Mutters
Agenda
dritten Band
(Seit einigen Tagen geht es Mutter nicht gut. Sie empfängt fast niemanden mehr.)
Geht es dir besser?
Ich glaube ja! (Mutter lacht) Ich weiß nicht.
Merkwürdig, es sind eigenartige Angriffe, die nicht von meinem Gesundheitszustand abzuhängen scheinen.
Es ist eine Art... Dezentralisierung. Um einen Körper zu bilden, werden die Zellen durch eine Art Zentripetalkraft zusammengehalten. Aber jetzt geschieht genau das Gegenteil. Eine Zentrifugalkraft bewirkt, daß sie sich zerstreuen. Wenn es ein wenig zuviel wird, verlasse ich meinen Körper, und äußerlich werde ich ohnmächtig – ich werde aber nicht ohnmächtig, da ich voll bewußt bin. Es bewirkt also offensichtlich eine gewisse Desorganisation... seltsam.
Das Merkwürdige daran ist – und das ist mir noch nicht ganz klar –, daß es immer dann passiert, wenn X ankommt, in der Nacht vor seiner Ankunft (es ist schon dreimal vorgekommen, was viel für mich ist).
Ja.
Ach, das erstaunt dich nicht?
Nein, ich habe bemerkt, daß tatsächlich etwas ausgelöst wird, wenn er kommt.
Das vorige Mal war zufällig jemand dabei, und so fiel ich nicht hin und tat mir nicht weh. Aber diesmal war ich allein in meinem Badezimmer und... offenbar verfolgte ich ein Bewußtseinsphänomen, in dem ich mich über die ganze Welt ausbreitete – PHYSISCH ausbreitete, das ist das Merkwürdige daran. Die ZELLEN empfanden das so. Es gab eine Bewegung der Zerstreuung, die immer schneller und intensiver wurde, und dann lag ich plötzlich am Boden.
Oben in meinem Badezimmer ist ein Sitz; daneben, zwischen dem Sitz und der Wand stehen zwei Tischchen (keine Tische, sondern kleine Schemel, auf denen Gegenstände liegen) und eine Porzellanstange für Badetücher (glücklicherweise alles ohne scharfe Kanten). Ich landete eingeklemmt im schmalen Raum zwischen dem Sitz und den beiden Tischchen. Und diese Materie (das heißt die Materie des Tisches, die Gegenstände auf dem Tisch und der Porzellansitz) – all dies erschien mir so unempfänglich. Nichts bewegte sich, wie es sollte, damit alles rund läuft (aber es gab keinen Körper; nicht der Körper, sondern das Ganze fühlte sich so an). Sämtliche Gegenstände und Dinge waren in einer eigenartigen und absurden Lage, die ich nicht recht verstand, die ich mir nicht erklären konnte. Ich fragte mich sozusagen: "Warum ist da diese große Masse, die so viel Platz einnimmt und damit im Wege steht?"
Mein Ellbogen war auf einem kleinen Plastiktablett für Bleistifte, Kugelschreiber, Notizblöcke usw. gelandet. Der Körper versuchte, sich aufzurichten, und stützte sich darauf ab. Dann hörte man plötzlich ein Geräusch, weil alles zerbrach (unter dem Gewicht des Ellbogens zerbrach das Tablett). Und ein Bewußtsein ohne genaue Begrenzung, das aber sehr klar war, sagte mir: "Warum denn? Was soll dieser lächerliche Lärm? Und dieses schwere Ding, das sich da aufstützt? – All das ist durcheinander, es sollte nicht so sein, das ist Unordnung." Und weiter ging's: krach, krach, krach. Dann kam plötzlich das normale Bewußtsein zurück (genau genommen war es die normale BEZIEHUNG des Bewußtseins, die zurückkam), und ich sagte mir: "Was ist denn das für eine lächerliche Situation! Warum stützt sich dieser Ellbogen da ab? Er sollte doch wissen, daß alles zerbricht!" Als alles wieder in Ordnung gekommen war, sagte ich meinem Körper: "Sei nicht albern, was machst du denn da, steh sofort auf! Los, vorwärts!" Folgsam wie ein Kind befreite er sich sofort, drehte sich um und richtete sich gerade auf – ich hatte mein Knie und den Ellbogen aufgeschürft und meinen Kopf an drei Stellen angeschlagen. Glücklicherweise war nichts Spitzes darunter, es war ziemlich hart, aber ohne scharfe Kanten. Jedenfalls war alles in Ordnung, es war mir nichts passiert.
Ich war völlig unversehrt, aber es war eine eigenartige Empfindung. Dann versuchte ich zu verstehen und fragte mich: "Wie kann ich den Sinn für das Verhältnis der Dinge untereinander so sehr verlieren, daß so etwas passiert?"... Schon seit langer Zeit hatte mir mein Körper gesagt: "Ich sollte mich hinlegen, ich sollte mich hinlegen." Ich antwortete ihm jeweils sehr brutal: "Du hast keine Zeit." (Lachend) Und so passierte es. Hätte ich ihm gehorcht und mich hingelegt, wäre sicher nichts passiert. Aber ich setzte meine Erfahrung fort, außerdem schickte ich mich gerade an, nach unten zu gehen. Deshalb sagte ich ihm: "Schon gut, du kannst dich später hinlegen!" So legte er sich auf seine eigene Art hin. (Lachend) Er legte sich dort hin, wo er war. Tatsächlich war er nicht einmal ausgestreckt, er lag ganz schief.
Nachher betrachtete ich das und sagte ihm: "Aber was soll denn das? Wenn du nicht einmal die Kraft hast, Erfahrungen zu ertragen, kannst du auch die Arbeit nicht tun!" Er antwortete mir sehr klar, daß ich ihn überstrapaziere. Er sagte mir das, und dahinter war Sri Aurobindos Wille deutlich spürbar, der mir erklärte: "Das ist eine Überbeanspruchung. Man kann nicht gleichzeitig stundenlang Leute empfangen, mit ihnen sprechen und Erfahrungen dieser Art haben. Man muß wählen oder jedenfalls besser dosieren." Ich wollte gewiß nicht auf meine Erfahrungen verzichten, so benutzte ich diesen kleinen Zwischenfall, um mich auszuruhen. Es war wirklich nichts. Die Ärzte aber sagten: "Paß auf, das Herz arbeitet nicht richtig!" und all das. Sie wollten mir Medikamente geben. Ich brauche aber keine Medikamente sondern nur Ruhe. So legte ich mich hin, und da ich eine Entschuldigung haben mußte, sagte ich, daß es mir nicht gut gehe, daß ich Ruhe brauche.
Darauf machte sich jedoch eine alte Sache bemerkbar, von der ich dachte, sie sei geheilt, die aber mit der Überarbeitung zurückkam. Etwas, das die Überarbeitung mit sich brachte, als ich noch auf den Sportplatz ging und mich nur zwei Stunden am Tag ausruhte. Das war nicht genug – eine Art Wucherung bildete sich zwischen meiner Nase und dem Hals – eine alte Sache aus meiner Kindheit, eine Wucherung, bei deren Entfernung ein kleiner Hohlraum zurückblieb. Dieser Hohlraum ist an und für sich ungefährlich, ich hatte lediglich hin und wieder einen harmlosen Schnupfen. Durch meine Überarbeitung machte er sich aber wieder bemerkbar, und es bildete sich eine Art Geschwulst; dadurch bekam ich einen künstlichen Schnupfen. Es war so sauer und ätzend, daß der Hals und die Nase schrecklich gereizt wurden. Drüben auf dem Sportplatz (als ich dort Stunden gab, nahm es sehr zu) zeigte ich es einmal dem Arzt. Er sagte mir: "Aber sie haben ja eine Geschwulst!" Eine Riesengeschichte. Er schlug vor, mich zu behandeln. Ich sagte ihm: "Nein, danke. Machen Sie sich keine Sorgen, das wird schon weggehen." Und ich begann mit meiner Yoga-Behandlung. In acht Tagen war alles vorbei. Drei Jahre lang hatte ich nichts mehr davon gemerkt. Vor einiger Zeit (seit zwei, drei Monaten) spürte ich, daß es wiederkommen wollte, und zwar wieder wegen der Überarbeitung. Durch dieses letzte Abenteuer wurde es wieder aktiviert: Ich bekam einen dummen Schnupfen und nieste und hustete. Er ist immer noch nicht vorbei. Es ist überhaupt nicht schlimm, das erlaubt mir aber, den Leuten zu sagen (lachend), daß es mir immer noch nicht sehr gut gehe.
Ich ruhe mich aus.
Dies ist ein schwieriges Problem, denn ich will um keinen Preis mit der Disziplin aufhören (mit der Tapasya, um genau zu sein). Ich will es nicht. Beides zugleich ist aber offensichtlich zu viel für einen dummen kleinen Körper – dumm, weil er angespannt ist.
In den letzten Tagen machte ich diesbezüglich interessante Erfahrungen. Ich hatte etwas, was man gemeinhin Fieber nennt, es war aber kein Fieber sondern ein Wiederauftauchen (aus dem Unterbewußten) von allen Kämpfen und Spannungen, die dieser Körper während... bald vierundachtzig Jahren durchmachte. Zu einer bestimmten Zeit in meinem Leben war die Spannung ungeheuerlich, weil sie zugleich moralischer, vitaler und physischer Natur war: ein ständiger Kampf gegen feindliche Kräfte, besonders während meines Aufenthaltes in Japan. Ach, es war schrecklich! In der Nacht war es dann, als ob alles, was in der Zeit in Japan eine Rolle gespielt hatte (die Leute, die Dinge, die Bewegungen, die Umstände), meinen Körper in Form von vitalen Schwingungen umgebe und an die Stelle meines gegenwärtigen Zustandes getreten sei. Alles Gegenwärtige war vollkommen verschwunden und durch diese Erinnerungen ersetzt worden. Stundenlang erlebte der Körper in der Nacht noch einmal all die schrecklichen Spannungen, die er während der vier Jahre in Japan durchgemacht hatte. Da wurde mir bewußt, wie sehr der Körper Widerstand leistet und angespannt ist (denn im Moment achtet man nicht darauf, man ist mit etwas anderem beschäftigt und nicht auf den Körper konzentriert). Ich bemerkte also, was vor sich ging, und gerade als mir dies klar wurde, teilte mir Sri Aurobindo diesbezüglich mit: "Aber das geht ja weiter! Dein Körper hat immer noch die Gewohnheit, angespannt zu sein." (Es ist natürlich nicht mehr so ausgeprägt; es ist ganz anders, weil sich das innere Bewußtsein im Zustand vollkommenen Friedens befindet, aber der KÖRPER behält die Gewohnheit der Anspannung.) Zum Beispiel steht der Körper in dem kurzen Augenblick, in dem ich mich nach dem Aufstehen vorbereite, auf den Balkon hinunterzugehen (ich muß diesen Körper vorbereiten hinunterzugehen), unter der Spannung, pünktlich zu sein. Genau deshalb geschehen in so einem Moment Unfälle. Also sagte ich mir am folgenden Tag: "Gut, keine Spannungen mehr!", und ich beschäftigte mich ausschließlich damit, meinen Körper völlig ruhig zu halten – ich war nicht später dran als sonst. Es handelt sich also offensichtlich nur um eine schlechte Gewohnheit des Körpers. Alles verlief wie sonst. Aber seither geht es besser. Es ist lediglich eine schlechte Angewohnheit.
Ich schaute mir das an und fragte mich: "Trifft das nur für diesen Körper zu?"... Allen Leuten, die mit ihm gelebt haben, vermittelt er einen zweifachen Eindruck: den eines sehr konzentrierten, beharrlichen Willens und... den einer solchen Ausdauer! Sri Aurobindo sagte mir oft, daß er sich einen Körper mit einer solchen Ausdauer nie erträumt hätte. Wahrscheinlich ist das der Grund... Diese Fähigkeit will ich unbedingt unversehrt lassen – eigenartigerweise ist es ein Wille und auch eine Ausdauer der ZELLEN, kein zentraler Wille, keine zentrale Ausdauer (das ist etwas völlig anderes), nein, es ist zellular. Deswegen pflegte mir Sri Aurobindo zu sagen, dieser Körper sei speziell für diese Arbeit vorbereitet und ausgewählt worden: aufgrund seiner Fähigkeit zu beharrlicher Ausdauer und wegen seines Willens. Aber das ist kein Grund, ihn nutzlos zu gebrauchen. Somit achte ich jetzt darauf, daß er sich entspannt, und ich sage ihm die ganze Zeit: "Aber nein, laß dich gehen! Spiel ein wenig, laß los, was macht das schon!" Ich muß ihm sagen: "Sei ruhig, ganz ruhig!" Dann ist er sehr erstaunt und fragt: "Ach, kann man denn so leben? Kann man leben, ohne sich zu beeilen?"
Deswegen ruhe ich mich also aus. Geht es mir besser oder nicht? – Die Dinge bleiben sich immer gleich. Wenn ich damit wieder anfinge, was ich früher tat... Ich WUSSTE ja die ganze Zeit, wie völlig unvernünftig es war. Ich wußte es durchaus, und ich war unzufrieden damit, denn mir war klar, daß ich etwas tat, was ich nicht tun sollte. Ich habe nicht vor, damit wieder anzufangen, aber wenn ich gesagt hätte: "Ich ziehe mich endgültig zurück", hätte dies... Wenn du wüßtest, wie nachlässig man im Ashram geworden ist, ach!... Schon jetzt muß ich vielen Leuten die Leviten lesen: "Also, vor einer Woche hättet ihr das nicht gemacht." Allein das ist eine Erfahrung: zu sehen, wovon die sogenannte Treue der Leute abhängt.
Man muß sie die ganze Zeit an die Kandarre nehmen.
So ist das.
Hier, mein Kind, ich habe etwas sehr Gutes bekommen! (Mutter lacht und gibt Satprem eine Büchse... ich erinnere mich nicht mehr, was es war, vielleicht Leberpastete.)
Auch bei mir ist eine Lockerung eingetreten...
Für die materielle Substanz ist es eine Notwendigkeit.
Genau darüber beklagte ich mich (!) und sagte mir: "Wenn diese Substanz nicht auskommen kann, ohne zu erschlaffen, wenn sie dem nicht widerstehen kann, wenn sie sich unbedingt entspannen muß und dem Fluß des Bewußtseins nicht folgen kann, wenn sie von Zeit zu Zeit erschlafft, wie kann sie dann je supramentalisiert werden?"... Genau das haben alle immer behauptet: "Sie KANN die Ladung nicht aushalten, sie muß sich entspannen. Sie kann die Energieladung nicht aushalten." Insbesondere diese Energie, die den Leuten fast anomal erscheint – eine Energie, die so wirkt (Geste der Inflexibilität) und die ihren Druck unbegrenzt lange aufrechthalten kann.
Oder wenn der Körper die Ladung nicht ertragen kann, zerbricht etwas – man landet zwischen einem Tisch und... plötzlich auf dem Boden.
Das muß es sein, denn in meinem Leben bin ich relativ oft ohnmächtig geworden. Sogar als ich jung war, blieb ich dabei immer bewußt. Lange Zeit verließ ich häufig meinen Körper, und ich sah ihn dann sofort, stets in einer lächerlichen Position (natürlich dort, wo er nicht sein sollte). So pflegte ich auf dem schnellsten Wege wieder in ihn einzutreten und sagte ihm: "Nun komm schon, was fällt dir denn ein!" Worauf er sich schüttelte und sich wieder in Bewegung setzte, wie ein Esel, dem man einen Klaps gibt, und er geht wieder los.
Aber diese Lockerung war bei mir nie psychologischer Natur. Und ich sah, daß dieses Sich-gehen-lassen bei den Leuten denselben Ursprung hat: Es ist nicht unbedingt eine Nachlässigkeit oder eine vitale Schwäche, durchaus nicht. Es kommt nur davon, daß der Körper nicht mehr mithalten kann, das heißt, er erträgt diese Spannung vitaler Energie nicht mehr, er wird müde und braucht Ruhe.
Im Hinblick auf die gegenwärtige Anordnung der Welt ist das "normal" – es sollte aber nicht normal sein, wenn die supramentale Welt verwirklicht werden soll. Offensichtlich muß eine beträchtliche Veränderung in der Substanz stattfinden. Darin liegt der wesentliche Unterschied zwischen den Körpern, die nach Art der Natur gestaltet sind, und jenen, die mit dem supramentalen Wissen gebaut werden: Es wird ein Element geben, wodurch man nicht mehr natürlich ist. Solange dieses natürliche Element da ist, wird wahrscheinlich ein gewisses Maß an Geduld erforderlich sein – man muß den Körper atmen lassen, sonst fällt etwas auseinander.
Offensichtlich gerät der Körper viel weniger außer Atem, wenn man den inneren Gleichmut der göttlichen Gegenwart hat. Was einen sehr ermüdet, ist die zusätzliche Spannung, die vom Wunsch oder der Anstrengung zu kämpfen herrührt – dieser dauernde Kampf gegen alles, was Widerstand leistet. Das sollte wegfallen.
Man ermüdet völlig nutzlos.
(Schweigen)
Im Verlauf dieser Wiederkehr vergangener Dinge während der letzten Tage erschien mir plötzlich im Überblick das ganze Leben, das ich mit Sri Aurobindo geführt hatte... Was mir dabei half, war die Tatsache, daß ich die Stellen in seinem Buch über mich las 1 – die Briefe, die von mir handelten (die ich übrigens noch nicht gelesen hatte). Das ließ mich die ganzen dreißig Jahre, die ich mit ihm verbrachte, nochmals erleben.
KEIN EINZIGES MAL gab es einen Kampf, eine Spannung oder ein Bemühen im psychologischen oder moralischen Sinne – das bedeutete ein Leben in einer totalen, vertrauensvollen Sicherheit. Es gab zwar Angriffe auf der materiellen Ebene, aber selbst das nahm er auf sich. So sah ich all diese dreißig Jahre mit ihm: nicht EINE Sekunde lang ein Verantwortungsgefühl bei all der Arbeit, der ganzen Organisation, die mir oblag. Vordergründig hatte er mir die Verantwortung übertragen, und er hielt sich im Hintergrund, tatsächlich tat er aber alles. Nie, keine einzige Minute lang, fühlte ich mich verantwortlich – er trug die Verantwortung. Das war wirklich...
Die ersten sieben Jahre tat er die Arbeit, nicht ich. Er empfing die Leute, während ich mich nur um seine Angelegenheiten, seinen Haushalt, sein Essen, seine Kleider usw. kümmerte. Ich war ruhig damit beschäftigt – so hatte ich etwas zu tun. Sonst tat ich nichts, ich empfing keine Leute, sondern sorgte für sein materielles Leben – ein Kinderspiel. Sieben Jahre lang ein integraler Friede.
Nachher zog er sich zurück und ließ mich in den Vordergrund treten. Die Aktivitäten nahmen so ein wenig zu, und der Anschein von Verantwortlichkeit auch, aber es war nur der Anschein. Eine solche Sicherheit! Das Gefühl einer vollkommenen Sicherheit – dreißig Jahre lang. Kein einziges Mal... Es gab nur eine einzige Schramme, wenn ich so sagen darf, als er diesen Unfall hatte und sich das Bein brach: Es war eine Formation (eine gegnerische Kraft), und er war nicht vorsichtig genug, weil diese gegnerische Kraft gegen uns beide gerichtet war, speziell gegen mich (sie hatte ein–, zweimal versucht, mir den Schädel einzuschlagen, solche Dinge). Er war so darauf konzentriert zu verhindern, daß meinem Körper etwas Ernsthaftes zustieß, daß es ihr gelang, sich einzuschleichen und ihm das Bein zu brechen. Das war ein Schock. Aber er brachte fast augenblicklich alles wieder in Ordnung – alles kam wieder in Ordnung, und so war es bis zum Schluß.
Dieses Gefühl von vollkommener Sicherheit war so stark, daß sogar während seiner Krankheit, die Monate dauerte, mir nicht einmal die Idee kam, daß diese Krankheit sein Leben ernsthaft gefährden könnte. Ich wollte es nicht glauben, als mir der Arzt sagte: "Es ist vorbei." Ich wollte es nicht glauben. Solange ich im Zimmer blieb... solange ich da war, konnte er seinen Körper nicht verlassen. Eine schreckliche Spannung war in ihm: einerseits der innere Wille zu gehen, andererseits dieses Etwas, das ihn in seinem Körper zurückhielt, nämlich mein Wissen, daß er lebte und nicht anders als leben konnte. Er mußte mir andeuten, ich solle sein Zimmer verlassen, angeblich, damit ich mich ausruhe (was ich nicht tat), und sobald ich sein Zimmer verlassen hatte, ging er. Man rief mich sofort zurück. Aber es war geschehen. Dann, als er zu mir kam und ich sah, daß es wirklich so war, als er seinen Körper verließ und in den meinen eintrat (der materiellste Teil von ihm, der mit allen äußeren Dingen zu tun hatte) und mir klar wurde, daß ich die gesamte Verantwortung für die ganze Arbeit UND die Sadhana trug – da verschloß ich einen Teil von mir (den Teil des tiefen psychischen Wesens, der in der EKSTASE der Verwirklichung lebte, außerhalb jeglicher Verantwortung, einfach so: das Höchste). Diesen Teil schloß ich weg, versiegelte ihn, und sagte: "Du wirst dich nicht mehr rühren, bis... alles übrige bereit ist!"
(Schweigen)
Das allein war ein Wunder: Wenn ich das nicht getan hätte, wäre ich ihm gefolgt, und niemand hätte die Arbeit tun können. Ich wäre ihm automatisch gefolgt, ich hätte nicht einmal eine Entscheidung treffen müssen. Aber als er in mich eintrat, sagte er mir: "Du wirst es tun; einer von uns mußte gehen, also gehe ich. Du wirst weitermachen!"
Diese Tür wurde erst zehn Jahre später wieder geöffnet, das heißt 1960. Und selbst dann noch sehr vorsichtig – dies war eine der Hauptschwierigkeiten des letzten Jahres.
(Schweigen)
Erst in den letzten Tagen durften all diese Erinnerungen aus dem Unterbewußten aufsteigen, wo sie aufbewahrt wurden, und damit kam auch der Zustand, in dem ich dreißig Jahre lang lebte, wieder an die Oberfläche – mit diesem gewaltigen Unterschied.
Da sagte ich mir plötzlich: "Wie ist es möglich? In der Zeit, während der er hier war, in der wir zusammen waren (nicht bevor ich aus Japan zurückkam, sondern als wir zusammen waren), erfuhr das Leben, das Leben auf der Welt hier, dreißig Jahre lang eine so wunderbare göttliche Möglichkeit... wirklich einzigartig, wie sie bis jetzt und auf diese Weise noch nie da war, und sie wurde nicht einmal wahrgenommen!"
Dies...
Das ist die Erfahrung der letzten Tage.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt (es muß vor einigen Tagen gewesen sein) sagte ich mir: "Wie ist es möglich, daß Menschen hier so nahe gelebt haben (aber das geschieht immer noch) und daß menschliche Wesen mit einer Aspiration und einem auf diese Dinge ausgerichteten Bewußtsein diese Möglichkeit auf der Erde erlebten, diese Möglichkeit HATTEN und nicht davon zu profitieren wußten! Wie konnten sich die Leute nur ein so kleines, kindisches, oberflächliches Bild von einer so wunderbaren und einzigartigen Sache machen?"
Da fragte ich mich ernsthaft: "Ist die Zeit wirklich gekommen, ist es machbar? Oder wird es wieder für später sein?"
(Schweigen)
Gestern las ich im Buch [On Himself]... Sri Aurobindo schreibt darin jemandem, der ihm sagte: "Diejenigen, die in Mutters Nähe leben, haben großes Glück." Er antwortete ihm: "Sie wissen nicht, was Sie sagen! In der physischen Gegenwart der Mutter zu leben, ist eines der schwierigsten Dinge." Erinnerst du dich daran? Ich wußte nicht, daß er dies geschrieben hatte, da sagte ich mir: "Sieh an!"... Er schreibt: "Es ist schwer, in ihrer Nähe zu verweilen, weil der Unterschied zwischen eurem physischen Bewußtsein und ihrem physischen Bewußtsein so gewaltig ist ..." – Genau das ermüdet mich. Das ermüdet meinen Körper, weil er gewohnt ist, in einem bestimmten universellen Rhythmus zu leben.
(Schweigen)
Niemand kann sich vorstellen, wie es in diesen dreißig Jahren war... jenseits aller Probleme und Schwierigkeiten – wir gingen durch alle möglichen Schwierigkeiten, doch es war nichts, NICHTS. Es war nichts, es war... wie ein großes harmonisches Orchester.
(Schweigen)
Aber... offenbar muß die Materie gründlich gehämmert werden, damit sie diese Transformation auf sich nehmen kann.
(Schweigen)
Nichts, wirklich nichts, was man sich in der ewigen Geschichte des Universums vorstellen kann, kommt diesem Schock gleich: ein vollkommenes göttliches Leben wie etwas völlig Natürliches, Alltägliches, OFFENSICHTLICHES gelebt zu haben (die Probleme stellten sich nicht einmal, kamen gar nicht erst auf), und dann... auf einmal wird einem materiell die Basis entzogen. Danach noch hierzubleiben... Man geht einfach, ganz natürlich: die Basis geht weg, also geht man.
(Schweigen)
Ich kann meinem Körper nicht die Schuld zuschieben. Er ist vielleicht ein wenig müde, aber er hat gut standgehalten.
Es war eine solche Gnade, eine absolut wunderbare Macht, die das bewirkte, was ich sagte, die den ganzen Bewußtseinsteil, der dieses Wunder BEWUSST lebte, wegschloß, ihn einfach unter Verschluß hielt: "Eingeschlossen, rühr dich nicht mehr, keine Manifestation für dich; du trittst aus der Zeit und der Manifestation heraus, bis der Rest bereit ist standzuhalten."
Vielleicht war das mehr als alles andere der Grund dafür, daß ich ein wenig allein sein mußte. Es geschah, um den Teil des psychischen Wesens, der das individuelle Zwischenglied zwischen dem wahren Bewußtsein und diesem körperlichen Bewußtsein bildete, wieder zu aktivieren: den Teil, der DAS gelebt hatte, DAS wußte, DAS kannte, dieses unerhörte Wunder kannte.
(Schweigen)
Das wirklich Wunderbare daran ist, daß ich jetzt überhaupt davon sprechen kann.
*
* *
So ist das. Jetzt haben wir wieder nichts getan!
Hast du Fragen? [zu den Aphorismen]
(Satprem liest:)
67 – Im Menschen ist keine Sünde, wohl aber viel Krankheit, Unwissenheit und Fehlanwendung.
68 – Das Gefühl der Sünde war notwendig, damit der Mensch seine eigenen Unvollkommenheiten verabscheue. Es war Gottes Mittel gegen den Egoismus. Aber der menschliche Egoismus begegnet Gottes Mittel, indem er seine eigenen Sünden sehr unvollkommen, die Sünden der anderen aber mit Sperberaugen wahrnimmt.
69 – Sünde und Tugend sind ein Spiel des Widerstandes, das wir mit Gott spielen in seiner Bemühung, uns zur Vollkommenheit zu führen. Das Gefühl der Tugend hilft uns, unsere Sünden insgeheim zu hätscheln.
Und nun?
Möchtest du das kommentieren?
Nein, was für mich eine spezielle Betrachtung verlangt, ist dieses Gefühl der Tugend...
... das uns hilft, unsere Sünden insgeheim zu hätscheln.
Dies leuchtet dem gewöhnlichen menschlichen Denken nicht leicht ein.
Das uns hilft, unsere Sünden insgeheim zu hätscheln.
Aber hast du denn eine Frage?
Es steht in keinem direkten Zusammenhang. Wenn du etwas zu sagen hast...
Es dreht sich immer um das gleiche, aber hier zeigt es sich auf eine sehr subtile Art.
Das Gefühl der Sünde insgeheim hätscheln... Nein, das ist keine Erfahrung, die ich gehabt hätte, insofern, als diese Liebe zur Tugend bei mir nie sehr ausgeprägt war.
Ich bemerkte im Gegenteil, daß ich schon als Kind dieses Bewußtsein hatte, das Sri Aurobindo "göttlich leben" nennt, das heißt, außerhalb der Empfindung von Gut und Böse zu leben.
Dies wurde durch einen schrecklichen Kritiker aufgewogen, der mich nie verließ 2 . Erst Sri Aurobindo befreite mich von ihm. Aber ich hatte keinen Sinn für Sünde, für Gut und Böse, für Tugend und Sünde – nur das nicht! Mein Bewußtsein war vielmehr um right action and wrong action zentriert, das heißt "dies hättest du nicht tun sollen, jenes hättest du tun sollen", ohne Gut und Böse, allein vom Gesichtspunkt der Arbeit, des Handelns aus gesehen – mein Bewußtsein war immer auf das Handeln ausgerichtet. Es war die Vision der Vervollkommnung der zu folgenden Linie oder aller zu folgenden Linien, um die Handlung auszuführen. Bei jeder Abweichung von dem, was mir als die leuchtende Spur erschien, die gerade Linie (nicht "gerade" im geometrischen Sinne, sondern die Leuchtspur, die Linie des Ausdrucks des göttlichen Willens), nur eine winzig kleine Abweichung davon, ach, das war... das einzige, was mich quälte.
Die Qual ging nicht von mir aus, sondern sie kam von diesem Wesen, das sich an mein Bewußtsein geheftet hatte und mich peitschte, mir zusetzte, mich die ganze Zeit mißhandelte – man nennt das im allgemeinen "das Gewissen", aber es hat nichts mit dem Bewußtsein 3 zu tun. Es ist ein gegnerisches Wesen, und es legt alles, was es kann, zum Schlechten aus. Was immer sich in etwas Anti-Göttliches verwandeln läßt, verändert es. Und die ganze Zeit wiederholt es: "Dies ist falsch, das ist falsch, jenes ist falsch ..."
Aber das war auch alles. Nie und nimmer die Vorstellung, tugendhaft oder sündig zu sein – nie, wirklich nie. Darum geht es nicht, sondern man tut das Richtige oder man tut es nicht. Das ist alles. Nicht, daß man tugendhaft oder sündig ist, nichts von alledem! Nie habe ich so empfunden, nie.
Deshalb fällt es mir schwer, mich in die Empfindung zu versetzen, die Sri Aurobindo hier beschreibt ["die Sünde insgeheim hätscheln"], es findet keine Entsprechung in mir. Ich verstehe schon! Ich verstehe sehr wohl, was er sagen will, aber mich in diese Empfindung zu versetzen...
Doch sag mir, was du fragen wolltest.
Alles in allem versucht Sri Aurobindo in diesen letzten Aphorismen offenbar, uns zu sagen, daß man über die Empfindung von Sünde und Tugend hinausgehen muß. Das erinnert mich an eine Erfahrung von dir, die mich damals sehr beeindruckte: die Erfahrung, in der du in die supramentale Welt gingst und dieses "Schiff" sahst, das am Ufer der supramentalen Welt anlegte, wo die Leute geprüft wurden – manche wurden zurückgewiesen, andere angenommen. Du erzähltest diese Erfahrung, und darin fiel mir eine Stelle auf, die einen Bezug zu diesen Aphorismen hat... Kann ich dir vorlesen, was du gesagt hast? 4
Ja, ich erinnere mich nicht mehr daran.
Nach der Beschreibung des Schiffes und der Landung sagst du:
"Der Gesichtspunkt, die Beurteilung war ausschließlich in der Substanz begründet, aus der die Leute geschaffen waren, das heißt, ob sie vollkommen der supramentalen Welt angehörten, ob sie aus dieser so besonderen Substanz gebildet waren. Der angenommene Gesichtspunkt war weder moralisch noch psychologisch. Wahrscheinlich war die Substanz ihrer Körper das Ergebnis eines inneren Gesetzes oder einer inneren Bewegung, die in diesem Augenblick nicht in Frage standen. Jedenfalls ist es völlig klar, daß die Werte verschieden sind ..."
Du fügst noch hinzu:
"Ich hatte den Eindruck (einen Eindruck, der recht lange blieb, fast einen ganzen Tag lang) einer äußersten Relativität – nein, nicht ganz: den Eindruck, daß die Beziehung zwischen dieser Welt hier und der anderen vollkommen den Gesichtspunkt verändert, nach welchem die Dinge bewertet oder eingeschätzt werden sollten ..."
Ja, ja!
"Dieser Gesichtspunkt hatte nichts Mentales an sich, er gab das seltsame innere Gefühl, daß eine Vielzahl von Dingen, die wir für gut oder schlecht halten, in Wirklichkeit nicht so sind. Es war sehr klar, daß alles von der FÄHIGKEIT der Dinge abhängt, von ihrer KAPAZITÄT, die supramentale Welt auszudrücken oder in Beziehung mit ihr zu stehen. Das war so vollkommen anders, manchmal sogar so entgegengesetzt, verglichen mit unserer gewöhnlichen Bewertung."
Ja.
Du fährst dann fort:
"Ich sah auch bei den Leuten, daß das, was ihnen hilft, supramental zu werden, oder was sie daran hindert, sehr verschieden ist von dem, was uns unsere gewöhnlichen moralischen Begriffe sagen."
Ja, ja.
Da wollte ich dich fragen: Wenn es nicht moralische Begriffe sind, welches ist dann die FÄHIGKEIT oder Eigenschaft, die uns hilft, uns dem Supramental zu nähern? Welches ist dieser völlig andere Gesichtspunkt?
Genau all die Dinge, die ich in den vergangenen Tagen beobachtet und studiert habe. Davon erzähl ich dir das nächste Mal.
Das hat mich damals sehr beeindruckt.
Es hat mich nie verlassen. Seit damals hat sich meine Sicht der Dinge nicht verändert. Ich muß sie allerdings übersetzen, damit sie verständlich wird.
Ich sehe dich am zwölften.
Am zwölften erzähle ich dir davon. Ich werde versuchen, eine Formulierung dafür zu finden.
(Lachend) Hast du noch genug Käse, Kind? Hast du alles, was du brauchst? Es muß dir gut gehen!
1 On Himself
2 Siehe Agenda, Band I, S. 148
3 Im Französischen bedeutet das Wort "conscience" sowohl Bewußtsein als auch Gewissen.
4 Siehe die Erfahrung vom 3. Februar 1958, Agenda, Band I, S. 134ff.