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Mutters

Agenda

dritten Band

27. Februar 1962

72 – Es ist ein Zeichen aufdämmernder Erkenntnis zu fühlen, daß man erst wenig oder gar nichts weiß; und doch hätte man schon alles Wissen, wenn man nur wüßte, was man weiß.

Was hast du zu fragen?

Hast du selber dazu nichts Spezielles zu sagen?

(Mutter schüttelt den Kopf)

Ich habe eine Frage vorbereitet, sie lautet: "Es kommt vor, daß man im Schlaf ein sehr genaues Wissen darüber hat, was geschehen wird, ein Wissen voll konkreter Details von überraschender Präzision, als ob auf einer okkulten Ebene alles bis ins geringste Detail schon ausgearbeitet worden wäre. Stimmt das? Was ist diese Ebene des Wissens? Ist es eine bestimmte Ebene, oder gibt es mehrere davon? Wie kann man im Wachzustand einen bewußten Zugang dazu finden? Und wie kommt es, daß ernstzunehmende Leute, die Gott in sich verwirklicht haben, sich manchmal in ihren Voraussagen so grob täuschen können?

Ooh, das ist eine ganze Welt! (Mutter lacht) Das ist nicht eine Frage, das sind zwanzig!

Wenn dich etwas davon interessiert...

Das ist sehr interessant, aber es wird mindestens acht Seiten ergeben!

Wahrträume...

Es gibt mehrere Arten von Wahrträumen. Gewisse Träume dieser Art verwirklichen sich sofort, das heißt man träumt nachts von dem, was am folgenden Tag geschehen wird. Aber es gibt Wahrträume, deren Erfüllung sich über eine mehr oder weniger lange Zeit erstreckt, und je nach dem Zeitpunkt ihrer Erfüllung werden sie in verschiedenen Bereichen geträumt.

Je mehr man sich einer absoluten Gewißheit nähert, desto größer ist die Zeitspanne, weil man diese Visionen in einem Bereich hat, der sehr nahe am Ursprung liegt, und so kann die Zeit zwischen der Offenbarung des Kommenden und seiner Verwirklichung sehr lang sein. Weil man aber so nahe am Ursprung ist, hat die Offenbarung große Gewißheit.

Wenn man mit dem Höchsten identifiziert ist, herrscht absolute Gewißheit: in der Vergangenheit, in der Gegenwart, in der Zukunft und überall. Aber die Leute, die dorthin gehen, vergessen beim Zurückkommen im allgemeinen, was sie gesehen haben. Eine besonders strenge Disziplin ist nötig, um sich zu erinnern. Das ist der einzige Ort, wo man sich nicht täuschen kann.

Aber die Kommunikationsmaschen oder -glieder sind nicht immer vollständig, und es ist selten, daß man sich erinnert.

Um auf das zuerst Gesagte zurückzukommen, läßt sich jedenfalls je nach der Ebene der Vision ungefähr abschätzen, wie lange es dauert, bis sich die Vision verwirklicht. Unmittelbar bevorstehende Dinge existieren bereits in verwirklichter Form auf der subtilphysischen Ebene und können dort gesehen werden – sie sind dort existent, und was sich am folgenden Tag oder einige Stunden später abspielt, ist lediglich ihre Widerspiegelung (nicht einmal eine Übertragung) oder die Projektion des Bildes in der materiellen Welt. Im Subtilphysischen sieht man die Sache exakt in ihren sämtlichen Details, weil sie schon existiert. Alles hängt von der Genauigkeit und Fähigkeit der Vision ab: Wenn die visionäre Fähigkeit objektiv und aufrichtig ist, sieht man die Sache exakt; wenn sich jedoch Gefühle und Eindrücke hinzugesellen, wird sie verfärbt. Die Genauigkeit im Subtilphysischen hängt ausschließlich vom Instrument, das heißt vom Sehenden, ab.

Sobald man aber in einen feinstofflicheren Bereich gelangt, wie im Vital (und noch viel mehr im Mental), erweitert sich der Spielraum der Möglichkeiten. In groben Zügen kann man erkennen, was passieren wird, aber die Einzelheiten können so oder auch anders sein, denn bestimmte Bestrebungen und Einflüsse können dazwischentreten und zu Abweichungen führen.

Das kommt daher, daß der ursprüngliche Wille sich sozusagen in verschiedenen Bereichen widerspiegelt, wobei sich die Anordnung und Beziehung der Bilder untereinander je nach Bereich ändert. Die Welt, in der wir leben, ist eine Bilderwelt – nicht die Sache in ihrem eigentlichen Wesen sondern die Widerspiegelung dieser Sache. Man könnte sagen, daß wir in unserer materiellen Existenz lediglich eine Widerspiegelung, ein Abbild dessen darstellen, was wir in unserer eigentlichen Wirklichkeit sind. Die spezielle Beschaffenheit dieser Widerspiegelungen führt dann zu den Irrtümern und Verfälschungen – was man als wesentliche Wahrheit sieht, ist vollkommen wahr und rein und existiert seit aller Ewigkeit; die Bilder aber sind grundlegend veränderlich. Je nach dem Grad der den Schwingungen beigemengten Falschheit erhöht sich das Ausmaß der Entstellung und Abwandlung. Man könnte sagen, daß jeder Umstand, jedes Ereignis und jedes Ding eine reine Existenz – die wahre Existenz – und eine beträchtliche Anzahl unreine oder entstellte Existenzformen in den verschiedenen Wesensbereichen hat. Im intellektuellen Bereich zum Beispiel finden wir den Anfang einer wesentlichen Entstellung (der mentale Bereich weist eine beträchtliche Anzahl Entstellungen auf), und die Entstellungen nehmen zu, sobald sämtliche Gefühls- und Sinnesbereiche auf den Plan treten. Auf der materiellen Ebene angekommen, ist die Vision in den meisten Fällen nicht mehr erkenntlich, unrecognizable. Sie ist vollständig entstellt, und zwar so sehr, daß es manchmal schwierig zu erkennen ist, daß dies der materielle Ausdruck von dem sein soll – es besteht keine große Ähnlichkeit mehr.

Dieser Problemansatz ist recht neu und kann den Schlüssel zu vielen Dingen liefern.

Angenommen, man kennt jemanden gut, dem man materiell zu begegnen pflegt: Wenn man die betreffende Person im Subtilphysischen sieht, treten gewisse Dinge schon deutlicher hervor und werden sichtbarer und wichtiger, Dinge, die man auf der körperlichen Ebene nicht wahrnahm, weil sie im materiellen Einerlei von vielen anderen Dingen nicht mehr zu unterscheiden waren. Gewisse Ausdrucksformen des Charakters, die physisch nicht ersichtlich waren, werden nun bedeutend genug, um sichtbar zu werden. Wenn man jemanden auf der körperlichen Ebene betrachtet, erkennt man die Gesichtsfarbe, die Form der Gesichtszüge, den Ausdruck; wenn man dieses Gesicht gleichzeitig im Subtilphysischen sieht, nimmt man plötzlich wahr, daß ein Teil des Gesichts eine bestimmte Farbe und ein anderer Teil eine andere Farbe hat, daß sich in den Augen ein Ausdruck und eine Art Licht zeigen, die zuvor nicht sichtbar waren, und daß einem alles völlig anders vorkommt. Unseren physischen Augen würde dieser ganz andere Gesamteindruck recht ausgefallen erscheinen, für die feinstoffliche Sicht aber drückt es den Charakter aus und enthüllt sogar die Einflüsse, denen die betreffende Person unterworfen ist. (All dies ist die Wiedergabe einer Erfahrung, die ich vor einigen Tagen machte.)

Je nach der Ebene, deren man sich bewußt ist und in der man sich umsieht, nimmt man unterschiedlich nahe Bilder und Ereignisse auf mehr oder weniger exakte Weise wahr. Die einzige wahre und sichere Schau ist die Schau des göttlichen Bewußtseins. Das Problem ist also, sich des göttlichen Bewußtseins bewußt zu werden und dieses Bewußtsein die ganze Zeit über in allen Einzelheiten aufrechtzuerhalten.

Bis man das erreicht, gibt es alle möglichen Arten, Hinweise zu erhalten. Diese exakte und präzise und... (wie soll ich sagen?) vertraute Schau, die gewisse Leute haben, kann aus mehreren Quellen herrühren. Es kann eine Schau durch Identität mit den Umständen und den Dingen sein, wenn man gelernt hat, sein Bewußtsein auszuweiten. Oder es kann ein Hinweis eines Schwätzers aus der unsichtbaren Welt sein, der sich damit unterhält, den Leuten mitzuteilen, was passieren wird – was sehr häufig vorkommt. In so einem Fall hängt alles von der moralischen Beschaffenheit des "Übermittlers" ab: Wenn er sich auf Kosten der Leute amüsiert, denkt er sich Geschichten für sie aus – genau das passiert meistens jenen, die ihre Informationen von Wesenheiten empfangen. Um die Leute zu ködern, erzählen sie ihnen oft kommende Dinge (sehr oft haben sie nämlich eine universelle Schau in irgendeinem Bereich des Vitals oder Mentals). Wenn sie dann sicher sind, daß man ihnen vertraut, können sie den Leuten einen Bären aufbinden, und, wie man auf englisch sagt, you make a fool of yourself [man macht sich lächerlich]. Das kommt so oft vor! Man müßte selbst in einem höheren Bewußtsein als jenem dieser Individuen oder Wesenheiten sein (oder dieser kleinen Gottheiten, wie sie von einigen genannt werden) und den Wert ihrer Aussagen von oben überprüfen können.

Wenn man im Besitz der universellen mentalen Schau ist, kann man alle mentalen Formationen erkennen. Dann kann man sehen – was sehr interessant ist –, wie die mentale Welt vorgeht, um sich auf der physischen Ebene zu verkörpern. Man sieht die verschiedenen Formationen, die Art und Weise, wie sie sich annähern oder bekämpfen, sich verbinden und organisieren, man sieht, wie einige die Oberhand gewinnen, einen größeren Einfluß ausüben und eine vollständigere Verwirklichung erzielen. Wenn man aber eine wirklich überlegene Schau haben will, muß man den Bereich der mentalen Welt verlassen und die ursprünglichen Willensformen bei ihrer Herabkunft in die Formenwelt wahrnehmen. In diesem Fall erkennt man vielleicht nicht alle Details, aber die zentrale TATSACHE; die Tatsache in ihrer grundlegenden Wahrheit ist indiskutabel, unleugbar und absolut korrekt.

Einige Leute haben auch die Fähigkeit, Dinge vorauszusagen, die schon auf der Erde existieren, aber in der Ferne, in einem sehr weiten Abstand von den physischen Augen. Das sind im allgemeinen jene, die im Besitz der Fähigkeit sind, ihr Bewußtsein auszudehnen und zu erweitern. Sie haben eine physische Sicht, die ein wenig feinstofflicher ist, eine Sicht, die von einem feinstofflicheren Organ als vom rein materiellen abhängt (man könnte es das Leben dieses Organs nennen). Wenn sie dann ihr Bewußtsein mit dem Willen zu sehen aussenden, können sie sehr gut wahrnehmen – sie sehen Dinge, die bereits existieren, aber noch nicht unser gewöhnliches Gesichtsfeld erreicht haben. Leute mit dieser Fähigkeit, die sagen, was sie sehen – aufrichtige Leute, keine Bluffer –, nehmen auf absolut präzise und exakte Weise wahr.

Letztlich ist der entscheidende Faktor bei allen, die weissagen und hellsehen, ihre absolute Aufrichtigkeit. Wegen der Neugier der Leute, ihren beharrlichen Fragen und ihrem Drängen – dem übrigens sehr wenige widerstehen können –, ergänzt eine fast unwillkürlich wirkende innere Vorstellungskraft das kleine Element, das noch fehlt. Genau das führt dann zu fehlerhaften Voraussagen. Sehr wenige Leute haben den Mut zu sagen: "Nein, das weiß ich nicht, dies sehe ich nicht, das entzieht sich meiner Kenntnis." Sie haben nicht einmal den Mut, es sich selbst einzugestehen! Dann braucht es nur ein ganz klein wenig Phantasie, die fast unbewußt agiert, um die Vision oder Information zu ergänzen – so daß alles Beliebige herauskommen kann. Sehr wenige Leute können dem widerstehen. Ich kannte sehr viele Medien, viele außerordentlich begabte Wesen, und nur sehr wenige konnten genau dort aufhören, wo ihr Wissen endete. Oder aber es wird ein Detail hinzugedichtet. Aus diesem Grunde sind ihre Fähigkeiten immer ein wenig verdächtig. Man müßte wirklich ein Heiliger sein – ein großer Heiliger, ein großer Weiser – und völlig frei, losgelöst von jeglichem Einfluß der Leute (ich spreche nicht von jenen, die sich einen Namen machen wollen, weil die schon ganz am Anfang stolpern); aber sogar Gutwilligkeit – die Leute zufriedenstellen, ihnen eine Freude machen oder helfen zu wollen – reicht schon aus, um alles zu entstellen.

(Lächelnd) Noch ein Wunsch? Habe ich alles beantwortet?

Eine Frage drängt sich mir auf. Wenn die Ereignisse im Subtilphysischen schon existieren und man sie sieht, ist es dann nicht schon zu spät, ihren Gang zu verändern? Kann man dann noch etwas tun?

Dazu gibt es ein sehr interessantes Beispiel, das ich immer anführe. Der Betreffende erzählte es mir selbst. Vor langer Zeit (du mußt noch ganz klein gewesen sein) erschien in der Zeitung Le Matin jeden Tag ein kleines Cartoon eines Jungen, wie ein Liftboy (er erzählte es mir auf englisch), der mit dem Finger auf das Datum oder etwas Ähnliches zeigte (er war wie ein Hotelpage gekleidet). Dieser Mann war auf Reisen und wohnte in einem großen Hotel, ich weiß nicht mehr in welcher Stadt, jedenfalls einer Großstadt, und er erzählte mir, daß er nachts oder frühmorgens einen Traum hatte: Er sah, wie ihm dieser Hotelpage einen Leichenwagen zeigte (weißt du, so einen, mit dem man die Leute in Europa zum Friedhof bringt) und ihn einlud einzusteigen. Er sah dies. Als er am Morgen fertig war, verließ er sein Zimmer, das ganz oben war, und auf dem Treppenabsatz sah er... diesen selben, gleichgekleideten Jungen, der auf den Aufzug zeigte, damit er einsteige. Das versetzte ihm einen Schock. Er lehnte ab: "Nein, danke!" Der Aufzug stürzte ab. Er wurde zerschmettert, und die Leute darin kamen um.

Er sagte mir, daß er danach an Träume glaubte.

Es war eine Vision. Er sah diesen Jungen, aber anstatt auf den Aufzug zeigte er auf seinen Leichenwagen. Als er dann sah, wie derselbe Junge genau die gleiche Geste machte wie in dem Cartoon, sagte er: "Nein, danke, ich gehe zu Fuß hinunter." Die Maschine versagte und stürzte ab (es war ein hydraulischer Aufzug), von ganz oben, die Leute wurden zu Brei zermalmt.

Meine Erklärung lautete (er fragte mich danach): Eine Wesenheit hatte ihn gewarnt. Das Bild des Hotelpagen weist auf eine Intelligenz, ein Bewußtsein als Vermittler hin – es scheint nicht sein eigenes Unterbewußtsein gewesen zu sein! 1 Oder aber sein Unterbewußtsein war auf dem laufenden, weil es im Subtilphysischen gesehen hatte, was passieren würde – aber warum hätte ihm sein Unterbewußtsein ein solches Bild präsentiert? Ich weiß es nicht. Vielleicht wußte etwas im Unterbewußtsein davon – im Subtilphysischen existierte es ja schon da. Der Unfall – das Gesetz des Unfalls – existierte schon vor seinem Eintreten.

Offensichtlich besteht stets eine Zeitdifferenz, manchmal von einigen Stunden (das ist allerdings das Maximum), manchmal von Sekunden. Sehr häufig kündigen sich die Dinge an, wobei es eine Sache von einigen Minuten oder einigen Sekunden sein kann, um mit dem Bewußtsein in Kontakt zu treten. Ich weiß ständig, was passieren wird (absolut belanglose Dinge; sie im voraus zu wissen, ändert überhaupt nichts), aber diese Dinge existieren bereits und umgeben einen. Wenn das Bewußtsein weit genug ist, weiß man all das – zum Beispiel, daß mir die und die Person ein Paket bringt oder gleich eintrifft (solche Dinge). Das geschieht jeden Tag. Der Grund dafür liegt darin, daß das Bewußtsein ausgebreitet und folglich mit den Dingen in Kontakt ist.

Aber in so einem Fall kann man nicht von Wahrsagung sprechen, denn die Sache existiert ja schon; nur dauert es einige Sekunden, bis der Kontakt mit unseren Sinnen zustandekommt, weil eine Türe oder eine Wand dazwischen liegt.

Ich hatte mehrere ähnliche Erfahrungen. Einmal, auf einer Bergtour, lief ich auf einem Gebirgspfad, wo nur Platz für einen war: auf der einen Seite der Abgrund und auf der anderen der steil aufragende Fels. Drei Kinder folgten mir, und eine vierte Person bildete den Abschluß. Ich lief an der Spitze. Der Pfad führte um den Fels herum, das heißt man sah nicht, was vor einem lag (es war wirklich recht gefährlich: wenn man ausglitt, wäre es vorbei gewesen). Ich ging also voran, und plötzlich erblickte ich mit anderen Augen als den normalen (obwohl ich meinen Schritten aufmerksam folgte) eine Schlange, die hinter der Wegbiegung auf dem Felsen lag. Ganz behutsam tat ich einen Schritt voran, und tatsächlich war dort eine Schlange. Das ersparte mir den Schock der Überraschung (da ich sie ja gesehen hatte und vorsichtig weiterging), und so konnte ich den Kindern sagen, ohne sie zu erschrecken: "Bleibt stehen, seid ruhig und bewegt euch nicht!" Ein Schock hätte schlimme Folgen haben können. Die Schlange hatte ein Geräusch gehört, sie hatte sich schon zusammengerollt und lag in Verteidigungsposition mit wiegendem Kopf vor ihrem Loch – es war eine Viper. Das geschah in Frankreich. Nichts passierte, aber wer weiß, was mit Verwirrung und blinder Aufregung geschehen wäre.

Diese Art Dinge erlebte ich sehr, sehr oft (allein viermal mit Schlangen). Ein Vorfall spielte sich hier, in der Nähe des Fischerdorfes Ariankuppam ab, wo ein Fluß ins Meer mündet. Die Nacht war sehr rasch hereingebrochen, und es war stockdunkel. Wir liefen auf einer Straße, und mitten im Schritt (ich hatte meinen Fuß gehoben und wollte ihn gerade wieder aufsetzen) hörte ich deutlich eine Stimme an meinem Ohr: "Vorsicht!" Es hatte jedoch niemand ein Wort gesagt. Darauf sah ich hin, und unmittelbar dort, wo mein Fuß den Erdboden berühren wollte, lag eine riesige schwarze Kobra, auf die ich bestimmt getreten wäre. Diese Burschen mögen das gar nicht. Sie nahm Reißaus und schwamm im Wasser auf und davon – wie schön das Tier war, mein Kind! Mit offener Haube und erhobenem Kopf schwamm sie wie eine Königin durchs Wasser. Ich hätte sicher für meine Frechheit gebüßt.

Solche Dinge stießen mir Hunderte von Malen zu: Im letzten Moment (keine Sekunde zu früh) wurde ich jeweils gewarnt, und dies unter sehr verschiedenen Umständen. Einmal, in Paris, überquerte ich gerade den Boulevard Saint Michel. Ich hatte beschlossen, innerhalb einer gewissen Anzahl Monate die Vereinigung mit der psychischen Gegenwart, dem inneren Göttlichen zu erreichen; ich dachte nur noch an das, ich war nur noch damit beschäftigt, und es waren die letzten Wochen dieser Zeit. Ich wohnte in der Nähe des Palais du Luxembourg, und ich war abends auf einem Spaziergang zu den Gärten des Luxembourg, um mich dort hinzusetzen – die ganz Zeit nach innen gewandt. Dort ist eine Art Kreuzung – gewiß nicht der Ort, den man verinnerlicht überqueren sollte, nicht gerade vernünftig! In diesem Zustand also trat ich auf die Kreuzung, als ich auf einmal einen Schock verspürte, wie ein Stoß, und instinktiv machte ich einen Satz zurück. Als ich zurücksprang, ratterte eine Straßenbahn an mir vorbei. Ich hatte sie auf eine Distanz von etwas mehr als einer Armlänge gespürt. Sie hatte meine Aura berührt, die Schutzaura (zu jenem Zeitpunkt war sie sehr stark – ich war in den Okkultismus vertieft und wußte, wie ich sie bewahren konnte). Die Schutzaura war also berührt worden, was mich buchstäblich zurückwarf, so als ob ich einen physischen Stoß erhalten hätte. Begleitet von den Beschimpfungen des Straßenbahnführers.

Ich sprang genau rechtzeitig zurück, und die Straßenbahn fuhr an mir vorbei.

Es fällt mir im Moment nichts mehr ein, aber solche Geschichten könnte ich haufenweise erzählen.

Die Gründe dafür können verschiedenartig sein. Sehr oft wurde ich von jemandem gewarnt, von einer kleinen Wesenheit oder irgendeinem Wesen. Manchmal beschützte mich die Aura – vor allen möglichen Dingen. Das heißt, das Leben war selten auf den physischen Körper beschränkt. Das ist hilfreich und gut. Es ist sogar notwendig, es verstärkt eure Fähigkeiten. Genau das sagte mir Théon schon ganz am Anfang: "Ihr beraubt euch der nützlichsten Sinne, AUCH FÜR DAS GEWÖHNLICHE LEBEN. Wenn man seine inneren Sinne entwickelt (er gab ihnen phantastische Namen), könnt ihr ..." Und es ist wahr, vollkommen wahr; durch den bloßen Gebrauch unserer bestehenden Sinne können wir unendlich viel mehr wissen, als es normalerweise der Fall ist. Und dies nicht nur auf mentaler sondern auch auf der vitalen und der physischen Ebene.

Aber durch welche Methode?

Ach, die Methode ist sehr leicht. Es gibt verschiedene Formen von Disziplinen. Das hängt davon ab, was man tun will.

Es kommt darauf an. Für jede Sache gibt es eine Methode. Vor allem muß man es aber wollen, das heißt man muß sich dafür entscheiden. Dann gibt man euch die Beschreibung all dieser Sinne mit ihren Funktionsweisen – eine lange Geschichte. Man wählt einen Sinn (oder mehrere), zum Beispiel denjenigen, für den man anfänglich die größte Begabung mit sich bringt, und entscheidet sich. Dann folgt man der Disziplin. Genau so, wie man seine Muskeln durch Übungen entwickelt. Man kann sogar Willenskraft in sich heranbilden.

Für die feinstofflichen Sinne ist die Methode, sich ein exaktes Bild von dem zu machen, was man sich wünscht, mit der entsprechenden Schwingung Kontakt aufzunehmen, um sich dann zu konzentrieren und Übungen zu machen. Zum Beispiel übt man sich darin, durch die Dinge hindurchzusehen oder durch einen Ton hindurchzuhören 2 oder Dinge auf Distanz zu sehen. Einmal war ich für mehrere Monate bettlägerig, was ich ziemlich langweilig fand – ich wollte sehen. Ich lag in einem Zimmer, und hinter dem Zimmer war ein weiteres kleines Zimmer und dahinter eine Art Brücke. In der Gartenmitte ging diese Brücke in eine Treppe über, die in ein sehr großes und schönes Studio mitten im Garten hinunterführte 3 . Ich wollte sehen, was sich im Studio abspielte, denn ich langweilte mich in meinem Zimmer. Also blieb ich ganz ruhig, schloß meine Augen und sandte mein Bewußtsein nach und nach aus, ganz allmählich. Dies Tag für Tag: Regelmäßig machte ich meine Übungen zu einer bestimmten Stunde. Zuerst bedient man sich seiner Vorstellungskraft, und dann wird es zu einer Tatsache. Nach einer bestimmten Zeit konnte ich physisch wahrnehmen, daß sich meine Sicht verschob. Ich folgte ihr und sah unten Dinge, von denen ich überhaupt nichts wußte. Abends überprüfte ich alles, indem ich fragte: "War dies und jenes so und so?"

Aber jeden dieser Sinne muß man geduldig, ja, fast stur monatelang üben. Man nimmt einen Sinn nach dem anderen dran: das Gehör, den Sehsinn, und schließlich gelangt man zu den subtileren Sinnen wie Geschmack, Geruch und Tastsinn.

Auf mentaler Ebene ist es leichter, denn in diesem Bereich ist man eher gewöhnt, sich zu konzentrieren. Wenn man nachdenken und eine Lösung finden will, unterbricht man alle Tätigkeiten, und anstatt intellektuellen Folgerungen nachzugehen, stellt man sich völlig auf die Idee oder das Problem ein und gelangt schließlich durch große Konzentration zum Kernpunkt der Sache. Man hört mit allem auf und wartet, bis man durch die Intensität der Konzentration eine Antwort erhält. Auch dies braucht ein wenig Zeit, aber wenn man je ein guter Schüler war, versteht man schon etwas davon – es ist nicht wirklich schwierig.

Die physischen Sinne haben eine Art Erweiterung. Zum Beispiel sind der Gehör- und der Geruchssinn der Indianer viel stärker ausgebildet als die unsrigen (auch bei Hunden). Ich kannte einen Indianer. Er war mein Freund, als ich acht oder zehn war. Er war in den Tagen des Variété-Theaters mit Buffalo Bill gekommen (ach, das ist lange her!). Wenn er sein Ohr an den Boden schmiegte, war er so geschickt, daß er Entfernungen abschätzen konnte: Aufgrund der Stärke der Vibrationen konnte er sagen, aus welcher Entfernung die Schritte von jemandem kamen. Worauf alle Kinder sagten: "Das will ich auch lernen!" Und so versucht man es.

Auf diese Weise bereitet man sich vor. Man glaubt, man tue es nur zum Spaß, aber tatsächlich bereitet man sich für später vor.

 

1 Mutter präzisierte: "Was mich glauben läßt, daß es eine Wesenheit war, ist das Bild, während sein Unterbewußtsein ihn normalerweise ganz einfach vor der Tatsache gewarnt hätte."

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2 "Durch einen Ton hindurchzuhören", präzisierte Mutter, "bedeutet, mit der feinstofflichen, hinter den materiellen Tatsachen liegenden Realität in Verbindung zu treten: die Realität hinter dem Wort zum Beispiel oder hinter dem physischen Klang oder der Musik. Man konzentriert sich und hört dann, was dahinter liegt. Dies bedeutet, mit der hinter den Erscheinungen liegenden vitalen Realität in Kontakt zu treten (es kann auch eine mentale Realität sein, aber im allgemeinen existiert unmittelbar hinter dem physischen Klang eine vitale Realität)."

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3 Das Atelier in der Rue Lemercier in Paris, im Jahre 1897.

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