Mutters
Agenda
ersten Band
Juni 1958
(Als das folgende Entretien vom 19. März 1958 im Ashram "Bulletin" veröffentlicht wurde, machte Mutter einige Kommentare, die in direktem Zusammenhang mit der vorhergehenden Unterhaltung über das Jüngste Gericht stehen, und fügte einen längeren Auszug aus dem Gespräch von Ende Februar 1958 über das gleiche Thema hinzu.)
Eines scheint offensichtlich: die Menschheit hat einen bestimmten Zustand allgemeiner Spannung erreicht – Spannung der Anstrengung, Spannung der Handlung, sogar Spannung des täglichen Lebens –, mit einer derart übertriebenen Hyperaktivität, einer so allgemeinen Hektik, daß die Spezies als ganzes einen Punkt erreicht zu haben scheint, wo sie den Widerstand zum Bersten bringen und zu einem neuen Bewußtsein durchbrechen muß oder in einen Abgrund der Finsternis und Trägheit zurückfallen wird.
Die Spannung ist so total und verbreitet, daß irgend etwas offensichtlich brechen muß. Es kann so nicht fortbestehen. Dies kann als sicheres Anzeichen betrachtet werden, daß ein neues Prinzip von Kraft, von Bewußtsein, von Macht in die Materie eingedrungen ist, das durch seinen Druck genau diesen zugespitzten Zustand verursacht. Äußerlich könnte man die alten Mittel der Natur erwarten, wenn sie einen Umbruch erreichen will, doch diesmal hat es eine neue Beschaffenheit, die offensichtlich nur in einer Elite erkenntlich ist, aber selbst diese Elite ist verbreitet genug – es beschränkt sich nicht auf einen Punkt, einen Ort in der Welt, die Anzeichen sind in allen Ländern, auf der ganzen Erde sichtbar: der Wille, eine aufsteigende, neue, höhere Lösung zu finden, eine Bemühung zum Aufbruch in eine weitere, umfassendere Perfektion.
Gewisse Ideen von mehr allgemeiner, verbreiteter, sozusagen kollektiver Natur beginnen in der Welt zu entstehen und zu wirken. Beide Tendenzen gehen Hand in Hand: die Möglichkeit einer größeren und vollständigeren Zerstörung – Erfindungen, die die Möglichkeit der Katastrophe unablässig vergrößern, eine viel massivere Katastrophe, als es je gegeben hat – und zugleich die Geburt oder vielmehr die Verwirklichung von sehr viel höheren und umfassenderen Ideen und Willenskräften, die, wenn sie einmal vernommen werden, eine viel weitreichendere, vollständigere und perfektere Lösung bringen werden als zuvor.
Dieser Kampf, dieser Konflikt zwischen den konstruktiven Kräften der aufsteigenden Evolution, der immer vollkommeneren und göttlicheren Verwirklichung, und den immer zerstörerischeren Kräften – machtvoll zerstörerische Kräfte, deren Wahnsinn sich jeglicher Beherrschung entzieht – wird immer offensichtlicher, deutlicher, sichtlicher, und es ist wie ein Wettlauf oder ein Wettkampf, wer sein Ziel als erster erreicht. Es scheint, als wären alle gegnerischen, anti-göttlichen Kräfte, die Kräfte der vitalen Welt auf die Erde herabgekommen und belegen sie als ihren Handlungsraum, doch als wäre gleichzeitig auch eine noch höhere, mächtigere, neue spirituelle Kraft auf die Erde gekommen, um ihr ein neues Leben zu bringen. Das macht den Kampf schärfer, gewalttätiger, sichtbarer, aber anscheinend auch endgültiger, und deshalb besteht die Hoffnung auf eine baldige Lösung.
Vor noch nicht allzulanger Zeit richtete sich die spirituelle Aspiration des Menschen auf einen schweigenden, inaktiven Frieden, losgelöst von allen weltlichen Dingen, eine Flucht aus dem Leben, gerade um den Kampf zu meiden, um jenseits des Kampfes zu gelangen, sich von der Anstrengung zu befreien; in diesem spirituellen Frieden verschwand mit der Spannung, dem Kampf, der Anstrengung auch das Leiden in all seinen Formen, und das wurde als der wahre, einzige Ausdruck des spirituellen und göttlichen Lebens betrachtet. Das wurde als die göttliche Gnade, die göttliche Hilfe, das göttliche Eingreifen angesehen. Und auch jetzt noch, in dieser Zeit der Ängste, der Spannung, der Überspanntheit, ist dieser erhabene Friede die von allen Hilfen am besten empfangene und willkommenste, die erbetene und erhoffte Linderung. Auch jetzt noch ist er für viele das wahre Zeichen des göttlichen Wirkens, der göttlichen Gnade.
Was immer man auch verwirklichen möchte, es gilt tatsächlich damit anzufangen, diesen vollkommenen, unwandelbaren Frieden zu verwirklichen, das ist die Grundlage, auf der man aufbaut; doch außer wenn es einem um eine ausschließliche, persönliche und egoistische Befreiung geht, kann man dort nicht haltmachen. Es gibt einen weiteren Aspekt der göttliche Gnade, den Aspekt des Fortschritts, der alle Hindernisse bezwingt, der die Menschheit in eine neue Verwirklichung schnellt, die Tore einer neuen Welt öffnet und bewirkt, daß nicht nur einige Auserwählte die göttliche Verwirklichung genießen, sondern daß ihr Einfluß, ihr Beispiel, ihre Kraft der restlichen Menschheit einen neuen und besseren Zustand bringt.
Dies öffnet Wege der zukünftigen Verwirklichung, bereits vorhergesehene Möglichkeiten, wo ein ganzer Teil der Menschheit, der sich bewußt oder unbewußt dem Einfluß der neuen Kräfte geöffnet hat, in ein höheres, harmonischeres, vollkommeneres Leben erhoben wird... Wenn eine individuelle Transformation hier nicht immer erlaubt oder möglich ist, wird es eine Erhöhung der Gesamtheit, eine Harmonisierung der Gesamtheit geben, die eine neue Ordnung, eine neue Harmonie herbeiführt, die Ängste des gegenwärtigen Chaos und Kampfes verschwinden läßt und durch eine Ordnung ersetzt, um einen harmonischen Ablauf der Gesamtheit zu ermöglichen.
Andere Konsequenzen werden dazu führen, durch ein entgegengesetztes Mittel all das verschwinden zu lassen, was der Eingriff des Mentals im Leben an Perversion, Häßlichkeit schuf, eine ganze Sammlung von Entstellungen, die das Leiden, das Elend, die moralische Ärmlichkeit verschlimmerten, ein ganzer Bereich von abscheulichem und widerwärtigem Elend, der einen großen Teil des menschlichen Lebens zu etwas so Schrecklichem macht. All das muß verschwinden. Das macht die Menschheit in so vielen Punkten so viel minderwertiger als das Tierleben in seiner Einfachheit und spontanen Natürlichkeit und Harmonie, trotz allem. Das Leiden ist bei den Tieren nie so elend, so abscheulich wie in dem Teil der Menschheit, der durch den Einsatz einer ausschließlich zu egoistischen Zwecken verwendeten Mentalität pervertiert wurde.
Darüber muß man hinaussteigen, in das Licht und die Harmonie vorstoßen, oder sonst zurückfallen in die Einfachheit eines gesunden tierischen Lebens ohne Entstellungen.
(Nach einem Schweigen fügt Mutter hinzu:)
Aber all jene, die nicht erhoben werden können, jene, die den Fortschritt ablehnen, die werden automatisch den Gebrauch des mentalen Bewußtseins verlieren und auf eine vor-menschliche Stufe zurückfallen.
Ich will dir eine Erfahrung erzählen, die dir zum besseren Verständnis helfen wird. Das geschah kurz nach der supramentalen Erfahrung vom 3. Februar und ich befand mich noch in einem Zustand, wo die Dinge der physischen Welt so fern, so absurd erschienen. Eine Gruppe von Touristen hatte gebeten, mich besuchen zu dürfen, und eines Abends kamen sie zum Sportplatz. Sie waren reiche Leute, das heißt, sie besaßen mehr Geld, als sie zum Leben brauchten. Unter ihnen befand sich eine Frau mit einem Sari; sie war sehr dick, und ihr Sari war absichtlich so gelegt, daß er ihren Körper verdeckte. Als sie sich verbeugte, um meinen Segen zu empfangen, verrutschte eine Ecke des Saris und entblößte einen Teil ihres Bauches, einen nackten Bauch. Ein riesiger Bauch. Das gab mir etwas wie einen Schock... Viele übergewichtige Leute haben überhaupt nichts Abstoßendes, aber hier sah ich plötzlich die Perversion, die Fäulnis, die sich hinter diesem Bauch verbarg, wie ein riesiger Abszeß, der die Gier, die Verdorbenheit, den Verfall des Geschmacks, das abscheuliche Verlangen ausdrückte und sich sättigte, wie kein Tier es täte, in einer groben und vor allem perversen Art. Ich sah die Perversion eines verdorbenen Mentals im Dienst des niedrigsten Hungers. Da stieg plötzlich ein Gebet in mir empor, eine Veda: "O Herr, das ist es, was verschwinden muß!"
Man kann sich gut vorstellen, wie das physische Elend, die ungleiche Verteilung der weltlichen Güter verändert werden könnte, man kann sich ökonomische und soziale Lösungen vorstellen, die dem abhelfen würden, aber dieses mentale Elend, die vitale Perversion, die kann sich nicht ändern, die WILL sich nicht ändern. Jene, die dieser Art Menschheit angehören, sind im voraus zur Auflösung verdammt.
Das ist die Bedeutung der Ursünde: die Perversion, die mit dem Mental begann.
Der Teil der Menschheit, des menschlichen Bewußtseins, der sich mit dem Supramental vereinigen und sich befreien kann, wird vollständig transformiert werden: er wird in eine zukünftige Wirklichkeit voranschreiten, deren äußere Form sich noch nicht ausgedrückt hat; der Teil, welcher der tierischen Einfachheit, der Natur sehr nahe steht, wird wieder in die Natur eingehen und direkt aufgenommen werden. Aber dieser korrumpierte Teil des menschlichen Bewußtseins, der durch seinen Mißbrauch des Mentals die Perversion zuläßt, wird aufgelöst werden.
Diese Art Menschheit ist Teil eines mißlungenen Versuchs – der abgebrochen wird. So wie bestimmte fruchtlose Arten im Laufe der universellen Geschichte verschwanden.
Manche Propheten des Altertums hatten diese apokalyptischen Visionen, aber wie meistens wurden die Dinge durcheinander gebracht und sie hatten ihre Visionen der Apokalypse, ohne zugleich die Vision der supramentalen Welt zu haben, die den einwilligenden Teil der Menschheit erheben und die physische Welt verwandeln wird. Dann, um denjenigen, die innerhalb dieses perversen Teils des menschlichen Bewußtseins geboren werden, eine Hoffnung zu vermitteln, lehrten sie die Erlösung durch den Glauben: jene, die an das Opfer des Göttlichen in der Materie glauben, werden automatisch erlöst, in einer anderen Welt – allein der Glaube, ohne Verständnis, ohne Intelligenz. Sie sahen nicht die supramentale Welt, und sie sahen nicht, daß das Große Opfer des Göttlichen in der Materie die Involution ist, die zur vollständigen Offenbarung des Göttlichen in der Materie selbst führen muß.