SITE OF SRI AUROBINDO'S & MOTHER'S  YOGA
      
Home Page | 02 Bande

Mutters

Agenda

zweiten Band

12. Januar 1961

Wie lautet der nächste Aphorismus?

50 – Den Sünder zu hassen ist die schlimmste Sünde, denn es bedeutet, man haßt Gott – und dennoch schwelgt der, der sie begeht, in seiner höheren Tugend.

Hast du eine Frage?

Wenn man einen gewissen Bewußtseinszustand erreicht, sieht man deutlich, daß wir zu allem fähig sind, daß es im Grunde keine einzige Sünde gibt, die wir nicht selbst begehen könnten. Stimmt dieser Eindruck? Und dennoch lehnt man sich gegen bestimmte Dinge auf, man empfindet Abscheu; es gibt immer irgendeinen Punkt, irgendwo, den man nicht zuläßt. Warum? Was ist die richtige, die wirksame Haltung gegenüber dem Bösen?

Es gibt keine Sünde, deren wir nicht fähig wären...

Man hat diese Erfahrung, wenn man aus irgendeinem Grund (das wechselt von Fall zu Fall) mit dem universellen Bewußtsein in Berührung kommt (nicht in seiner Unendlichkeit, sondern auf irgendeiner materiellen Ebene). Das Atom hat ein Bewußtsein, das heißt, es gibt ein rein materielles Bewußtsein, und es gibt, viel weiter, ein allgemeines psychologisches Bewußtsein. Man kann durch Verinnerlichung, durch Abstraktion von seinem Ego, diese Bewußtseinsregion berühren: das psychologische irdische Bewußtsein oder das kollektive menschliche Bewußtsein. (Das ist nicht dasselbe: "kollektiv menschlich" ist eine Einschränkung – "irdisch" schließt noch viele Regungen der Tier- und selbst der Pflanzenwelt ein; aber wir reden hier über das moralische Konzept von Fehler und Sünde, und das gehört ausschließlich dem menschlichen Bewußtsein an, deshalb sagen wir besser "kollektives psychologisches Bewußtsein der Menschheit".) Wenn man das berührt (eben durch diese Identifikation), fühlt oder sieht oder weiß man sich jeder menschlichen Regung fähig, überall. Das ist wie ein Wahrheits-Bewußtsein: der egoistische Begriff "dies gehört mir", "das gehört nicht mir", "dies kann ich tun", "jenes darf ich nicht tun", all das verschwindet dort. Man merkt, daß der Aufbau des menschlichen Bewußtseins derart beschaffen ist, daß jeder Mensch zu allem fähig ist. Gleichzeitig zeigt einem das Wahrheits-Bewußtsein, daß Verurteilung, Abscheu oder Ablehnung absurd sind: ALLES ist potentiell in uns. Es gibt bestimmte Kräfteströme – gewöhnlich kann man ihnen nicht folgen: man sieht sie kommen und gehen, aber meistens kennt man ihren Ursprung und ihre Richtung nicht –, und wenn eine dieser Kräfte euch beeinflußt, kann sie euch Beliebiges machen lassen.

Wenn man diesen Bewußtseinszustand ständig aufrecht erhalten könnte, und wenn man die Flamme von Agni, die Flamme der Reinigung und des Fortschrittes, in sich hält, kann man nach einiger Zeit nicht nur verhindern, daß solche Bewegungen eine aktive Form in uns nehmen und sich materiell ausdrücken, man könnte sogar auf die Beschaffenheit der Bewegung einwirken und sie verwandeln. Aber es ist klar, daß es fast unmöglich ist, diesen Bewußtseinszustand lange aufrecht zu erhalten, wenn man nicht eine sehr hohe Verwirklichung erreicht hat. Man fällt fast sofort zurück ins egoistische Bewußtsein des getrennten Ich – also kommen auch all die Probleme wieder: Abscheu, Auflehnung gegen gewisse Dinge, das Entsetzen, das sie in uns hervorrufen, usw.

Bis man selbst vollkommen transformiert ist, sind diese Regungen von Abscheu und Auflehnung wahrscheinlich (sogar sicherlich) notwendig, damit man IN SICH SELBST handelt, um diesen Dingen den Zugang zu verwehren – schließlich geht es darum, sie sich nicht manifestieren zu lassen.

Sri Aurobindo sagt in einem anderen Aphorismus (ich weiß die genauen Worte nicht mehr), daß die Sünde einfach etwas ist, das nicht an seinem Platz ist. Nichts wiederholt sich in dem ewigen Werden, und manche Dinge verschwinden sozusagen in der Vergangenheit. In dem Moment, wo ihr Verschwinden nötig wird, erscheinen sie unserem allzu begrenzten Bewußtsein als schlecht, widerwärtig. Wir lehnen uns gegen sie auf, weil ihre Daseinszeit abgelaufen ist. Hätten wir aber die Übersicht über das Ganze, könnten wir Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einmal in uns halten (so wie es irgendwo da oben ist), dann würden wir die Relativität der Dinge erkennen und sehen, daß uns vor allem die fortschreitende Evolutionskraft diesen Ablehnungswillen eingibt, daß diese Dinge dort, wo sie ihren Platz hatten, vollkommen erträglich waren. Aber ausgenommen man hat eine totale Sicht – das heißt die Sicht, die nur der Herr hat! – ist es fast unmöglich, diese Erfahrung zu haben. Folglich muß man sich zuerst mit dem Höchsten vereinigen, und danach kann man, unter Beibehaltung der Vereinigung, zu einem genügend materiellen Bewußtsein zurückkehren und dann die Dinge so sehen, wie sie sind. Das ist die Vorgangsweise, und entsprechend dem Maß, in dem man sie verwirklichen kann, erreicht man einen Bewußtseinszustand, wo man alles mit dem Lächeln der Gewißheit betrachten kann, daß alles so ist, wie es sein muß.

Leute, die nicht tief genug denken, werden natürlich sagen: "Oh, aber wenn wir sehen, daß "alles so ist, wie es sein soll", dann wird sich nichts mehr ändern." – Aber nein! Es gibt kein Sekundenbruchteil, wo die Dinge sich nicht bewegen! Das ist eine ständige und totale Metamorphose, eine Bewegung, die nicht stehenbleibt. Nur weil es uns schwerfällt, das zu fühlen, glauben wir, in manchen Bewußtseinszuständen ändere sich nichts. Selbst wären wir in einer scheinbar totalen Reglosigkeit, würden sich die Dinge immer noch verändern – und wir mit ihnen!

Regungen wie Abscheu, Auflehnung, Wut, alle diese Regungen der Gewalt sind im Grunde immer Regungen von Unwissenheit, von Begrenztheit, und sie haben die ganze Schwäche, die Begrenztheit mit sich bringt. Auflehnung ist eine Schwäche – es ist das Gefühl eines machtlosen Willens, also eine Schwäche. Man hat das Gefühl oder man sieht, daß die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten, und man lehnt sich gegen das auf, was unserer Sicht widerspricht; aber wären wir allmächtig, wäre unser Wille und unsere Sicht allmächtig, dann hätten wir keinen Anlaß, uns aufzulehnen! Denn wir würden immer erkennen, daß alle Dinge so sind, wie sie sein müssen. Das ist Allmächtigkeit. 1 Und diese Regungen, all die Regungen der Gewalt, werden nicht nur überflüssig, sondern zutiefst lächerlich.

Folglich gibt es nur eine Lösung: sich durch Aspiration, Konzentration, Verinnerlichung und Vereinigung mit dem Höchsten verschmelzen. Das bedeutet zugleich Allmächtigkeit und vollkommene Freiheit – und dies ist die einzige Allmächtigkeit und die einzige Freiheit: alles andere sind Annäherungen oder Teilstücke, aber nicht die Ganzheit.

Wenn man diese Erfahrung hat, merkt man, daß diese höchste Freiheit und Macht auch einen vollkommenen Frieden und eine beständige Erhabenheit mit sich bringen. Empfindet man etwas, das nicht wahr ist, eine Auflehnung, eine Abscheu, etwas, das man nicht zulassen kann, dann ist der Grund dafür IN UNS: ein Teil in uns ist noch nicht transformiert, ist noch auf dem Weg, hat das alte Bewußtsein behalten – sonst nichts.

Sri Aurobindo spricht hier von denen, die den Sünder hassen: man soll den Sünder nicht hassen.

Das ist das gleiche Problem von einem anderen Gesichtspunkt. Aber die Lösung ist dieselbe.

Aber die Schwierigkeit liegt nicht so sehr darin den Sünder nicht zu hassen, sondern nicht den Tugendhaften zu hassen! Das finde ich viel schwerer. Die armen Sünder kann man schließlich gut verstehen (!) – aber die Tugendhaften...

Nun ja, aber eigentlich haßt man ihre Selbstgefälligkeit, das ist der Grund. Schließlich haben sie Recht, nichts Schlechtes zu tun – dafür kann kann man sie nicht tadeln! Nur halten sie sich deshalb für überlegen, und das ist schwer zu dulden; dieses Überlegenheitsgefühl, die Art, wie sie mitleidig auf die armen Teufel herabsehen... die auch nicht schlechter als sie sind!

Oh, ich habe da herrliche Beispiele erlebt!

Nimm zum Beispiel eine Person, die Freunde hat; ihre Freunden schätzen sie, weil sie besondere Fähigkeiten in ihr sehen, weil sie ihre Gegenwart als angenehm empfinden, weil sie von ihr lernen können. Dann, durch eine Wendung der Umstände, wird diese Person plötzlich aus der Gesellschaft verstoßen: weil sie mit einem anderen Mann gegangen ist, oder weil sie mit einem Mann lebt, mit dem sie nicht verheiratet ist... wegen irgendeiner dieser gesellschaftlichen Konventionen, die keinerlei wahren Wert haben. Und all die Freunde (nicht die, die sie wirklich lieb haben), alle ihre Bekannten, alle, die sie vorher so freundlich empfingen und ihr auf der Straße zulächelten, drehen jetzt den Kopf weg und gehen an ihr vorbei – das ist hier im Ashram passiert. Ich übergehe die Einzelheiten, aber es ist mehrere Male passiert, daß eine Person gegen die gewohnten gesellschaftlichen Konventionen verstieß, und all die Leute, die ihr vorher so viel Zuneigung und Sympathie zeigten... oh, manchmal sagten sie: "Sie ist ein gefallenes Mädchen!"

Ich muß zugeben, wenn so etwas hier geschieht, gibt mir das immer einen kleinen Schock. In der Außenwelt erscheint mir das ganz normal, aber hier sage ich mir: "Die stecken also auch noch da drin!"

Sogar Menschen, die vorgeben, großzügig zu denken und über diesen "Konventionen" zu stehen, fallen sofort in die gleiche Falle. Und dann beruhigen sie ihr Gewissen, indem sie sagen: "Mutter läßt dies nicht zu. Mutter erlaubt jenes nicht. Mutter verbietet das!" Und so fügen sie noch eine Torheit zu allem anderen hinzu.

Dieser Zustand ist sehr schwer zu überwinden. Ah, das ist wirklich Pharisäertum! Das Gefühl der Selbstgerechtigkeit. Aber es ist nur eine Engstirnigkeit; jeder, der etwas intelligent ist, fällt nicht so leicht in dieses Loch! Zum Beispiel Leute, die in der Welt gereist sind, die gesehen haben, daß all diese sozialen Regeln unmittelbar vom Klima, von den Rassen, den Gewohnheiten und noch stärker von der Zeit, von den Epochen abhängen, die können das mit einem Lächeln durchschauen. Aber diese Konformisten... uff!

Das ist eine Mindeststufe. Solange ihr dieses Stadium nicht überwunden habt, seid ihr untauglich für das Yoga. In diesem Zustand ist man wirklich zum Yoga nicht zu gebrauchen. Es ist ein primitives Stadium.

*
*   *

Etwas später:

Am 21. ist Saraswati Puja, 2 da gehe ich nach unten. Sie haben ein Heftchen mit einem langen Zitat aus Savitri und fünf Fotos von meinem Gesicht aus verschiedenen Winkeln vorbereitet.

Der Titel des Heftchens ist der Vers aus Savitri, der mir aus dem ganzen Buch die mächtigste Erfahrung gab. Ich erzählte dir ja, daß ich wirklich LEBTE was ich las: die Erfahrungen, die ich las, lebte ich gleichzeitig. Und als ich zu diesem Vers kam... diese eine Zeile... war ich plötzlich wie ergriffen von einer... ("einer" ist schlecht, "der" ist schlecht – weder noch: etwas anderes) zeitlosen Wahrheit. Es war... Alles war aufgehoben, außer dies:

For ever love, O beautiful slave of God 3

Das allein existierte.

 

1 Als Satprem Mutter später nach der Bedeutung dieses etwas rätselhaften Satzes fragte, antwortete sie: "Es gibt zwei Stufen. Die erste ist eine intellektuelle (vielleicht intuitive) Vision der Zukunft (möglicherweise der unmittelbaren Zukunft), und das nennen wir "die Dinge sehen, wie sie sein sollen". Der zweite Schritt ist die Vereinigung mit dem höchsten Willen; dort erkennt man, daß alles in jedem Augenblick genau so ist, wie der Höchste es will: es ist der präzise Ausdruck des Höchsten. Das eine ist eine fortgeschrittene Sicht im voraus, die dann sagt: "Aber so muß es sein." Und wir lassen den Weg zwischen jetzt und dann unbeachtet. Aber wenn wir ganz nach oben gehen und uns mit dem Bewußtsein des Höchsten Willen vereinigen, dann sehen wir in jeder Sekunde, in jedem Augenblick des Universums, daß alles genau so ist, wie es sein muß – genau so, wie der Höchste es will. Das ist Allmächtigkeit."

Rückwärts zum Text

2 Saraswati verkörpert den Aspekt des Wissens und des künstlerischen Schaffens der universellen Mutter. Zu diesem Anlaß kommt Mutter in die "Meditationshalle" im Erdgeschoß; die Schüler gehen still an ihr vorbei, und Mutter verteilt eine Botschaft an sie. Dieses Jahr besteht die Botschaft aus dem Heftchen mit den fünf Fotos.

Rückwärts zum Text

3 Für immer die Liebe, O wunderschöner Sklave Gottes (Savitri, XI.I.702)

Rückwärts zum Text

 

 

 

 

 

 

 

in French

in English