Mutters
Agenda
dritten Band
27. Oktober 1962
(Eine unglückliche Reihe von Stromausfällen verhinderte die Aufnahme dieses ganzen Gesprächs, außer einigen Passagen. Ich notierte die fehlenden Stellen aus dem Gedächtnis, später ergänzte Mutter meine Notizen durch Kommentare und Zusätze.)
Auf der Terrasse wird ein kleines Zimmer gebaut, um das Harmonium aufzustellen. Ich möchte einige Versuche machen ....
Eine falsche Einstellung des Körpers störte mich immer beim Spielen. Jetzt, wo sie verschwunden ist, möchte ich sehen, was geschieht. Etwas im Unterbewußten stellte sich immer in den Weg, und zwar alles, was einem während des Musikstudiums beigebracht wird, daß man jene Note nicht mit dieser Note spielen dürfe und solche Dinge. So stellte ich mich auf die höheren Ebenen ein und lauschte, aber immer kamen diese alten unbewußten Gewohnheiten dazwischen. Jetzt hat sich das alles geändert, und ich möchte sehen, was sich daraus ergibt – vielleicht wird es ja ein Mißklang!
Aber ich spiele keine Musik, ich versuche nicht, Musik zu spielen: es ist nur eine Art Meditation mit Tönen.
Ich höre ständig große musikalische Wellen. Es genügt, daß ich ein wenig zurücktrete, und schon ist es da, ich höre es. Es ist immer da. Es sind keine Töne, und doch ist es Musik. Große musikalische Wellen. Immer wenn ich diese Wellen höre, wollen meine Hände spielen. Ich werde also einige Erfahrungen machen: vollkommen unbewegt bleiben, die Hände reglos halten und versuchen, es zu übertragen.
Sie wollen elektrische Drähte an der Decke anbringen, um automatisch aufzuzeichnen, was ich spiele. Ich sagte ihnen: "Das ist eure Sache, aber erwartet keine Musik!"
Einmal betrat ich die Welt der Musik, und was ich hörte, war so wunderbar, so unglaublich schön, daß ich nach dem Aufwachen während mehrerer Stunden wie unter Schock stand. Es war unglaublich. Wo liegt diese Welt?
Ich kenne sie sehr gut. Ich ging sehr häufig dorthin. Sie liegt ganz oben im menschlichen Bewußtsein, an der Grenze zwischen der unteren und der höheren Hemisphäre, wie Sri Aurobindo es ausdrückte. Sehr hoch, sehr hoch.
Diesen Bereich habe ich ausführlich studiert.
Es ist eine Welt der Schöpfung mit mehreren Abstufungen oder Graden.
Diesen Vorgang würde ich gern verstehen. Ich muß im Buch darüber sprechen.
Zuerst gelangt man in den Bereich der Malerei, Bildhauerei, Architektur: alles, was eine materielle Form hat. Es ist der Bereich der Formen – farbige Formen, die sich durch Gemälde, Skulpturen oder Architektur ausdrücken. Aber diese Formen sind nicht so, wie wir sie kennen, es sind eher Urformen. Man sieht zum Beispiel Grundformen von wunderbar schönen und bunten Gärten oder Grundformen von Bauwerken.
Dann folgt der musikalische Bereich, und dort trifft man auf den Ursprung der Töne, aus denen die verschiedenen Komponisten ihre Inspiration bezogen. Es sind große musikalische Wogen, aber ohne daß man Töne hörte. Das erscheint etwas komisch, doch so ist es.
Wenn du spielst, hörst du etwas, oder wie geschieht das?
Wenn ich spiele, höre ich gewöhnlich, was ich spiele. Schwer zu sagen... Es ist nicht einfach ein Ton sondern eine Vielfalt von Tönen, und es ist nicht der Ton... nein, es ist nicht derselbe Ton. Ja, etwas wie die Essenz des Tones. Ich habe zum Beispiel das Gefühl, daß das, was ich höre, sich durch ein großes Orchester ausdrücken müßte... Ich SEHE große Orchester vor mir, rechts und links... ich muß das durch ein einziges Harmonium ausdrücken, verstehst du! Das Orchester besteht aus Gruppen von Musikern, von denen jeder einen Teil des Ganzen ausdrückt, welches einem viel vollkommeneren Klang entspricht, als das Ohr hören kann. Man kann es nicht durch das Singen einer Melodie ausdrücken, sondern es ist eine Gesamtheit musikalischer Schwingungen. Ich sehe also zugleich, wie es sich ausdrücken müßte. Ich sehe große Orchester um mich herum. Aber es ist auch eine andere Art des Sehens: keine Sicht, wie man sie mit dem Auge hat, mit derselben Genauigkeit. Nein, dieses Sehen ist sehr... es ist eine Sicht des Bewußtseins. Wie soll man das beschreiben! Man kann lediglich sagen, daß es nicht unsere gewöhnliche Art des Sehens und Hörens ist.
Es ist ein annähernd vollständiges Wissen: eine Vision, ein Wissen um die Gesamtheit der Töne und wie sie sich ausdrücken müssen.
Über dem musikalischen Bereich liegt das Denken: die Gedanken, die Anordnungen des Denkens für Theaterstücke, Bücher, Abstraktionen für Philosophien. Mich interessierten besonders die Kombinationen, die Romane oder Theaterstücke ergeben.
Das ist der dritte Bereich.
Hört man im intellektuellen Bereich Töne?
Nein, im intellektuellen Bereich handelt es sich um Formationen von Gedanken, die sich im Gehirn eines jeden in seiner eigenen Sprache ausdrücken. Dort findet man die Kombinationen für Romane, Dramen usw., sogar philosophische Systeme. Es sind Kombinationen des Denkens, des reinen Denkens, nicht eines in einer Sprache formulierten Gedankens. Dieser Gedanke drückt sich automatisch im Gehirn jedes einzelnen in seiner eigenen Sprache aus. Es ist der Bereich des reinen Denkens. Dort arbeitet man, wenn man für die Erde als Ganzes arbeiten will. Man sendet keine in Worten formulierte Gedanken sondern den reinen Gedanken, der sich in jedem Gehirn in jeder beliebigen Sprache formulieren kann: in allen, die aufnahmefähig sind. Diese Formationen sind frei verfügbar, das heißt, niemand sagt: "Dies ist MEINE Idee, das ist MEIN Buch." Wer fähig ist, sich dorthin zu erheben, kann die Formationen aufnehmen und sie materiell übertragen. Ich hatte eine solche Erfahrung: Eines Tages wollte ich einen Versuch machen und bildete selber eine Formation, die ich losschickte. Im selben Jahr empfingen zwei verschiedene Leute, die sich nicht einmal kannten, meine Formation – einer in England und einer in Amerika –, derjenige in England schrieb ein Buch, und die Person in Amerika schuf ein Theaterstück. Die Umstände ergaben, daß beide, das Buch und das Theaterstück, mich erreichten.
Darüber liegt eine vierte Zone: ein Bereich farbigen Lichts, Spiele farbiger Lichter. Dies ist die Reihenfolge: erst die Form, dann der Ton, dann die Ideen, dann die farbigen Lichter. Aber das liegt schon ziemlich fern von der Menschheit. Es ist ein Bereich der Kräfte mit dem Aspekt farbiger Lichter. Keine Formen sondern farbige Lichter, die Kräfte darstellen. Man kann die Kräfte kombinieren, die dann auf die Erdatmosphäre einwirken, um gewisse Ereignisse herbeizuführen. Dieser Bereich der Handlung ist unabhängig von der Form, vom Klang und vom Gedanken: er liegt darüber. Es ist ein Bereich der Kraft und der aktiven Macht, die man für ein spezielles Ziel benützen kann – wenn man die Fähigkeit hat, sich ihrer zu bedienen.
Das ist der höchste Bereich.
Wir haben demnach: die Form, die sich durch Malerei, Bildhauerei oder Architektur ausdrückt; dann den Ton, der sich durch musikalische Themen ausdrückt; danach den Gedanken, der sich durch Themen in Büchern, Theaterstücken oder Romanen oder sogar durch intellektuelle, philosophische oder andere Theorien ausdrückt (von diesem Bereich aus kann man Ideen auf solche Weise aussenden, daß sie in der ganzen Welt tätig werden, auf der ganzen Erde, denn sie beeinflussen aufnahmefähige Gehirne in allen Ländern, und das drückt sich in ihnen durch entsprechende Gedanken in ihrer jeweiligen Sprache aus). Oberhalb dieses Bereichs, frei von allen Formen, Tönen oder Gedanken, liegt das Spiel der Kräfte, die sich durch farbige Lichter ausdrücken. Wenn man dort eintritt und die entsprechende Macht hat, kann man die Kräfte kombinieren, die sich später durch Schöpfungen auf der Erde ausdrücken (es nimmt einige Zeit in Anspruch, es geschieht selten sofort).
Du sagtest, daß die großen musikalischen Wellen, die du hörst, oberhalb der Töne seien. Liegt das im Bereich der leuchtenden Vibrationen?
Ja... Aber es ist der höhere Teil des musikalischen Bereichs. Jeder dieser Bereiche enthält wiederum Abstufungen, und auf dem Gipfel des musikalischen Bereichs beginnen schon die Wellen – Schwingungswellen. Diese stehen immer noch in direkter Beziehung mit der Musik, während die farbigen Kräfte, von denen ich sprach, mit der irdischen Transformation, den umfassenden Handlungen zu tun haben. Es sind die Mächte der Handlungen. Dieser Bereich, in dem man keinen Ton hört, drückt sich weiter unten durch Töne, durch Musik aus. Das ist der Gipfel. In allen Bereichen gibt es Abstufungen.
Wenn man dort oben bei diesem Ursprung ist, kann sich also eine selbe Schwingung durch Musik oder einen Gedanken oder eine architektonische oder bildhafte Form ausdrücken?
Ja, aber diese Schwingung durchläuft unterwegs Transformationen. Sie durchquert den einen oder anderen Bereich, und dort wird sie Wandlungen unterzogen, um sich an die besondere Ausdrucksweise anzupassen. Die musikalischen Wellen sind eine besondere Ausdrucksweise der farbigen Wellen – man müßte "leuchtend" sagen, denn sie sind leuchtend aus sich selbst. Große Wellen farbigen Lichts.
(Schweigen)
All diese Bereiche des künstlerischen Schaffens liegen sehr weit oben im menschlichen Bewußtsein. Deshalb kann die Kunst auch ein wunderbares Instrument für den spirituellen Fortschritt sein. Diese Welt des Schaffens ist auch die Welt der Götter – aber die Götter finden überhaupt keinen Geschmack am künstlerischen Schaffen, wie ich zu meinem Bedauern feststellen muß 1 . Sie spüren absolut kein Bedürfnis nach dauerhaften Formen, das ist ihnen ganz egal. Wenn sie etwas wollen, genügt es, daß sie es wollen, und es ist da. Wenn sie eine Umgebung, einen besonderen Rahmen begehren, wünschen sie ihn sich, und es bildet sich ganz von allein – alles geschieht so, wie sie es wollen, demnach verspüren sie kein Bedürfnis, Formen festzulegen. Wohingegen der Mensch, der nicht hat, was er will und wie er es will, eine Anstrengung unternehmen muß, um diesen Dingen Form zu geben, und so macht er Fortschritte – die Kunst ist ein großes Mittel für den spirituellen Fortschritt.
Ich hatte den Eindruck, daß die großen musikalischen Wellen, die mich interessieren, offenbar deutlich oberhalb der Welt des Denkens liegen...
Weißt du, das ist nicht wie Geographie.
Es liegt unmittelbar am Rand der höheren Hemisphäre... Es ist der erste Ausdruck des Bewußtseins in Form von Freude. Ich erinnere mich, daß ich die gleiche Schwingung der Freude bei Beethoven und Bach fand (auch bei Mozart, aber weniger stark). Als ich zum ersten Mal Beethovens Konzert in D für Violine und Orchester hörte – die Violine setzt plötzlich ein, nicht ganz am Anfang; zuerst hört man eine Orchesterpassage, die dann von der Violine aufgenommen wird... Nun, bei den ersten Noten der Violine – Ysaye spielte, was für ein Musiker 2! – bei den allerersten Noten war mir, als ob mein Kopf bersten würde, und ich wurde in eine solche Pracht geschleudert, oh!... Absolut wunderbar. Mehr als eine Stunde lang war ich in einem Zustand der Glückseligkeit. Ysaye war ein echter Musiker!
Damals wußte ich noch nichts von dieser Welt, ich hatte nicht die mindeste Kenntnis davon. Aber alle meine Erfahrungen kamen so, unerwartet, ungesucht. Wenn ich ein Gemälde betrachtete, geschah dasselbe: Plötzlich öffnete sich etwas in meinem Kopf, und ich sah den Ursprung des Gemäldes – diese Farben!... Man kann zu dieser Welt gelangen, ohne all die mentalen Abstufungen zu durchqueren, direkt vom Vital aus.
*
* *
Etwas später
...Selbst jetzt, nach all diesen Jahren und den vielen Erfahrungen, ist es, als wäre alles immer wieder neu, als wäre die Welt stets neu und als wüßte ich nichts. Ich verbringe jetzt Nächte, wo ich mir beim Erwachen sage: "Sieh an! Wieder etwas, das ich nicht wußte!" Man könnte glauben, nach all diesen Jahren wäre das Leben eine langweilige Wiederholung, aber nein!
Vielleicht schreite ich auch so schnell voran wie der Herr. 3
1 Beim nächsten Mal fügte Mutter diese Berichtigung hinzu: "Nach deinem Weggehen kamen sie. Nicht daß ich selbst daran gedacht hätte, sondern sie ermahnten mich! Saraswati sagte mir: "Und meine Sitar?" Krishna sagte: "Und meine Flöte?" (Mutter lacht) Noch jemand anders kam, ich weiß nicht mehr, wer. Sie waren nicht zufrieden. Sie sagten mir: "Was sagst du da! Wir LIEBEN die Musik." Ich erwiderte: "Es ist ja gut." (Mutter lacht) Es ist wahr, Krishna ist ein großer Musiker, und Saraswati repräsentiert die Vollkommenheit des Ausdrucks... Jetzt, wo wir ihre Tugenden anerkannt haben (Mutter verbeugt sich), kannst du deine Lektüre fortsetzen!"
2 Ysaye: ein berühmter belgischer Violinist (1838 – 1931), Freund von Rubinstein.
3 Der "Regen der Wahrheit", von dem Mutter am 6. Oktober sprach.