Mutters
Agenda
ersten Band
7. März 1958
(Brief von Satprem an Mutter)
Kataragama, 7. März 1958
Liebe Mutter,
Seit meiner Abreise habe ich nicht aufgehört, fast andauernd Deine Kraft zu fühlen. Und ich empfinde eine unendliche Dankbarkeit, daß Du da bist, daß es diesen Faden von Dir zu mir gibt, um mich an irgend etwas in dieser Welt zu halten. Einfach zu wissen, daß Du existierst, daß ich ein Ziel, einen Mittelpunkt habe – das empfinde ich mit einer unendlichen Dankbarkeit. Am Tage nach meiner Abreise hatte ich auf einer Straße von Madras plötzlich eine durchdringende Erfahrung: ich fühlte, wenn es "das" in mir nicht gäbe, würde ich in kleinen Stücken auf das Pflaster fallen, ich würde zusammenbrechen, es gäbe nichts mehr, nichts. Und diese Erfahrung bleibt. Etwas in mir wiederholt fast andauernd wie eine Litanei: "Ich brauche Dich, ich habe nur Dich, Dich allein auf der Welt. Du bist meine ganze Gegenwart, meine ganze Zukunft, ich habe nur Dich..." Mutter, ich lebe in einem Zustand der Not, wie ein Durst.
Auf dem Weg kam ich bei J. und E. vorbei, die wie eingeborene Fischer leben, mit Lendenschurz, unter Kokospalmen am Rand des Meeres. Der Ort ist von vollkommener Schönheit und das Meer voller vielfarbiger Korallen. So verwirklichte ich plötzlich in vierundzwanzig Stunden einen alten Traum – oder besser gesagt, ich "reinigte" mich von einem hartnäckigen alten Traum: wie ein einfacher Fischer auf einer Insel im Pazifik zu leben. Und plötzlich sah ich in einem Blitz, daß dieser Art des Lebens jeglicher Mittelpunkt fehlt. Man "treibt" im Nirgendwo. Es läßt einen in eine Art höhere Trägheit versinken, eine erleuchtete Trägheit, und man verliert alle wahre Substanz.
Was mich angeht, ich bin vollkommen entfremdet durch mein neues Leben, wie mir selbst entrissen. Ich lebe im Tempel, inmitten der Pudjas, mit weißer Asche auf der Stirn, barfüßig, gekleidet wie ein Hindu, nachts auf dem Zement schlafend, ernährt von unmöglich scharfem Curry, mit einem starken Sonnenstich, um das Dampfbad abzurunden. Da bin ich ganz an Dich geklammert, denn wenn Du nicht da wärest, würde ich zusammenbrechen, alles wäre so sinnlos. Du bist die einzige Wirklichkeit – ich wiederhole mir das wie eine Litanei. Abgesehen davon halte ich physisch gut durch. Aber innen und außen bleibt nichts mehr außer Dir. Ich brauche Dich, das ist alles. Mutter, diese Welt ist entsetzlich öde. Ich habe wahrhaftig das Gefühl, daß ich mich verflüchtigen würde, wenn Du nicht da wärest. Aber nun, ohne Zweifel war es nötig, daß ich diese Erfahrung machte... Vielleicht kann ich ein Buch daraus ziehen, das Dir dienen wird. Wir sind wie Kinder, die viele Bilder brauchen, um zu verstehen, und einige tüchtige Stöße, um unsere vollkommene Dummheit zu begreifen.
Der Swami will bald den Weg zurück durch Ceylon nehmen, um den 20. oder 25. März herum. Ich werde also bis Mai mit ihm herumziehen: Anfang Mai kommt er zurück nach Indien. Ich hoffe, bis dann meine Lektion gelernt zu haben, und zwar gründlich. Im Inneren habe ich wohl begriffen, daß es nur Dich gibt – aber es sind die schrecklichen Kinder der Oberfläche, die endgültig erzogen werden müssen.
Liebe Mutter, es drängt mich, für Dich zu arbeiten. Wirst Du mich noch haben wollen? Mutter, ich brauche Dich so sehr. Ich möchte Dir eine unsinnige Frage stellen: Denkst Du an mich? Ich habe nur Dich, nur Dich auf der Welt.
Dein Kind
Satprem
(Mutters Antwort)
11. März 58
Mein liebes Kind,
Es ist gut, sehr gut – um die Wahrheit zu sagen, geschieht alles, wie vorhergesehen, wie das Beste, was vorhergesehen war. Und ich bin glücklich darüber.
Auf Deine Frage antworte ich: ich denke nicht an Dich, ich fühle Dich; Du bist mit mir, ich bin mit Dir, im Licht...
Dein Platz hier ist leer geblieben; Du allein kannst ihn füllen, und er erwartet Deine Rückkehr, wenn der Augenblick gekommen ist.
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Sobald auch "die schrecklichen Kinder" der Oberfläche ihre Lektion gründlich gelernt haben, brauchst Du nur Deine Rückkehr anzukündigen, und Du bist herzlich willkommen.
Mit Dir immer und überall.
Mutter