Sri Aurobindo
Das Göttliche Leben
Buch 1
Kapitel XXVI. Die aufsteigende Reihe der Substanz
Es gibt ein Selbst, das
aus dem Wesen der Materie ist. Es gibt ein anderes inneres Selbst des Lebens,
das das erstere füllt. Es gibt ein anderes inneres Selbst das Mentals. Es gibt
ein anderes inneres Selbst des Wahrheits-Wissens. Es gibt ein anderes inneres
Selbst der Seligkeit.
Taittiriya Upanishad, II. 1–5.
Sie erklimmen Indra wie eine Leiter. Wie wenn jemand einen Berggipfel nach dem anderen ersteigt, so wird dort das viele klar, das noch zu tun ist. Indra bringt Bewußtsein von Jenem als dem Ziel. Wie ein Falke, wie eine Weihe, laßt Er Sich auf dem Gefäß nieder und trägt es empor. In Seinem Strom von Bewegung entdeckt Er die Strahlen, denn Er schreitet einher in der Rüstung Seiner Waffen: Er läßt sich von der Meeresbrandung der Gewässer emportragen. Als ein großer König erklärt Er den vierten Zustand. Wie ein Sterblicher, der seinen Körper läutert, wie ein Streitroß, das zur Eroberung von Schätzen galoppiert, schleudert Er Seinen Aufruf durch alle Hüllen hindurch und dringt in diese Gefäße ein.
Rig Veda, I.10., I.2; IX.96.19, 20.
Wenn wir überlegen, was uns am meisten den materiellen
Charakter der Materie darstellt, sehen wir, es sind ihre Aspekte von solider
Festigkeit, Greifbarkeit, zunehmendem Widerstand und starker Reaktion auf den
Kontakt durch die Sinne. Substanz scheint eher wahrhaft materiell und real zu
sein in dem Verhältnis, wie sie uns einen soliden Widerstand entgegensetzt und
sich kraft dieses Widerstands als Dauerhaftigkeit einer sinnlich wahrnehmbaren
Form erweist, an die sich unser Bewußtsein halten kann. Je subtiler sie ist, je
weniger dicht sie Widerstand leistet und von den Sinnen auf die Dauer erfaßt
wird, umso weniger materiell scheint sie uns zu sein. Diese Einstellung unseres
gewöhnlichen Bewußtseins zur Materie ist ein Symbol für den wesentlichen Zweck,
für den Materie erschaffen wurde. Substanz geht in den materiellen Zustand über,
damit sie dem mit ihr befaßten Bewußtsein dauerhafte, fest
greifbare Abbilder liefert, an die sich das Mental ruhig halten kann, um darauf
sein Wirken zu gründen, und damit das Leben sie zu handhaben vermag mit
wenigstens relativer Sicherheit von Dauer in der Form, auf die es einwirkt.
Darum wurde in der alten vedischen Formel Erde, als Typus der solideren Zustände
der Substanz, als symbolischer Name für das materielle Prinzip genommen. Darum
ist auch für uns Berührung oder Kontakt die wesentliche Grundlage der
Sinnesfunktionen. Alle übrigen physischen Sinne, Schmecken, Riechen, Hören,
Sehen, gründen sich auf eine Reihe immer subtiler und mittelbarer werdender
Kontakte zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen. In gleicher Weise
sehen wir in der Klassifikation der Sankhya-Philosophie bei den fünf elementaren
Zustandsformen der Substanz vom Äther bis zur Erde, daß für sie eine ständige
Progression vom Subtileren zum weniger Subtilen charakteristisch ist, so daß wir
am höchsten die subtilen Vibrationen des Ätherischen haben und an der unteren
Basis die gröbere Dichtigkeit der irdischen oder festen elementaren Bedingung.
Darum ist Materie die letzte uns bekannte Stufe in der Progression der Substanz
zur Basis kosmischer Beziehung, in der das erste Wort nicht Geist, sondern Form
sein soll, und zwar Form in ihrer äußerst möglichen Entwicklung von
Konzentration, Widerstandsfähigkeit, dauerhafter grober Anschaulichkeit,
gegenseitiger Undurchdringlichkeit, dem Höhepunkt von Unterscheidung, Sonderung
und Teilung. Das ist Absicht und Charakter des materiellen Universums, es ist
die Formel vollendeter Teilbarkeit.
Wenn es in der Stufenfolge der Substanz von Materie zum
Geist eine aufsteigende Reihe gibt, wie das der Natur der Dinge nach sein muß,
so ist sie notwendigerweise durch eine fortschreitende Verminderung dieser für
das physische Prinzip besonders charakteristischen Eigenschaften gekennzeichnet
und durch ein progressives Anwachsen der entgegengesetzten kennzeichnenden
Qualitäten, das uns zur Formel einer rein spirituellen Selbst-Ausdehnung führen
wird. Das bedeutet, daß die Eigenschaften durch immer geringere Bindung an die
Form charakterisiert sein müssen, durch immer feinere Subtilität und
Flexibilität von Substanz und Kraft, durch ein stärkeres gegenseitiges
Sichverschmelzen, Sichdurchdringen, durch die Macht zur Assimilation, zum
Austausch, zur Variation, zur Umwandlung und Vereinigung. Wenn wir uns von der
Dauerhaftigkeit der Form zurückziehen, nähern wir uns der Ewigkeit des
Wesenhaften. Treten wir aus unserem Kräfteverhältnis in der ständigen Absonderung und dem Widerstand der physischen Materie
zurück, so kommen wir hin zum höchsten göttlichen Kräfteverhältnis in der
Unendlichkeit, Einheit und Unteilbarkeit des Geistes. Zwischen grober
Stofflichkeit und reiner Geist-Substanz muß das die fundamentale Antinomie sein.
In der Materie ballt sich chit, die Bewußte Kraft, zur Masse zusammen, um
immer mehr gegen andere Massen der gleichen Bewußten Kraft Widerstand zu leisten
und sich gegen sie durchzusetzen. In der Substanz des Geistes schaut sich reines
Bewußtsein in seinem Empfinden seiner selbst als frei, mit einer wesenhaften
Unteilbarkeit und einem ständig einenden Austausch; das ist die grundlegende
Formel auch im abwechslungsreichsten Spiel seiner eigenen Kraft. Zwischen diesen
beiden Polen liegt die Möglichkeit für eine unendliche Folge von Stufen.
Diese Überlegungen erhalten große Bedeutung, wenn wir
die mögliche Beziehung zwischen göttlichem Leben und göttlichem Mental der
vervollkommneten menschlichen Seele einerseits und dem sehr groben, scheinbar
ungöttlichen Körper oder der Formel physischen Wesens betrachten, in dem wir
tatsächlich existieren. Diese Formel ergibt sich aus einer gewissen festgelegten
Beziehung zwischen Sinnen und Substanz, von der das materielle Universum
ausgegangen ist. Aber ebenso wie diese Beziehung nicht die einzig mögliche
Beziehung ist, so ist auch diese Formel nicht die einzig mögliche Formel. Leben
und Mental mögen sich in einer veränderten Beziehung zur Substanz manifestieren
und andersartige physische Gesetze, andere und umfassendere Gewohnheiten, ja
sogar eine andersartige Substanz des Körpers mit einer freieren Aktion der
Sinne, einer freieren Aktion des Lebens, einer freieren Aktion des Mentals
ausarbeiten. Tod, Zertrennung, gegenseitiger Widerstand und Ausschließlichkeit
zwischen verkörperten Massen derselben bewußten Lebens-Kraft sind die Formel
unseres jetzigen physischen Daseins. Das Joch, das diese Formel, die im
tierhaften Körper ausgedrückt ist, den höheren Prinzipien auferlegte, sind enge
Begrenzung des Spiels der Sinne, Festsetzung innerhalb eines kleinen Kreises im
Raum, Dauer und Macht der Lebensvorgänge, Verfinsterung, lahme Bewegung,
gebrochenes und gehemmtes Tätigsein des Mentals. Diese Dinge sind aber nicht der
einzige mögliche Rhythmus der kosmischen Natur. Es gibt höhere Zustandsformen,
höhere Welten. Wenn deren Gesetz durch irgendeinen Fortschritt des Menschen und
irgendeine Befreiung unserer Substanz von ihren jetzigen Unvollkommenheiten
dieser sensiblen Gestalt und dem Instrument
unseres Wesens auferlegt werden kann, mag es selbst hier zum physischen Wirken
eines göttlichen Mentals und göttlicher Sinne kommen, zum physischen Wirken
eines mehr göttlichen Lebens in der menschlichen Gestalt und sogar zu einer
Evolution auf der Erde von etwas, das wir einen menschlichen Körper von
göttlicher Art nennen könnten. Auch der Körper des Menschen mag eines Tages zu
seiner verklärten Gestalt gelangen. Auch die Erden-Mutter mag in uns ihre
Göttlichkeit offenbaren.
Selbst in der Formel des physischen Kosmos gibt es eine aufsteigende Reihe auf der Skala der Materie, die uns von der dichteren Materie zur weniger dichten, von der weniger subtilen zur subtileren führt. Was liegt aber jenseits des Punkts, mit dem wir den höchsten Begriff dieser Reihe, die höchste supraätherische Feinheit materieller Substanz oder Formulierung von Kraft erreicht haben? Nicht ein Nichts, nicht eine Leere; denn dort gibt es nicht so etwas wie absolute Leere oder wirkliche Nichtsheit. Was wir mit einem solchen Namen bezeichnen, liegt einfach jenseits von dem, was unsere Sinne, unser Mental oder unser subtilstes Bewußtsein erfassen können. Es ist auch nicht wahr, daß es nichts jenseits davon gäbe oder daß eine ätherische Substanz der ewige Uranfang der Materie sei. Wir wissen doch, daß Materie und materielle Kraft nur das letzte Ergebnis einer reinen Substanz und reinen Kraft sind, in denen das Bewußtsein in erleuchteter Weise seiner selbst inne ist und sich in seinem Selbst besitzt, also nicht, wie in der Materie, in unbewußtem Schlaf und träger Bewegung seinem Selbst verloren ging. Was ist also dort zwischen dieser materiellen Substanz und jener reinen Substanz? Wir machen keinen Sprung von der einen zur anderen, wir gehen nicht ohne Obergang aus dem Nicht-Bewußten in absolutes Bewußtsein über. Es muß Grade geben – und es gibt sie auch – zwischen unbewußter Substanz und äußerst selbstbewußter Selbst-Ausdehnung, wie es solche Grade zwischen dem Prinzip der Materie und dem Prinzip des Geistes gibt.
Alle Menschen, die überhaupt in diese Abgründe
eingedrungen sind, stimmen darin überein und bezeugen, daß es eine Reihe immer
subtilerer Formulierungen von Substanz gibt, die mit dem Schema des materiellen
Universums nicht greifbar sind und darüber hinausgehen. Ohne tief in Dinge
einzudringen, die für unsere jetzige Untersuchung zu okkult und schwierig sind,
können wir im Anschluß an das System, auf das wir uns gründen, sagen: man kann
diese Stufenfolgen von Substanz in einem wichtigen
Aspekt ihrer Formulierung in der Reihe sehen und zwar in ihrer Entsprechung zur
emporsteigenden Skala von Materie, Leben, Mental und Supramental und zu jener
anderen höheren göttlichen Dreifaltigkeit von saccidananda. Mit anderen
Worten: wir finden, daß sich Substanz in ihrem Aufstieg auf diese Prinzipien
gründet und sich nacheinander zu einem charakteristischen Träger des
herrschenden kosmischen Selbst-Ausdrucks von jedem in der aufsteigenden Reihe
dieser Prinzipien macht.
Hier in der materiellen Welt gründet sich alles auf die
Formel von materieller Substanz. Sinne, Leben, Denken haben ihre Basis in dem,
was man im Altertum die Erden-Macht nannte. Sie gehen von ihr aus, gehorchen
ihren Gesetzen, passen ihr Wirken diesem fundamentalen Prinzip an, begrenzen
sich durch seine Möglichkeiten und müssen, wenn sie andere Prinzipien entwickeln
wollen, gerade bei dieser Entwicklung die ursprüngliche Formel, ihr Ziel und
ihre Anforderung an die göttliche Evolution berücksichtigen. Die Sinne arbeiten
mittels physischer Instrumente, das Leben durch ein physisches Nervensystem und
vitale Organe. Das Mental muß seine Tätigkeit auf eine dingliche Basis gründen
und materielle Vermittlung verwenden. Selbst seine rein mentalen Betätigungen
müssen die so gewonnenen Daten als Feld und Stoff benutzen, auf die es einwirkt.
In der wesenhaften Natur von Mental, Sinnen und Leben gibt es keine
Notwendigkeit, so beschränkt zu bleiben. Denn die physischen Sinnes-Organe sind
nicht die Schöpfer der Sinnes-Wahrnehmungen, sondern selbst Schöpfung,
Instrumente und hier notwendiges Hilfsmittel des kosmischen Zentral-Sinnes. Das
Nervensystem und die vitalen Organe sind nicht die Schöpfer von Aktion und
Reaktion des Lebens, sondern selbst Schöpfung, Instrumente und hier notwendige
Hilfsmittel der kosmischen Lebens-Kraft. Das Gehirn ist nicht der Schöpfer des
Denkens, sondern selbst Schöpfung, Instrument und hier notwendiges Hilfsmittel
des kosmischen Mentals. Die Notwendigkeit ist also nicht absolut, sondern
zweckbestimmt. Sie ist das Ergebnis eines göttlichen kosmischen Willens im
materiellen Universum, der hier eine physische Beziehung zwischen den Sinnen und
ihrem Objekt herzustellen beabsichtigt, der hier eine materielle Formel und ein
Gesetz Bewußter Kraft festsetzt und dadurch physische Ebenbilder von Bewußtem
Wesen erschafft, die als anfängliche, beherrschende und bestimmende Tatsache der
Welt dienen, in der wir leben. Das ist kein fundamentales Gesetz des Seienden,
sondern ein konstruktives Prinzip, das
erforderlich ist durch die Absicht des Geistes, sich in einer Welt von Materie
zu entwickeln.
Im nächsten Grad von Substanz ist die anfängliche, vorherrschende und bestimmende Tatsache nicht weiter substantielle Form und Kraft, sondern Leben und bewußtes Begehren. Darum muß die Welt jenseits dieser materiellen Ebene eine auf bewußte kosmische vitale Energie, auf eine Kraft vitalen Suchens und eine Kraft von Begehren gegründete Welt und deren Selbst-Ausdruck sein. Ihre Basis ist nicht mehr ein unbewußter oder unterbewußter Wille, der die Form materieller Kraft und Energie annimmt. Von dieser Anfangs-Tatsache von Bewußtem Leben, dem Materie und Mental sich zu unterwerfen haben, müssen alle Formen, Körper, Kräfte, Lebensbewegungen, Sinnenbewegungen, Gedankenbewegungen, Entwicklungen, höchsten Errungenschaften und Selbst-Erfüllungen dieser Welt beherrscht und bestimmt sein. Sie müssen von hier ausgehen, sich darauf gründen, durch ihre Gesetze, Mächte, Fähigkeiten, Grenzen beschränkt oder ausgewertet sein. Wenn das Mental hier noch höhere Möglichkeiten zu entwickeln sucht, muß es dabei auch die ursprüngliche vitale Formel der Kraft des Begehrens, ihren Zweck und ihre Anforderung an die göttliche Manifestation berücksichtigen.
Ebenso ist es bei den höheren Stufen. Die nächste in
der Reihe muß von dem beherrschenden und bestimmenden Faktor des Mentals regiert
werden. Dort muß die Substanz subtil und flexibel genug sein, daß sie die ihr
unmittelbar vom Mental auferlegten Gestaltungen annehmen kann, seiner
Wirkensweise gehorcht, sich seiner Forderung nach Selbst-Ausdruck und
Selbst-Erfüllung unterordnet. Auch die Beziehungen zwischen Sinnen und Substanz
sollen eine entsprechende Feinheit und Biegsamkeit haben und dürfen bestimmt
sein nicht durch Beziehungen wie zwischen physischen Organen und physischem
Objekt, sondern wie zwischen Mental und subtilerer Substanz, auf die das Mental
einwirkt. Das Leben einer solchen Welt wäre dann in einer Weise der Diener des
Mentals, wie sich das unsere schwachen mentalen Funktionen und unsere
begrenzten, primitiven, rebellischen vitalen Fähigkeiten kaum angemessen
vorstellen können. Dort herrscht das Mental als die ursprüngliche Formel, seine
Absicht hat Übergewicht, seine Forderungen haben im Gesetz der göttlichen
Manifestation vor allen anderen Vorrang. In einem noch höheren Bereich ersetzen
das Supramental – oder, in der Zwischensphäre, die von ihm beeinflußten Prinzipien – oder, noch höher, reine Seligkeit, reine Bewußte Macht
oder reines Wesen das Mental und sind dort das vorherrschende Prinzip. Hier
betreten wir die Bereiche des kosmischen Daseins, die für die Seher der alten
Veden die Welten erleuchteten göttlichen Seins und der Ursprung dessen waren,
was sie Unsterblichkeit nannten, was sich spätere indische Religionen dann in
Sinnbildern als Himmel, brahma-loka oder goloka, vorstellten, als
einen höchsten Selbst-Ausdruck des Wesens als Geist, in dem die in ihre höchste
Vollkommenheit befreite Seele die Unendlichkeit und Glückseligkeit der ewigen
Gottheit besitzt. Dieser stetig emporsteigenden Erfahrung und der über die
materielle Formulierung der Dinge hinaus erhobenen Schau liegt folgendes Prinzip
zugrunde: Alles kosmische Dasein ist eine komplexe Harmonie und findet sein Ende
nicht am begrenzten Bereich des Bewußtseins, in dem eingesperrt zu sein sich das
gewöhnliche menschliche Mental und Leben zufrieden geben. Wesen, Bewußtsein,
Kraft, Substanz kommen auf einer vielsprossigen Leiter herab und steigen auf ihr
empor. Auf jeder ihrer Sprossen hat das Wesen umfassendere Selbst-Ausdehnung,
das Bewußtsein ein ausgedehnteres Empfinden seines eigenen Bereiches, seiner
Größe und Freude; die Kraft größere Intensität und raschere, freudvollere
Befähigung; die Substanz gibt ihre Grund-Wirklichkeit subtiler, plastischer,
strahlender und biegsamer wieder. Denn das Subtilere ist auch das Machtvollere,
- man könnte sagen, es ist das wahrhaft Konkrete. Es ist weniger gefesselt an
das Grobe. Es hat in seinem Wesen längere Dauer, zusammen mit größerer
Wirkungsmöglichkeit, Plastizität und Reichweite in seinem Werden. Jedes Plateau
im Bergland des Wesens eröffnet unserer sich ausweitenden Erfahrung eine höhere
Bewußtseinsebene und unserem Dasein eine reichere Welt.
Wie beeinflußt aber diese aufsteigende Reihe die Möglichkeiten unseres materiellen Daseins? Sie würde gar nicht auf sie einwirken, wenn jede Bewußtseins-Ebene, jede Welt des Wesens, jede Art von Substanz, jeder Grad kosmischer Kraft vollständig abgetrennt wäre von dem, was ihm vorausgeht und nachfolgt. Aber das Gegenteil ist wahr. Die Manifestation des Geistes ist ein komplexes Gewebe. In den Entwurf und das Muster eines einzigen Prinzips dringen alle anderen als Elemente des spirituellen Ganzen ein. Unsere materielle Welt ist das Ergebnis aller anderen Welten. Denn die anderen Prinzipien sind alle in die Materie herabgekommen, um das physische Universum zu erschaffen.
Jedes Teilchen dessen,
was wir Materie nennen, enthält sie alle in sich eingeschlossen. Ihr geheimes
Wirken ist, wie wir gesehen haben, in jeden Augenblick ihres Seins und jeden
Augenblick ihrer Aktivität involviert. So wie Materie das letzte Wort der
Herabkunft ist, so ist sie auch das erste Wort des Aufstiegs. So wie die Mächte
all dieser Ebenen, Welten, Stufen, Grade in das materielle Dasein involviert
sind, so sind sie alle auch fähig zur Evolution aus ihm. Aus diesem Grund
beginnt und endet auch das materielle Wesen nicht mit Gasen, chemischen
Zusammensetzungen und physischen Kräften oder Bewegungen, mit Nebeln, Sonnen und
Erdkörpern, sondern es entwickelt Leben, entfaltet Mental und muß zuletzt zur
Evolution des Supramentals und der höheren Grade spirituellen Seins führen.
Evolution kommt zustande durch den unaufhörlichen Druck der supra-materiellen
Ebenen auf die materielle, der sie zwingt, deren Prinzipien und Mächte aus sich
zu entbinden, die andernfalls begreiflicherweise, eingesperrt in die Starrheit
der materiellen Formel, geschlafen hätten. Das ist jedoch so unwahrscheinlich,
da ihr Auftreten einen Zweck ihrer Entbindung voraussetzt. Diese Notwendigkeit
von unten wird aber tatsächlich noch sehr stark durch entsprechenden Druck von
oben unterstützt.
Die Evolution kann nicht mit den ersten dürftigen Formulierungen von Leben, Mental, Supramental und Geist enden, wie sie diesen höheren Mächten von der widerstrebenden Macht der Materie zugebilligt werden. Denn in dem Maß, wie sie sich entwickeln, wie sie erwachen, immer aktiver werden und danach drängen, ihre eigenen Potenzen zu entfalten, muß auch der Druck von den höheren Ebenen auf sie immer mehr an Dringlichkeit, Macht und Wirkungsstärke zunehmen, ein Druck, der in das Dasein, den engen Zusammenhang und die gegenseitige Abhängigkeit der Welten involviert ist. Diese Prinzipien müssen sich nicht nur von unten her in beschränktem und eingeengtem Auftauchen offenbaren, sondern müssen auch von oben in ihrer charakteristischen Macht und dem vollen, ihnen möglichen Aufblühen in das materielle Wesen herabkommen. Die materielle Schöpfung muß sich für ein immer umfassenderes Spiel ihrer Aktivitäten in der Materie öffnen. Nötig dazu ist ein geeignetes Empfangsorgan, ein Medium und Instrument. Dafür ist mit Körper, Leben und Bewußtsein des Menschen vorgesorgt.
Gewiß wäre dieser Körper, dieses Leben und dieses
Bewußtsein nur ein sehr unzureichender Begriff für die Evolution, wenn sie
begrenzt blieben auf die Möglichkeiten des groben Körpers, was alles ist, das unsere physischen Sinne und unsere physische Mentalität akzeptieren.
Der Mensch dürfte dann nicht hoffen, etwas wesentlich Größeres als das zu
vollenden, was er bis jetzt zustande brachte. Dieser Körper ist aber, wie die
alte okkulte Wissenschaft entdeckte, nicht einmal das Ganze unseres physischen
Wesens. Diese grobe Dichte ist nicht unsere ganze Substanz. Die älteste
vedantische Erkenntnis spricht zu uns von fünf Graden unseres Wesens: dem
Materiellen, dem Vitalen, dem Mentalen, dem Idealen und dem Spirituellen oder
dem Glückseligen. Jedem dieser Grade unserer Seele entspricht ein Grad unserer
Substanz, eine Hülle, wie das in der alten Bildsprache genannt wurde. Eine
spätere Psychologie fand, daß diese fünf Umhüllungen unserer Substanz das
Material von drei Körpern seien: des grob-physischen, des subtilen und des
kausalen, in denen allen die Seele gegenwärtig und gleichzeitig wohnt, obwohl
wir hier und jetzt nur oberflächlich des materiellen Trägers bewußt sind. Es ist
aber möglich, daß wir ebenso auch in unseren anderen Körpern unser Bewußtsein
entfalten können. Tatsächlich verursacht das Öffnen der trennenden Vorhänge
zwischen ihnen, das heißt also zwischen unseren physischen, psychischen und
ideellen Personalitäten, jene “psychischen” oder “okkulten” Phänomene, die man
jetzt in wachsendem Maß – jedoch noch zu wenig und zu plump -in ihrer wirklichen
Bedeutung zu erforschen beginnt, während man sie zugleich viel zu sensationell
ausbeutet. Indiens Yogins des alten Hatha-Yoga und des tantrischen Yoga hatten
schon lange aus diesem höheren menschlichen Leben und seinen Körperfunktionen
eine Wissenschaft entwickelt. Sie hatten sechs Nervenzentren des Lebens in dem
dicht-materiellen Körper entdeckt, denen sechs Zentren von Lebens- und
Mental-Fähigkeiten im subtilen Körper entsprechen. Sie hatten subtile physische
Übungen entwickelt, durch die diese jetzt geschlossenen Zentren geöffnet werden
können. Dadurch kann der Mensch in das höhere psychische Leben, das unserem
subtilen Wesen entspricht, eintreten. Es konnten sogar die physischen und
vitalen Widerstände gegen die Erfahrung des idealen und spirituellen Wesens
beseitigt werden. Es ist bedeutungsvoll, daß eines der hervorragendsten, von den
Hatha-Yogins als Erfolg ihrer Übungen ausgegebenen Ergebnisse in vieler Hinsicht
bestätigt wurde: eine Kontrolle der physischen Lebenskraft, die sie von manchem
durch Gewohnheit in uns Fixierten oder von den sogenannten Gesetzen befreit, die
von der physischen Wissenschaft für unabtrennbar vom Leben im Körper gehalten
werden.
Hinter all diesen
Begriffen psycho-physischer Wissenschaft des Altertums liegt das eine große
Faktum und Gesetz unseres Wesens: Hinter dem gegenwärtigen Ausgleich von Form,
Bewußtsein und Macht in dieser materiellen Evolution, was immer er sein mag, muß
ein größeres, wahreres Sein existieren, das auch wirklich existiert, von dem
dieses hier nur das äußere Ergebnis und der physisch greifbare Aspekt ist.
Unsere Substanz endet nicht mit dem physischen Körper. Er ist nur unser
irdischer Sockel, die Basis für unsere Erd-Existenz, der materielle
Ausgangspunkt. So wie es hinter unserer erwachten Mentalität noch unermeßliche
Bereiche von Bewußtsein gibt, die ihr unterbewußt oder überbewußt sind, deren
wir manchmal auf abnorme Art innewerden, so gibt es hinter unserem groben
physischen Wesen andere und subtilere Grade von Substanz mit einem feineren
Gesetz und einer größeren Macht, die den dichteren Körper tragen und fördern.
Wenn wir in die zu ihnen gehörigen Bereiche des Bewußtseins eintreten, können
sie dazu gebracht werden, jenes Gesetz und jene Macht unserer dichten Materie
aufzuerlegen, und wir können so die Grobheit und Begrenztheit unseres
gegenwärtigen physischen Lebens, unserer Impulse und Gewohnheiten durch ihre
reineren, höheren und intensiveren Wesens-Bedingungen ersetzen. Sollte das
wirklich so sein, erscheint die Evolution eines edleren physischen Daseins, das
nicht begrenzt ist durch die gewöhnlichen Bedingungen tierhafter Geburt, durch
Leben und Tod, durch schwierige Ernährung, die dauernde Bedrohung durch
Unordnung und Krankheit sowie das Unterworfensein unter armselige, unbefriedigte
vitale Sehnsüchte, nicht mehr als Traum und Chimäre. Sie wird zu einer auf
rationale und philosophische Wahrheit gegründeten Möglichkeit, die in Einklang
steht mit allem, was wir bisher erkannt und erfahren haben oder was wir uns von
einer offenbaren oder geheimen Wahrheit unseres Daseins denken können.
So sollte es auch vernunftgemäß sein; denn die
ununterbrochene Reihe der Prinzipien unseres Wesens und ihre enge Verbindung
untereinander ist zu offensichtlich, als daß es möglich wäre, ein einziges der
Prinzipien zu verdammen und auszuschalten, während die anderen zu göttlicher
Befreiung fähig sind. Der Aufstieg des Menschen vom Physischen empor bis zum
Supramentalen muß die Möglichkeit eröffnen, daß er auch entsprechend auf den
Stufen der Substanz bis zu jenem idealen und kausalen Körper emporsteigen kann,
der eigentlich zu unserem supramentalen Wesen gehört. Die Eroberung der niederen Prinzipien durch das Supramental und deren Befreiung zum göttlichen
Leben und zu göttlicher Mentalität muß auch den Sieg über unsere physischen
Beschränkungen durch die Macht und das Prinzip supramentaler Substanz möglich
machen. Das bedeutet aber nicht nur Evolution eines unbehinderten Bewußtseins,
unseres Mentals und unserer Sinne, die nicht mehr in die Wände des physischen
Ichs eingeschlossen oder auf die ärmliche Grundlage unserer von den physischen
Sinnesorganen gelieferten Erkenntnis eingeengt sind, sondern auch Evolution
einer Lebens-Macht, die immer mehr von ihren sterblichen Beschränkungen befreit
ist, und eines physischen Lebens, das einem göttlichen Bewohner entspricht in
dem Sinn, daß wir nicht mehr an unsere gegenwärtige körperliche Struktur
gebunden bleiben oder durch sie Restriktionen erleiden, sondern das Gesetz des
physischen Körpers völlig überwinden: das ist der Sieg über den Tod, die
Unsterblichkeit hier auf der Erde. Denn aus der göttlichen Seligkeit, der
ursprünglichen Seins-Wonne, kommt der Herr der Unsterblichkeit und gießt den
Wein jener Seligkeit, das mystische Soma, in diese Gefäße mentalisierter
lebendiger Materie. Ewig und herrlich geht er in diese Hüllen von Substanz ein,
um Wesen und Natur vollständig zu transformieren.