Absicht hinter dieser Farbanordnung wird durch einen verbürgten Spruch aus der Zeit der (siegreichen) Befreiungskriege ersichtlich: “Aus der Schwärze der Knechtschaft durch blutige (rot) Schlachten ins goldene Licht der Freiheit105.”
Es kann eigentlich kein Zweifel daran bestehen, dass hier einer aufsteigenden Hoffnungslinie Ausdruck verliehen wurde.
Doch schon während des Festes wurde diese ursprüngliche und hoffnungsgetragene Farbanordnung geändert und buchstäblich auf den Kopf gestellt. Genauso wie die Erwartungen und Ziele der jungen Republikaner, deren Anführer im Gefolge des Treffens von den herrschenden (Klein-)Staatsmächten zum Schweigen gebracht wurden.
Hoffmann von Fallersleben beschreibt und beklagt 1843 in seinem Gedicht “Deutsche Farbenlehre” die symbolische Wirkung dieser “restaurativen” und buchstäblich rückwärts gewandten Anordung schwarz-rot-gold. Er gibt der Hoffnung auf Freiheit und indirekt auf ein Wiederentdecken der ursprünglichen Farbkonstellation Ausdruck und endet mit den Zeilen:
Immer unerfüllt noch stehen Schwarz, Rot, Gold im Reichspanier:
Alles lässt sich schwarz nur sehen, Rot und Gold, wo bleibet ihr?
Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht unsere Hoffnung in funkelnder Pracht106?
Neigung zu deutscher Selbstkasteiung
Die von Fallersleben als unerfüllt beschriebene Farbordnung der Nationalflagge ist eine Momentaufnahme aus der (Seelen-)Geschichte Deutschlands. Es ist das Bild und die Symbolik einer der dunklen Nächte des werdenden Landes. Ursprünglich beschreibt es den Kampf um die Befreiung der deutschen Länder durch Napoleons Truppen, mit dem siegverkündenden Gold als Krönung. Die niedergeschlagenen Versuche zur Republikgründung 1832 und 1848 und später der Eindruck des verlorenen Ersten Weltkriegs zementierten und legitimierten jedoch das überlagernde Schwarz.
Auch der Parlamentarische Rat Deutschlands entschied 1948 nach langer Beratung, die “Weimarer Flagge” und ihre Anordnung wiedereinzuführen. So unmittelbar nach der massiven und misssbräuchlichen Symbol-Umwertung (auch der Flagge) in der vorausgegangenen Nazi-Ära schien die Zeit weder für eine symbolhafte Neugestaltung noch für eine Suche nach den Wurzeln gekommen107.
Noch immer oder erneut konnten sich die Deutschen nicht von ihrem Gedenken an die eigenen Niederlagen und Katastrophen ihrer Geschichte lösen. Ein reduziertes und ständig sich selbst weiter reduzierendes Selbstbild, das mitunter sogar zur Verfälschung von Fakten ebendieser Geschichte führte. 2007 reproduzierte die deutsche Bundespost ein Originalgemälde des Hambacher Festes als Briefmarke. Die Post entschloss sich jedoch, nicht die auf dem Gemälde deutlich sichtbare Originalfarbanordnung der Flagge der Hambacher Marschierer wiederzugeben (gold-rot-schwarz), sondern sie retuschierte die Farben in ihrer Wiedergabe auf der Briefmarke108.
Eine eigentlich kaum entschuldbare kultur- und kunsthistorische Zensur. Sie wird nur verstehbar, wenn man sich das historisch verinnerlichte und legendär gewordene Beharrren der Deutschen am “Schwarzsehen” vergegenwärtigt.
Nüchtern betrachtet, werden diese nächtlichen Momentaufnahmen Deutschlands den guten Tagen des Landes nicht gerecht. Die jungen Deutschen des Hambacher Festes begrüßten mit dem oben stehenden Gold den ihrer Meinung nach anbrechenden republikanischen Morgen. Doch die Nacht dauerte länger, als sie gehofft hatten.
Wenn sie und Fallersleben sich heute jedoch umsehen könnten, würden sie wohl mit großer Freude vermerken, dass bei allen Einschränkungen im historischen und weltweiten Vergleich zumindest das ersehnte Morgengrauen eines geeinten und freien Deutschland in einem sich findenden Europa angebrochen ist.
Es lohnt sich, das Experiment zu machen und sich die deutsche Flagge vorzustellen – mit dem Gold an oberster Stelle. Die deutsche Fahne, und ebenso die mit dieser Flagge unbewusst verknüpfte deutsche Identität, wirkt plötzlich befreiter und befrei ender, leichter, spielerischer und zuversichtlicher. Und nicht zuletzt auch einfach ästhetischer und harmonischer.
Diese auf den Boden gestellte, d.h. ursprüngliche und wieder zeitgemäß gewordene Farbanordnung der deutschen Fahne entspricht der spürbaren seelischen Bewältigung der deutschen Schwere und Vergangenheit und verleiht ihr Ausdruck.
Es ist heute nicht länger angebracht, an der Schwärze der deutschen Nacht festzuhalten. Es ist vielmehr an der Zeit, die endlich realisierte Hoffnung der damaligen Generation freiheitssuchender junger Deutscher zu feiern und ihren zukunftsgewandten und sich nächtlicher Dunkelkeit dabei durchaus bewusst bleibenden Flaggenentwurf wieder lebendig werden zu lassen.
Verhüllte Offenbarung – Reichstags-Impressionen
Kaum ein anderes Parlamentsgebäude weltweit kann auf derart dramatische Wechsel in Geschichte und Gestaltung zurückblicken wie der deutsche Reichstag. Das Reichstagsgebäude, der heutige Bundestag, repräsentiert das schwierige Werden der deutschen Nation. Es verkörpert vor allem den politisch-republikanischen Abschnitt der deutschen Seelengeschichte, den Kampf von demokratischer Freiheit gegen konservative Restauration und ideologischen Totalitarismus.
Der Bau des deutschen Repräsentantenhauses geschah im Gefolge der Konstituierung des ersten nationalstaatlichen Deutschen Reichs im Jahre 1871. Von hier aus begann die Realisierung der republikanisch-demokratischen Phase Deutschlands. Am Nachmittag des 9. November 1918 rief der SPD-Fraktionsvorsitzende Philipp Scheidemann von einem der Balkone des Reichstagsgebäudes die “Deutsche Republik” aus. Der Kaiser und der deutsche Feudalismus hatten ausgedient. Nach dem folgenden kurzen Jahrzehnt der noch zu schwachen Weimarer Republik entstand dem Reichstag jedoch ein neuer und gefährlicher Gegner. In der Nacht zum 28. Februar 1933, vier Wochen nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, schlugen Flammen aus der Kuppel des Parlaments. Die Brandstiftung gilt bis heute als nicht zweifelsfrei geklärt, doch die Nationalsozialisten waren die Nutznießer. Sie veranlassten den damaligen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am nächsten Tag, die sogenannte Reichstagsbrandverordnung “zum Schutz von Volk und Staat” zu unterzeichnen. Paragraf 1 setzte die wesentlichen Grundrechte der deutschen Verfassung außer Kraft und machte den Weg frei für das Dritte Reich.
Nach dem Krieg und in der Zeit der deutschen Teilung lag die notdürftig reparierte Ruine des zerbombten Reichstagsgebäudes in einer Art Niemandsland. Im Gefolge der Wiedervereinigung dauerte es bis 1999, bis es seine jetzige Gestalt erhielt und zum Sitz des deutschen Bundestages wurde. Im Zuge der Um- und Neugestaltung durch den britischen Stararchitekten Sir Norman Foster erhielt das Reichstagsgebäude eine gigantische, begehbare Glaskuppel, die den Bau umgehend zu einem neuen Wahrzeichen Berlins geraten ließ. Spiralförmig zur Kuppel auf- bzw. absteigende Rampen erlauben den Besuchern – das heißt dem “deutschen Volk” – die Sicht von oben auf den Parlamentssaal mit den Abgeordneten.
Dieser und andere Faktoren der Neugestaltung geben in symbolischer Interpretation auch den Blick frei auf einige innere Entwicklungen der deutschen Nation. Während das ursprüngliche Gebäude ausdrücklich von einem Bauherrn “deutscher Zunge” errichtet werden musste109, ist das deutsche Selbstverständnis nach fast hundertfünfzig Jahren und um bittere Erfahrungen reicher aus nationalistischer Eigenbezogenheit herausgewachsen. Es setzte sich die Einsicht durch, besser einen ausländischen Gestalter für den Neuentwurf dieses zentralen nationalen Gebäudes zu beauftragen. Deutschland hatte offenbar gelernt, dass auch das beste nationale Seelenpotenzial, nur auf sich selbst bezogen, große Gefahr läuft, sich in seiner äußeren Umsetzung nationalistisch zu verbiegen und auf einen egomanischen Irrweg abzugleiten. Die individuelle Seelenidentität realisiert sich nur im Zusammenspiel und im Spiegel mit anderen.
Auch die architektonische Transparenz, die “optische Kontrolle” der Abgeordneten durch das Volk, kündet von einer reifer gewordenen Nation. Sie verkörpert das neue Verhältnis zwischen dem Gesamtwesen und ihren Mitgliedern. Nation und Gemeinschaft dienen in integraler Sicht der freien Entwicklung des Einzelnen und vice versa. Eine der Voraussetzungen dafür lautet, dass Staat und Legislative für den Bürger transparent sind und kontrolliert werden können. Über den Grad, inwieweit diese Transparenz in Deutschland nicht nur symbolisch, sondern auch faktisch umgesetzt ist, lässt sich streiten. Das ändert aber nichts an der im weltweiten Vergleich als besonders freiheitlich geltenden Ausrichtung der deutschen Verfassung (Grundgesetz). Die symbolische Gestaltung des Reichstags hat zur Aufgabe, immer wieder daran zu erinnern, dass der politische Alltag an diesem Ziel zu messen ist.
Der Reichstag wurde in diesem Zusammenhang auch nach seiner neuen Formgebung in bemerkenswerter Weise zum Symbolträger.
Deutschland trug nach dem letzten Krieg schwer an der inneren und äußeren Bewältigung seines nationalistischen Wahns. Die junge deutsche Republik hatte den ohnehin fragilen Boden ihrer nationalen Identität wieder verloren.
Und da wiederholte sich die Situation, dass die Deutschen im Zuge ihres seelischen Neufindungsprozesses, wenn auch in diesem Fall nach jahrzehntelangem Widerstand, zwei Meister von außerhalb Deutschlands dazu einluden, auf ihrem innersten Feld, dem Reichstagsgebäude, eine symbolische Visionshilfe zu leisten. Das bulgarische Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude hatte sich intuitiv zu dieser Vision schon vorher berufen gefühlt, und nach einigen Vorarbeiten bedeckten über 100 000 Quadratmeter silbern glänzender Stoffbahnen den gesamten Reichstag. Der imposante Bau sah sich für die Dauer von 14 Tagen vollständig verhüllt.
Es war dies kein gewöhnliches Kunst-Event mit Konsumangeboten und Unterhaltungsinszenierung. Der im Innersten Deutschlands positionierte Reichstag hatte sich ohne viel Erklärung in ein geheimnisvolles und surreales Objekt gewandelt, das Millionen von Deutschen magnetisch anzog und mit unerklärlicher Freude erfüllte.
“Die Reichstagsverhüllung lieferte, das gaben selbst unromantische Naturelle zu, nahezu paradiesische Szenen. Wer dorthin ging […], fühlte sich mit allen anderen verzückten Bewunderern fast wie Bruder oder Schwester, egal, aus welchem Stadt-, Landes- oder Weltteil er kam”, schrieb die “Berliner Zeitung” in einem Rückblick am 9.9.2011.
Wer sich dort aber vor allem begegnete, waren die Deutschen mit sich selbst. Das verhüllte Schicksalsgebäude (“steinernes Zeugnis deutschen Schicksals”, so nannte es der spätere Finanzminister Wolfgang Schäuble) vermochte es, sie an die ihnen unzugänglich gewordene, gleichwohl sehr reale und lebendige Präsenz ihrer wahren nationalen Seele zu erinnern110. Die Besucher konnten sich nicht sattsehen an dem in sich ruhenden Bild. Sie waren zutiefst berührt, animiert, beglückt, an etwas erinnert zu werden, an das zu glauben sie im Verlaufe des deutschen Irrweges und seiner Täuschungen schon fast alle Hoffnung aufgegeben hatten. Diese Ursache der fast ekstatischen und befreienden Glücksgefühle wagte und vermochte damals jedoch noch fast keiner zu benennen111.
Der Reichstag in seiner unverhüllten Gestalt ist heute das meistbesuchte Parlamentsgebäude der Welt.
Die Macht der “Ersten Adressen”
Der Holocaust vernichtete nicht nur unzählige Menschenleben, sondern beendete auch ein zu jener Zeit bestehendes, einzigartiges Kapitel gemeinsamer Identität von Juden und Deutschen. Dem epochalen Zerstörungswerk fielen damit auch einige der kreativsten Menschen und Werke aus der deutschen Geistes- wie Seelengeschichte des vorigen Jahrhunderts zum Opfer. Die Epoche der ersten Jahrzehnte des vorangegangenen Jahrhunderts und insbesondere die Weimarer Zeit wurde nicht zuletzt durch eine Vielzahl von herausragenden deutsch-jüdischen Wissenschaftlern, Künstlern und Denkern repräsentiert. Sie alle hatten geholfen, Deutschland auf ein zuvor unerreichtes Niveau kreativer Blüte zu führen (siehe Kapitel 4).
Trotz hoher Wertschätzung von Kennern und Historikern blieb bis in die Gegenwart das Wissen um diese Glanzzeit im Schatten des Genozids.
Es ist an der Zeit, es ans Licht zu bringen.
Die deutsch-jüdische Weimarer Hochblüte ist ein hervorragendes Beispiel für das nationale Gelingen einer interkulturellen Synthese. Das stellt nichts Besonderes dar für eine politische Einwanderernation wie beispielsweise die USA, in denen seit ihrer Gründung Emigranten und Mitbürger aus allen Kulturen sich auf die spezifisch amerikanische Seelenverfassung einstimmen und mit dieser Synergie dann dazu beitragen, dass die US-Nation in vielen Forschungs- und Kulturbereichen eine weltweite Spitzenstellung einnehmen kann.
Doch es ist eine wichtige Botschaft für eine Nation wie Deutschland mit seiner mythisch-kulturellen, abstammungsorientierten Prägung, die unter anderem in einem rassistisch begründeten Antisemitismus ihren leidvollen Ausdruck fand.
Damit Nationen mit einer Tradition völkischer Kulturidentität diese in ein integrales National-Bewusstsein weiterentwickeln können, brauchen sie die bewusste Erfahrung und Realisierung der Kreativität, wenn nicht sogar Genialität, die gerade durch eine interkulturelle Synthese innerhalb einer Nation möglich ist. Der Begriff Nation kann damit aus seiner archaischen Festschreibung befreit und, losgelöst von Genetik und Kulturtradition, in seiner heute möglichen und gültigen Bedeutung als jeweils einzigartige seelische Wertegemeinschaft sichtbar werden.
Diese neue und einer neuen Zeit entsprechende Definition wurde jedoch von der perfiden Nazi-Ideologie verleugnet. Sie verkehrte den eigentlich schon erbrachten Beleg für die besondere Fruchtbarkeit deutsch-jüdischer Identität in sein Gegenteil und errichtete ein Zerrbild jüdisch-deutscher Negativität.
Um die sich damals abzeichnende Hoch-Zeit deutsch-jüdischer Kreativität zu ihrem historischen Recht kommen zu lassen und zugleich ihrer Verwundbarkeit zu gedenken, braucht es einer im ganzen Land sichtbaren Zeichensetzung. Das Holocaust-Mahnmal in Berlins Zentrum ist als solches notwendig, aber es kann nicht das Ziel einer Wertschätzung der gemeinsamen jüdisch-deutschen Identität erfüllen. Es wäre zu fragen, ob eine Erinnerung, die auf einer Würdigung beruht, nicht eine weit größere Wirkung erzielen kann, als wir sie von einem ritualisierten, leidvollen Gedenken allein erwarten können. Dessen Ziel, wach zu bleiben für eventuell neu aufkommende rassistische Tendenzen, wäre auch hier impliziert, doch sähe sich die Haltung, jenen deutlich entgegenzutreten, dabei auch aus positiven Gründen verstärkt.
Sowohl angesichts ihrer historischen Glanzleistungen als auch ihres Schicksals würde jene deutsch-jüdische Hoch-Zeit es verdienen, im ganzen Land und jeden Tag im besten Zusammenhang gewahr zu bleiben. Das könnte etwa in der Initiative bestehen, renommierte Flaniermeilen und Hauptstraßen ausgewählter deutscher Großstädte in “Deutsch-Jüdische Alleen” umzubenennen. Deutsche und Juden würden durch diesen Akt national-seelischer Symbolik an die besonderen Resultate erinnert, die aus ihrem früheren Zusammenleben in einem gemeinsamen Land entstehen konnten. Angesichts des Wissens um die ungeheuerliche und gewaltsame Zerstörung dieser hoffnungsvollen Entwicklung bliebe der Schauer beim Aussprechen dieser Adressen gegenwärtig.
Die Friedrichstraße in Berlin, die Alsterallee in Hamburg, die Zeil in Frankfurt am Main und der Marienplatz in München – sie würden zur Deutsch-Jüdischen Allee, Deutsch-Jüdischen Promenade, Deutsch-Jüdischen Chaussee und zum Deutsch-Jüdischen Platz.
Erste und feine Adressen in einem geläuterten und über die wahre Natur seiner Nationalität aufgeklärten Deutschland.
Feiern und Gedenken – Zeiten der inneren Standortbestimmung
Nationale Gedenktage sind nur zu oft konventionelle Versatzstücke kollektiver Traditionskultur. Ihr eigentliches Ziel der Erinnerungswahrung kann, wenn überhaupt, meist nur in den ersten Jahren ihres Bestehens zumindest annähernd realisiert werden. Soll jedoch Identität als kontinuierliche Bewusstseinsentwicklung statt zur konservativen Besitzstandswahrung verstanden werden, dann braucht es mehr als ritualisiertes Gedenken und Historienpflege.
Doch Gedenktage und Erinnerungsbauten, so sie denn aktiv erlebt und gestaltet werden, haben weiterhin Bedeutung. Eine integrale Interpretation wird jedoch weniger die historisch-politische Erinnerung als deren seelisch-integrierende und entwicklungsbezogene Bedeutung für die Gemeinschaft hervorheben. Gedenktage sollten die Höhe- wie die Tiefpunkte in der Evolution einer Nation markieren. Sie dienen dann der rituell wiederkehrenden Standortbestimmung des Landes hinsichtlich seiner inneren Entwicklung. Gedenktage sind dann auch Feiertage, die dankbar an die seelischen Qualitäten und mahnend an die Schattenaspekte der nationalen Gesellschaft erinnern. Am besten an beide zugleich, um Erstere nicht der Usurpation durch das nationale Ego zu überlassen und um Letztere in das Licht einer noch oder weiterhin zu leistenden Klärung zu stellen. Es sind also Tage der Mahnung (an den Schatten und die mit ihm verbundenen Rückschläge) und des Feierns (der Qualitäten des nationalen Selbst) zugleich. Die Spannung dieser Pole gilt es immer neu auszuloten. Es geht dies allerdings weit über passives Gedenken oder auch unbeteiligtes Feiern hinaus und erfordert die aktive Beteiligung gerade auch der Jugend eines Landes. Denkbar ist etwa ein “Gedenk-/Feiertag”, bei dem in Schule und Öffentlichkeit Zeit und Kreativität aufgewendet werden, um das historische Ereignis oder Thema in den kritischen, aber konstruktiven Vergleich mit der tatsächlichen und aktuellen inneren Haltung und Verfassung des Landes zu stellen. Sind Fortschritte zu erkennen – und dann auch anzuerkennen? Was jedoch bleibt noch zu tun?
Deutschland steht zur Beantwortung dieser Fragen ein geradezu prädestiniertes Datum zur Verfügung.
Licht und Schatten eines deutschen Novembertages
Der 9. November 1989 war der dramatischste Tag oder besser die dramatischste Nacht der deutschen Nachkriegsgeschichte. Im Verlaufe weniger Stunden fiel das als fast unbezwingbar wahrgenommene, zentrale Bollwerk deutscher Teilung. Der Fall der Berliner Mauer markierte den Beginn der Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten und den Aufstieg einer neuen, liberalen Identität. Doch als Nationalfeiertag begangen wird dieses große Ereignis nicht am 9. November, sondern am 3. Oktober. Warum?
Um diese Frage zu beantworten, muss man in die deutsche Geschichte zurückblicken. Hier offenbart sich hier der erstaunliche Prototyp eines nationalen “Schicksalstages”. Dieses viel stra pazierte Wort hat sich für die auffälligen Synchronizitäten dieses Novemberdatums in der deutschen Vergangenheit eingebürgert.
Doch was ist ein Schicksalstag? Im Allgemeinen wird unter Schicksal eine Art höhere Macht verstanden, die ohne direktes persönliches und intendiertes Zutun, oder besser ohne die Beteiligung des alltäglichen Bewusstseins, das Leben einer Person oder hier eben eines Landes entscheidend beeinflusst. Und wer sind diese höheren Mächte, die scheinbar nichts anderes zu tun haben, als sich um die Geschicke des Einzelnen oder des einzelnen Landes zu sorgen? Die Perspektive der integralen Sicht lässt in den Besonderheiten des “Schicksals” vor allem die Führung einer sich individualisierenden Seele erkennen.
Nachstehend einige der schicksalhaften Geschehnisse jüngerer deutscher Geschichte an einem 9. November.
9. November 1848: Die Niederschlagung der ersten republikanischen deutschen Revolution (1948) findet ihren traurigen Abschluss in der Erschießung des Revolutionärs Robert Blum in Wien.
9. November 1918: Reichskanzler Max von Baden gibt die Abdankung des deutschen Kaisers Wilhelm II. und den Thronverzicht des Kronprinzen bekannt. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann ruft von einem Balkon des deutschen Reichstages unter dem Jubel der Massen die lang ersehnte und erkämpfte erste deutsche Republik aus.
9. November 1923: In der Nacht vom 8. auf den 9. November proklamiert Adolf Hitler in München die “nationale Revolution” und fordert einen “Marsch auf Berlin”. Dieser sogenannte Bierhallen-Putsch wird schon in München von der Polizei gewaltsam gestoppt, Menschen sterben, Adolf Hitler wird zur Festungshaft verurteilt.
9. November 1933: Hitler will diese Niederlage für seine Zwecke instrumentalisieren. Er erhebt den 9. November nach seiner Machtergreifung zum nationalen Gedenktag. Die Nazis nennen ihn den Blutzeuge-Tag zur Erinnerung an die “nationalsozialistischen Märtyrer”.
9. November 1938: In der Pogromnacht kommt es in Deutschland zu massiven Ausschreitungen gegen Synagogen, jüdische Geschäfte und jüdische Bürger. 91 Männer und Frauen werden in ihren Wohnungen, am Arbeitsplatz, auf offener Straße oder in Gotteshäusern ermordet. Mehr als 25 000 Juden werden verhaftet und in Konzentrationslager geschleppt. 191 Synagogen gehen in Flammen auf, 76 weitere werden völlig vernichtet, etwa 7000 Geschäfte jüdischer Einzelhändler werden zerstört.
9. November 1989: Das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski erwähnt auf einer Pressekonferenz scheinbar beiläufig, die DDR habe mit sofortiger Wirkung die Grenzen geöffnet. Wenig später stürmen Tausende DDR-Bürger die Grenzübergänge. 28 Jahre nach ihrer Errichtung fällt die Mauer. Deutschland ist wieder vereint. Es beginnt eine beispiellose Periode friedlicher und ungefährdeter Selbstbestimmung.
Nach jenem Mauerfall – als erneuter und positiver Bestätigung dieses herausragenden deutschen Kalendertages – wurde der 9. November zwar vom deutschen Parlament als Nationalfeiertag erwogen, wegen seiner Belastung und Konnotation als ehemaliger Nazi-Gedenktag und vor allem als Reichspogromnacht jedoch wieder verworfen. Der in jener Nacht entfesselte Beginn einer wahnhaften und systematisierten Judenverfolgung war ohne Zweifel Ausdruck einer der regressivsten und dunkelsten Perioden Deutschlands.
Es ist vor diesem Hintergrund in der Tat nicht einfach zu bewerten und zu ertragen, dass der neunte Tag im November zugleich für entscheidende Durchbrüche hin zu den fruchtbarsten und liberalsten Zeitabschnitten in Deutschlands Geschichte steht.
Die gleichzeitige Feier der Durchbrüche zur Freiheit und des Gedenkens der Zusammenbrüche der Moral an einem 9. November wäre ohne Zweifel Ausdruck einer integrierten und reifen Identitätsbestimmung des heutigen Deutschland. Die legendären Abgründe des egomanisch-deutschen Nationalismus würden ebenso sichtbar wie die in historischer Abfolge obsiegenden seelischen Qualitäten deutscher Kollektivität. Bis heute scheint es so, dass man die Letzteren nicht benennen kann, aus Angst, die Ersteren zu wecken.
Dabei könnte gerade der 9. November als deutscher Nationalfeiertag in seiner umfassenden Bedeutung einen Beitrag leisten zur reinigenden Transformation der Nazi-Konnotation und der regressiven Schatten des Landes.
Erfreulicherweise mehren sich die Stimmen für diese Neubestimmung. “Der 9. November steht für gescheiterte und erfolgreiche, gewaltsame und gewaltlose Revolutionen. Dieser Tag wurde zum Synonym für Unmenschlichkeit, aber auch zum Tag der menschlichen Vernunft (1989: Gewaltlosigkeit statt chinesische Lösung‹). Daher steht der 9. November heute für die Genese des modernen, demokratischen Deutschland, das sowohl die Restauration des 19., als auch die Diktaturen des 20. Jahrhunderts überwunden hat112.”
Der 9. November kann zum lebendigen Anlass werden, sich die seelischen Qualitäten im direkten Vergleich mit den nationalen Schatten vor Augen zu halten. So gesehen eine hervorragende Chance zur immer neu vorzunehmenden inneren Standortbestimmung Deutschlands.
Ein Nachtrag: Dass der 9. November sich einmal gegen seine nationalsozialistischen Usurpatoren wenden könnte, hatte schon Goebbels geahnt. Auf Hitlers Anweisung strich er den unseligen “Blutzeuge”-Tag wieder von der Liste deutscher Gedenktage. Goebbels’ Kommentar dazu: “Das Datum ist zu gefährlich in diesen Zeiten!” Die Streichung erfolgte einen Tag nach einem der missglückten Attentate auf Hitler und in direkter Reaktion darauf.
Der Attentatsversuch geschah am 9. November 1938113.
Auch jenseits des Atlantiks scheint ein Kairos-Zeitpunkt nahe, um erstmals wichtiger Teile der eigenen und der Vergangenheit und Identität anderer zu gedenken und sie zu würdigen.
Kapitel 7
Weltpotenzial mit Schatten – Perspektiven der USA
Seit zehn Jahren lebe ich an der amerikanischen Westküste. Meine neue Heimat ist ein als kreativ und innovativ bekanntes Städtchen in einem überwiegend liberalen Bundesstaat.
Mit diesen Qualitäten bilden Stadt und Staat eher Inseln in konventioneller See. Allerdings kann es trügerisch sein, Stand und Entwicklung einer Nation nur per Augenschein und Umfragestatistik erfassen zu wollen. Neue Entwicklungen wachsen oft im Verborgenen, und nach tieferen Seelenkonstellationen wird gar nicht erst gefragt. Dabei könnte uns die Antwort darauf deren erhebliches nationales wie globales Potenzial bewusst machen.
Die spezifische Seelenmission der USA, so die These, hat eine evolutionär ausschlaggebende Bedeutung für die Weiterentwicklung der Welt zu einem integralen Bewusstsein. In den USA selbst wird es, wie im Rest der Welt, zunächst sicher nur ein kleiner Teil der Bevölkerung sein, der diesen seelisch initiierten Schritt gehen kann. Zu viele unaufgelöste Schatten und ausstehende Integrationen belasten die Entwicklung der USA – und beschweren damit oft genug auch das Leben anderer Länder.
Im Folgenden zunächst ein Blick auf eine der wohl wichtigsten Seelenqualitäten der Vereinigten Staaten, die Proklamierung der freien geistigen und kreativen (und natürlich auch ökonomischen!) Entfaltung ihrer Bürger. Diese Qualität bleibt auch im erwähnten Meer der Trivialität und Konventionalität des Landes nachhaltig erkennbar. Doch kommt sie nicht allein, sie führt als Zerrbild ausgrenzende Grandiosität sowie die Exklusivität und Arroganz falsch verstandener Verwirklichung mit sich. Deutschlands Vergangenheit lässt grüßen. Wie weit ist das evolutionäre Projekt der amerikanischen Selbstrealisierung heute gediehen? Die Antwort kann wie so oft im Leben auf das halbe Glas Wasser verweisen. Halb leer? Halb voll? Die USA zählen in jedem Fall zu den Pionieren.
Die Gründerväter der USA gehörten zu den Ersten, die auf kollektiver Ebene auf die aufgeklärte, individuelle Freiheit moderner und postmoderner Memes reagierten. Die politische Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 machte die Freiheitsrechte jedes Einzelnen zum ersten Mal für die ganze Welt sichtbar zum Ziel. In seiner Betrachtung der amerikanischen Seelenstruktur beschreibt der Philosoph Jacob Needleman, wie Washington, Jefferson und Franklin die amerikanische Demokratie als Recht zur Selbstverwirklichung verstanden: “Demokratie in ihrer spezifischen amerikanischen Form wurde im hohen Grad aus der Initiative heraus geboren, Männern und Frauen zu erlauben, ihre Bestimmung in sich selbst zu finden114.”
Die Proklamation für ein selbstbestimmtes Leben und für die freie Verwirklichung der eigenen Qualitäten ist ein zentrales und einzigartiges Leitmotiv von Kultur und Gesellschaft der USA. Dieser von der Freiheit und Besonderheit des Individuums handelnde Teil des amerikanischen Traums lässt sich als ein – in Medien und Politik allerdings oft profanisierter und entstellter – Ausdruck des evolutionär erreichten Sprungbretts in ein neues Bewusstsein betrachten. Einer dessen zentraler Inhalte ist die Entdeckung und Verwirklichung des seelischen Potenzials hinter der äußeren Persönlichkeit von Mensch und Nation. Die geistige und rechtliche Freiheit des Inviduums ist dafür die Voraussetzung.
Doch verständlich wird diese evolutionär neue Freiheit erst vor dem Hintergrund ihrer archetypischen Gestalt. In weltweiten Sagen und Mythen findet sich das Motiv des – oft äußerlich unauffälligen – Einzelnen, der zum Helden bestimmt ist, ohne dass er sich zunächst dessen bewusst wäre. Er sieht sich vor einzigartige und kaum lösbar erscheinende Themen und Aufgaben gestellt. Die Bewältigung dieser Herausforderungen verlangt von diesem Auserwählten die Realisierung der tiefsten Potenziale, die er in sich birgt. In der Psychologie C. G. Jungs und in integraler Deutung stellt diese Reise des Helden eine mythische Vorwegnahme des sich seelisch individualisierenden und verwirklichenden Selbst dar. Der mythische Held war jedoch noch kein Individuum, sondern personifizierte und verkörperte vor allem die Werte des Kollektivs. Es sind Mythos und Gemeinschaft, die in dieser Phase stellvertretend für den Einzelnen die “Verwirklichung der inneren Aufgaben des Lebens” übernehmen.
Im Wechsel der Memes erfährt Selbstverwirklichung einen kategorischen Wandel. Ursprünglich Pflicht und Privileg symbolischer Helden und Kollektive, wird sie jetzt zur postmodernen, dann zur integralen Einladung und Aufforderung an den Einzelnen. Dies ist nicht weniger als eine evolutionäre Großwende nach jahrtausendealter Dominanz unhinterfragbarer Kollektiv-Strukturen und Sinn-Narrative. Was dieses neue Paradigma kenntlich macht, ist der evolutionäre Zuwachs, den Wert und Würde des Einzelnen erfahren haben. Ermöglicht wurde diese Umwertung durch dessen innere Ablösung von der Unbedingtheit genetisch-biologischer und mythisch-religiöser Sippen- und Familienbindung. Die neue evolutionäre Stufe ist das Bewusstsein individueller und befreiter Gegenwart. Zunächst in einer Phase uneingebundener, rational-egoischer Selbstbestimmung, später in Erfahrung der Doppelgestalt von seelischer Verbundenheit und Individualität.
Eine Anmerkung an der Stelle: “Selbstverwirklichung”, das sollte aus dieser Darstellung klar werden, hat hier eine erheblich andere Konnotation als ihre postmoderne Light-Variante einer bio-bürgerlichen Luxusgeste im Wellnessformat. Doch schon vor dem letztendlichen Erreichen ihrer seelischen Tiefendimension stellt sich die reale Annäherung an das Thema Selbstverwirklichung in vielen Teilen der Welt und der Gesellschaft als hochriskantes Unterfangen dar: Das bekennende homosexuelle Mitglied einer arabischen Großfamilie, die selbstbewusste junge Afghanin, die sich ihren eigenen Partner aussuchen will, der überzeugte Anhänger des Bahai-Glaubens im Iran – sie alle riskieren heute mit der konsequenten Verwirklichung ihres authentischen Seins und ihrer inneren Ausrichtung einen hohen Preis, bis hin zu ihrem Leben. Sie erfüllen ihr individuelles Schicksal und sind zugleich ko-evolutionäre Helden und Vorkämpfer im Wandel der Memes.
Selbstverwirklichung über die Gattung hinaus
Doch kehren wir zurück zum im Vergleich meist liberaleren Alltag der USA. Das Ideal des sich selbst findenden Individuums wird, wie alle Seelenthemen, in der Kultur der USA gespiegelt, und das besonders im wohl amerikanischsten aller Medien, dem Hollywood-Film. Die Botschaften der amerikanischen Traumindustrie haben die Welt verändert, und sie tun das noch immer, wenn vielleicht auch nicht mehr so ungebrochen wie in den Nachkriegsjahrzehnten. In endlosen Varianten begleiten wir in amerikanischen Film- und Literatur-Plots dem Sujet des Helden, der sich trotz widriger Umstände und gegen alle Erwartungen mit seiner besonderen und meist lange verkannten Begabung durchsetzt. Diese filmischen Narrative beschreiben oft junge Menschen, die sich durch ihre scheinbare “Andersartigkeit” kennzeichnen, durch ihre Einzigartigkeit und Besonderheit, die eben nicht das ist, was Vater und Vaterland von ihnen erwarten. Sie zeigen das Ringen der Heranwachsenden, so zu sein, oder besser: so zu werden, wie sie wirklich sind. Worauf diese jungen Menschen – und wir alle – meist angewiesen sind, ist die Bestätigung ihrer jeweiligen innersten Besonderheit durch Dritte. Diese Ansprechbarkeit kann sich, wir erwähnten es, als Verführbarkeit offenbaren, doch sie kann sich andererseits auch als Grundlage für entscheidende Entwicklungsimpulse auswirken.
In vielen Plots kommt den jungen Helden anstelle des ratlosen und enttäuschten Vaters ein seelisch erfahrener Mentor zu Hilfe. In Victor Salvas “Peaceful Warrior” bestärkt er einen buchstäblich am Boden zerstörten Jungen in dessen Glauben an seine außerordentliche Begabung. Der Oscar-gekrönte Animationsblockbuster “Happy Feet” veranschaulicht den zu entdeckenden Wert auch des scheinbar abseits liegenden Talents für das Wohl der Gemeinschaft. James Camerons “Avatar”, der bislang erfolgreichste Film aller Zeiten, beeindruckte die Welt nicht zuletzt mit dem Mut des jungen Protagonisten, die Erwartungen sogar seiner eigenen Homo-Sapiens-Gattung zugunsten der Entscheidung seines Herzens und seiner Seele für eine andere Lebensform aufzugeben. Avatar ist damit Beispiel dafür, dass nicht wenige dieser Hollywoodfilme das begrenzte und konventionelle Themenfeld pubertär-psychologischer Autonomiesuche überschreiten und die Reife und Verbundenheit evolutionär neuer und buchstäblich transformierender, seelischer Individualisierung anklingen lassen. “Sein Schicksal in die eigene Hand nehmen” ist im besonderen Maß US-amerikanisches Motto. Es ruft dazu auf, unser “Schicksal” – traditionell verstanden als von “Schicksalsmächten” im Verborgenen vorgezeichnete Führung und Thematik des Lebens – heute zur eigenen Entscheidung ins Bewusstsein zu holen und in eigener seelischer Initiative mitzugestalten.
StarWars-Regisseur George Lucas ließ sich monatelang von Joseph Campbell, einem Großmeister mythischer Forschung, in der eingangs erwähnten seelischen Dynamik der Heldenreise unterrichten. Diese archetypische Initiation lag und liegt in den letzten Jahrzehnten als Grundmatrix ungezählten erfolgreichen Hollywood-Epen zugrunde. Bei ihrer modernen medialen Version stehen das Individuum und die Realisierung seines Selbst im Mittelpunkt. Doch auch in Hollywoods Leinwandspiegel sind mit dem geglückten Zusammenspiel von Hingabe/Vertrauen und Mut/Initiative die Tugenden und Grundregeln der Innenreise erkennbar. Dass die seelische Selbstverwirklichung des Einzelnen, im Gegensatz zur narzisstischen Ego-Verwirklichung, nicht anders kann, als zugleich dem Besten der anderen zu dienen, findet wie im mythischen Heldenepos in der verborgenen Einheit von Sein und Seele ihre Ursache.
Hollywood trägt, ob in bewusster Form oder nicht, diesen neuen evolutionären Impuls in Gestalt des amerikanischen Traums zu den danach Suchenden in aller Welt. Sie können sogar hier, wenn sie denn dazu bereit sind, die seelisch-psychologische Bestätigung und Erlaubnis zur eigenen Selbstverwirklichung finden.
Doch über Hollywoods Traumfabriken hinaus richtet sich dieser amerikanische Freiheitsimpuls nicht nur an Einzelne, sondern an die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Es ist eine Aufforderung zur Selbstverwirklichung der amerikanischen Nation mit deren besonderen Qualitäten, aber auch Herausforderungen.
Der Kampf um die US-Präsidentschaft im Jahr 2012 etwa wurde – nicht zum ersten Mal – als Kampf um die Seele des Landes dargestellt. Und ein Kernschatten der Seele der USA ist eine gerade aus dem evolutionären Vorreiterstatus des Landes abgeleitete Ego-Grandiosität, die seine wahre Seelenindividualität zu verdunkeln droht. Die Wahlkampfauftritte des republikanischen Kandidaten Mitt Romney waren zutiefst durchdrungen von der Überzeugung des “American Exceptionalism”, der amerikanischen Ausnahmestellung in der Welt115.
Der Schatten der Auserwähltheit
Der Glaube an das eigene Auserwähltsein, gleich ob bei einer Nation oder dem Einzelnen, ist fast immer Signal für die Verwechslung der eigenen authentischen Individualität mit ihrem egoischen Schatten. Auf seelischer Ebene ist jedes Land außergewöhnlich, von den “großen” USA bis zum “kleinen” Andorra.
Die jeweilige Einzigartigkeit und Mission seines Landes zu erkennen ist evolutionäre Aufgabe. Sie zur Abgrenzung und für Machtansprüche gegenüber Nachbarn und der Welt zu benutzen ist nationalistische Unreife. Wahres nationales Selbstbewusstsein zeigt sich in – auch kritischer – Dankbarkeit, Nationalismus äußert sich in blindem Stolz gegenüber seinem Land. Ultraorthodoxe Hindus, Christen, Juden, Fanatiker in allen Ecken der Welt berufen sich auf die jeweilige Auserwähltheit ihrer Völker, Kulturen, Länder und rechtfertigen damit, gleich den Vertretern des American Exceptionalism, ihre politischen Haltungen und Handlungen. Mitt Romney warf seinem Kontrahenten Barack Obama vor, dieser wolle sich bei anderen Ländern für das Besondere des “American Way of Life” “entschuldigen”. Romney bot damit ein eklatantes Beispiel für die fehlende Unterscheidungsfähigkeit zwischen den authentischen Qualitäten eines Landes und ihren egoischen Auswüchsen und Schatten. Nicht für unsere seelische “Besonderheit” sollen wir uns entschuldigen, sondern für ihren nationalistischen Schatten. An diesem leiden nicht nur die anderen Länder, sondern er wird – unbearbeitet – zum Hindernis für die eigene weitere Entwicklung und Transformation. Den nationalen Schatten zu erkennen und sich als Land für die von ihm historisch ausgeübten Verletzungen zu entschuldigen ist oft Teil der Heilung und des seelischen Reifeprozesses einer Nation. Es wird ein wichtiger Teil ihrer Selbstverwirklichung. Auch hier ein Gruß aus Deutschland.
Die egoische Überzeugung von der Außergewöhnlichkeit, dem Exceptionalism des eigenen Landes, lässt alle anderen Länder in der Regel sehr gewöhnlich aussehen. Es ist die Verdrehung der seelischen Wahrheit, dass jede Nation – wie der Einzelne – ihre außergewöhnlichen, besser: einzigartigen Seelenqualitäten hat, die unsere Würdigung verdienen. Das eigene nationale Ego allein wird kaum in der Lage (oder willens) sein zu verstehen, an welchem Entwicklungspunkt eine andere nationale Gesellschaft sich schwerpunktmäßig befindet. Tatsächlich könnten integrale Evolutionsmodelle wie Spiral Dynamics dabei durchaus eine Hilfe sein.
Auf Nationenebene ist die Blockierung eines anstehenden Entwicklungsschrittes des anderen Landes eine der verhängnisvollsten Folgen dieser seelischen Missachtung. Unser zweiter Blick soll deshalb beispielhaft die eine ganze Weltregion gefährdenden Auswirkungen des amerikanischen Schattens auf ein anderes Land zeigen. Iran liegt zwar in einem anderen Kontinent, ist aber den USA in engster Feindschaft verbunden. Woher kommt diese Ablehnung?
In den Ländern des Westens hat Außenpolitik den Anstrich einer rein pragmatischen und nüchternen Interessendurchsetzung der Nationen im gegenseitigen Verkehr. Seelische Realität und Aufgabe bei diesen Prozessen zu definieren ist kein Bestandteil dieser “Nüchternheit”, dem Hebel und der aufgeklärten Grundlage des heute weitgehend dominierenden, rational-empirischen Meme. Kein Wunder also, dass sich westliche Medien angesichts der Spannungen ob des iranischen Atomprogramms überrascht zeigten über das potenziell irrationale, das heißt den eigenen pragmatischen Interessen zuwiderlaufende Verhalten der iranischen Nation. Wenige der Kommentatoren kommen auf die Idee zu bedenken, welche Rolle einer möglicherweise verletz ten nationalen Würde der Iraner in dem Geflecht gegenseitiger Beschuldigungen zukommen könnte – Würde hier verstanden als Ausdruck der seelischen Integrität, Egalität und Individualität einer Nation.
Das frühere Persien gilt mit seiner mehr als 5000 Jahre zurückreichenden Geschichte als eine der ältesten Zivilisationen der Welt. Persische Dichtkunst und Wissenschaft wurden später zu zentralen Bestandteilen der islamischen Kultur, die wiederum im Mittelalter großen Einfluss auf das Entstehen der europäischen Wissenschaft hatte.
Doch in rein auf Wirtschaftsparameter und Sozialstatistik bezogener Perspektive stellt die Republik Iran heute ein Entwicklungs-, bestenfalls ein “Schwellenland” dar. Eine Kategorie, deren abschätzige Konnotation bis vor Kurzem noch im Term Dritte Welt seinen beredten Ausdruck fand.
Wie weltweit an vielen Beispielen ersichtlich ist, können Kolonisierung und gewaltsame ausländische Interventionen tiefe und über Generationen währende Traumatisierungen und Verletzungen der Würde eines Landes bewirken. Dies gilt in umso höherem Grad, wenn dessen seelische Individualität und Identität bereits erwacht sind.
Iran unterlag ab circa 1850 zumindest zum Teil der kolonialen Kontrolle von Briten und Russen, die sich ihre jeweiligen Einflusszonen aufgeteilt hatten. Bis heute traumatisierend wirkte sich jedoch besonders ein interessengebundener Eingriff der USA (und Großbritanniens) an einem Wendepunkt der jüngeren Geschichte des Landes aus.
Im Prozess seines nationalen Weges zu einer selbstbestimmten Republik sah sich Persien, nicht anders als viele andere Nationen, zur Überwindung von Monarchie und Diktatur herausgefordert. Im August 1953 war der Schah vertrieben, und an der Spitze der Regierung stand der Jurist Mohammad Mossadegh, der sich in den Jahren zuvor bereits mit seinen Bestrebungen zur Verstaatlichung der Ölindustrie als Premierminister für die Interessen seines Landes eingesetzt hatte. Es war ein Akt, der gewissermaßen das sichtbare Ende der jahrtausendealten Vorherrschaft der Feudalepoche – des mythischen Meme – zu bedeuten schien.
Doch es wurde nicht die erhoffte Zeitenwende. Mossadegh sah sich schon drei Tage nach der Flucht des Schahs ins Ausland durch einen vom CIA gesteuerten und vom britischen Geheimdienst unterstützten Putsch gestürzt. Der gegenüber westlichen Ölinteressen willfährigere und brutal-diktatorische Schah wurde durch den ferngelenkten Coup erneut an die Macht gebracht. Das wiederum führte in einer weiteren Gegenreaktion zum heutigen repressiven Mullah-Regime, der eingeschlagene Weg der Demokratisierung und evolutionären Meme-Entwicklung der Iraner sieht sich bis in die Gegenwart gewaltsam unterbrochen.
Mossadeghs Wahl verkörperte nicht nur die Hoffnung des Wechsels in ein neues Meme, sondern sie wurde zum Sinnbild des Erreichten auf dem Weg zur Selbstbestimmung und Realisierung des eigenen nationalen Potenzials. Und das besteht eben nicht nur aus materiellen Ölressourcen, sondern viel mehr und tiefer noch in den spezifischen Qualitäten der eigenen seelischen Identität. Nicht einfach zu verstehen aus “seelenfreier” Perspektive: “Das Land gründete seinen Unabhängigkeitskampf und die Entstehung seines nationalen Selbstbewusstseins in den Vierziger- und Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts auf das Streben nach der souveränen Verfügung über das eigene Öl, über das vor allem die britischen Kolonialherren eine harte Hand hielten”, sahen westliche Kommentatoren in bester pragmatischer Tradition als wesentliches Motiv dieser modernen iranischen Identitätssuche116. Eine tiefere Strömung blieb ihnen jedoch verborgen. Manucher Farmanfarmaian, der damalige Direktor des iranischen Ölinstituts, ist mit beidem vertraut, mit Öl wie mit Mossadeghs nationaler Motivation. “Mossadegh interessierte sich nicht die Spur für Dollars, Cents oder die Zahl der täglich zu fördernden Barrels. Für ihn war der Kern der Angelegenheit die nationale Souveränität117.”
Die integrale Mega-Perspektive sieht Wirklichkeit sowohl in materiellen als auch in seelischen Ressourcen. Die Souveränität über sein Öl konnte der Iran zwar inzwischen erringen, seine innere politische Freiheit aber, die Vorstufe zur seelischen Selbstbestimmung, bleibt dem Land noch immer verwehrt.
Der Schmerz über die unterbrochene Entwicklung ist noch nicht verheilt. Er wird vom ganzen Land getragen, aber die Mullahs, obwohl selbst Gegner jeder Evolution, profitieren von ihm. “Die Härte, mit der Teheran versucht, sein Atomprogramm durchzusetzen, ist nicht nur dem aggressiven Nationalismus [seiner Führer] geschuldet, sondern hat auch etwas mit der Geschichte des modernen Irans zu tun118.”
Sie ist auch die Geschichte der verletzten seelischen Würde des Landes. Aus dieser Verletzung heraus erwächst nur zu oft ein Gefühl der Inferiorität mit einem daraus resultierenden, pathologisierten Kreislauf neuer Aggression und wahnhafter Projektionen. Am Beispiel Irans zu sehen etwa an seiner Haltung und seinen Worten gegenüber Israel. Die Verantwortung für dessen Folgen bleibt gleichwohl beim Iran, genauso wie die Aufgabe, den unterbrochenen evolutionären Weg zur Realisierung seines eigenen seelischen Potenzials wiederaufzunehmen. Es ist der einzige Pfad zur Integration der Projektionen und zum Ende der Verletzungen.
Internationale Verständigung, ein Ideal moderner Friedenspolitik, wird ohne Verständnis und Würdigung der seelischen Integration und Evolution des eigenen Landes wie der anderen Nationen sein Ziel im Letzten nicht erreichen.
Eine klare Geste der Entschuldigung der USA (und Großbritanniens) für vergangene Interventionen und Respekt für den weit über radikale Mullahs hinausgehenden Kultur-( und nicht nur Öl-)Reichtum des Iran könnte seinen Teil dazu beitragen, die Weltgeschichte im Nahen Osten zu verändern.
Die dritte Betrachtung gilt der Frage, warum trotz der Größe der amerikanischen Vision vieles in ihrer Realisierung so unbalanciert erscheint. Um die Antwort vorwegzunehmen: Einer der Gründe liegt ohne Zweifel in der bisher kaum geleisteten Integration der seelischen Tiefenschicht des Kontinents. Sie lässt sich beschreiben als die schamanistisch-ökologische Verbundenheit des indianischen Bewusstseins mit Himmel und Erde. Ein oft verkanntes Thema, deshalb auch hier einige konkrete Beispiele und konstruktive Anregungen.
In integraler Anschauung – und im Gegensatz zum gängigen US-Selbstbild – liegt der Ursprung der Identität der USA nicht in geschriebener Geschichte, sondern, wie in praktisch allen Ländern, in mythischer und noch älterer Zeit. Weder die europäische Entdeckung des amerikanischen Doppelkontinents noch die ersten britischen Besiedelungen Nordamerikas 1607 in Jamestown begründeten die US-amerikanische Nationenseele allein. Die Einwanderung der Briten – und vor ihnen der Spanier und Franzosen – markiert lediglich den Beginn des mentalen Abschnitts nordamerikanischer Seelengeschichte. Mental meint hier die evolutionäre Zeit des religiös-konventionellen und des liberal-rationalen Memes. Doch vor ihnen reichten auch auf dem amerikanischen Kontinent die mythischen, magischen und archaischen Memes bis in die Vor- und Urzeit zurück. Ihr Träger war eine amerikanische Bevölkerung, die vermutlich seit 15 000 Jahren aus Nordasien eingewandert war. Nordamerikanische Ureinwohner haben gemeinsame kulturelle und genetische Wurzeln mit den Indios Mittel- und Südamerikas. Die Stämme entwickelten jedoch in der Natur Nordamerikas ein eigenes Profil. Die ursprüngliche Seelenkraft des Landes war auf dem Gebiet der späteren USA mit ihren weitläufigen Landschaften aus Prärien und Savannen, bizarren Felsformationen und majestätischen Gebirgszügen, einer Vulkankette und zerklüfteten Küsten, gewaltigen Seen, feuchtheißen Zonen und trockenen wie eisigen Wüsten erwachsen.
Diese Seelenlandschaft des Kontinents hieß alle Einwanderer willkommen, die frühen nordasiatischen Immigrationswellen ebenso wie die viele tausend Jahre später kommenden europäischen Kolonisten, die versklavten und verschleppten Afrikaner sowie Immigrationswillige aus aller Welt.
Viele von denen, die freiwillig das Land betraten, waren – im Unterschied zu den spanischen Conquistadores – nicht mehr nur von der Gier nach Gold und unentdeckten Reichtümern getrieben, sondern auf der Suche nach einem “besseren Leben”. Sie folgten dem Ruf einer der besonderen Seelenqualitäten des nordamerikanischen Landes, seine gewaltige Weite und Fruchtbarkeit, seine räumliche und atmosphärische Großzügigkeit und Freiheit.
Thanksgiving erinnert an die erste Begegnung der Ureinwohner mit den Neusiedlern, an die historische (und tragische) Geschichte der Algonkin-Häuptlingstochter Pocahontas. Vielleicht bewahrt Thanksgiving die Vision des noch unerfüllten Potenzials, das aus der Integration der europäischen und der Ersten Amerikaner auch heute noch erwachsen kann.
Bisher fand diese Integration jedenfallls kaum statt, und das von den Europäern vor allem verkörperte rationale Meme entfaltete stattdessen in dem ressourcenreichen Land eine beispiellose materielle Kreativität. Das Wissen und Bewusstsein der im Rahmen älterer Memes mit dem Land verbundenen Ersten Amerikaner konnten sie dabei zwar ignorieren, nicht aber sich dessen innerem Einfluss entziehen.
Diese meme-immanente Abspaltung und Nichtintegration führte dazu, dass sich die meisten heutigen US-Bürger zwar mit ihrem Land und seinen natürlichen Landschaften tief verwurzelt fühlen und diese auch schützen wollen, sich dabei aber nicht ihres seelischen Erbes, das heißt des alten schamanisch-animistischen Wissens um die heilige Ökologie, die ehrende Bewahrung und Nutzung des Landes bewusst sind. Aus dieser Unverbundenheit entsteht der merkwürdige Widerspruch, dass die USA trotz ihrer als nationaltypisch beschriebenen Liebe zu ihrer Natur weltweit zu den Ländern mit dem schlimmsten Raubbau an Klima und Ressorcen zählen.
Es waren einige der berühmtesten Philosophen der USA, die dieser besonderen amerikanischen Liebe zur Natur als Erste öffentlichen Ausdruck gaben. Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau suchten in der freien Natur spirituelle Erfahrung, und insbesondere Thoreau erkannte, dass Schutzmaßnahmen für sie nötig waren. Als erster Nationalpark der Vereinigten Staaten und zugleich der Welt wurde 1872 der Yellowstone-Nationalpark gegründet. Anfangs als “öffentlicher Park oder Vergnügungsstätte zum Nutzen und zur Freude der Bevölkerung” legitimiert, dienen heute 58 Nationalparks, die zusammen fast die Fläche Deutschlands einnehmen, in erster Linie dem erklärten Schutz und Erhalt gefährdeter Biotope. Die Naturparkbewegung der Vereinigten Staaten wurde im Gefolge dieser ersten Gründung zum Impulsgeber für unzählige entsprechende Initiativen in vielen Ländern der Erde.
Das ist das eine. Es gibt eine andere Seite, und auf der belastet das Umweltverhalten der USA nicht nur die Ökologie des eigenen Landes, sondern auch das Klima der ganzen Welt. 5 Prozent der Erdbevölkerung leben in den USA, aber 25 Prozent des Treibhausgases Kohlendioxid werden hier freigesetzt; 40 Prozent der US-amerikanischen Flüsse und mehr als 50 Prozent der Seen Amerikas sind zu belastet, um hier angeln oder schwimmen zu können119.
Autoabgase tragen zu 60 Prozent der landesweiten Kohlenmonoxidbelastung bei120, davon 95 Prozent allein in den Städten. Über 75 Prozent des Inhalts der Müllhalden der USA könnten recycelt werden – doch das geschieht nur zu 30 Prozent121.
Es ist wie ein Schatten, der die zweifellos echte Liebe der Amerikaner für die Natur ihres Landes verdunkelt.
Es geht demnach um Klärung und Heilung. Nicht nur von belasteter Luft und vergiftetem Wasser, sondern um die bisher ausgebliebene Integration des seelischen Erbes der Ersten Amerikaner. Animistisches Bewusstsein ist, ob akzeptiert oder verleugnet, unabtrennbarer Teil der Geschichte und Identität des Kontinents. Zur Integration und Anerkennung dieses Erbes wäre es allerdings nicht genug, traditionelle Mythen zu imitieren und alles “ökologisch Gute” in indianische Weisheit zu projizieren. Stattdessen sollte die Aufmerksamkeit dahin gehen, die spirituelle Essenz dieses schamanistischen Weltbildes zu erkennen und sie in postrationaler Übersetzung für die Gesellschaft wie für den Einzelnen erfahrbar zu machen.
Wie aber könnte sie aussehen, diese Transformation des mythischen und kollektiven Animismus der Ersten Amerikaner in eine individuell-seelische Erfahrung von Mensch und Natur? Ein erster Schritt und äußere Voraussetzung dafür wäre zweifellos die öffentliche Würdigung und Bewusstmachung dieser beseelten Landverbundenheit der Ersten Amerikaner als einen im wahrsten Sinn des Wortes “uramerikanischen” Wert. Basierend auf dieser öffentlichen Wertschätzung sind Weiterentwicklungen zu einer zeitgemäßen Umsetzung und Erfahrungsmöglichkeit dieser Naturverbundenheit etwa im Erziehungswesen, in Kultur und Medien denkbar.
Visionssuche und Tiefenökologie
Als ein Beispiel sei das Phänomen der Visionssuche genannt, ein bei den Ersten Amerikanern und vielen anderen traditionellen Völkern der Erde verbreitetes Übergangsritual. Es dient der Einführung junger Männer in eine reife und erwachsene Männlichkeit. Von Erwachsenen werden Visionssuchen unternommen, um z.B. die Heilung eines Verwandten zu erwirken, die Lösung für persönliche Fragen oder Probleme zu finden, um einen Lebensabschnitt zu beenden oder einen neuen zu beginnen oder um die Welt und das eigene Leben mit anderen Augen zu sehen.
Die initiatorische Selbsterfahrung für Jugendliche und junge Männer (und wohl auch Mädchen und Frauen) geschieht bei der heutigen Visionssuche im Spiegel einsamer Natur und bedarf deshalb einer besonderen Mentorschaft. Für diese ist vielleicht niemand mehr prädestiniert als qualifizierte und geschulte Angehörige der Ersten Amerikaner. Voraussetzung wäre, dass diese ihre Traditionen kennen und sie an die Moderne anpassen können. Der Anspruch ist hoch und muss es sein, und das Angebot wird deshalb zumindest zu Beginn nur einige ausgewählte Sucher und Mentoren umfassen. Sobald jedoch ein etwas breiterer Qualifikationsweg für diese Art Erfahrungs-Begleitung erstellt ist, könnte das Angebot landesweit in Schullehrplänen und Freizeitangeboten integriert werden.
Praxis-Beispiele liegen dagegen schon für die Integration von indianischem Bewusstsein und Natur-Wissen mit moderner Ökologie vor. Eines davon ist in South Dakota zu finden, im Pine Ridge-Reservat der Oglala Lakota und weiterer Sioux-Stämme.
Naturparks sind, wie erwähnt, ein großer Beitrag der USA zum Erhalt bedrohter Tier- und Pflanzenarten in aller Welt. Die US-Parks entstanden fast alle auf ehemaligem indianischen Ter ritorium. Im südlichen, im Pine Ridge-Reservat gelegenen Teil des Badlands Naturparks wird seit 2012 an einem einzigartigen Modell gearbeitet. Angehörige des Stammes bereiten sich derzeit auf die Leitung des südlichen Parkteils vor. Sie werden und können erstmals einen Nationalpark sowohl nach modernen administrativ-ökologischen Regeln als auch in traditioneller indianischer Haltung führen. Ein Modell, das Schule machen könnte für andere Parks122.
Die Anerkennung und Würdigung der spirituell-ökologischen Bewusstseinshaltung der Ersten Amerikaner stellt die (Wieder-) Aneignung eines wichtigen Bestandteils amerikanischer Identität dar. Es ist dies weniger eine Frage von Moral oder politischer Korrektheit als eine dringende Notwendigkeit für die innere und ökologische Balance aller Amerikaner (und der Welt).
Wie sehr diese Balance bedroht ist und ebender indianischen Intervention bedarf, illustriert ein aktuelles Beispiel. 2012 wurden die Umstände der Planung des extrem umweltgefährdenden Ölsandabbaus in Kanada und der damit verbundenen und im gleichen Maße riskanten Überlandpipelines nach Texas und British Colombia bekannt (Keystone XL Project): Nach Angaben von Umweltschützern stellt dies eine der größten gegenwärtigen Umweltgefährdungen des Kontinents dar. Die Emissionsbelastung ist doppelt so hoch wie bei der Gewinnung etwa von saudiarabischem Öl123.
Bisher konnte die totale Umsetzung dieses – alle Einwände Beteiligter niederwalzenden oder korrumpierenden – Megadeals vor allem durch den rechtlichen Einspruch verschiedener First-Nation-Stämme in Kanada und den USA verhindert werden. Teile von ihnen haben zum Geist ihrer Vorväter und deren Haltung der Würdigung der Natur zurückgefunden. Bis auf weiteres bewahren sie so ihre Länder vor der von Keystone XL drohenden Katastrophe – aber gedankt wird ihnen dafür von kaum jemandem.
Daran ändert auch nichts, dass der amerikanische Kongress 2008 ein Gesetz zur Einrichtung eines “Native American Heritage Day” verabschiedete, eines Ehrentages zum Gedenken an die “vielen Beiträge der Ersten Amerikaner zu den USA”. Das Dokument wurde noch von Präsident Bush am 8. Oktober 2008 unterzeichnet124. Das klingt wunderbar – nur: die Antrittsrede Barack Obamas bot Anhaltspunkte dafür, dass mit der Anerkennung der Beiträge der Ersten Amerikaner vor allem die Beteiligung indianischer Armeeangehöriger an den Kriegseinsätzen der USA gemeint ist. Aber auch abgesehen davon ist der “Native American Heritage Day” ein bis heute in den USA weitestgehend unbekannter und in so gut wie keinem amerikanischen Bundesstaat beachteter Feiertag.
Die USA haben dabei durchaus einen großen nationalen Gedenktag für eine andere nationale Minderheit, der historisch ein mindestens ebenso großes Unrecht angetan wurde. Die geistigseelische Gestalt der Afro-Amerikaner, so das erkennbare Anliegen, soll heute als anerkannter Bestandteil der amerikanischen Identität ins öffentliche Bewusstsein gebracht werden. Der Martin Luther King Day wird in ganz Amerika begangen. Ehrung und Gedenken gilt einem durch Mut und Moral herausragenden Repräsentanten der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Auch ein schwarzer Präsident 50 Jahre später ist ein Zeichen einer zwar nach wie vor in großen Teilen weiterhin zu leistenden, aber immerhin zumindest ansatzweise vollzogenen nationalen Integration. Die Indianer betreffend gibt es keinen vergleichbaren Ansatz.
Er könnte darin liegen, entsprechend dem Martin Luther King Tag einen im ganzen Land beachteten, nationalen Ehren- und Gedenktag zum Erbe der Ersten Amerikaner zu begehen. Sein Ziel wäre eine nachhaltige öffentliche Würdigung und ein breiteres Wissen über die ersten Bewohner des Kontinents und ihre – heute oft in desolaten sozio-kulturellen Verhältnissen lebenden – Nachfahren. Über Entschuldigung, Versöhnung und Entschädigung für den begangenen Genozid hinaus ist dabei vielleicht der entscheidendere Faktor, die ausgegrenzte Minderheit als einen buchstäblich grundlegenden Bestandteil der eigenen Nation wahrzunehmen. Dies ist Chance und Voraussetzung dafür, dass indianisches Bewusstsein heute einen gesellschaftlich integrierenden, ökologisch heilenden und spirituell transformierenden Beitrag für sich selbst und für die Nation leisten kann.
In einigen südamerikanischen Staaten wie Kolumbien und Bolivien bestehen heute durchaus Beispiele an öffentlichen Rehabilitations- und Integrationsakten hinsichtlich des uramerikanischen Bevölkerungsanteils. Doch angesichts des globalen Gewichts der USA würde wohl erst ein vergleichbarer Akt in ihrem Land einen weltweiten, evolutionären Dominoeffekt auslösen.
Es wäre der Schritt von pubertärem Wild-West-Exceptionalism in die Verfassung einer erwachsenen Welt-Nation. Das heißt buchstäblich zur Erfüllung und Realisierung der eigenen Verfassung. Die USA sind angetreten, um Menschen aus aller Welt und allen Kulturen bei sich zu integrieren. Als versäumter und nachzuholender Anfang müsste dies heute mit den Menschen geschehen, die von Anfang an im Lande waren.
Die Integration des Wissens der ersten Amerikaner wäre ein zentraler Schritt US-amerikanischer Selbstverwirklichung. Und so wie jede authentische Realisation wäre sie in der Lage, Impulse zur Heilung und Transformation der Welt weit über die eigenen Grenzen hinaus zu tragen.
Im bescheidenen Vergleich sei an die sich initiatorisch auswirkende deutsche Vergangenheitsbewältigung erinnert. Mit Grüßen deshalb auch an der Stelle von einem historisch alten, aber evolutionär etwas geläuterteren Kontinent.
Kapitel 8
Vor-Globales Experiment –die Europäische Union
Die Ankunft von Kolumbus in Amerika machte den europäischen Kontinent zur “Alten Welt”. Heute lässt sich Europa als experimenteller Schauplatz für ein transnationales Welt-Modell betrachten. Zu dessen Gelingen scheinen jedoch noch einige wichtige Bestandteile zu fehlen.
Spätestens die Auseinandersetzungen um die seit 2010 virulenten Staatsschuldenkrisen lassen jedenfalls vermuten, dass ökonomische und sicherheitsstrategische Interessen allein für einen nachhaltigen Zusammenhalt nationaler Gesellschaften nicht ausreichend sind. Was die Bewohner des Kontinents – meist unbewusst – spüren, ist der seelische Kern-Mangel des europäischen Projektes.
Ohne Zweifel bestehen ökonomische, politische und nationalistische Gründe und Machtstrukturen, warum vieles in der EU nicht “funktioniert” bzw. scheinbar kontraproduktive Wirkungen erzeugt. Wie wir jedoch am deutschen und amerikanischen Beispiel sahen, bilden in integraler, das heißt auch multiperspektivischer Sicht die Seelen- und Schattenstrukturen des Nationalen eine verborgene, aber entscheidend mitgestaltende Wirkungsebene. Mit anderen Worten: Solange die Mitgliedsländer nicht im ausreichendem Maße ihre tiefste nationale Identität und Aufgabe gefunden und ihre Schatten bearbeitet haben, kann die Gemeinschaft nicht wirklich funktionieren.
Ein kontinentaler Zusammenschluss genügend integrierter und geklärter Nationen liegt dabei in integraler Entwicklungsbetrachtung durchaus im “evolutionären Trend” (siehe Kapitel 9). Doch reicht das aus?
Die Frage auf dieser Ebene lautet, ob zumindest die Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass sich die ausgeprägten Nationalstaaten Europas unter Wahrung ihrer jeweiligen Kern-Identität nicht nur in einer utilitaristischen Union, sondern auf tieferer Ebene in seelischer Identität und Einheit wiederfinden können.
Einer der überzeugtesten und überzeugendsten Europäer des letzten Jahrzehnts ist selbst gar keiner. Jeremy Rifkin, Gründer der Foundation on Economic Trends in Washington, D.C., fungierte als Berater der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und einer Reihe europäischer Regierungen. Rifkin veröffentlichte viel beachtete Arbeiten und Perspektiven zum Bereich Wirtschaft, Klima und Energiesicherheit. In seinem Buch “Der Europäische Traum125” vergleicht er Entwicklung und Ziele der EU mit dem Status seines Heimatlandes USA. Mit einem beeindruckenden Faktenvergleich wirft Rifkin einen detaillierten Blick auf den europäischen Verfassungsentwurf und im Besonderen auf dessen im Lissaboner Vertrag umgesetzte Charta der Grundrechte. In dieser Auflistung sieht der Amerikaner nicht weniger als einen entscheidenden Schritt in Richtung auf eine künftige Weltverfassung und neue Weltordnung.
Das mag erstaunen. Die Gründung der Europäischen Union (bzw. zunächst der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG) zeigte sich schließlich weniger von einer globalen Zukunftsvision bestimmt, sondern mehr vom Willen getragen, eine Wiederholung der kontinentalen Vergangenheit zu verhindern. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollte eine enge Vernetzung der militärisch relevanten Wirtschaftssektoren der früher verfeindeten europäischen Nachbarn einen neuen Krieg unmöglich machen und in der Folge auch die politische Annäherung und dauerhafte Versöhnung der beteiligten Staaten bewirken.
Pioniere dieser Idee und ihrer Umsetzung wie Robert Schuman und Jean Monnet hatten allerdings von Anfang an auch die idealistische Vision eines vereinten Europas im Auge. Ein pragmatischer Idealismus, rational und humanistisch begründet. “Europa wird nicht in einem Guss errichtet werden. Es bedarf konkreter Maßnahmen, die zunächst eine auf Fakten beruhende Solidarität herstellen”, erkannte Monnet126. Auch auf deutscher Seite gab es mit Konrad Adenauer einen “glühenden Europäer”. Diese Glut wurde jedoch, darauf deuten viele Aussagen hin, zumindest am Anfang an der glimmenden Asche des nach 1945 fast verbrannten deutschen Identitätsgefühls entzündet. Die Perspektive eines freien und trotzdem verbundenen Europas trug zweifellos einen guten Teil dazu bei, dass Deutschland in den Nachkriegsjahrzehnten einen geeigneten, vielleicht sogar idealen Rahmen für die Bewältigung seiner Vergangenheit fand. Das gilt ebenso für das insgesamt geglückte Beispiel einer friedlichen Wiedervereinigung, in deren Gefolge die Deutschen im europäischen Kontext in nicht unerheblichem Maß eine neue und “reifere” Stärke entwickeln konnten. Dass auch dies glückte, ist nicht zuletzt daran ersichtlich, dass die – durchaus aufmerksamen – Nachbarn trotz dieser wiederhergestellten Vormacht nicht in ernsthafte Beunruhigung hinsichtlich eines erneuten größenwahnsinnigen Alleingangs der Teutonen versetzt wurden.
Das europäische Projekt gewährte jedoch nicht nur Deutschland, sondern auch vormaligen Diktaturen wie Spanien, Griechenland und Portugal einen sicheren politischen Befreiungsund Entwicklungsrahmen. Die geleistete europäische Hilfe bei der Ablösung aus undemokratischen Strukturen bleibt auch angesichts der ökonomischen Probleme dieser Länder in der Gegenwart unbenommen. In den genannten und in anderen Fällen erwies sich die EU (bzw. EWG) dank ihres zukunftsorientierten Normensets als Entwicklungskatalysator.
Dieser seit der Gründung mit dem europäischen Projekt verbundene Idealismus und ethische Anspruch kann sich, für sich betrachtet, von den in anderen Teilen der Welt vorherrschenden, neorealistischen Interpretationen zwischenstaatlicher Politik deutlich und wohltuend abheben.
Es lohnt sich, zum besseren Verständnis des politischen Alltagsverhaltens einiger der weltweiten Hauptakteure, an dieser Stelle einen Blick auf das Modell der in den USA verbreiteten Sicherheitsdoktrin zu werfen. Er soll vor Augen führen, in welchem Ausmaß die EU-Ziele zu jener eine integral entwickeltere und evolutionär reifere Alternative darstellen können.
Der sogenannte politische Neorealismus wird in der Darstellung eines seiner wichtigsten Wegbereiter, des Politikwissenschaftlers Kenneth Waltz, von einigen Grundannahmen zu Ländern sowie internationalem System definiert:
Staaten sind einheitliche, uniforme, homogene und rationale Akteure. Das heißt, es spielt für den Neorealismus keine Rolle, ob eine Demokratie oder eine Diktatur vorliegt. Diese “subsystemischen Faktoren”, wozu in dem Kontext natürlich auch eine individualisierte National-Charakteristik zählt, werden in neorealistischer Logik bewusst ausgeklammert.
1. Der einzige Unterschied zwischen den Staaten liegt in ihrem unterschiedlichen Machtpotenzial.
2. Staaten haben eine klare Präferenzordnung: Zunächst verfolgen sie die sogenannten high politics (Sicherheit, Unabhängigkeit, Überleben), dann die low politics (alles andere).
3. Das internationale System ist anarchisch, das heißt, es gibt keine übergeordnete Regelungs- und Kontrollinstanz (etwa im Sinne einer Weltregierung) und kann es auch nicht geben.
4. Das System funktioniert nach dem Prinzip der Macht, sie ist das Einzige, was einem Staat hilft, seine Interessen durchzusetzen. Die Wahrung der eigenen Sicherheit ist die oberste Maxime des Staates.
Das internationale Staatensystem ist in neorealistischer Analyse durch das strukturelle Fehlen gegenseitigen Vertrauens gekennzeichnet. Es komme darum – sowie aufgrund der Tatsache, dass Macht das einzige wirksame Mittel zur Interessendurchsetzung sei – lediglich auf die relativen Machtgewinne an. Internationale Kooperation geschieht in neorealistischer Betrachtungsweise – also immer und vor allem vor dem Hintergrund staatlicher Sicherheitserwägungen und findet am Souveränitätsverständnis der beteiligten Staaten ihre Grenzen127.
Es ist eine sich nüchtern und “realistisch” gebende, doch tatsächlich eher an paranoides Denken erinnernde und pathologisch anmutende Politik, von deren mehr bedrohlichen als Sicherheit versprechenden Folgen wir täglich in den Medien lesen können. Beispiel ist das 2013 offenbar gewordene, erschreckende Ausmaß der NSA-Überwachung auch befreundeter Staaten seitens der USA.
Neorealistische Politik ließe sich in integraler Perspektive als Ausdruck fehlender Integration der eigenen (national-)seelischen Identität mit ihren einzigartigen, “unkopierbaren” Merkmalen sehen. Sie offenbart außerdem die brutale Nichtwürdigung des seelischen Identitätsbereichs anderer Länder mit deren (siehe USA – Iran) oft weltbedrohlichen Folgen.
Man konnte spüren, wie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie andere betroffene Regierungschefs ihren Unmut über die NSA-Bespitzelung durch die USA auch im Namen eines “verletzten” inneren Feldes ihrer jeweiligen Länder äußerten.
Europas Kooperationsfähigkeit jedenfalls hat schon viele der in neorealistischer Sicht scheinbar festgeschriebenen Souveränitätsgrenzen überschritten. Das zumindest in seinem bisherigen Zusammenhalt erfolgreiche Bündnis von mittlerweile 28 friedlich vereinten Nationen müsste damit für Theoretiker wie Praktiker dieser Doktrin eine phänomenologische Herausforderung darstellen.
Angesichts der oft zähen und widersprüchlichen Tagespolitik der Brüsseler Administration droht gleichwohl die von Jeremy Rifkin herausgestellte, normative Plattform der EU aus den Augen zu geraten. Genauer gesagt wurde sie bisher wohl erst von wenigen Europäern in ihrer vollen Bedeutung wahrgenommen.
Wie eingangs erwähnt, standen natürlich auch bei der EUbzw. EWG-Gründung Sicherheitsinteressen Pate. Von Anfang an aber und in zunehmendem Maße, so zeigt die von Rifkin im Einzelnen untersuchte Grundrechts-Charta der EU, lassen sich Merkmale eines neuen Paradigmas erkennen. Es definiert Friedenspolitik sowie die Entwicklung und Freiheit der EU-Bürger in einem im Verfassungsrahmen vorher nicht gekannten Ausmaß als normative Zielsetzung. Rifkin sieht in der Charta das zentrale Dokument einer beispiellosen ethischen und globalgesellschaftlichen Ausrichtung.
Bemerkenswert ist etwa, dass die Grundrechtserklärung der Europäischen Union weit über die US-Menschenrechtserklärung und die nachfolgenden Verfassungsgrundsätze der USA hinausgeht. “Giscard d‘Estaing erklärte stolz bei der Vorstellung des Dokuments: ›Von allen Frauen und Männern der Welt werden die Bürger Europas die umfassendsten Rechte haben‹ … Das menschenrechtliche Benchmarking dieser Charta wird auch nicht dadurch geschmälert, dass bereits seit 1948 mit der allge meinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen ein Dokument vorliegt, das vergleichbare Rechte einfordert128.” Den entscheidenden Unterschied sieht Rifkin darin, dass die UNO in ihrer heutigen Gestalt keine Regierungsinstitution bildet, die wie die EU individuelle Bürger repräsentiert. Die Grundrechte der EU sind damit einklagbar.
Hier einige Stichworte zur Entstehungsgeschichte dieses Dokuments europäischer Identität und Vision. Es waren zwei deutsche Politiker, die sich um eine rechtliche und normative Konkretisierung der von Beginn an mit der EU verbundenen, pragmatisch-idealistischen Strömung verdient machten. Die Idee der Verfassung gewann unter anderem im Mai 2000 durch eine viel beachtete Rede des damaligen deutschen Außenministers Joschka Fischer Auftrieb. Die Ausarbeitung der Menschenrechtscharta war dann Aufgabe des ersten europäischen Konvents unter dem Vorsitz des früheren deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog.
Die Charta war zunächst wesentlicher Bestandteil des Entwurfs eines EU-Verfassungsvertrags, so wie er 2003 von dem Konvent erarbeitet wurde. Er sollte ursprünglich 2006 in Kraft treten. Da jedoch nach gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden nicht alle Mitgliedstaaten den Vertrag ratifizierten, erlangte er keine Rechtskraft. Stattdessen schlossen im Juni 2007 die europäischen Staats- und Regierungschefs den Vertrag von Lissabon ab, der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat. Die Grundrechts-Charta selbst ist nicht mehr Teil des Vertrags, wie noch in dem gescheiterten Verfassungsentwurf vorgesehen; durch den Verweis in Artikel 6 des durch den Lissaboner Vertrag geänderten EU-Vertrages wurde sie jedoch für alle Staaten, ausgenommen für das Vereinigte Königreich und Polen, für bindend erklärt129.
Das Dokument klingt durch diese Entwicklung marginalisiert, doch seine evolutionäre Bedeutung mag sich in Zukunft immer deutlicher erweisen. Die Essenz der Grundrechtscharta zielt über die kontinentale Vereinigung weit hinaus und nimmt eine Art Weltunion der Länder vorweg. Der Text spricht eine universelle Sprache, er beschränkt sich nicht auf ein Volk oder Territorium oder eine Nation, sondern meint die Rechte der ganzen Menschheit: “Wenn wir die Essenz des Dokumentes erfassen wollen, dann ist es der Respekt vor der menschlichen Diversität, die Förderung der Inklusivität, die Überordnung der Menschen- und Naturrechte, die Förderung von Lebensqualität und nachhaltiger Entwicklung, die Freiheit des Denkens und die freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Streben nach dauerhaftem Frieden und einem globalen Bewusstsein130.”
Betrachtet man die Charta im Lichte integraler Evolutionsperspektiven, so lassen sich Entsprechungen dieser europäischen Ziele etwa mit der Gesellschaftsvision Sri Aurobindos erkennen. In dieser wird der seelischen Individualisierung und gleichzeitigen Entwicklung einer weltzentrischen Haltung (Wilber) sowohl des Einzelnen als auch der Nationen höchste Priorität und Freiheit eingeräumt131.
Antragstellung mit Schattenarbeit
Diese seelische Entwicklungskomponente findet in der EU-Grundrechts-Charta insofern ihre Entsprechung, indem für die Mitglieder bzw. die einzelnen Bürger ein über die nationale Identität hinausgehendes, globales, das heißt nicht nur “europäisches” Bewusstsein als Entwicklungsziel beschrieben wird. Im integralen Sinn jedoch bedingt ein transnationales, weltzentrisches Bewusstsein sowohl für den Einzelnen als auch für ganze Nationen einen vorausgehenden seelischen Reifungsprozess. Zu dem zählt auf nationaler Ebene auch eine unterscheidende Bewusstseinsbildung zu den Qualitäten und Schatten der eigenen Identität. Wenngleich, wie zu erwarten, diese Erfordernis nicht explizit in der Charta auftauchen kann, so wird ihr doch durch das komplexe und anspruchsvolle Aufnahmeprozedere der EU-Mitgliedschaft de facto durchaus Rechnung getragen.
Die Mitgliedschaft ist nicht zuletzt durch die ideellen Ziele der EU, so wie sie in der Charta zum Ausdruck kommen, vergleichsweise hoch gesteckt. Deren Ziele und Leitideen sind dabei – zu ihrem und wohl auch zum Glück der Mitglieder – untrennbar verbunden mit der trotz aller Belastungen weiterhin hohen Attraktivität der EU in wirtschaftlicher und sicherheitsmäßiger Hinsicht. Diese Kombination hat zur Folge, dass neue Mitglieder, so sie von den letztgenannten Qualitäten profitieren wollen, gar nicht anders können, als damit oft weitgehende Reformschritte hinsichtlich ihrer nationalen, sozialen und kulturellen Identität (zum Beispiel bei der Rechtsprechung) anzugehen. Mit anderen Worten: Koevolutionäre Entwicklungsund Schattenarbeit werden zu fast unvermeidlichen “Nebenprodukten” des Anpassungsprozesses an die Werte und Normen der EU.
Eine Anmerkung an der Stelle, um keine neue Einseitigkeit zu beschwören: Es sollte dies als integraler Kommentar betrachtet werden, der sich per definitionem der diese Prozesse begleitenden egoischen Interessenstrukturen und Schattenmotive der Beteiligten bewusst ist. Was hier betont werden soll, ist die seelisch-evolutionäre Bedeutung der EU-Mitgliedschaft und ihrer Konsequenzen, die im rationalen Meme in Gefahr stehen, in ihrer Wirkungskraft zu sehr von der Darstellung dieser Schatten verdeckt zu werden.
Die Anmerkung kann auch verständlich machen, warum das Ausmaß der inneren Evolution eines ganzen Kontinents im Rahmen der oft schon mehr transformatorischen als reformatorischen Anpassungen europäischer Gesellschaften an die EU-Normen noch kaum festgehalten wurde.
Die Verbindung einer erfolgreichen ökonomischen und si cherheitspolitischen Entwicklung mit hohen menschenrechtlichen Zielen ließ die EU sich zu einem Projekt mit evolutionärer Ausstrahlung auf die ganze Welt entwickeln. Weltweit entstanden kontinentale Partnerschaften mit transnationalen Ansätzen, wie die African Union (AU), die Union of South American Nations oder die Association of Southeast Asian Nations (ASEAN). “Überall auf der Welt preisen Intellektuelle das europäische Modell und verweisen auf den Platz, den der Kontinent in der neuen Weltordnung einnehmen müsste”, konstatierte der französische Politologe Philippe Perchoc132.
Im Oktober 2012 wurde der Europäischen Union für ihre gelebten Ideale der Friedensnobelpreis verliehen. Aus dem Wortlaut: “Die Union und ihre Vorgänger haben über sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung beigetragen. Seit 1945 ist diese Versöhnung Wirklichkeit geworden. […] Über 70 Jahre hatten Deutschland und Frankreich drei Kriege ausgefochten. Heute ist Krieg zwischen Deutschland und Frankreich undenkbar. Das zeigt, wie historische Feinde durch gut ausgerichtete Anstrengungen und den Aufbau gegenseitigen Vertrauens enge Partner werden können133.”
In den Achtzigerjahren traten Griechenland, Spanien und Portugal der damaligen EWG bei, wobei die Einführung demokratischer Strukturen Voraussetzung für ihre Mitgliedschaft war. Der Fall der Berliner Mauer machte den Beitritt für zentral- und osteuropäische Staaten möglich. Dadurch wurde eine neue Ära der europäischen Geschichte eingeleitet.
Doch Europas Entwicklung hat noch viele Hürden zu bewältigen, und es bleibt hinsichtlich seiner Zielrichtung ein potenziell gefährdeter und reversibler Prozess. Europa in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung und Entwicklungsphase kann sich wohl nur dann ohne Gefahr erweitern, wenn es sich zugleich in ent sprechendem Maße vertieft. Das würde erfordern, dass seine Mitglieder bzw. EU-Bürger die seelische Identität ihrer Länder in genügendem Maße erfahren und von nationalem Ego zu unterscheiden gelernt haben. Niemand kann sagen, wie realistisch das ist. Sicher ist jedenfalls, dass die Charta der europäischen Grundwerte dazu gute Anhaltspunkte bieten kann.
Nur bei einem gesunden Kräfteverhältnis zwischen (memisch) schon weiter entwickelten und noch überwiegend in Nationalismen verstrickten Mitgliedern kann Europa funktionieren. Durch die Aufnahme einer Reihe von osteuropäischen Ländern mit größeren Diskrepanzen zu bestehenden EU-Standards mag derzeit die Grenze zumindest dieser normativen Aufnahmekapazität erreicht sein. “Die EU beschloss die Aufnahme neuer Mitglieder, ohne dass die Institutionen der Union darauf eingestellt waren. Weil die europäische Idee jeden Winkel des Kontinents erleuchten sollte, fragte man nicht groß, ob jedes neue Mitglied auch wirklich reif für den Beitritt war134.”
Diese Bedenken werden von vielen geteilt und sind auch in größerer Breite und Eindringlichkeit verständlich. Vor dem Hintergrund der EU-Aufspaltung nicht nur in Ost und West, sondern auch in Nord und Süd wird die Tendenz liberalwirtschaftlicher Gesellschaften erkennbar, “Reiche” immer wohlhabender und “Arme” immer notleidender zu machen.
Doch auch hier wirken nicht handelspolitische und binnenstrukturelle Realitäten und Interessen allein. In tieferer Weise verständlich werden sie erst in ihrem Wechselspiel mit kollektivpsychologischen Faktoren. Diese aber sind Ausdruck der evolutionären Seelen- und Schattenstruktur jedes Landes. Ein Beispiel: Ressentiments, Schuldgefühle und Anklagen im Verhältnis zwischen Griechenland und Deutschland im Zusammenhang mit der griechischen Staatsschuldenkrise seit 2010 drohen neben einer Reihe anderer Faktoren den psychologischen Zusammenhalt der EU zu schwächen. Wer von der Wirklichkeit und Wirkungs kraft seelischer Kollektivität weiß, wird nicht nur – obwohl auch – strukturpolitisch denken, sondern diese Ansätze etwa mit psychologisch ausgleichender, authentischer Symbolpolitik begleiten wollen.
Modellversuch zur Weltgemeinschaft
Im Wettstreit mit allen seinen Schatten und Widersprüchen trägt das sich vereinigende Europa ohne Zweifel weiterhin den Keim und das Potenzial in sich, historisch erstmals eine seelische Wertegemeinschaft individualisierter Nationen zu formen. Die EU bzw. EKGS/EWG wurde nicht nur aus ideellen, sicherheitspolitischen und ökonomischen Interessen und Ansprüchen heraus begründet, sondern lässt sich auch als politisch gewordener Ausdruck des in langen schöpferischen Innovationszeiten wie in ebenso langen bitteren Kriegen errungenen Reichtums an kontinentalen Erkenntnissen und Erfahrungen betrachten. In ihrer Gesamtheit formen sie heute ein reifes, entwicklungsorientiertes und liberales europäisches Selbstverständnis. Neue (und alte) Mitglieder, gleich ob sie historisch gesehen jemals Teil des “christlichen und aufgeklärten Abendlandes” waren, ob sie heute strategisch gelegen sind oder wie immer ihre ökonomische Lage gelagert ist, sollten sich vor allem mit dieser seelischen Wertegemeinschaft verwandt oder von ihr angezogen fühlen. Diese Anziehung kann erkennbar werden an ihrer Bereitschaft zur Schattenarbeit, das heißt der Verantwortungsübernahme für die eigene Vergangenheit, des Grades der Integration von ethnischen und kulturellen Minderheiten als Teil ihrer nationalen Gesamtheit und an der Umsetzung eines partnerschaftlichen Verhältnisses zu ihren Nachbarländern.
Diese für manche idealistisch klingenden Kriterien mögen langfristig wesentlich nachhaltiger sein als neorealistisches Kalkül und bedeuten vor allem für die Beteiligten den Weg zu inne rem Wachstum und die evolutionäre Vorbereitung für Vereinte Nationen 2.0.
Die Europäische Union durchläuft prinzipiell den gleichen Entwicklungsprozess wie eine politische Nation, deren Staatsgründung in der Regel auf einem selbstbestimmten Werteverständnis basiert oder zumindest dahin führen muss.
Und doch ist es nicht einfach eine neue Nation, ein neuer Staat namens “Vereintes Europa”, der hier entstehen will und soll. Der Unterschied liegt in seiner höheren Komplexität oder besser gesagt in der größeren evolutionären Tiefe. Die Europäische Union ist der Versuch der Kollektivbildung in einem historisch neuen Evolutionsschritt. Im Unterschied zur Entstehung herkömmlicher Kultur-Nationen, deren Zielsetzung darin liegt, Stämme, Ethnien und Kulturen in deren verschiedenen Vorstufen seelischer Individualisierung zu integrieren, bildet die EU eine transnationale Vereinigung, eine Art Meta-Union hoch entwickelter Nationen. Sie ist dabei aber auch kein imperialer Vielvölkerstaat, der von einer dominierenden Kultur bestimmt wird, noch ist sie – wie die USA – eine pluralistische politische Nation mit heterogenen ethnischen Gruppen und Kulturen. Die Mitglieder dieser neuen, postnationalen Gemeinschaft sind – im Idealfall – individualisierte Nationalstaaten. Deren jeweilige Einzigartigkeit stellt dabei eine evolutionäre Errungenschaft dar, die als solche bewahrt oder, in wilberscher Terminologie, “einbezogen und transzendiert” werden soll. Europa wird damit zum Modell – oder zumindest Versuchsprojekt einer nachhaltigen und selbstbestimmten Weltföderation.
Kann dieses entstehende Europa, kann eine künftige Weltunion eine eigene Seele entwickeln? Wenn ko-evolutionärer Gestaltungswille als Merkmal des seelischen Wesens bzw. des authentischen oder evolutionären Selbst gelten kannt, so wie es integrale Lehrer postulieren, trägt Europa Züge einer erwachenden und sich entwickelnden Seele. Was daraus erwachsen kann, ist nicht weniger als eine historisch neue, kollektive seelische Identität, die evolutionär nächste Stufe in Form einer freien Union individualisierter Nationen.
Ein kritisch-integraler Ausblick
Integrale Sicht betrachtet Evolution nicht in mythologischer Heilsgewissheit, sieht jedoch auch nicht den Zufall der Umstände als letzten Bestimmungsfaktor. Die Gründung und Entwicklung der EU mag einer großen seelischen (und memischen) Entwicklungslinie folgen – das Experiment muss trotzdem noch nicht oder nicht in direkter Linie zum gewünschten Ergebnis führen. Jeder Evolutionsschritt ruft seine Widersacherkräfte hervor, und der Kampf der Memes der ersten Ordnung ist auch in Europa noch nicht zu Ende. Im Blick etwa auf das spanische Katalonien, belgische Flandern und britische Schottland ist noch nicht geklärt, ob deren jeweilige Separationsbewegungen Ausdruck mehrerer neu entstehender Nationenwillen in Europa sind – oder eher Rückfall und Aufsplitterung in stammesegoistisches Denken und Struktur bedeuten. In Griechenland, Frankreich, Ungarn, Österreich, den Niederlanden und in weiteren europäischen Ländern formierten sich in den letzten Jahren zudem starke nationalistische Parteien. Ihre Blendungskraft beziehen sie teilweise erneut oder besser noch immer aus pseudomythologischem Sendungsbewusstsein und rassenseparatistischer Nationenordnung.
Und ein anderes Meme könnte sich sogar noch erfolgreicher darin beweisen, die integrale Vision Europas so zu verfälschen, dass den Europäern der Mut und die Lust für ihr evolutionäres Unterfangen abhandenkommen. Gemeint ist ein überhandnehmendes Regulierungsbedürfnis der EU mit – teilweise durchaus “gut gemeinten” – administrativen Kontroll- und Steuerungs zwängen, die vor allem im rationalen Meme ihre Legitimation finden. Sie treten an die Stelle seelischer Individualität, Kreativität und Selbst-Bestimmung, die für die Balance des erstmals frei zusammenwachsenden Europas so notwendig sind.
Es spricht also alles für ein neues, ein integrales Denken. “Ich glaube nicht daran, dass man durch Druck oder harte Sanktionsmechanismen die Mitgliedsländer besser dazu bekommt, sich konstruktiv am europäischen Projekt zu beteiligen. Unter den Euro-Mitgliedsländern muss das Gefühl geschaffen werden, Teil einer Schicksalsgemeinschaft zu sein”, resümiert Henrik Enderlein, Professor für politische Ökonomie und stellvertretender Dekan an der Hertie School of Governance in Berlin135.
Doch lässt sich dieses Selbst-Gefühl nicht erschaffen, man kann ihm nur die Chance zum Wachstum einräumen. Schicksal verweist auf Individualität, auf den jeweils einzigartigen Weg jeder Seele. So wie jedes Mitgliedsland der EU seine nationale Mission und Einzigartigkeit entwickelt hat und bewahren soll, so braucht Europa ein Bewusstsein seiner besonderen Rolle in Gemeinschaft und Geschichte, ein Streben nach Verwirklichung seines Selbst. Dieses Selbst wird bereit, erstmals das neue evolutionäre Modell einer transnationalen Globalität in die Welt zu bringen. Es ist dies sicher eine der Schicksalsaufgaben Europas, um genau zu sein, zunächst jedes einzelnen Europäers, so er den evolutionären Ruf verspürt, in seiner eigenen Persönlichkeit die Heilung und Transformation des nationalen Bewusstseins vorwegzunehmen und für die Gesellschaft zu initiieren.
Von den ersten Erfahrungen und Modellen dieses persönlichen und zugleich die eigene Gesellschaft mit einbeziehenden Entwicklungsweges handelt das folgende Kapitel.
Kapitel 9
Transformatorische Praxis – die Bedeutung des Einzelnen
Eine Kernfrage: Wie kann der Einzelne die Seele seiner Nation erfahren?
Demagogen versuchen bis in die Gegenwart mit unheilvollen Folgen, ihren Mitbürgern eine nationalistische Schattengestalt als “nationale Seele” zu verkaufen. Tatsächlich perpetuieren sie damit nationales Ego.
Integrales Seelenverständnis stellt sich weder als mythische Ideologie noch als empirischer Fakt dar. Sie lädt ein und fordert sogar die Verifizierung (oder auch nicht) durch die eigene Erfahrung. Die Begegnung mit der Seelennatur des Landes hat die heutiger evolutionärer Zeit entwickeltere Erfahrungsmöglichkeit des eigenen Selbst zur Voraussetzung. “(Nur wer) zu seinem eigenen Seelischen Wesen erwacht ist, ist (auch) in der Lage, sich des Selbst seines Landes bewusst zu werden”, sagt der indische Denker Nolini Kanta Gupta136.
Bisherige Evolution führt in integraler Interpretation zur Individualität. Der memisch entwickelte Einzelne hat das Potenzial zu genügend freiem Denken und Handeln, um sich seiner seelischtranspersonalen Natur bewusst zu werden. Der gegenwärtige Übergang vom rational-postmodernen in das integrale Meme ist Zeichen dieses evolutionären Mega-Schrittes. Es ist der Beginn der Weitung und Tiefung des seine Seele erfahrenden Individuums, die diesen zum ko-evolutionären Partner macht. Der Ein zelne wird erstmals zum bewussten Mitgestalter nicht nur der eigenen Entwicklung, sondern auch der kollektiven Evolution.
Integrales Bewusstsein erfordert und legt Grundlagen für die Heilung und Transformation der eigenen und der nationalen Identität. Wenn Mitglieder einer Nation diesen Integrationsprozess angehen, initiiert und fördert das den seelischen Transformationsprozess des Landes. Dabei ist in integraler Sicht weniger die Quantität der Beteiligungen als vor allem die jeweilige Bewusstseinstiefe des Prozesses entscheidend137.
Für das Kollektiv wie für den Einzelnen besteht der erste Schritt dieser Transformation darin, die nationalen und damit auch eigenen Seeleneigenschaften in einem bewussten Akt für sich anzunehmen und zu integrieren. In dem Prozess dieser Integration und Bewusstwerdung erwächst ein tieferes Verständnis dafür, welche Prägungen des Umfelds und damit auch des Landes, in dem ein Mensch geboren wird, sich auf seine Seele auswirken. Oder, je nach weltanschaulicher Ausrichtung, weshalb die eigene Seele sich entschlossen hat, in diesem Leben in einem bestimmten Land geboren bzw. von einer speziellen Nation geprägt zu werden. Es liegt dem die Vorstellung zugrunde, dass die jeweiligen nationalen Qualitäten einen erheblichen Teil des Potenzials bilden, mit dem das Seelische Wesen in diesem Leben arbeiten will und kann.
Das gilt auch für die Schattenseiten dieser Nation. Ein wichtiger Teil der seelischen Lebensaufgabe besteht darin, sich ihnen zu stellen und ihre Botschaften zu hören, zu “erlösen” und zu integrieren.
Ken Wilber und der von ihm ausgelösten Integralen Bewegung gebührt das nicht hoch genug anzurechnende Verdienst, psychologisch-therapeutische Schattenarbeit und spirituelle Disziplin zum ersten Mal in komplementärer Zusammenschau zu beschreiben. An diesem Wendepunkt der Evolution, darin ist sich Wilber mit Sri Aurobindo einig, haben wir nur die Möglichkeit, uns weiter oder höher zu entwickeln, wenn wir gleichzeitig in unsere Tiefe, in unser Unterbewusstes gehen. Das machte früher weder für den (mythisch) weltentsagenden Bettelmönch und Saddhu Sinn, noch stellt es heute für den diesseits orientierten (rationalen) Verstandesmenschen eine zwingende Notwendigkeit dar. Für die Entwicklung eines integralen, das heißt sowohl transzendenten wie weltimmanenten Bewusstseins wird jedoch dieser Tiefengang unabdingbar. Er wird, wie am Beispiel Deutschlands mahnend deutlich wird, wesentliche Voraussetzung, um die Täuschung des Egos von der Stimme des Seelischen Wesens unterscheiden zu können. Wilber sieht es nüchtern als eine Art evolutionäre Ökonomie138.
Wie bereits erörtert, steht dieser zunächst vom einzelnen Angehörigen einer Nation angegangene Schritt in Relation mit dem seelischen Feld des Kollektivs. Soleil Aurose, Mitbegründerin der – nachstehend beschriebenen – Soul of Nations-Workshops, vergleicht diese seelische Dynamik mit einem morphogenetischen oder homöopathischen Effekt. Es ist die empirisch kaum nachweisbare, gleichwohl vielfach bestätigte Wirkungsmöglichkeit einer scheinbar vernachlässigbar minimalen Potenz auf den ganzen Organismus, ein Vorgang, wie er ebenso in der Quantentheorie beschrieben wird. Damit vergleichbar ist die initiatorische Auswirkung, welche die Integrations- und Heilungsarbeit des Einzelnen auf das seelische Feld der Gesellschaft haben kann, wenn er die internalisierten Qualitäten und Schattenaspekte seines Landes zur Bewusstwerdung bringt.
“Ganz sicher müssen die Nationen sich ihre Schatten anschauen, und das gilt global. Aber das muss beim Individuum anfangen. Alle Nationen haben riesige Schatten, und das wird weiterhin so sein. […] Das ist ein globales Phänomen, aber es kann nur individuell geheilt werden. Von unten nach oben, nicht andersrum”, kommt der New Yorker Therapeut und Heiler Abdi Assadi zu einem ähnlichen Resultat139.
Zugrunde liegt dieser Sicht die eigentlich sehr einfache Beobachtung, dass Einzelne in einem gegebenen Leben in überdurchschnittlicher Häufung zumindest einige Qualitäten mit dem sie prägenden oder mit ihnen besonders räsonierenden Land gemeinsam haben. Das gilt ebenso für Schattenaspekte, die das kollektive Ego dieser Nation – im unterschiedlichen Grad – mit allen Angehörigen des Landes teilt.
Die spezifischen Qualitäten der uns prägenden Nation (oder Nationen) können wir lernen, mit Dankbarkeit – nicht Stolz! – als dessen inneres Erbe anzunehmen. Sie werden zu Werkzeugen und Ressourcen für unsere eigene Entwicklung in diesem Leben. Und auch – und vielleicht besonders – die nationalen Schattenaspekte können nach ihrer Klärung als bewusste Bereicherung und Befreiung unserer Seelen-Persönlichkeit erfahren werden. Die Schattenarbeit besteht in der Klärung und Heilung früher Wunden, Träume, Verleugnungen, Verzerrungen und Abspaltungen. Sie stammen aus langen Wachstumsperioden, in denen sich unser eigenes wie das Ego unserer früheren Länder noch dominierender auswirkte140.
C. G. Jung spricht vom Reifeprozess der seelischen Individuation. Dieser impliziert die Arbeit am eigenen Schatten, an den unintegrierten Teilen unserer Vergangenheit. Diese Klärung wird zur Voraussetzung für “erwachsene” Beziehungen zwischen Individuen sowie, übertragen auf das Nationale, für Frieden zwischen Ländern und Staaten. Wie wir wissen und immer wieder erfahren müssen, können rationale Appelle und Argumente allein für dessen Bewahrung nicht ausreichend sein.
Die Ähnlichkeit der Schattengestalt
Die Schattenarbeit, so wie sie in den Soul of Nations-Workshops eingesetzt wird, geschieht im Lichte unseres eigenen seelischen Feldes. Dieses Feld so unmittelbar wie möglich zu erfahren und zu erkennen ist deshalb Voraussetzung aller integralen Transformations- und Schattenarbeit.
Tatsächlich gibt es keine Garantien für innere Prozesse dieser Art, weder im individuellen noch im kollektiven Bereich. Wir können nur eine uns entsprechende Methode sowie unsere äußeren und inneren Begleiter sorgfältig auswählen. Um die Transformation zu einem heute möglichen, evolutionär neuen Bewusstsein zu erreichen, brauchen wir zunächst eine starke innere Ausrichtung, Hingabe und Vertrauen. Sri Aurobindo bezeichnete diesen Transformationsprozess in Anlehnung an vedische Tradition als Integralen Yoga. Die innere Hingabe richtet sich, spirituell gesehen, an die evolutionäre Kraft des Höchsten Bewusstseins, in indischer Mythologie an die Shakti, die uns als eine Art innerer Guru unterstützt. Diese Hingabe bedarf zugleich unserer ganzen Initiative, das heißt aktiver innerer und äußerer Aktivität wie Meditation, Arbeit, Lernen sowie der seelisch begleiteten Integrations- und Schattenarbeit.
Sobald die Mitglieder einer Nation diesen Weg zu ihrer eigenen seelischen Natur entdecken, finden sie auch unmittelbaren Zugang zur Essenz ihres Landes: Das seelische Feld ist eine tiefe, dem Individuum wie dem Kollektiv innewohnende Gemeinsamkeit. Die Beziehung des Einzelnen zu seinem Land wandelt sich zu einer ko-evolutionären Seelenpartnerschaft. Das Land hilft seinen Angehörigen bei deren seelischer Individuation, umgekehrt unterstützen die Individuen ihr Land bei dessen Heilung – zum Beispiel der Vergangenheitsbewältigung – und Integration. Es ist die Erfüllung und Transformation des Nationalen für beide Parteien.
Workshop zur Begegnung mit Seele und Schatten der eigenen Nation
Der von Soleil Aurose und mir entwickelte und seitdem in einer Reihe von Ländern angebotene Soul of Nations-Workshop ist eine praktische Antwort auf diesen evolutionären Ruf. Die Erfahrung der Qualität des Seelischen Wesens im (subtilen) Herzzentrum mithilfe der Hladina-Methode141 ist das große Ziel des ersten Workshopteils. Die Erfahrung ist Unterscheidungsgrundlage für die dann folgende Begegnung mit den in uns jeweils internalisierten Qualitäten und Aspekten unserer jeweiligen Nation. Wir fragen die Teilnehmer dazu im Rahmen einer kontemplativen Übung nach den Seelenqualitäten und den Schattenaspekten ihres Landes: “Was ist es, was du schätzt oder liebst an deinem Land, an seinen Wäldern, Bergen und Küsten, an seiner Alltagskultur, seinem Stil und seinen Umgangsformen, seiner Literatur und Kunst, seinen Medien und seinem Rechtsverständnis?” Fragen dieser Art laden – auch außerhalb eines Workshops – zu spontanen Antworten in Stichwörtern ein. In anderer Formulierung dienen sie anschließend dazu, das mögliche Unbehagen und die Ablehnung deutlich zu machen, die bestimmte Erscheinungsweisen unseres Landes in uns bewirken können.
Diese Zusammenstellung in der Gruppe geschieht pars pro toto und dient als Grundlage für den sich anschließenden, individuellen Heilungs- und Integrationsprozess. Die nächste Frage lautet: “Welche der positiven Qualitäten teilst du mit deinem Land? Welche davon ist diejenige, die du am meisten schätzt?” Da jedes Gefühl sich im Körper niederschlägt, empfiehlt es sich, die Aufmerksamkeit auf jene Stellen zu richten, die sich in völliger Übereinstimmung mit dieser Qualität anfühlen. Dasselbe geschieht mit den negativen Qualitäten und deren unbewusster Verankerung in unserem Körper. Durch ein Eintauchen in diese Stellen entsteht, ähnlich wie in bioenergetischer Tradition, ein Dialog mit den dort vorhandenen Energien. Es ist nicht nur ein Informationsgewinn über die dem Schmerz und den negativen Gefühlen zugrunde liegende psychologische Verletzung (oft in früher Jugend, bzw. den meist turbulenten Gründungsjahren einer Nation). Der noch wichtigere Schritt besteht in der bewussten Integration des verletzten früheren Ich, eine Rückführung in unser Selbst. Auch hier stellvertretend für das seelische Feld des Landes.
In der Tat ist uns im täglichen Leben meist nicht bewusst, wie tief sich Prägungen aus der Kindheit und Jugend im Körper niederschlagen. Ein befreiter Umgang mit der nationalen Identität war für Deutsche jahrzehntelang kaum denkbar. Traumata verbleiben nicht bei der Generation der Kriegsteilnehmer und Kriegskinder, sie breiten sich prägend aus über Generationen, bis Aufarbeitung und Integration geleistet werden. Auch die heutige Generation spürt den Schatten der Vergangenheit, der sich auf sie legt, wann immer sie Fahnen schwenkend ihr Land feiern wollen.
Es wird bei diesen Prozessen deutlich, wie die schlimmsten Schattenanteile diejenigen sind, die Verzerrungen und Fehlentwicklungen von ursprünglichen Seelenqualitäten wiedergeben oder diese einem längst vergangenen Entwicklungsstadium festhalten. “Corruptio optimi pessima”, die “Korruption und Verderbnis des Besten ist die Schlimmste”, lautet eine alte Weisheit142.
Sie bewirkt den fatalen Vertrauensverlust, wenn wir gezwungen werden zu sehen, wie lange wir unsere authentischen seelischen Qualitäten mit deren täuschenden Schatten-Spiegelungen verwechselt haben. Wir drohen den Glauben an uns, um genauer zu sein: an unsere eigene seelische Integrität und an unsere tiefste Unterscheidungskraft zu verlieren.
Deutsche (Nachkriegs-)Teilnehmer des Workshops erhalten an dem Punkt oft eine Ahnung davon, wie aus der verzerrten Zusammenführung deutscher Seelenschatten die monströse Na zi-Ideologie entstand – und was deren spätere Entlarvung an Traumatisierung für die Beteiligten auslöste.
Nach diesen integrierenden und klärenden Schattenprozessen kann die Begegnung des eigenen Selbst mit dem symbolischen, durch die Fülle seiner Qualitäten gekennzeichneten Selbst der Nation stattfinden. Diese Begegnung vermag die gemeinsame Schnittmenge, das heißt die tiefe Verbundenheit mit unserer Nation bewusst zu machen. Daraus folgt meist eine geklärtere Haltung, die sich als mitfühlende und würdigende Dankbarkeit beschreiben lässt, bei der auch Kritik und Unterscheidungsvermögen ihren Platz haben. Ein Prozess, der in mancher Weise dem inneren Mündigwerden des Heranwachsenden gegenüber den eigenen Eltern gleichkommt. Hier ist es das Ende der Patriotismus-Phase des Nationalen, des einseitigen Gehorsams gegenüber Vaterland und Muttersprache und der Beginn einer “Seelen-Partnerschaft” des Einzelnen mit dem eigenen Land. Einer Partnerschaft zum Zweck der gegenseitigen Hilfe bei der Entwicklung einer globalen Identität mit nationalem Erbe143.
Systemische Aufstellungen zum Nationenerbe
Das Soul of Nations-Modell ist eine der ersten Methoden, die explizit die Transformation und Klärung des Bewusstseins nationaler Identität zum Ziel hat. Aber auch andere Ansätze beziehen heilende und klärende Arbeit mit nationalen Schatten in ihre Arbeit mit ein.
Der Deutsche Bert Hellinger kreierte in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts mit seinen Familienaufstellungen eine sehr populär gewordene Neufassung der Systemaufstellungen. Der Begriff meint den Vorgang, wenn aus einem System – einer Familie, einem Unternehmen oder eben einer Nation – einzelne Mitglieder oder auch einzelne Aspekte mittels Repräsentanten in den Raum gestellt und mit deren Hilfe Beziehungen aufgezeigt und bearbeitet werden. Ein wiederkehrendes Thema ist für Hellinger die Aufarbeitung der Schatten der jüngeren deutschen Geschichte144. Tatsächlich bleibt die Heilung der nationalen Wunden und Traumata bei jüdischen wie deutschen Beteiligten auch Jahrzehnte nach dem Geschehen noch eine große Herausforderung. Einer der renommiertesten Psychoanalytiker Nachkriegsdeutschlands bietet dafür eine Erklärung.
Seelische Langzeitfolgen kollektiver Traumata
Der Analytiker und Körperpsychotherapeut Tilmann Moser (geb. 1938) ist spezialisiert auf seelische Spätfolgen von NS-Zeit und Krieg. In seinem Beitrag “Die Wiederkehr des Verdrängten. Psychotherapie und NS-Zeit145” macht er deutlich, dass sich erst mit der Jahrtausendwende die reale Möglichkeit erschloss, die Nazi-Vergangenheit auf einer seelischen Ebene zu verarbeiten. Moser sieht erst die zweite, andere Experten sogar erst die dritte Generation in der Lage, sich einem kollektiven Trauma zu stellen und es zu bewältigen. Diese Erfahrungswerte können auch helfen zu verstehen, warum Vergangenheitsbewältigung in Deutschland anfangs fast nur von außen angestoßen in Gang kam (“Entnazifizierungs”-Initiative der Besatzer) und auch bis circa 1968 nur zögerlich und halbherzig wirkte. Die tiefste, und das heißt die seelische Ebene des Geschehens wurde erst in den jüngsten Jahrzehnten einer gezielten Behandlung zugänglich. Diese Feststellung soll jedoch weniger eine Rechtfertigungsargumentation liefern, sondern Verständnis für seelische Zeitabläufe schaffen. Wie an anderer Stelle dargelegt, ist Deutschland mit seiner Vergangenheitsbewältigung beherzter vorangeschritten als vergleichbare andere Länder. Die Initiative lag bei den späteren Nachkriegsgenerationen junger Deutscher, die sich, auch mithilfe von Psychotherapeuten wie Tilmann Moser, ihrer eigenen, vor allem aber der Vergangenheit ihrer Eltern und Groß eltern stellten. “Erlebnisse, Erinnerungen, Traumata können jahrzehntelang ruhen, abgelagert in unzugänglichen Deponien. […] So ist es auch mit der überwiegenden Summe politisch induzierter Traumata aus NS-Zeit, Holocaust und Krieg. […] Fünf Jahrzehnte nach Kriegsende wird vieles überhaupt erst zugänglich146.”
Gruppenmeditationen als Heilungsfelder
Seit einigen Jahren bietet der junge spirituelle Lehrer Thomas Hübl sogenannte Heilungsmeditationen in Deutschland an. Auch dieser Ansatz ist als Kontrapunkt zu rein rational ausgerichteten Strömungen der Nachkriegszeit einzustufen. Bis zu 900 Teilnehmer versammeln sich an einem bestimmten Tag, um gemeinsam ihren inneren und äußeren Fokus auf die Heilung und Integration kollektiver Schatten des Landes zu legen. “Durch Podiumsdiskussionen, Vorträge und eine gemeinsame Meditation konnte angeschaut und gefühlt werden, was meist tief verdrängt wurde. Wenn es gelingt, die vom Wachbewusstsein abgespaltenen, da zu schmerzvollen, kollektiven Erfahrungen und Emotionen zurück in das bewusste Gewahrsein zu heben, kann heilende Integration geschehen147.”
Das kollektive Feld der Anwesenden soll der therapeutischen Rückgewinnung von Gefühlen dienen. Sie wurden von einem Großteil des Volkes verdrängt, als sich im Verlauf oder spätestens mit dem Ende der Nazi-Herrschaft die tiefsten und höchsten Hoffnungen in die Erfahrung menschenverachtenden Terrors wandelten.
Thomas Hübls Gemeinschaftsmeditationen reihen sich ein in die Skala der vielfältigen Formen deutscher Vergangenheitsbewältigung und kollektiv-seelischer Heilung. Sie haben auch zum Ziel, dem Land zu helfen, wieder Mut zu finden für die eigene Entwicklung. Doch zugleich wird einer Überschätzung des eige nen Prozesses und seiner egoischen Usurpation entgegengewirkt. “Ein Trauma verschwindet nicht, wenn man es loswerden möchte – kein Weg führt daran vorbei, den Fakten ins Gesicht zu schauen und wahrhaft Verantwortung zu übernehmen148.”
Über Meditation und subtile Techniken hinaus bestehen auch andere Möglichkeiten, wie eine Gruppe oder der Einzelne sich in das politische Feld des jeweiligen Landes einbringen können. Zum Ende der Soul of Nations-Workshops ermutigen wir die Teilnehmer, der erlebten inneren Begegnung mit dem Selbst ihres Landes in kreativer Weise Ausdruck zu verleihen. Das kann ein Gedicht sein oder ein Bild, zur Veröffentlichung gedacht oder auch nicht, ein Brief an den zuständigen Abgeordneten oder Einladungen zu Gesprächskreisen mit Freunden und Interessierten. Thema von solchen Begegnungen wäre eine – für die meisten Teilnehmer ungewohnte, aber bereichernde – gemeinsame Betrachtung der seelischen Identität und Verfassung ihres Landes und seiner Schatten, jenseits von Schlagzeilenpolitik und Stammtischperspektive. Eben dies stellt eine Erfahrung und Übung integralen Bewusstseins im Denken und Ausdruck dar, und das heißt auch zu lernen, seelische Wirklichkeit und Subjektivität in alltäglicher Realität zu leben.
Eine Pionierleistung, die auch von ganzen nationalen Gesellschaften erwartet werden kann, wenn sie die evolutionäre Reife und den Übergang zum Integralen erreicht haben.
Die Transformation und Evolution der Nationen, so die integrale Vision, mündet in eine Weltgemeinschaft von Ländern, die sich sowohl ihrer jeweiligen Mission als auch ihrer gemeinsamen inneren Verbundenheit bewusst geworden sind. Integrale Denker sind zwar nicht die Ersten, die das Ziel einer Weltgesellschaft benennen, doch kann ihre Definition dank memischer Integration, Differenzierung und Würdigung weiter tragen, als die Vorstellungen ihrer Vorgänger dazu bewusstseinsevolutionär in der Lage waren.
Zum Vergleich zunächst ein Blick auf ein Modell der rationalen Moderne.
Innerhalb der europäischen Ideentradition war es Dante Alighieri, der im Mittelalter die Idee einer gesamtmenschheitlichen Weltregierung thematisierte. Über Kant und andere fand die Vision dann erst im 20. Jahrhundert wieder starken Widerhall.
In ihrer modernen Version wird die vereinigte Menschheit vor allem in der Gestalt einer Weltföderation der Nationen antizipiert.
Dazu einige kurze Begriffserläuterungen. Eine Föderation ist rechtlich gesehen eine Art Bundesstaat mit mehreren eigenständigen Staaten. Er vereint deshalb in der Regel verschiedene politische Ebenen in sich: eine Bundesebene und eine Ebene der Gliedstaaten. Ein solcher föderativer Staat ist eine Staaten-Union, abgegrenzt sowohl vom lockeren konföderativen Staatenbund als auch vom straff regierten Einheitsstaat149. Im Zusammenhang mit der Vision einer Weltkultur oder Weltgesellschaft steht die Vorstellung eines weltanschaulichen Kosmopolitismus oder Weltbürgertums. Es ist eine weltzentristische Identität, die den ganzen Erdkreis als Heimat betrachtet. Weltbürgertum kann als Gegensatz oder in Ergänzung zur nationalen Identität gedacht werden. Deutsche Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts von Kant über Wieland, Herder, Goethe und Fichte brachten zum Beispiel ihre ausgeprägte kosmopolitische Neigung in Ergänzung und Parallelität zur Vorstellung einer nationalen Individualisierung im kulturellen Sinn zum Ausdruck150.
Die im letzten Jahrhundert entstandene Weltföderalistenvereinigung WFV erarbeitete den Entwurf einer globalen Verfassung als Ausdruck einer künftigen Weltordnung. Ein Weltparlament setzt sich dem Entwurf zufolge aus drei Häusern zusammen: einem Haus der Völker, um die Völker der Erde direkt und gleichmäßig zu repräsentieren, einem Haus der Nationen als Vertretung der Länder, die in der Weltföderation zusammengeschlossen sind, und dem Haus der Ratgeber mit besonderen Aufgaben, “um die höchsten Werte und besten Interessen der Menschheit als Gesamtheit zu vertreten”. Benennungen für Mitglieder des Hauses der Ratgeber erfolgen laut dem Entwurf durch die Lehrer und Studenten der Universitäten und höheren Lehranstalten und der wissenschaftlichen Akademien und Institute jeder “Weltverwaltungsregion151”.
In integraler Perspektive ist dies eine von demokratischer und humanistischer Logik inspirierte Vision eines Weltparlaments, die eine Meme-typische Verengung auf rationale Perspektiven offenbart. Mit anderen Worten, ihr fehlt eine evolutionäre Diffenzierung.
Das Modell geht von einer gleichberechtigten Vertretung der Völker und Nationen ungeachtet ihrer jeweiligen Meme- und Bewusstseinsentwicklung aus. Spiral Dynamics stuft die gegenwärtige Verteilung des blauen, also mythisch-autoritären Bewusstseins auf etwa 70 bis 80 Prozent der Weltbevölkerung ein. Ein Parlament mit diesen Mehrheitsverhältnissen würde wahrscheinlich schon bei seiner konstituierenden Sitzung nach einer starken Führergestalt rufen. Es könnte in Meme-Logik gesehen gar nicht anders handeln.
Es mutet zudem schon in jetziger Postmoderne als überholt an, die Benennung von Repräsentanten für die “höchsten Werte und besten Interessen der Menschheit” allein in die Hände konventioneller Wissenschaftler zu geben. Die deutsche Bundesre gierung berief auch aus Zweifeln an einer über ihr Fachgebiet hinausreichenden Lebenskompetenz von Wissenschaftlern verschiedene Ethikkommissionen ein. Mitglieder sind in der Regel Mediziner, Naturwissenschaftler, Juristen und Theologen. Mit anderen Worten, die deutsche Regierung betrachtet Wissenschaftler allein nicht als geeignete letzte Instanz in moralischen Fragen.
Es gibt auch wenig Grund, davon auszugehen, dass unvollendete Nationen, also Nationen, die ihre innere Mission noch nicht realisiert und ihre Schattenaspekte nur unzureichend bearbeitet haben, sich in einem Weltparlament weniger von ihrem nationalen Ego leiten ließen, als sie das in der heutigen UN und seinem wichtigsten Gremium, dem Sicherheitsrat, zur Schau stellen.
Integrale Antwort:
Die multinationale Weltgemeinschaft
Auch integrale Denker betrachten eine Weltföderation als die geeignetste Struktur, um sowohl dem erforderlichen Freiheitsgrad nationaler Individualität als auch der Notwendigkeit zentraler Antworten auf globale Herausforderungen gerecht zu werden. Dabei gilt es, den jeweils einzigartigen Beitrag jeder Nation zu bewahren. Das Aufgehen aller nationalen Besonderheit in eine uniforme Menschheit – was für rational denkende Planer durchaus ein Ideal darstellen könnte, so man an manche Entscheidungen der EU-Bürokratie denkt – ist eine Vision, die zunächst einige Vorteile aufzuweisen scheint. “Sie mag [eine Zeit lang] politischen Frieden bringen, ökonomisches Wohlergehen, eine perfekte Verwaltung und die Lösung vieler materieller Probleme. Aber was ist gut daran, wenn sie zugleich zur Sterilität unserer Schöpferkraft und zur Lähmung der menschlichen Seele führt152?!”
Mit anderen Worten: Was nützt es dem Menschen, wenn er globale Strukturen gewinnt, aber seine Seele verliert?
Eine gemeinsame Weltkultur kann, wie wir am Beispiel der EU gesehen haben, nur aus Nationen bestehen, die ihr eigenes seelisches Pozential entfaltet und auch ihre Schatten genügend geklärt haben. Erst und nur dann sind sie in der Lage, am Reichtum anderer Kulturen teilzuhaben und sie umgekehrt an ihrem teilhaben lassen. “Dieser Austausch der jeweiligen Qualitäten würde dem gemeinsamen Ziel und Ideal der Weiterentwicklung der Menschheit dienen. Das kann gewiss nicht durch Getrenntheit und Isolation, wohl aber durch eine gewisse Freiheit und Unabhängigkeit erreicht werden. Eine Selbstbestimmung, die keiner artifiziellen Einheit untergeordnet ist153.”
Die dafür bereiten Gesellschaften und Einzelne sind heute aufgerufen, etwas zu erfüllen und zu beenden, was mit Nationengründungen begonnen hat. Es ist zunächst eine Einladung an den Einzelnen, sich im gemeinsamen Quantenfeld des ihn prägenden Landes dessen besonderen Qualitäten und Schattenseiten zuzuwenden. Die integrierten Qualitäten sowie die Botschaften des geheilten Schattens sind nicht nur wichtig für unser persönliches Wachstum, sondern sie klären zugleich den essenziellen Beitrag “unseres” Landes für eine globale Gesellschaft. Er wird, gleich denen der anderen Länder, dringend gebraucht: Die großen globalen Aufgaben wie Bewahrung des ökologischen Gleichgewichts, Friedenssicherung und gerechte Ressourcenverteilung werden nur unter Einbeziehung der verschiedenen Kräfte und essenziell gelöst werden können.
Die Unterscheidung der Qualitäten von ihren Schatten ist auch Voraussetzung, um auf diesem Zukunftsweg nicht erneut der Verführung atavistischer Nationalismen zu unterliegen. Die gute Nachricht: Auf diesem Weg kommt es nicht auf die rechnerische Mehrheit der Bevölkerung, sondern auf das Erreichen einer kritischen Masse und die Tiefe des Prozesses jedes Einzelnen an.
Er ist die Heilung des Nationalen und seine Evolution in ein größeres Bewusstsein, in das Seelenfeld der vereinten Menschheit.
Jenseits aller Erzählungen – Fazit und Beginn
Unsere Gesellschaften sehen sich seit Jahrhunderten im Dilemma zwischen zwei unversöhnlich scheinenden Narrativen der Entstehung von Mensch und Welt. Manche Gesellschaften und ihre Angehörigen erleben und führen diese Polarisierung als erbitterten Kampf, für andere bedeutet sie zumindest eine widersprüchliche Dualität. Der routinierten Glaubensvergewisserung einer mythisch vorgegebenen, unveränderlichen Natur und Bestimmung des Menschen steht die mäandrierende Entwicklungsgeschichte eines in Zufälligkeit und bedeutungsloser Freiheit geborenen Lebens gegenüber.
Eine dritte und grundlegend neue Erfahrung bahnt sich heute ihren Weg. Welt und Mensch sind sowohl unbewegt, in sich ruhend und tragend, als auch evolvierend, frei und sich wandelnd. Evolution im integralen Sinn bedeutet Evolution des Bewusstseins. Sie führt uns zu einem Punkt, an dem es möglich wird, den Koan des gleichzeitigen Seins und Werdens von Welt und Mensch zu verstehen und als eins zu (er-)leben.
In Jahrmillionen entfaltete Evolution in Gestalt von Pflanzen und Tieren bis zum Menschen eine immer komplexere Bewusstheit. Ein erster evolutionärer Quantensprung geschah mit der ontologischen Selbst- und Welterkenntnis von Homo Sapiens. Seine sich über die folgenden Jahrhunderttausende entwickelnde Individualisierung und weitere Bewusstwerdung wurde fortan zum Objekt der Evolution. Anfangs in kollektiver Form, im Laufe der Zeit zunehmend im einzelnen Menschen.
Wenn das Individuum ein genügend hohes Maß an mentaler Freiheit und rechtlicher Selbstbestimmung innerhalb der Gemeinschaft erreicht hat, wird eine weitere Megatransformation des Bewusstseins möglich. Eine wachsende Zahl von Menschen und Gesellschaften spüren den Ruf dieses anstehenden evolutionären Schrittes – vielleicht des größten, den wir bisher in unserer Geschichte vor uns hatten. Es ist die erstmalige Einladung dazu, vom unbewussten Objekt zum bewussten Partner der Evolution zu werden. Ob die Einladung genügend angenommen wird, ist noch nicht zu beurteilen. Doch geschieht es nicht rechtzeitig, so mag auch dieser Wandel weitgehend über unsere Köpfe hinweggehen.
Wirklich nutzen können wir die heute errungene Freiheit nur, wenn wir dazu die seelische Reife erreicht haben, auch die, wie Jean Gebser sie nennt, a-perspektivische Dimension der Welt und unserer selbst zu erfahren. Es ist die notwendige innere Balance zur äußeren Selbstbestimmung. Dem freigewordenen Einzelnen, wie in seinem Gefolge auch nationalen Gesellschaften, öffnet sich heute die große Chance, seine tiefere, seelisch-transpersonale Natur zu entdecken. Es ist das integrale Bewusstsein, das in der Lage ist, Sein und Werden von Mensch und Welt nicht nur ko-evolutionär zu gestalten, sondern auch neu und multiperspektivisch zu erzählen.
Doch zugleich ist dieses seelisch-integrale Bewusstsein nicht mehr nur von Erzählungen abhängig: Es erfährt auch das Jenseits aller Erzählungen. Das Leben aus der A-Perspektivität, aus dem seelischen und transpersonalen Raum in uns, bedarf der Hingabe und des Willens, des Loslassens wie des Lernens. Integrales Bewusstsein bedeutet deshalb nicht nur ein neues Paradigma, sondern heißt und erfordert vor allem die Praxis einer evolutionären Disziplin, eines seelischen Trainings, das Schattenarbeit auf individueller wie kollektiver Ebene beinhaltet.
Erzählungen bleiben weiterhin notwendig. Menschen sind geschichtliche Wesen, doch das heißt nicht nur von Geschichte, sondern auch von Geschichten geprägt. Die Erfahrung der A-Perspektivität bildet dabei den Ausgangspunkt für eine neue Art von Meta-Narrativen, die sowohl die Essenz der vorhergehenden Erzählungen integrieren als auch auf deren kategorische Begrenzungen verweisen. Es sind die Grenzen jeder Erzählung und jedes Weltbildes, und diese treten zurück hinter der Wirklichkeitserfahrung des Lebens und Bewusstseins direkt aus unserem seelisch-transpersonalen Zentrum.
Die neuen Erzählungen sind in der Lage, die obsolet gewordenen Teile früherer Geschichten, Mythen und Erkenntnisse zeitgemäß zu gestalten. Die Entdeckung der wahren evolutionären und integralen Natur der ursprünglich mythisch vorgegebenen, sich vor allem im kindlichen Gehorsamsfeld bewegenden Seele ist dabei vielleicht der entscheidende Schlüssel. Ein anderes in erweiterter Form zu erzählendes Zentral-Narrrativ ist die szientistische Vorstellung vom zufälligen Charakter und der rein biologischmateriellen Natur der Evolution. Und nicht zuletzt gilt es, eine weitgehend verstellte Realität erneut in den Blick zu nehmen: Es ist das einseitige Bild der vor allem als aggressiver und selbstbezogener Machtfaktor auftretenden und konstruierten Nation.
Was anhand des Bedeutungswandels allein dieser drei Begriffe sichtbar werden kann, ist ein grundlegend neues Paradigma. Evolution findet sich teilweise noch umkämpft zwischen Religion und Wissenschaft, Seele und Nation sind im postmodernen Diskurs fast schon aufgegeben. Es braucht eine umfassendere, eine integrale Perspektive, um die weiterentwickelten und gewachsenen Potenziale dieser zentralen Bestimmungsfaktoren zu erkennen und zu definieren. Für Nationen, das Thema dieser hier zu Ende kommenden Betrachtung, zeichnet sich heute bereits am Horizont die Vision ihrer Integration in europäische und andere kontinentale Unionen ab, letztlich in eine Art Weltföderation und eine internationale, planetare Weltgesellschaft. Doch das Wie ist der entscheidende Punkt. Nachhaltige, wirklich transformierende Globalität lässt sich nicht auf den einseitigen Gewissheiten der Memes der ersten Ordnung errichten, weder allein auf mythischem Glauben noch auf bloßem rationalem Kalkül. Integrale Globalität erfordert zunächst die Akzeptanz des auf seine Realisierung hin angelegten Seelenpotenzials der einzelnen Länder, und das heißt auch die Klärung und Heilung ihrer Schatten. Letzteres nicht in unrealistischem Perfektionsanspruch, sondern in einem auf nachhaltige innere Befreiung und Befriedung zielenden Ausmaß. Es ist ein heute möglich gewordener Weg, der Nationen über sich selbst hinauswachsen lässt. Sie finden sich dann als gleichberechtigte Angehörige einer planetaren Menschheit wieder, die sich durch die lebendige Vielfarbigkeit und den schöpferischen und friedlichen Austausch der Nationen und Kulturen auszeichnet.
Die Heilungs- und Integrationsprozesse des Nationalen können viele Formen annehmen. Sie müssen dabei keineswegs dem harten Weg der Deutschen folgen, der das Land erst nach schwerer Schuld und nachfolgendem Trauma hat läutern und reifen lassen. Ein anschauliches Beispiel kann Deutschland gleichwohl bieten. Das Land scheint heute, nach einer trotz aller Unvollkommenheit beispielgebenden Praxis der Vergangenheitsbewältigung, näher denn je an der Realisierung seines Potenzials. Diesmal jedoch, so wie jede authentische Selbstverwirklichung, zugleich zum Wohle der anderen Nationen. Nicht von ungefähr gehört Deutschland zu den Mitgliedstaaten der EU, die über die Jahre hinweg mit am konsequentesten zum Aufbau Europas und – indirekt – zur Entwicklung einer europäischen Seele beigetragen haben. Zunächst wohl vor allem aus dem Wunsch des Entkommens aus dem Nationalen, inzwischen jedoch zunehmend auch in transnationaler Vision.
Viele, wenn nicht die meisten dieser Prozesse geschehen untergründig, mit einer überraschenden Offenbarung im fortgeschrittenen Stadium. Was wir “von außen” ersehen können, ist die – trotz Wahrheitskommissionen, demokratischer Revolutionen und kontinentaler Einigungsbestrebungen – scheinbar noch immer fast ungebrochene Dominanz der nationalen Egos in den meisten Ländern, gleich in welcher Meme-Couleur.
Doch vielleicht werden wir in naher Zukunft immer häufiger zu Zeugen von scheinbar spontanen Wende-Ereignissen wie der Revolutionen von 1989 und 2011, die geeignet sind, das evolutionäre Förderband buchstäblich über Nacht in Gang zu bringen. Der unvermutete Sturz egomanischer Potentaten in einer ganzen Reihe von arabischen Ländern kann zumindest auf längere Sicht den Beginn des memischen Wandels einer ganzen Weltregion in eine säkular-demokratische Ordnung bedeuten.
Niemand kann sagen, wo wir heute genau stehen auf diesem Förderband. Doch wir wissen, dass es für uns jetzt dringend darum geht, es von oben, aus der Mitte, von unten oder von wo immer wir uns befinden, rechtzeitig in Bewegung zu setzen. Nur so mögen wir die katastrophalen Entwicklungen zu vermeiden helfen, die erfahrungsgemäß bei gewaltsamen Aufbrüchen zu lange blockierter ökologischer, ökonomischer, gesellschaftlicher und weltanschaulicher Strukturen entstehen.
In ökologischer Hinsicht versuchen wir den Global Change, den Globalen (Klima-)Wandel zumindest zu mildern, wenn nicht aufzuhalten. In seelischer Dimension, in der wir ebenso wie auf ökologisch-biologischer Ebene im Tiefsten eins sind mit unserer Umwelt, gilt genau das Gegenteil. Hier sind wir aufgerufen, rechtzeitig, das heißt so schnell wie möglich, einen Globalen Wandel herbeizuführen. Und ebenso, doch noch viel essenzieller als in ökologischer Notwendigkeit, kommt es dabei auf den authentischen Beitrag von jedem Einzelnen an. Um unsere in der Sackgasse gelandete Nationalität weiterzuentwickeln, ist jeder von uns aufgerufen und in der Lage, in ko-evolutionärer Weise die Transformation seiner nationalen Identität für sein Land vorwegzunehmen.
Sri Aurobindo Ghose spricht in neu formulierter vedischer Tradition von den zentralen Qualitäten, die für diesen transformativen Prozess gebraucht werden. Sie umfassen unser männliches wie unser weibliches Sein, das heißt, es bedarf der Mobilisierung unseres gesamtmenschlichen Potenzials. Das eine ist die innere Hingabe an die involvierende, unseren Bestrebungen entgegenkommende Dynamik der liebenden und das Innerste von Erde und Materie erfüllenden und bewegenden Magna Mater, der Großen Mutter, traditionell des weiblichen Aspektes des Göttlichen. Ihr evolutionäres Pendant ist unser tiefstes männliches Potenzial an Mut, Willenskraft und Aspiration für die Navigation unseres vom Höchsten Bewusstsein inspirierten Seelischen Wesens.
Es stehen uns heute fortgeschrittene Werkzeuge und Erkenntnisse für diese ko-evolutionäre Einladung und Aufgabe zur Verfügung, sowohl zur Entdeckung unserer besonderen seelischen Qualitäten als auch für die sie begleitende Schattenarbeit. In wilberscher Lesart gilt es damit unser evolutionäres Potenzial freizusetzen, Sri Aurobindo betrachtet es als Voraussetzung für die Transformation von Körper und Psyche. Es ist die gleiche Chance und die gleiche Aufgabe.
Eine Weisheit besagt, wenn die Nacht am dunkelsten, ist der Morgen am nächsten. Wir spüren die Bedrohlichkeit der heutigen Weltkrise, und viele fühlen sich ihr in innerer Einsamkeit ausgesetzt, getrennt von Sinn und Vertrauen. Die Einseitigkeit der bisher erst rationalen Aufklärung (engl.: Erleuchtung) hat uns weiter denn je sowohl von der uns umgebenden als auch von unserer wahren Natur entfremdet.
Doch ebendiese Perspektive bitterer Getrenntheit kann uns den letzten Anstoß geben, die Schwelle zu einer evolutionär er weiterten Erfahrung des Einsseins zu überschreiten. Sie lässt uns zum ersten Mal das transreligiöse wie transrationale Wunder eines zugleich universalen und individualisierten Selbst erfahren.
Es ist dieses neue Bewusstsein, das uns erlaubt, die jeweiligen Besonderheiten und Missionen der Nationen nicht mehr im Wettstreit, sondern in vielgestaltiger Einheit zu erfahren. Es braucht die Ahnung einer globalen Identität, um diese Missionen zu verwirklichen und nationale Schatten zu klären. Ein individuelles und menschheitliches Weltempfinden, das zum Ausgangspunkt für Entwicklungen in heute noch kaum vorstellbare Zukunftsdimensionen werden kann.
In ein künftiges Bewusstsein, das immer schon war – und das in unendlicher Gestalt und in Myriaden von Gesichtern und Identitäten immer neu geboren wird.
Es ist für mich Wunsch und Freude, meinen Dank für die vielfältige Inspiration und Unterstützung für dieses Buchprojekt zum Ausdruck zu bringen. Das Thema beschreitet neue Wege, die ohne Beistand und Ermutigung noch kaum gangbar erschienen. Herzlichen Dank an die Mitglieder der frühen Studiengruppe für einen deutschen Pavillon in Auroville; an Isa Wagner und Georg Stollenwerk vom Sri Aurobindo Center Berlin; an Raphaele Schlitt, Lieselotte Reinecke, Dschen Reinecke, Michela Robinson, Thomas und Karen Klein und die weiteren Förderer; an die empathische und ermutigende Lektoratshilfe von Angela Kuepper; sowie für das Vertrauen von Jens Heisterkamp vom Info3 und Christian Strasser vom Europa-Verlag.
Großer Dank geht an meine Frau und Workshop-Partnerin Soleil Aurose für ihr allzeit stärkendes und unerschütterliches Vertrauen.
Über die Gegenwart hinaus spüre ich eine innere Verbundenheit mit den Repräsentanten des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Einige derer aus heutiger Sicht visionären Gedanken gingen zentralen Aussagen dieses Buches voraus.
Mein tiefster Dank ist Sri Aurobindo und Mira Alfassa, Der Mutter, vorbehalten. Das Buch hätte nicht entstehen können ohne die kaum zu ermessende geistige und yogische Leistung dieser beiden Pioniere eines neuen, integralen Bewusstseins.
Ashland, Januar 2014
Wolfgang Johann Aurose
Aurobindo, Ghose: Das seelische Wesen. Pondicherry 1996
Aurobindo, Ghose: Zyklus der menschlichen Entwicklung. Planegg 1992
Burleigh, Michael: Die Zeit des Nationalsozialismus – eine Gesamtdarstellung. Frankfurt/M. 2000
Gellner, Ernest: Nations and Nationalism. New York 1983
McIntosh, Steve: Integral Consciousness and the Future of Evolution. St. Paul 2007
Meade, Michael: Fate and Destiny. Seattle 2010
Needleman, Jacob: The American Soul. New York 2003
Özkirimli, Umut: Contemporary Debates on Nationalism. New York 2005
Rifkin, Jeremy: Der Europäische Traum. Frankfurt/M. 2006
Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre. München 2007
Smith, Anthony D.: National Identity. Reno–Las Vegas–London 1991
Vrekhem, Georges Van: Hitler and his God. Pondicherry 2005
Wilber, Ken / Patten, Terry et al: Integral Life Practice. Boston–London 2008
Wilber, Ken: Integral Psychology. Boston–London 2000
1 gedichte.xbib.de/Fallersleben_gedicht_Ausl%E4nderei.htm
2 Paul Bloom: “Why we like what we like”. Observer. 23 (8), 3, 2010. (Übers. des Autors)
3 A. H. Almaas: Forschungsreise ins innere Universum. Arbor 2007, zitiert bei:
www.ganzheitliche-gesundheit.info/index.php?main=seele&sub=wahre_natur_ der_seele
4 “Forscher entdecken heute, dass es keine singuläre ›Identitätsstelle‹ im Gehirn gibt. Stattdessen nutzt das Gehirn verschiedene neuronale Regionen, die eng miteinander kooperieren, um die Identität unserer selbst und die von anderen aufrechtzuerhalten und laufend fortzuführen.” New York Times vom 8.8.2009 (Übers. des Autors)
5 Thomas Metzinger in ZEIT 50/1995
6 Lu De Vos: Dialektik, in: Paul Cobben et al. (Hg.): Hegel-Lexikon. WBG, Darmstadt 2006, Seite 18
7 Ein faszinierendes Modell entwickelten etwa Komplexitätstheoretiker wie Ervin Laszlo, Stuart Kauffman oder Hermann Haken. Sie sehen Evolution nicht mehr auf Zufall und natürlicher Selektion beruhend, sondern erkennen eine Fähigkeit dynamischer Systeme, spontan Systeme höherer Ordnung hervorzubringen.
“Nach Ansicht der Komplexitätstheoretiker ko-evolviert alles im Universum, d.h. Entwicklung findet gemeinsam auf vielen Ebenen statt und beeinflusst sich gegenseitig. Wenn sich ein bestimmtes dynamisches System auf Chaos und Ungleichgewicht zubewegt, verändert es sich ab einem gewissen Zeitpunkt in einen komplexeren und intergrierteren Zustand. Durch diesen Prozess der ›Selbstorganisation‹ oder ›Emergenz‹ werden neue Potenziale gebildet.”
Magazin “What is Enlightenment”, 23, Frankfurt/M. 2009, Seite 76
8 “Evolution ist ein umgekehrtes Agieren der Involution: Was im Rahmen der Involution einer ultimativen und letzten Ableitung entspricht, tritt in der Evolution zuerst in Erscheinung.”
Sri Aurobindo: Volume 12 [CWSA] (Essays Divine and Human; The Evolution of Consciousness). Pondicherry 1997, Seite 166 (Übers. des Autors)
9 Doch auch Involution bleibt in Sri Aurobindos Vision ein andauernder, ein der Evolution antwortender Prozess. Sobald der Mensch sich seines seelischen Selbst als Träger der Bewusstseinsevolution bewusst wird, antwortet das Höchste Bewusstsein diesem Erwachen.
10 Für Hegel ist die Seele kein “fertiges Subjekt”, sondern eine Entwicklungsstufe des Geistes. Gleichzeitig stellt sie die “absolute Grundlage aller Besonderung und Vereinzelung des Geistes” dar, d.h. sie ist universal und individuell zugleich.
Vgl. Hegel: Enzyklopädie, 1830, § 387 A und 389
11 Herder in: Rüdiger Safranski: Romantik – Eine deutsche Affäre. München 2007, Seite 24
12 Tom Huston: Eine kurze Geschichte der Evolutionären Spiritualität, auf:
evolutionaerespiritualitaet.blogspot.com
13 Vgl. Mircea Eliade: Die Sehnsucht nach dem Ursprung. Frankfurt/M. 1976
14 Ken Wilber: Eros, Kosmos, Logos. Frankfurt/M. 1996, S. 259. Vgl. auch:
integralesleben.org/il-home/il-integrales-leben/grundlagen-des-integralen/kurz-gefasst/
15 Eine Anmerkung zur Geschichte der europäischen Rezeption indischer Philosophie: Der im 19. Jahrhundert in seinem Heimatland außerordentlich einflussreiche britische Philosoph James Mill schilderte in seinem Hauptwerk den “primitiven Aberglauben der Eingeborenen” in einem kolonialen Herrschaftsgebiet Großbritaniens. Gemeint war Indien mit seiner Philosophie und Spiritualität. Majeed, Javed, Ungoverned Imaginings: James Mill‘s The History of British India and Orientalism. Oxford: University of California Press, 1992, 225 pp.
Tatsächlich waren die Briten auf eine der ältesten und – hinsichtlich ihrer geistigen und spirituell-psychologischen Kultur – zivilisiertesten Gesellschaften der Welt gestolpert. Unglücklicherweise wurde diese britische Sicht von Indien für Jahrhunderte zur vorherrschenden Weltmeinung.
Es waren nicht zufällig neben anderen europäischen Gelehrten vor allem deutsche Indologen und Forscher wie Max Müller, Otto von Böhtlingk oder August Wilhelm Schlegel, die, von der früh-integralen Philosophie der Romantik angeregt, die abendländischem Denken ebenbürtige Substanz indischer Philosophie und Geistigkeit als Erste erkannten und explizit benannten.
16 “Die Seele ist unbewegt nur in dem Sinn, dass sie das gesamte Potenzial des Göttlichen in sich trägt. Aber ihre Aufgabe ist es, sich zu entwickeln, und für diese Evolution nimmt sie die Gestalt einer sich entwickelnden, seelischen Individualität an, die hinter der Erscheinungsformen des Verstandes, der Lebenskraft und des Körpers wächst, bis sie in der Lage ist, diese unbewussten Erscheinungsformen (Prakriti of Ignorance) in zu ihrer wahren Natur erwachte Erscheinungsformen (Prakriti of Knowledge) zu transformieren.”
Sri Aurobindo, Volume 22-23-24 [SABCL] (Letters on Yoga), Pondicherry 1997, Seite 268 (Übers. des Autors)
17 Die dritte Evolutionsphase führt in Sri Aurobindos Vision über Zwischenstufen letztlich zur Manifestierung des “Supramentalen Bewusstseins” und zur Transmutation und Weiterentwicklung von Körper und Materie.
18 Zwar ordnet Sri Aurobindo etwa das Aufkommen der rationalen Bewusstseinsphase zunächst mehr “dem Westen” zu, aber an anderen Stellen macht er deutlich, dass er die spezifischen Merkmale der jeweiligen Bewusstseinsphasen – ähnlich dem SD-Modell – überall in grundsätzlich zwingend gleicher Abfolge, wenn auch in verschiedener Verteilung und Dauer sieht. Vgl. Sri Aurobindo: Zyklus der menschlichen Entwicklung. Planegg 1992, Seite 18 ff.
19 Die Aufgabe des Individuums ist es, seine Individualität von innen heraus (“seelisch”) zu gestalten und zugleich die gleiche freie Entwicklung bei den anderen zu respektieren, und sie dabei zu unterstützen, wie auch sich von ihnen helfen zu lassen. Seine Aufgabe ist auch sein Leben mit dem Leben der sozialen Gemeinschaft in Einklang zu bringen und sich als Kraft für das Wachstum und die Vervollkommnung der Menschheit zu verausgaben. Umgekehrt ist es auch Aufgabe der Gemeinschaft, … die freie Entfaltung des Individuums zu fördern und sich von ihm helfen zu lassen.” Sri Aurobindo: Volume 25 [CWSA] (The Human Cycle). Pondicherry 1997, Seite 71 (Übers. des Autors)
20 Vgl. Anthony Smith: National Identity. London 1993
21 Vgl. Umut Özkirimli: Contemporary Debates on Nationalism. New York 2005
22 Vgl. Umut Özkirimli, a.a.O., Seite 15 ff.
23 Valery Tishkov: Ethnic and Racial Studies. Online publication 2000, Vol. 23 (4): 625–650 [p. 627] (Übers. d. Autors)
24 Vgl. Ernest Renan: Qu’est-ce qu’une nation? Conférence fait en Sorbonne, le 11 mars 1882. In: Henriette Psichari (Hrsg.): Œuvres complètes de Ernest Renan. Bd. 1, Paris 1947, Seite 895–905
25 “Cultural Nationalism in Herder”, Journal of the History of Ideas [June 1956], Seite 407 (Übers. d. Autors)
26 Safranski, a.a.O., Seite 27
27 Vgl. Johann Gottlieb Fichte (1808): Reden an die deutsche Nation. In: Philosophische Bibliothek. Bd. 204, 5. Auflage, Meiner, Hamburg 1978
28 Vgl. Johannes Heinrichs: Gastfreundschaft der Kulturen. Blaue Eule 1994, S. 55
29 Zitiert bei J. Heinrichs, a.a.O., Seite 56
30 www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/borchmeyer_weltliteratur.pdf
31 Vgl. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1980, Kapitel III, Seite 68
32 Vgl. Anthony Smith, a.a.O., Seite 28
33 Vgl. Sri Aurobindo: Zyklus, a.a.O., Seite 38
34 Sri Aurobindo: Zyklus, a.a.O., Seite 39
35 Sri Aurobindo: Life Divine. CetEd Vol 19, pp694 (Übers. d. Autors)
36 Vgl. Sri Aurobindo: Volume 10 (Thoughts and Aphorisms). Pondicherry 1997, Seite 307
37 Vgl. Sri Aurobindo: Zyklus, a.a.O., Seite 47
38 ARD Online tagesschau, 20.2.2012, Hintergrund Auschwitz auf:
www.tagesschau.de/inland/meldung64616.html
39 Dr. Edda Bars: Der Aufgang des Abendlandes. Freiburg 1988, Seite 15
40 Peter Watson: Der Deutsche Genius. Gütersloh 2010
41 Magazin Info 3, 5/2011, Seite 38
42 a.a.O.
43 Johannes Heinrichs, a.a.O., Seite 79
44 Thomas Mann: Essays, Band 5. Frankfurt 1996, Seite 272 f.
45 Dieses und die vorigen Zitate siehe: Sri Aurobindo: Zyklus, a.a.O., Seite 43 ff.
46 de.metapedia.org/wiki/Deutsche_Größe
47 Die Lebensreform – Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Darmstadt 2002. Ausstellungskatalog Bd.1, Seite 18 ff.
48 Rüdiger Safranski zeigt auf, wie nicht zuletzt aus pseudo-romantischen Wurzeln einige der giftigen Blüten des Nazi-Kults trieben. Vgl. R. Safranski, a.a.O.
49 de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_deutschen_Nobelpreistraeger
50 SPIEGEL Online, 27.1.2014, Feldzug der Friedliebenden
51 Vgl. Josef Lehmkuhl: Der Kunst-Messias. Richard Wagners Vermächtnis in seinen Schriften. Königshausen & Neumann, Würzburg 2009
52 Vgl. Lotte Eisner: Dämonische Leinwand – Die Blütezeit des deutschen Films. Paris 1952
53 Kraft Wetzel und Peter Hagemann widmeten der speziellen Film-Phantastik des Dritten Reichs ihr Buch “Liebe, Tod und Technik, Kino des Phantastischen 1933-1945”. Berlin 1977
Vgl. auch Claudia Pinkas: Der phantastische Film: Instabile Narrationen und die Narration der Instabilität. Berlin 2010
54 Steven Bach: Leni – The Life and Work of Leni Riefenstahl. Abacus 2006
55 Susan Tegel: Nazi Film Aesthetics. Historical Journal of Film, Radio and Television (2006), Vol. 26, Issue 3
56 Siegfried Kracauer: Von Cagliari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. Schriften, Bd. 2. Frankfurt/M. 1979
57 Pincas, a.a.O., Seite 18
58 Vgl. etwa Georges Van Vrekhem: Hitler and his God. Pondicherry 2005 sowie
www.aurobindo.ru/workings/other/van_vrekhem-hitler.htm
sowie Rüdiger Sünner: Schwarze Sonne. Freiburg 2006
59 art-bin.com/art/oduino1.html (Erste Duineser Elegie)
60 Rekorde made in Germany: Was in Deutschland alles spitze ist. Bertelsmann Lexikon 2010
61 “Hesse wird im eigenen Land verachtet oder verklärt, in jedem Fall fast immer missverstanden.” Spiegel Nr. 32, 2012
62 Vgl u.a. Armin Mohler: Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. (1. Auflage 1950, erweiterte 6. Auflage, hrsg. von Karlheinz Weißmann) Graz 2005
63 de.wikipedia.org/wiki/Konservative_Revolution. Zugriff am 26.1.2014
64 Vgl. Detlef Felken: Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur. München 1998
65 Edgar Jung: Deutschland und die konservative Revolution. Preetz 1932, Seite 380
66 Steven E. Aschheim: Grenzüberschreitende Kultfiguren. Das Vermächtnis des deutsch-jüdischen Geistes zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In: Mittelweg 36, 19. Jg., 2010, Heft 6, S. 3–25 , Hamburger Institut für Sozialforschung. In:
www.eurozine.com/articles/2011-01-24-aschheim-de.html
67 Vgl. en.wikipedia.org/wiki/List_of_German_Jews
68 Aschheim, a.a.O.
69 Aschheim, a.a.O.
70 Aschheim, a.a.O.
71 Michael Burleigh: Die Zeit des Nationalsozialismus – eine Gesamtdarstellung. Frankfurt 2000. Der Nationalsozialismus wurde in der Literatur erstmals von Eric Vögelin in seinem Buch “Die politischen Religionen”, Wien 1938, als solche bezeichnet, später von Michael Ley und Julius Scöps, Hrsg.: Der Nationalsozialismus als politische Religion. Philo Verlag 1997. Sammelband mit den Ergebnissen eines Historiker-Symposions in Wien aus dem Jahre 1995
72 ARTE und WDR 1998, Die Schwarze Sonne
73 Sünner, a.a.O.
74 Georges Van Vrekhem, a.a.O.
75 SA Standarte 81, Hessisches Hauptstaatsarchiv, Wiesbaden, Az. 483/2190
76 Burleigh, a.a.O., Seite 322
77 Zitiert bei Theodore Abel: Why Hitler came into power. Cambridge, Mass. 1986, Seite 218 (Übers. d. Autors)
78 Zitiert bei Burleigh, a.a.O., Seite 709
79 Sünner, a.a.O.
80 www.booklooker.de/B%FCcher/Florin+Rosenbergs-Mythus-und-evangelischer-Glaube/id/A01f9pQE01ZZr
81 Safranski, a.a.O., Seite 25
82 Vgl. Integral informiert, Online-Journal der Integralen Bibliothek für die integrale Lerngemeinschaft Nr. 24 Mai /Juni 2010, Michael Habecker: Der Schatten, das Licht und die Nationalseele
83 Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. München 1930, Seite 251
84 SPIEGEL Online, “Nürnberger Prozesse”, 18.11.2005
85 George Orwell: Mein Kampf. New English Weekly, 21.3.1940, zitiert bei Burleigh, a.a.O., Seite 311
86 Jochen Kirchhoff: Nietzsche, Hitler und die Deutschen. Die Perversion des Neuen Zeitalters. Berlin 1990. Studie über die Verführung und Verführbarkeit der Deutschen in der Nazi-Zeit
87 Siehe Aurobindo: Zyklus, a.a.O., Seite 45 f.
88 Rudolf Bahro: Logik der Rettung. Stuttgart/Wien 1987
89 Deutschland erhielt vor und noch bei seiner rasanten Fahrt in den Abgrund tiefempfundene Rückmeldungen und Warnungen. Der legendäre indische Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi etwa wandte sich mit mehreren Botschaften an Adolf Hitler. Am 24. Dezember 1940 schrieb er: “Ich hoffe, dass Sie sich Zeit und Willen nehmen, um zu erfahren, wie ein großer Teil der Menschheit, der unter dem Zeichen internationaler Freundschaft lebt, Ihre Handlungen beurteilt. Wir haben keine Zweifel an Ihrem Mut oder an Ihrer Hingabe an Ihr Vaterland, und wir glauben auch nicht, dass Sie das Monstrum sind, als das Ihre Gegner Sie beschreiben. Aber Ihre Schriften und Ankündigungen sowie die Ihrer Freunde und Bewunderer lassen keinen Zweifel daran, dass viele Ihrer Handlungen monströs und mit menschlicher Würde unvereinbar sind, besonderes in den Augen von Menschen wie mir, die an eine universelle Zusammenarbeit glauben.”
ibnlive.in.com/ Film Gandhi to Hitler, 2012 (Übers. d. Autors)
Sri Aurobindo, indischer Freiheitskämpfer und Yogi auch er, hielt es in dem Stadium nicht mehr für möglich und sinnvoll, sich mit einem moralischen Aufruf an Adolf Hitler zu wenden. Er sah andere Kräfte hinter Hitler, weit jenseits der Erreichbarkeit durch gut gemeinte Appelle.
90 SZ vom 14.1.1998
91 “Wem es mit sich selbst nicht wohl ist, der wird auch kein weites Herz für Fremde entwickeln. Eine werbende Wirkung kann nur eine Lebensform entwickeln, in der die Menschen mit sich und den ihren halbwegs im Reinen sind.”
Gustav Seibt: Kein schöner Land. Kursbuch 141, Sept. 2000. “Das gelobte Land”, Seite 31
92 Erstveröffentlichung dieses Abschnitts Februar 2012 in INFO 3 unter dem Titel “Bescheidener deutscher Beitrag”, hier in überarbeiteter Fassung
93 www.heise.de/tp/artikel/36/36013/1.html
94 www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/09546550903409312#preview
95 a.a.O.
96 “Unter den Primaten scheint der Mensch der einzige mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit zu sein”, lässt sich der heutige Erkenntnisstand evolutionärer Anthropologie zusammenfassen.
“Ungerechtigkeit ist den Tieren egal”. SPIEGEL Online, 28.8.2012
97 Vgl. etwa www.opera-platonis.de/Politeia.html
98 Berthold Meyer: Formen der Konfliktregelung. Wiesbaden 1997, Seite 381
99 www.freeaudiomp3player.de/vergangenheitsbewltigung#Vergangenheitsb ew.C3.A4ltigung_in_anderen_Staaten (link is not valid now)
100 “Im alten Griechenland wurde beim Schließen einer Freundschaft oder eines Vertrages ein Tontäfelchen in zwei Teile zerbrochen, sodass sich die beiden Partner oder auch deren Vertreter jederzeit wiedererkennen konnten. Aus diesem Zusammenfügen (griechisch: symballein) entstand der Begriff Symbol (griechisch: symbolon). Das Symbolon war also das sichtbare Zeichen für eine unsichtbare Wirklichkeit.” www.abenteuer-philosophie.com, Symbole
101 Charlotte Tacke: Denkmal im sozialen Raum: Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert. Göttingen 1995, Seite 18
102 C.G. Jung: Über psychische Energetik und das Wesen der Träume. Olten 1989
103 Willy Brandt: Erinnerungen. Frankfurt/Main 1989, Seite 214
104 Der Spiegel 51/1970, Seite 29 f. “Ein Stück Heimkehr”
105 Jürgen Weiß: B.G. Teubner zum 225. Geburtstag. Edition am Gutenbergplatz Leipzig 2009, Seite 40
106 In: Deutsche Salonlieder 1843 www.von-fallersleben.de/text127.html
107 Gerhard Schröder: Vorwort. In: Bundesminister des Inneren, “Fahnen und Flaggen der Bundesrepublik Deutschland”. Bonn 1955
108 de.wikipedia.org/wiki/Datei:Hambacher_Fest_1832.jpg (link is not valit now)
109 Vgl. Michael S. Cullen: Der Reichstag: Im Spannungsfeld deutscher Geschichte. (2., vollst. überarb. Aufl.) Berlin 2004
110 ultimateheroswelt.blog.de/2009/02/25/25-februar-1994-christos-reichstagsverhüllung-genehmigt-5649652/ (link is not valid now)
111 Als zeitgenössischem Kunstschaffenden kann man von Christo nicht eine Terminologie von Seele und Innerlichkeit erwarten. Immerhin deutet er einen tieferen Bezug der Aktion auf seiner Webseite an. “Der Reichstag steht in einem offenen, auf seltsame Weise metaphysisch anmutenden Raum. Er war immer das Symbol der (deutschen) Demokratie. Die Nazis hatten in dem ihnen verhassten Reichstag keine einzige Sitzung abgehalten. Wir wollten die Essenz dieses Gebäudes offenbaren.” Es ist die seelische Essenz des Landes.
www.christojeanneclaude.net (Übers. d. Autors)
112 Der 9. November – Schicksalstag der Deutschen. Materalien der Bundeszentrale für Politische Bildung 2011
113 www.humanitas-international.org
114 Jacob Needleman: The American Soul. New York 2002, Seite 9 (Übers. d. Autors)
115 SZ, 10.7.2012
116 “Schurken, Helden und viel Nationalismus”. FAZ, 26.02.2006
117 FAZ, a.a.O.
118 FAZ, a.a.O.
119 Mail Online, 29.2.2014
120 www.ucsusa.org/clean_vehicles/why-clean-cars/global-warming/
www.greenwaste.com/recycling-stats (link is not valid now)
122 Vgl. Hemispheres Magazin. United Airlines, Feb. 2013
123 Magazin Scientific America. Feb. 2013, Seite 14
124 House Joint Resolution 62, Native American Heritage Day Act of 2008
125 Jeremy Rifkin: Der Europäische Traum: Die Vision einer leisen Supermacht. Frankfurt/Main 2010
126 Jean Monnet: Uniting Men. New Delhi 2005, Seite 56 (Übers. d. Autors)
127 Vgl. Kenneth N. Waltz: Man, the State and War – A Theoretical Analysis. New York 1965. Vgl. auch Wikpedia “Neorealismus”
128 Jeremy Rifkin: Der Europäische Traum. Frankfurt/M. 2006, Seite 230
129 Vgl. Jürgen Meyer (Hrsg.): Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Kommentar. Baden-Baden 2011
130 Rifkin, a.a.O., Seite 232
131 Vgl. Sri Aurobindo: Ideal of Human Unity. Pondicherry 1962
132 SPIEGEL Online, 30.12.2010
133 www.tagesschau.de/ausland/friedensnobelpreis-eu100.html, 12.10.2012
134 SPIEGEL Online, 2.5.2011. “Europa verdient mehr Europa”
135 SPIEGEL Online. Euro-Krise: Henrik Enderlein: “Teil einer Schicksalsgemeinschaft”, 14.5.2010
136 Nolini Kanta Gupta: The Soul of a Nation. In:
www.auroville.org/thecity/Mother_and_Sri_Aurobindo_on_Evolution_and_Human_Unity.pdf (link is not valid now)
137 Der integrale Bewusstseinsforscher Allan Combs sagt dazu, dass in der individuellen Entwicklung die evolutionäre Zukunft der ganzen Menschheit vorweggenommen wird. Vgl. Allan Combs: The Radiance of Being. Paragon 2002
138 Vgl. Ken Wilber: A Brief History of Everything. Shambhala 2007
139 Abdi Assadi: Schatten auf dem Weg. Kamphausen 2011, zitiert 3.3.2012 auf verlag.weltinnenraum.de
140 Die Portlander Psychotherapeutin Julia Ingram erinnert angesichts dieser über ein einzelnes Leben hinausgehenden Sicht an den indianischen Ältesten, der sagte: “Wenn du etwas in dir selbst heilen willst, musst du sieben Generationen zurück und sieben Generationen weiter gehen.” www.juliaingram.com (Übers. d. Autors)
141 Soleil Lithman: Die Hladina-Methode. Petersberg 2008
142 Vgl. David Hume’s Of Superstition and Enthusiasm (1741). www.bartleby.com/66/95/29595.html
143 Informationen zu den Soul of Nations-Workshops siehe www.soulofnations.com
144 Auch Haim Dasberg von der Holocaust Education Foundation in Newport/USA sieht bei diesen individuellen Aufstellungen die potenzielle Auswirkung auf die nationale Gesellschaft. Er schreibt in seinem Vorwort zu Hellingers Buch “Rachel weint um ihre Kinder” (Freiburg 2004) : “Ich habe die große Hoffnung, dass diese Erfahrungen (die Stellvertreter beider Seiten – der Täter und der Opfer – gehen aufeinander zu und trauern gemeinsam über die Toten) … auch über das Familien-Stellen hinaus auf einer höheren und umfassenderen Ebene wirksam werden.”
145 In: Blickpunkt. EFL-Beratung, Oktober 2002
146 Moser, a.a.O.
Moser betont im gleichen Text auch noch einmal die psychisch übermächtige Rolle der Gestalt Hitlers. So hatte es kein Patient der zweiten Generation gewagt, mit Hitler im Rollenspiel einen Dialog zu führen. Daraus werde ersichtlich, “wie bedrohlich oder berauschend real der ›Führer‹ für die Eltern war”.
147 www.thomashuebl.com/
148 www.thomashuebl.com/
149 “Eine Weltfriedensbehörde, und schließlich ein föderaler Weltstaat [… ] sind zum Weiterleben des Menschen unumgänglich notwendig. [… ] Ich glaube nicht, dass wir gleichzeitig zum Krieg rüsten und für eine Weltgemeinschaft arbeiten können.” So äußerte sich Albert Einstein am 23. Juni 1946 im Sonntagsmagazin der New York Times “Über das neue Zeitalter der Atombomben”.
150 Vgl. Johannes Heinrichs: Sprung aus dem Teufelskreis. Steno Verlag, Varna 2005
151 Vgl. Stephan Mögle-Stadel: Die Unteilbarkeit der Erde. Globale Krise, Weltbürgertum und Weltföderation. Bonn 1996
152 Sri Aurobindo: Volume 25 [CWSA] (The Ideal of Human Unity). Pondicherry 1997, Seite 519 (Übers. d. Autors)
153 Sri Aurobindo, a.a.O.
Als Anmerkung: Dieser Teil der Vision lässt heute an die erwähnten regionalen Unabhängigkeitsbestrebungen in verschiedenen EU-Ländern denken.
Sri Aurobindo hält es im Weiteren für möglich und sogar wahrscheinlich, dass sich Struktur und Gestalt von Nationen unter diesen Bedingungen einer radikalen Transformation unterziehen werden. Was erhalten bliebe, ist das kollektiv-seelische Identitätsfeld dieser unterschiedlich profilierten nationalen Gemeinschaften. Sie könnten sich, wie Sri Aurobindo es ausdrückt, “weniger anstrengende und aufwendige” Formen für ihren nationalen Ausdruck suchen.
Angesichts heutiger IT-Entwicklung ließe sich dabei eine teilweise virtuell gelebte Nationalität vorstellen und noch weiter gedacht an reine Bewusstseinsfelder des Nationalen mit geografischem Schwerpunkt und weltweiter Mobilität.
Aurovilles transnationales Experiment: Das von Sri Aurobindos Werk inspirierte internationale Stadtprojekt Auroville in Südindien bildet eine Art integrales Großexperiment zur Erfahrung nationaler Seelenqualitäten im Kontext einer künftigen Weltgemeinschaft. Eines der Viertel der entstehenden Stadt ist eine “Internationale Zone”, in der die verschiedenen Länder der Erde in Gestalt von Nationen-Pavillons erfahrbar zum Ausdruck gebracht werden sollen. Doch ist hier nicht eine konventionelle Weltausstellung das Ziel, sondern es geht um die Errichtung eines permanenten Lernfeldes mit der Aufgabe, den internationalen Besuchern Aurovilles wie auch den Aurovilianern der beteiligten Nationen die besonderen Qualitäten der seelischen Struktur ihres Landes bewusst zu machen.
Das Viertel ist heute erst anfänglich errichtet, doch die Vollversammlung der UNESCO unterstützte bereits mit mehreren einstimmig verabschiedeten Resolutionen dieses zukunftsorientierte und in seiner Weise einzigartige Experiment menschlicher Einheit. www.auroville.org