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Mutters

Agenda

zweiten Band

16. Dezember 1961

(Mutter bringt ein aufgerolltes Papier mit)

Hier ist meine "ursprüngliche" Botschaft für den 1. Januar (nicht das Original).

Ich übersetze gerade den letzten Teil von The Synthesis of Yoga, "Die Selbst-Vervollkommnung" – das stürzt einen in solche Abgründe... Eines Tages (ich glaube, das erzählte ich dir schon) hatte ich die Vision der Kluft zwischen dem, was IST, und nicht einmal dem, was sein soll, denn davon haben wir wahrscheinlich nicht die leiseste Ahnung, aber dem, was wir sein wollen, was wir uns vorstellen – das war fürchterlich! Es versetzte den Körper in... oh, eine Beklemmung, einen Schrecken, und zugleich eine intensive Aspiration und ein Gebet. Der Eindruck der Ungeheuerlichkeit der Diskrepanz: "Ist es überhaupt möglich?"

Das war es.

Um den Körper zu beruhigen, nahm ich einen Stift und schrieb dies: "Mein Wesen dürstet..." (eigentlich wollte ich schreiben "dieser Körper dürstet") "nach Vollkommenheit, nicht diese menschliche Vollkommenheit..." (ich muß dazusagen, daß alles, was ich übersetze, gleichzeitig Schritt für Schritt von äußeren Umständen begleitet wird, die OFFENSICHTLICH bis ins Detail angeordnet sind, um diese Übersetzung zu untermalen: eine ganze Reihe von Umständen – übrigens ziemlich unangenehme Umstände –, die zugleich als Hintergrund und Illustration dienen, und das hatte zu dieser Bedrängnis geführt). "Dieser Körper dürstet nach Vollkommenheit, nicht diese menschliche Vollkommenheit, die eine Vollkommenheit des Egos ist..." (ich spürte, daß alles, was die Menschen sich als Vollkommenheit vorstellen, so offensichtlich die Selbstverherrlichung des Egos ist) "... nicht diese menschliche Vollkommenheit, die eine Vollkommenheit des Egos ist und die den Weg für die göttliche Vollkommenheit versperrt, sondern eine Vollkommenheit..." (das Wort "Vollkommenheit" wird absichtlich so oft wiederholt: als Litanei) "... sondern eine Vollkommenheit, die die Ewige Wahrheit auf der Erde zu MANIFESTIEREN vermag."

Das entsprach einem intensiven Bedürfnis. Alle Körperzellen begannen damit zu vibrieren, sich in einer Schwingung zu intensivieren – eine Notwendigkeit, viel mehr als ein Bedürfnis: eine Notwendigkeit, in Einklang mit der Wahrheit zu schwingen. Es war, als würde die Schwingung der Wahrheit von den Zellen wahrgenommen, und der ganze Körper war in großer Spannung – keine "Spannung" im gewohnten Sinne sondern... wie wenn man versucht, einen Ton zu stimmen, damit er richtig klingt. Das war es: den richtigen Einklang der Schwingung mit der Schwingung der Wahrheit zu finden.

Aber das läßt sich nicht zu Papier bringen.

Ich legte diese Notiz beiseite, tat nichts weiter damit (denn es war äußerst intensiv). Dann war vor kurzem die Rede vom 1. Januar. Ich dachte: "Was zum Teufel werde ich ihnen sagen?" (Gewöhnlich sage ich ihnen etwas zu Neujahr.) Was soll ich ihnen vorlesen?... Dieser Text fiel mir ein, und ich dachte, ich könnte das Gekritzele etwas ändern, etwas "vermenschlichen" (!), es einige Stufen tiefer kommen lassen (lächelnd), und dann würde es gehen. Deshalb schrieb ich: "Unser Wesen dürstet nach Vollkommenheit..." usw. In der Erfahrung war es nur DER KÖRPER, verstehst du (das "Wesen" ist bereits völlig in Ordnung), nur der Körper ist in diesem Zustand. Alles andere ist sehr zufrieden – sehr zufrieden, in ewiger Freude und Eurhythmie (Geste wie weite Wellen), mit dem Gefühl der göttlichen Liebe (nicht die Liebe als solche... ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll). Diese Liebe, die keinen Gegenstand hat, die nicht von irgendwo "ausgeht" und nicht "empfangen" wird – sie hat keinen Gegenstand, keine Ursache und keinen Ursprung. Es ist das Gefühl, in etwas zu schweben.

All das ist in Ordnung, doch der Körper fühlt sich elend.

Aber wenn ich den Leuten das sage, reißen sie die Augen weit auf! Das ergibt für sie keinen Sinn – bereits der Gedanke, daß irgendwo eine Vollkommenheit besteht, die man auffangen könnte, ist sehr viel! Deshalb schrieb ist: "Unser Wesen dürstet nach Vollkommenheit..." 1

Auf Englisch ist es besser: "We thirst for perfection, not this human perfection which is the perfection of the ego and bars the way to the divine Perfection, but that ONE perfection which has the power to manifest upon Earth the eternal Truth."

Das ist mächtiger.

Es kam ja zuerst auf Englisch, und das Französische stückelte ich hinterher zusammen.

(Schweigen)

Mein Zustand der akuten Faulheit dauert an!

So ist es, mein Kind... Wir haben nichts getan.

Da ist das Bulletin.

Hast du etwas mitgebracht?

Das Bulletin, wenn du Lust hast.

Hättest du nicht lieber etwas Musik?

(Halblaut:) Gut.

Oh, sehen wir doch! Laß uns der Vorliebe folgen. Was hättest du lieber? In aller Aufrichtigkeit.

Von welchem Standpunkt?

Bulletin oder Musik.

Oh, was ich vorziehe?

Ja-a-a!

Nun... Ernsthaft das Bulletin, und "so" die Musik.

Ah, das ist es! Aber "ernsthaft" zählt nicht! Das ist nur das Pflichtgefühl (Lachen). Das nenne ich nicht "vorziehen"!

(Mutter steht auf und geht zum Harmonium) Unter uns, was ich "vorziehen" nenne, ist... diese sehr stille Neigung der Seele... die fühlt, daß es so besser wäre. Ich frage dich, aber ich glaube... ich spüre, daß es die Musik ist! (Lachen)

Das [Bulletin] ist doch ziemlich langweilig, oder?

Nein, es ist nicht langweilig! Es ist etwas anderes.

(Lachend) Das Pflichtgefühl: es gibt nichts Lästigeres als das Pflichtgefühl!

(Mutter setzt sich ans Harmonium und spielt. Dann dreht sie sich halb um und erzählt:)

Ich schließe die Augen (so höre ich am besten), aber manchmal vertun sich dann die Finger: sie rutschen ab. Denn ich sehe... mit anderen Augen, und wenn das so läuft und ich sehe [das andere], kommt die Musik viel besser. Wenn ich die Augen öffne, kommt es nicht. Sehr deutlich höre ich es immer mit geschlossenen Augen. Nur rutschen die Finger manchmal aus.

Das kommt immer, immer (Mutter malt weite Wellen). Jemand spielt auf mir. Wenn die Hände dann VOLLKOMMEN fügsam sind, geht es gut.

Das geringste Zögern genügt bereits, und die Finger rutschen ab, es gibt eine falsche Note.

Jetzt ist alles gelöst und kommt (Geste herabrieselnder Wellen).

Das sagt die ganze Zeit etwas.

Ich weiß nicht, WER kommt.

Letztes Jahr kam es zu einem Konflikt zwischen Krishna auf der einen Seite, der spielen wollte (er kam, ich sah ihn kommen), und jemand wie ein Geist von Shiva auf der anderen, und die beiden stritten sich die ganze Zeit! Der eine wollte es so haben, mit rötlicher Färbung, und der andere wollte es anders, mit blauer und silberner Färbung. Während ich spielte (letztes Mal begann es mit Krishna, das ging sehr gut), kam plötzlich wie ein Faustschlag (Geste, die den Arm trifft) der andere, und ich verlor mein ganzes Gleichgewicht – beinahe wäre ich...

Ich beobachte all das und amüsiere mich! Es ist sehr interessant.

(Zu Sujata:) Sieh, ich habe fast einen blauen Fleck am Arm!

Aber meine Hände sind beinahe zu bewußt: hin und wieder dringt ihr eigenes Bewußtsein durch und verwirrt alles! Ich bin nicht genügend ein Medium (!). Wäre ich ein Medium, würde es viel besser gehen.

(Mutter läßt ihre Hände über die Tasten laufen)

Eine Hand war dort... und zwei Arten von Trompeten, die u-u-h machten! (Mutter spielt)

Das ist sehr interessant.

(Mutter schickt sich an aufzustehen)

Jetzt haben wir nichts getan – es gibt nichts Angenehmeres, als nichts zu tun!

(Dann spielt sie doch noch lange weiter, schließlich reißt sie sich zusammen)

Gut.

Wann ist unser nächster Termin fürs Faulenzen? (Lachen)

Oh, wir dürfen uns doch etwas amüsieren, oder?

Das dort ist eintönig (Geste zur Tür, hinter der die Leute warten).

Man muß sich ein wenig amüsieren.

Ich weiß nicht, ob euch das amüsiert, aber mich erfreut das jedenfalls.

 

1 Als Mutter um eine Botschaft für das neue Jahr gebeten wurde und sie dieses kommende Jahr "betrachtete", kam ihr als erste Inspiration folgendes: Wenn der Herr dir ein Unheil bereitet, warum willst du dagegen protestieren? Betrachte es als Segnung, und es wird tatsächlich eine werden. Dann dachte sie, diese Botschaft wäre vielleicht nicht sehr ermutigend, und legte sie beiseite (nachdem sie die Meinung zweier weiterer Schüler befragte). Schließlich wählte sie den Text der hier besprochenen Erfahrung. Doch das kommende Jahr, 1962, war von der ersten großen Wende in Mutters Yoga gekennzeichnet und bedeutete eine ziemlich unheilvolle Erfahrung für ihren Körper.

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