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Mutters

Agenda

vierten Band

30. Januar 1963

Was liest du mir vor? Nichts? Gar nichts?

Gut, dann habe ich etwas mitgebracht.

Ich habe meine Übersetzung beendet (Die Synthese des Yoga). Wenn du dein Buch abgeschlossen hast und wir das nächste Bulletin vorbereitet haben, wenn wir wirklich unsere Ruhe haben, werden wir sie uns nochmals vornehmen. Jetzt habe ich Savitri angefangen – ja!... du weißt, daß ich mit H Illustrationen vorbereite, und für ihre Illustrationen wählte sie Abschnitte aus Savitri aus (nicht sie, sondern A und P, klug ausgewählt). Sie gibt mir das Abschnitt für Abschnitt, gut lesbar getippt (das ist leichter für meine Augen), aus Buch I, Gesang IV. Wie ich es erwartet hatte, löste dies eine recht interessante Erfahrung aus... Schon beim Lesen hatte ich ein absolutes Verständnis gespürt, das heißt, es kann nicht so oder anders lauten, sondern es ist DAS. Es kommt und ist zwingend. Gestützt auf diese Erfahrung sagte ich mir: "Wenn ich übersetze, wird es so kommen", und wirklich kam es so. Ich nehme mir den Text Zeile für Zeile, Vers für Vers vor, mit dem Vorsatz (kein persönlicher Entschluß), Vers für Vers zu übersetzen, ohne mich im geringsten um das Literarische zu kümmern, sondern so klar wie möglich auszudrükken, was er sagen wollte.

Es kommt auf zugleich ausschließliche und bestimmte Weise – sehr interessant. Da gibt es nicht dieses ewig schwankende Mental: "Heißt es so? Oder anders? Ist es dies oder das?" – ES IST SO (Mutter senkt ihre Hand in einer Geste zwingender Herabkunft). In bestimmten Fällen schlägt Sri Aurobindo selbst ein Wort vor (ohne Rücksicht auf den literarischen Wert, nicht einmal den Klang, sondern den Sinn). Als ob er mir sagte: "Wäre das nicht besseres Französisch?"

Ich bin nur die Empfangsstation.

Das geschieht unglaublich schnell: in zehn Minuten schreibe ich zehn Verse. Im ganzen Abschnitt kamen nur drei- oder viermal verschiedene Möglichkeiten, die ich sofort niederschrieb. Einmal hier (Mutter weist auf eine radierte Zeile in ihrem Manuskript), da kam die Korrektur auf absolute Art. Er sagte: "Nein, nicht dies: DAS." Also radierte ich aus, was ich geschrieben hatte.

Hier, lies zuerst den englischen Text.

Above the world the world-creators stand,

In the phenomenon see its mystic source.

These heed not the deceiving outward play,

They turn not to the moment's busy tramp,

But listen with the still patience of the Unborn

For the slow footsteps of far Destiny

Approaching through huge distances of Time,

Unmarked by the eye that sees effect and cause,

Unheard mid the clamour of the human plane.

Attentive to an unseen Truth they seize

A sound as of invisible augur wings....

(I.IV.54) 1

Ich habe meine Übersetzung noch nicht durchgelesen, ich höre das jetzt zum ersten Mal (Mutter liest vor):

Au-dessus du monde se tiennent les créateurs de mondes,

Dans le phénomène ils voient sa source mystique.

Ceux-là ne se soucient pas du jeu extérieur décevant,

Ils ne se tournent pas vers le piétinement effaré du moment...

Hier zögerte ich zwischen de l'instant [Augenblick] und du moment. Ich weiß nicht, wie es vor sich geht, aber er zeigte mir die beiden Worte (nicht geschrieben) – moment und instant – und erläuterte, wie instant im Vergleich zu moment mechanisch wirkt. Er sagte: "Es ist der Mechanismus der Zeit. Moment ist voll und enthält das Ereignis." Solche Berichtigungen kommen, das läßt sich nicht ausdrücken (ich fasse es jetzt in Worte, doch verliert es dabei allen Wert). Unausdrückbar, aber phantastisch! Ich zögerte zwischen instant und moment, ich weiß nicht warum. Er zeigte mir instant, und es war trocken, mechanisch und inhaltslos. Moment enthielt alles, was sich in jedem Augenblick ereignet. Also schrieb ich moment.

Mais écoutent avec la patience immobile de Ce qui n'est pas né

Les pas lents de la Destinée lointaine

S'approchant à travers les immenses distances du temps,

Inaperçus par l'oeil qui voit l'effet et la cause,

Inaudibles dans le vacarme du plan humain.

Attentifs à une Vérité invisible ils saisissent

Le bruit d'ailes d'un oracle inaperçu.

Nichts Ausgedachtes, es kam einfach so. Wahrscheinlich ergibt es gar keine Verse, nicht einmal Freiverse, aber es drückt etwas aus.

Es ist nicht zur Veröffentlichung gedacht oder um gezeigt zu werden, aber es macht mir eine wunderbare Freude, und ich faßte den Entschluß, es einfach aufzubewahren wie die Agenda. Mir scheint, daß es einen vielleicht später... (wie soll ich sagen?) wenn unsere Tätigkeit weniger mental sein wird, mit dem Licht (von Savitri) in Berührung bringen wird. Weißt du, ich trete sofort in etwas völlig Weißes und Schweigendes ein, leicht und lebendig: eine Art Glückseligkeit.

Den anderen Abschnitt habe ich am ersten Tag übersetzt:

In Matter shall be lit the spirit's glow,

In body and body kindled the sacred birth;

Night shall awake to the anthem of the stars,

The days become a happy pilgrim march,

Our will a force of the Eternal's power,

And thought the rays of a spiritual sun.

A few shall see what none yet understands;

God shall grow up while the wise men talk and sleep;

For man shall not know the coming till its hour

And belief shall be not till the work is done.

(I.IV.55) 2

Hier gab es mehr Korrekturen. Wahrscheinlich wird es mit der Zeit besser. Aber diese Stelle ist ein Wunder, von solcher Schönheit!

La Matière s'illuminera de l'éclat de l'esprit,

De corps en corps la naissance sacrée s'allumera;

La Nuit s'éveillera à l'hymne des étoiles,

Les jours deviendront une heureuse marche de pèlerin

Notre volonté sera la force du Pouvoir éternel,

Et notre pensée les rayons du soleil spirituel.

Quelques-uns verront ce que personne ne comprend encore;

Dieu grandira tandis que les hommes sages parlent et dorment...

Das ist fabelhaft!

Car l'homme ne connaîtra ce qui vient qu'à son heure

Et la foi n'existera pas jusqu'à ce que l'oeuvre soit accomplie.

Ach, wie ich das liebe: "Gott wird heranwachsen, während die Weisen reden und schlafen."

Gut, ich fahre damit fort.

Vielleicht behalte ich sogar das bleistiftgeschriebene Manuskript; die Versuchung zu verbessern ist nämlich schlecht, sehr schlecht, denn der Hang zum Verbessern ergibt sich aus einem oberflächlichen Verständnis – der literarische Geschmack, der poetische Sinn, all diese Dinge, die so sind (Geste nach unten). Weißt du, es sind nicht die Worte an sich, sondern der INHALT der Worte wird gleichsam auf einen völlig weißen und unbewegten Schirm projiziert (Mutter deutet auf ihre Stirn), als erschienen die Worte dort.

Das Schwierige daran ist, es niederzuschreiben, denn zwischen der Vision und der Niederschrift findet eine Materialisierung statt. Die Kraft muß die Hand und den Stift bewegen, und hier besteht noch ein kleiner... ein ganz kleiner Widerstand. Ansonsten, wenn ich automatisch schreiben könnte, ach, wie schön das wäre!

Vielleicht führt dies dann zu einigen... recht eigenartigen Dingen (ich weiß es nicht, das sind alles nur Vermutungen). Allerdings wird die Notwendigkeit betont, Vers für Vers so zu behandeln, als stünde jeder Vers allein im Universum. Kein Durcheinander in der Reihenfolge der Verse, absolut nicht! Als er das schrieb, SAH er es nämlich so – von all dem wußte ich nichts, nicht einmal, wie er schrieb (ich glaube, er diktierte das meiste), aber jetzt erklärte er es mir. Alles, alles kommt zu einem Stillstand, und dann, oh, wie wir uns amüsieren! Was für einen Spaß ich daran habe! Es macht mehr Spaß als alles andere. Gestern sagte ich ihm sogar: "Aber warum denn schreiben? Wozu?" Da erfüllte er mich mit dieser Freude. Im gewöhnlichen Bewußtsein sagt man sich natürlich: "Das ist sehr selbstsüchtig", aber... Es kam wie eine Zukunftsvision (nicht besonders nahe, aber auch nicht allzu fern), eine Zukunft, wo dieses Weiß – weiß und unbewegt – sich ausbreitet, und daraufhin könnte es von einer größeren Anzahl von Geistern verstanden werden. Aber das ist zweitrangig. Ich übersetze einfach um der Freude willen, das ist alles. Diese Befriedigung könnte man als selbstsüchtig bezeichnen, aber wenn ich ihm sage: "Das ist selbstsüchtig", antwortet er, der größte Egoist sei der Herr, denn Er tut alles für sich selbst!

Ich werde also weiter damit fortfahren. Wenn Korrekturen nötig sind, kann es nur durch denselben Vorgang geschehen. Es jetzt einfach zu korrigieren, würde alles verderben. Auch das, was die oberflächliche Logik als Vermischung von Zukunft und Gegenwart bemängeln könnte, ist gewollt. Alles scheint auf eine andere Art zu kommen. Ich habe seit langem kein Französisch gelesen, ich kenne mich da nicht aus, mir ist die moderne Literatur nicht geläufig. Für mich bedeutet der Rhythmus des Klangs alles – ich weiß nicht, welcher Rhythmus jetzt üblich ist und habe auch nie gelesen, was Sri Aurobindo in The Future Poetry darüber schrieb. Man sagte mir, daß die Verse in Savitri gewissen Regeln folgen, die er mit der Anzahl Akzente in jeder Linie erklärte (deshalb muß man es auf rein englische Art aussprechen, was mir ziemlich trocken vorkommt), aber vielleicht wird sich eine derartige Regel im Französischen finden. Ich weiß es nicht. Es sei denn, die Sprachen werden fließender, wenn der Körper und das Mental plastischer werden? Das ist möglich. Die Sprache vielleicht auch. Anstatt eine neue Sprache zu schaffen, wird es vielleicht Übergangssprachen geben, so wie sich das Amerikanische aus dem Englischen entwickelt (keine sehr geglückte Abwandlung, aber immerhin). Vielleicht wird eine neue Sprache ähnlich entstehen?

Zwischen zwanzig und dreißig beschäftigte ich mich mit Französisch (vorher war es eher das Auge, die Malerei, sowie das Gehör: die Musik), aber was die Sprache angeht, Literatur, Sprachklang (gesprochen und geschrieben), das kam ungefähr zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Die Gebete und Meditationen wurden spontan in diesem Rhythmus geschrieben. Wenn ich im gewöhnlichen Bewußtsein bliebe, wäre ich an diesen Rhythmus gewohnt, aber das geht jetzt nicht, es funktioniert einfach nicht!

Gestern nach dem Übersetzen war ich erstaunt über dieses Gefühl... ein Gefühl des Absoluten: "SO IST ES.&Quot; Ich versuchte zum Beispiel, mich in die Mentalität der Literaten zu versetzen, und fragte mich: "Was würden sie denn vorschlagen?" Da sah ich plötzlich (einfach so, irgendwo) eine Unmenge Vorschläge für jeden Vers... Oh! Danach sagte ich mir: "Es war also wirklich etwas Absolutes!" – Es kam direkt, ohne jegliche Diskussion. Ich gebe dir ein Beispiel. Er schreibt: The clamour of the human plane, 3 "clameur" [Geschrei] existiert im Französischen, und es ist ein schönes Wort – er wollte es nicht und sagte mir: "Nein", ohne Diskussion. Es kam nicht als Antwort auf eine Diskussion, er sagte einfach: "Es heißt nicht clameur sondern vacarme." Er stellte nicht ein Wort dem anderen gegenüber. Es waren keine Worte sondern der GEDANKE des Wortes, der SINN des Wortes: "Nein, es heißt nicht clameur sondern vacarme."

Ist das nicht interessant?

Ich möchte die Übersetzung gerne auf dieselbe Art mit dir durchsehen, denn ich bin sicher, daß er dabei sein wird – er ist immer gegenwärtig, wenn ich übersetze. So werde ich wieder in diesen Zustand eintreten, und du wirst die Arbeit verrichten! (lachend) Du wirst schreiben. Und dann brauchen wir ein gutes Wörterbuch, es sei denn, du hast einen besonders umfangreichen Wortschatz (meiner war umfangreich, aber jetzt hat er sich verringert)... Allerdings fürchte ich, daß wir in keinem Wörterbuch etwas Nützliches finden werden.

Ich finde sogar, man sollte ganz auf sie verzichten.

Es ist schlimm. Irgendwie macht mich das immer wütend. Diese Wörterbücher schaffen eine sehr dunkle Atmosphäre, sie verwirren die Atmosphäre.

Unglücklicherweise ist mir das Französische nicht mehr sehr geläufig. Ich drücke mich mit einem sehr beschränkten Wortschatz aus, die Worte kommen nicht natürlich – das, was im Wortregister sucht, wird nicht fündig. Ich spüre etwas, ich fühle, daß es ein bestimmtes Wort gibt, aber alle möglichen untauglichen Ersatzworte tauchen auf.

Jetzt kommt eine ganz andere Wahrnehmung, ganz anders, gar nicht diese sonst übliche Bewegung, wo alle möglichen Worte und Dinge aufkommen, wo man sucht und plötzlich etwas erhascht – es ist ganz und gar nicht mehr so: das, was kommt, ist gleichsam DAS EINZIGMÖGLICHE in der Welt. Alles andere ist Lärm.

Gut, mein Kind.

 

1 Die Welten-Schöpfer stehen oberhalb der Welt, sie sehn in der Erscheinung deren mystisch-tiefen Ursprung. Sie achten nicht des äußerlichen trügerischen Spiels. Sie kehren sich nicht an des Augenblicks geschäftigem Getrampel. Sie lauschen vielmehr mit der schweigenden Geduld des Ungeborenen auf die langsamen Schritte jenes fernen Schicksals, die durch der Zeit gewalt'ge Zwischenräume sich uns nahen, unbemerkt für das Auge, das nur auf Ursache und Wirkung schaut, und ungehört im Getöse auf der Ebene des Menschen. Aufmerksam auf eine ungesehene Wahrheit gerichtet, erfassen sie einen Ton wie von unsichtbaren Schwingen der Auguren... (Sri Aurobindo, Savitri – Legende und Sinnbild. Dt. Übers. von Heinz Kappes. Gladenbach, 2. Aufl. 1992, S. 64; s.a. Bibliographie am Buchende.)

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2 In der Materie wird des Geistes Glut entfacht, von Körper zu Körper die heilige Geburt entflammt, Nacht wird erwachen zu der Hymne der Sterne, die Tage werden zu einem glücklichen Pilgerzug, unser Wille zu einer Kraft aus der Macht des Ewigen und die Gedanken zu Strahlen einer spirituellen Sonne. Wenige werden erkennen, was noch niemand versteht; Gott wird heranwachsen, während die Weisen reden und schlafen; denn der Mensch wird das Kommende erst zu seiner Stunde erkennen, und Glauben wird es nicht geben, bevor das Werk vollendet ist. (I.IV.55)

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3 Das Getöse der menschlichen Ebene.

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