Mutters
Agenda
ersten Band
6. Oktober 1959
(Der Vogel kehrte also wieder einmal zurück...)
Mit seiner ganzen äußeren Entwicklung wird der Westen vielleicht einige Jahrhunderte brauchen, bevor die Verbindung zwischen den zwei Welten entstehen kann. Dennoch liegen die beiden Welten – die physische Welt und die Welt der Wahrheit – nicht weit von einander entfernt. Sie überlagern sich fast. Die Welt der Wahrheit ist hier, dicht dagegen, wie eine Auskleidung der anderen.
Kurz vor dem 15. August hatte ich eine einzigartige Erfahrung, die all das erleuchtet. 1 Das supramentale Licht drang direkt in meinen Körper ein, ohne über die inneren Wesen zu gehen. Dies war das erste Mal. Es kam durch die Füße (eine rote und goldene Farbe, wunderbar, warm, intensiv) und stieg höher und höher. Je höher es stieg, um so höher stieg auch das Fieber, denn der Körper war diese Intensität nicht gewohnt. Als all dieses Licht den Kopf erreichte, glaubte ich, ich würde bersten und müsse die Erfahrung abbrechen. Da erhielt ich den sehr deutlichen Befehl, Ruhe und Frieden herabzubringen, dieses ganze Körperbewußtsein, all diese Zellen zu weiten, damit sie das supramentale Licht enthalten können. Ich weitete mich: gleichzeitig mit dem Aufstieg des Lichts, brachte ich die Weite, den unerschütterlichen Frieden herab. Und plötzlich kam eine Sekunde der Ohnmacht.
Ich landete in einer anderen Welt, jedoch nicht fern (ich war nicht völlig in Trance). Es war eine beinahe so substantielle Welt wie die physische. Dort gab es Zimmer, auch Sri Aurobindos Zimmer, mit dem Bett, auf dem er sich ausruht, und er lebte dort, er war die ganze Zeit dort: das war sein Wohnsitz. Sogar mein Zimmer war dort, mit einem großen Spiegel, wie ich hier einen habe, mit Kämmen, verschiedenen Dingen. Und diese Gegenstände hatten eine beinahe so dichte Substanz wie in der physischen Welt, doch sie enthielten ihr eigenes Licht in sich. Sie waren nicht durchscheinend, nicht durchsichtig, nicht strahlend, sondern in sich leuchtend. Die Gegenstände, die Substanz der Zimmer, hatten nicht die Opazität der physischen Gegenstände, waren nicht trocken und hart wie in der physischen Welt.
Und Sri Aurobindo war dort, von einer Majestät, einer herrlichen Schönheit. Er hatte all sein schönes Haar von früher. All das war so konkret, so substantiell (man brachte ihm sogar eine Art Nahrung). Ich blieb eine Stunde lang dort (vorher und nachher schaute ich auf die Uhr). Ich sprach mit Sri Aurobindo, denn ich hatte wichtige Fragen für ihn über die Art, wie gewisse Dinge zu verwirklichen waren. Er sagte nichts. Er hörte mir ruhig zu und schaute mich an, als wären alle meine Worte überflüssig: er verstand alles, sofort. Und er antwortete durch eine Geste, zwei Bewegungen des Gesichts. Eine unerwartete Geste, die überhaupt nicht einem meiner Gedanken entsprach: zum Beispiel nahm er die drei Kämme, die bei dem Spiegel lagen (Kämme, wie ich sie hier habe, nur größer), und steckte sie sich ins Haar; einen setzte er mitten auf seinen Kopf und die zwei anderen auf beide Seiten, wie um sein Haar über den Schläfen zu sammeln. Sie bedeckten wirklich seinen Kopf wie eine Art Krone. Und ich verstand sofort – er wollte damit ausdrücken, daß er mein Konzept annahm: "Siehst du, ich nehme dein Konzept der Dinge und bedecke meinen Kopf damit; es ist mein Wille." In dieser Weise blieb ich eine Stunde dort.
Als ich aufwachte, hatte ich nicht den gewohnten Eindruck, von weither zurückzukommen und in meinen Körper zurückkehren zu müssen. Nein, es war einfach, als wäre ich in dieser anderen Welt gewesen, hätte dann einen Schritt zurückgetan und befand mich wieder hier. Ich brauchte eine gute halbe Stunde, um zu begreifen, daß diese Welt hier genauso existierte wie die andere, daß ich nicht mehr auf der anderen Seite war, sondern wieder hier, in der Welt der Lüge. Ich hatte alles vergessen: Leute, Dinge, was ich zu tun hatte; alles war verschwunden, als hätte es überhaupt keine Wirklichkeit.
Es ist nicht so, als müsse die Welt der Wahrheit aus freien Stücken geschaffen werden: sie ist vollkommen fertig, gleich hier, wie eine Auskleidung der unseren. Alles ist hier, ALLES ist hier.
Zwei ganze Tage blieb ich darin, zwei Tage höchster Glückseligkeit. Und Sri Aurobindo war die ganze Zeit bei mir: wenn ich ging, ging er mit mir; wenn ich mich setzte, saß er neben mir. Am 15. August blieb er auch die ganze Zeit während dem Darshan da. Aber wer merkte es? Einige wenige – ein, zwei – fühlten etwas. Und wer sah es? – Niemand.
Ich zeigte Sri Aurobindo diese ganze Welt, dieses ganze Arbeitsgebiet, und fragte ihn, WANN die andere, die wahre Welt, die so nah ist, unsere Welt der Lüge ersetzen würde. Not ready. "Nicht bereit" ist alles, was er antwortete.
Sri Aurobindo gab mir zwei solche Tage: eine vollkommene Seligkeit. Nach zwei Tagen merkte ich dann doch, daß ich nicht dort bleiben konnte, weil die Arbeit nicht vorankam. Die Arbeit, die muß im Körper getan werden; die Verwirklichung muß hier, in der physischen Welt vollzogen werden, sonst bleibt sie unvollständig. So zog ich mich zurück und machte mich wieder an die Arbeit.
Dennoch würde äußerst wenig genügen, um von dieser Welt in die andere überzugehen, daß die andere wahr würde. Ein kleiner Klick oder eher eine kleine Umkehrung der inneren Einstellung. Wie das beschreiben?... Für das normale Bewußtsein ist es unerkenntlich: es genügt eine winzige innere Verschiebung, eine Veränderung der Beschaffenheit.
Das ist wie beim Japa: eine kleine unmerkliche Veränderung, und man geht über von einem mehr oder weniger mechanischen, mehr oder weniger wirksamen und wirklichen Japa, zum wahren Japa voller Macht und Licht. Ich fragte mich sogar, ob dieser Unterschied das ist, was die Tantriker die "Macht" des Japa nennen. Neulich war ich zum Beispiel krank, stark erkältet. Jedesmal, wenn ich den Mund öffnete, hatte ich einen Krampf im Hals, hustete und hustete. Dann kam das Fieber. Da schaute ich und sah, woher das kam, und ich entschied, daß es aufhören mußte. Ich stand auf, um wie gewohnt mein Japa zu machen, indem ich in meinem Zimmer auf und ab gehe. Ich mußte einen gewissen Willen dahinter setzen. Natürlich könnte ich mein Japa in Trance machen, in Trance auf und ab gehen, während ich mein Mantra wiederhole, denn in Trance spürt man nichts, keine der Unbequemlichkeiten des Körpers. Die Arbeit muß aber im Körper getan werden! Also stand ich auf und begann mein Japa. Mit jedem ausgesprochenen Wort: das Licht, die volle Macht. Eine Macht, die alles heilt. Ich begann das Japa müde, krank, und komme daraus erfrischt, ausgeruht, geheilt zurück. Und jene, die mir sagen, es macht sie müde, angespannt, entleert, die tun es einfach nicht in der richtigen Weise.
Ich verstehe, warum manche Tantriker einem raten, das Japa mit dem Herzzentrum zu wiederholen. Wenn man einen gewissen Elan hineinlegt, jedes Wort mit einer Wärme der Aspiration ausgesprochen wird, dann verändert sich alles. Ich konnte diesen Unterschied in mir selber spüren, in meinem eigenen Japa.
Tatsächlich isoliere ich mich nicht von der Welt, wenn ich in meinem Zimmer auf und ab gehe – das wäre so viel angenehmer!... Alle möglichen Dinge treten an mich heran: Suggestionen, Willenskräfte, Aspirationen. Da mache ich automatisch die Geste des Aufopferns: diese Dinge nähern sich mir, berühren fast meinen Kopf, und ich wende sie nach oben und biete sie dem Licht dar. Die Dinge dringen nicht in mich ein: jemand kann zum Beispiel mit mir sprechen, während ich mein Japa sage, und ich höre genau, was er mir sagt, ich antworte sogar, aber die Worte bleiben etwas außerhalb, in einem gewissen Abstand von meinem Kopf. Manchmal kommt jedoch etwas mit Nachdruck, präzisere Willenskräfte, die sich mir zeigen, dann muß ich eine kleine Arbeit durchführen, all das, ohne das Japa zu unterbrechen. In solchen Augenblicken ändert sich manchmal die Beschaffenheit meines Japas: anstatt die volle Macht, das volle Licht zu haben, ist es etwas, das zweifelsohne noch seine Wirkung hat, aber eine mehr oder weniger sichere, mehr oder weniger verspätete Wirkung; es wird ungewiß wie alle Dinge in der physischen Welt. Dennoch ist der Unterschied zwischen den beiden Japas unmerklich: kein solcher Unterschied wie zwischen einer mehr oder weniger mechanischen Wiederholung des Japas und einer bewußten Wiederholung, denn selbst während meiner Arbeit bewahre ich das volle Bewußtsein meines Japas und wiederhole es mit der vollen Bedeutung in jeder Silbe. Trotzdem besteht ein Unterschied. Das eine ist das allmächtige Japa, das andere ein beinahe gewöhnliches Japa... In der inneren Haltung besteht ein Unterschied. Vielleicht muß man, damit das Japa wahr wird, eine Art Freude, einen Elan, eine enthusiastische Wärme hineingeben – vor allem die Freude. Dann ändert sich alles.
Und es ist dasselbe, derselbe unmerkliche Unterschied, um Zugang zur Welt der Wahrheit zu erhalten. Auf der einen Seite ist die Lüge, und auf der anderen, sehr nah, wie eine Auskleidung, das wahre Leben. Es genügt ein kleiner Unterschied der inneren Beschaffenheit, eine kleine Umkehrung, um auf die andere Seite zu gelangen, in die Wahrheit und das Licht.
Vielleicht genügt es, die Freude hinzuzugeben.
Das muß ich in meinem Körper beobachten, denn dort geschieht es, dort bereiten die Dinge sich vor.
Diese andere Welt, von der du sprichst, die Welt der Wahrheit, ist das die supramentale Welt?
Für mein Gefühl ist dieses Leben, das Sri Aurobindo gegenwärtig lebt, nicht die volle Erfüllung des supramentalen Lebens für ihn.
In dieser anderen Welt war die Unendlichkeit, Majestät, vollkommene Ruhe, die Ewigkeit – alles war dort.
Vielleicht war es die Freude, die fehlte.
Gewiß hatte Sri Aurobindo selber die Freude. Aber ich hatte den Eindruck, es war nicht vollkommen, und daß ich deshalb die Arbeit fortsetzen mußte. Ich fühlte, daß es erst vollkommen sein würde, wenn es sich hier verändert hat.
1 . Siehe Notiz vom 24.-25. Juli.