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Mutters

Agenda

fünften Band

5. Februar 1964

Es ist etwas Seltsames passiert – sehr, sehr seltsam, das erste Mal, das mir so etwas passiert ist.

G brachte von Paris ein Buch mit, ein Fotoalbum. Auf der einen Seite sind Fotos und auf der anderen Faksimiles, wahrscheinlich von der Handschrift bekannter Autoren, von Dichtern, Schriftstellern etc. – ich hab' sie nicht gelesen. Jeweils ein Faksimile und ein Bild. Sie nennen das "Träumerisches Paris"!... (Mutter hebt die Augen gen Himmel)

Die Fotos sollen sehr künstlerisch wirken. Sie sind von einem völlig ungewöhnlichen Blickwinkel aus aufgenommen, und einige sind sehr gut. Alles in allem, ein wenig vulgär: zu viele Leute, die sich küssen, Socken, die in der Sonne hängen – sie verwechseln das Künstlerische mit dem Ungewöhnlichen, aber immer noch ist es eher auf das Schöne ausgerichtet als... Nun gut, ich schaute mir das an, blätterte darin, und während ich schaute, sagte ich mir: "Immerhin, jemand, der Paris überhaupt nicht kennt, würde einen komischen Eindruck von Paris gewinnen!" Es ist kein einziges Bild darunter, das einen sagen ließe: "Oh, das ist schön", außer eine Ansicht der Seine und auch... Bäume, die ebensowohl auf dem Land wie in Paris sein könnten. Und ich blätterte und blätterte. Und plötzlich sah ich (ich hatte meine Lupe dabei, um besser sehen zu können) eine Ansicht der Seineufer mit den Ständen der... wie nennt man sie?

Bouquinistes.

Bouquinistes, ja, genau. Ein Bouquinist.

Das Album war groß, und auch das Foto war so groß (Geste).

Diese Fotografie war klarer als die anderen, weniger verschwommen – sie war klarer. Und ich betrachtete alle Einzelheiten und sagte mir: "Schade, daß es keine offenen Stände zeigt, damit man die Bücher sehen kann, das hätte sich besser gemacht." Ich meine damit, daß ich sie mir aufmerksam anschaute und alle Details sah, die verschiedenen Farben von Schatten und Licht: es war nicht nur ein flüchtiger Blick. Dann sah ich mir das Buch bis zum Schluß an und gab es jemandem zum Anschauen. Natürlich war das erste, was mir diese Person sagte: "Das schaut überhaupt nicht nach Paris aus." Ich darauf: "Ja, aber es war ein Foto darunter, das einen sehr guten Eindruck von Paris vermittelte: jenes der Bouquinistes am Seineufer." Er schaute ganz überrascht drein, worauf ich ihm sagte: "Aber sicher!" Ich nahm das Buch und begann, darin zu blättern; ich blätterte alle Seiten durch, doch mein Foto war nicht darin! Ich sagte mir: "Ich hab' nicht richtig geschaut (ich schaute ohne Lupe), ich muß es verpaßt haben." Ich nahm meine Lupe und blätterte das Album sehr sorgfältig von hinten nach vorne durch – nicht da! Keine Bouquinistes. Ich blätterte ein drittes Mal (Mutter lacht), immer noch keine Bouquinistes. Ich sagte mir: "Da stimmt irgend etwas nicht... da ist irgend etwas, das mich zwei Seiten auf einmal umblättern läßt oder das mir die Sicht verschleiert." Darauf sagte ich mir: "Nun gut, ich schau's mir morgen vormittag nochmals an", und ich legte das Buch beiseite.

Am folgenden Morgen war ich ganz allein und konzentriert – ich hatte mich gut konzentriert und sagte mir: "Ich will nicht einer Täuschung aufsitzen, ich will nicht, daß mich etwas zum Narren hält ..." Ich hatte das so klar gesehen wie... ich sah das Foto, ja, ich betrachtete es während mehreren minuten. Ich bin dessen, was ich sah, also absolut sicher.

Ich schaute einmal, zweimal, dreimal – nichts. Darauf dachte ich:

"Das ist nicht möglich, das ist ja wie verhext!" An jenem Morgen sollte A kommen; wenn A kommt, werde ich ihm sagen, er solle es suchen. Und so sagte ich ihm: "Such es!" Er fand wohl Bouquinistes, aber es war nicht wie meine Fotografie; auch hatte ich sie auf dieser Seite des Buches gesehen, während die seine auf der anderen Seite war, und dieses Foto kannte ich gut (ich kannte mein Album auswendig, verstehst du!), es war sicher nicht das, es zeigte keine Bouquinistes, lediglich geschlossene Stände. Es schaute also nach nicht viel aus, und außerdem war es auf der anderen Seite.

Und es war keine "belebte Schau", es war keine Vision: es war ein Foto, wie die anderen Fotos, von der gleichen Farbe wie die andern Fotos – ein Foto, das ich sogar kritisch als aufgenommenes Foto studierte. Doch es existiert nicht!

Es muß irgendwo existieren.

Vielleicht hatte man die Absicht, es in das Buch aufzunehmen, was dann nicht geschah. Vielleicht ist dieses Foto gerade beim Herausgeber des Buches? Aber das Foto existiert, ich habe es materiell mit diesen Augen (Mutter berührt ihre Augen) und einer Lupe gesehen. Nun gut, es ist jedenfalls nicht im Buch.

(Schweigen)

Vor einiger Zeit sagte ich mir: "Gewisse Leute sehen physische Dinge auf Distanz, ich hingegen habe noch nie so etwas gesehen." Ich habe Dinge im Subtilphysischen gesehen (das dem Physischen sehr nahe liegt, allerdings mit einem kleinen Unterschied), aber jenes war keine physische Sicht sondern die Sicht des Subtilphysischen. Kürzlich sagte ich mir: "So was, physisch habe ich keine speziellen Fähigkeiten, ich habe noch nie interessante Phänomene wahrgenommen!" (Mutter lacht), aber dies nur ganz beiläufig. Und dann diese Geschichte! Aber ich brauchte achtundvierzig Stunden, um mich davon zu überzeugen, daß es nicht im Buch war! Ich habe mich noch nicht davon erholt!... Denn meine Augen haben ein sehr präzises Gedächtnis für visuelle Dinge; sie wurden durch die Malerei sehr gut geschult, sie sehen die Dinge genau so, wie sie sind (nun, wenigstens so, wie sie materiell zu sein scheinen). Ich hätte schwören können, daß es im Buch war. Und offensichtlich ist es nicht darin. Außer mir sahen noch vier andere Personen das Buch durch, und es ist nicht drin!

Ich fand das interessant, das ist neu.

Man hatte die Absicht, es zu veröffentlichen.

Das ist möglich.

Und dann war das Foto wahrscheinlich überzählig, und es wurde ausgelassen – irgend so etwas. Aber das Foto EXISTIERT sicher irgendwo.

Und es existiert in Verbindung mit diesem Buch.

Ich war nicht in einem speziellen Zustand, als ich es sah. Und beim zweiten Mal, am Morgen, als ich nochmals schaute, war ich in einem sehr speziellen Zustand: alle physischen Zellen waren in Spannung, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu erfahren... nicht wahr, keine Illusionen... eine Anrufung des Herrn und der Wille, daß diese Welt der Illusionen vergehen möge – die Wahrheit, wir wollen die Wahrheit! Und als ich das Buch öffnete, rief ich den Herrn mit aller Kraft an, daß es genau so sei, wie es ist – nicht "wie es ist", sondern wie es der Wahrheit gemäß ist. Aber das Foto war nicht da!

Das versetzte meinen Körper in einen außerordentlich intensiven Zustand der Aspiration. Ich verbrachte einen Teil der Nacht in dieser Spannung, daß all diese Illusionen vergehen mögen, daß nur das existieren möge, was durch und durch wahr ist... WESENTLICH wahr, nicht das, was gewohnheitsmäßig als wahr gilt – man sollte das Wirkliche nicht mit dem Wahren verwechseln (in dieser Hinsicht hat der Körper große Fortschritte gemacht!). Aber das Foto ist nicht drin. 1

Ich dachte, daß dies möglicherweise der Beginn einer neuen Reihe von Erfahrungen sei.

Ich habe eine Erfahrung, die immer beständiger wird, nämlich die, daß ich genau weiß, wann jemand eintritt (die Person und die Minute), und daß ich genau weiß, wann die Stunde schlägt, BEVOR die Uhr schlägt. Das begann vor langer Zeit, vor Monaten schon, aber es setzt sich immer mehr durch, wird immer konstanter... vollständiger. Aber das ist nichts! Es ist nützlich, aber es bedeutet nichts.

Es gilt, das Mittel zu finden, diese neue Art Erfahrung zu organisieren und zu benützen – aber ich muß wissen, wie das geschieht! Denn als ich diese Bilder betrachtete, war ich überhaupt nicht in einem speziellen Zustand, ich schaute nicht sehr genau hin – ich fand sie... hm!... ich sah ihr Bestreben, künstlerisch zu sein, und ich fand die Perspektive, unter der sie aufgenommen worden waren, interessant, aber das war schon alles. Die Sujets... Angler (in diesem Buch sind vier Angler!) und Leute, die auf der Straße schliefen, solche Dinge. Und dann überall Leute, die sich küssen: auf Stühlen, an den Seineufern, auf Bänken, auf Schaukeln in den Vergnügungsparks. Und ziemlich vulgär. Aber die Fotos mit dem Licht- und Schattenspiel: gut aufgenommen. Ich wollte meine Augen mit dem Lesen der Literatur dieser Leute nicht beanspruchen, aber wahrscheinlich gilt das als sehr "modern" – diese Unterschriften von Autoren darin! Nichts als die Unterschrift und das Portrait des Individuums: affektiert, gekünstelt...

Die Atmosphäre von Paris ist unerträglich. Als ich nach Frankreich zurückkam, wurde ich zuerst krank, und dann diese Atmosphäre...

Fürchterlich.

Unerträglich. Man muß einen Panzer um sich haben, um dort leben zu können.

Ja, um nicht zu fühlen. Eine riesige Korruption. Und die Schlaffheit, der Zynismus...

Man hat den Eindruck, daß die Menschen nur aufgrund ihrer Unempfänglichkeit dort leben können. Wenn sie nämlich empfänglich wären, könnten sie sich dort gar nicht aufhalten!

Genau so ist es.

Es ist genau das! Dieser Angler... man muß verrückt sein, um in der Seine zu angeln! (Mutter lacht) Man sieht die in schwarzem Rauch vorüberfahrenden Schiffe und den guten Mann mit seiner Angel, der sich durch nichts erschüttern läßt... So ist es: eingeschlossen in seinem Traum – "Träumerisches Paris"! Wahrscheinlich denkt er, er sei an einem Bächlein mitten auf dem Lande.

*
*   *

(Kurz danach nimmt Mutter wieder die Aphorismen von Sri Aurobindo für das nächste "Bulletin" auf:)

96 – Erfahre die Wahrheit der Schrift in Deiner Seele; ergründe dann Deine Erfahrung mit dem Verstand und lege sie intellektuell dar, und mißtraue Deiner Darlegung selbst dann noch; niemals aber mißtraue Deiner Erfahrung.

Das verlangt nach keiner Erklärung.

Das heißt, den Kindern sollte man erklären, daß die Formel, WAS AUCH IMMER SIE SEI, die Schriften, WAS AUCH IMMER SIE SEIEN, immer eine Minderung der Erfahrung sind und der Erfahrung an Bedeutung nachstehen.

Es gibt Leute, die das noch nicht zu wissen scheinen.

97 – Wenn Du die Erfahrung Deiner Seele beteuerst und die abweichende Erfahrung der Seele eines andern leugnest, dann wisse, daß Gott Dich zum Narren hält. Hörst Du nicht sein amüsiertes Lachen hinter dem Vorhang Deiner Seele?

Oh, das ist entzückend!

Man kann hierzu nur eine lächelnde Überlegung anstellen: "Zweifle nie an deiner Erfahrung, denn deine Erfahrung ist die Wahrheit deines Wesens; bilde dir aber nicht ein, daß diese Wahrheit universell gültig sei. Ausgehend von deiner Erfahrung leugne nicht die Wahrheit der andern, denn für jeden ist seine Erfahrung die Wahrheit seines Wesens. Und eine universelle Wahrheit wäre erst die Gesamtheit all dieser individuellen Wahrheiten... zusammen mit der Erfahrung des Herrn selbst!"

98 – Offenbarung ist direktes Sehen, direktes Hören der Wahrheit oder die inspirierte Erinnerung daran, drishti, shruti, smriti; sie ist die höchste Erfahrung und einer neuen Erfahrung gegenüber immer offen. Nicht weil Gott es sprach, sondern weil die Seele es sah, ist das Wort der Schriften unsere höchste Autorität.

Ich nehme an, das ist die Antwort auf den biblischen Glauben an die von Moses erhaltenen "Zehn Gebote", die der Herr selbst verkündet und die Moses vernommen haben soll – indirekt will das besagen... (Mutter lacht), daß dies nicht möglich ist!

"Die höchste Autorität, weil die Seele sie sah", das kann doch NUR für die Seele, die sie sah, und nicht für alle Seelen, die höchste Autorität sein. Nur für die Seele, die diese Erfahrung gehabt hat und die gesehen hat, ist das eine höchste Autorität, nicht aber für die andern.

Das war eines jener Dinge, die mich nachdenken ließen, als ich noch ganz klein war, diese zehn "Gebote", die übrigens von einer außerordentlichen Banalität sind: "Liebe deinen Vater und deine Mutter... Du sollst nicht töten ...", das ist von einer umwerfenden Banalität. Und Moses stieg auf den Sinai, um das zu hören...

Viel Lärm um nichts!

Ja, so wirkte es immer auf mich.

Jetzt weiß ich allerdings nicht, ob Sri Aurobindo an die indischen Schriften dachte... An die Upanishaden etwa? Oder an die Veden? Nein, die Veden nicht, die waren mündlich.

Sie WURDEN zu Schriften.

Mit weiß Gott welcher Entstellung...

Nicht einer allzu großen, da sie ja mit allen Intonationen wiederholt wurden. Wahrscheinlich gehören sie zu den am wenigsten entstellten Schriften.

Es gab auch chinesische Schriften...

Aber die Erfahrung ist immer mehr die, daß die Offenbarung (sie kommt, nicht wahr) eine Sache ist, die universell angewendet werden kann, die aber in ihrer Form stets persönlich ist.

Es ist, als ob man die Wahrheit von einem SICHTWINKEL aus betrachtete. Sobald sie in Worten ausgedrückt wird, ist es ganz zwangsläufig ein Ausschnitt.

Man hat die Erfahrung – ohne Worte und Gedanken – einer Art Schwingung, die sich als absolute Wahrheit anfühlt, und wenn man dann ganz unbeweglich bleibt, ohne irgend etwas erfahren zu wollen, ist es nach einer gewissen Zeit so, als ob sie durch einen Filter passieren würde, was sich dann durch eine Art Idee ausdrückt. Wenn man immer noch sehr ruhig, still und aufmerksam bleibt, passiert diese Idee (es ist noch eine recht verschwommene Idee, d.h. sie ist von sehr allgemeiner Art) durch einen zweiten Filter, aber dann findet eine Art Kondensation statt, wie Tropfen, und es bilden sich Worte.

Wenn man völlig aufrichtig durch die Erfahrung hindurchgegangen ist und man sich nichts vormacht, ist es notwendigerweise lediglich ein Punkt, eine ART und WEISE, die Sache auszudrücken, nicht mehr. Und es kann nur das sein. Es gibt übrigens die sehr einleuchtende Beobachtung, daß sie in jener Sprache kommt, deren man sich gewohnheitsmäßig bedient: für mich kommt sie immer auf englisch oder auf französisch; sie kommt nicht auf chinesisch und auch nicht auf japanisch! Die Worte sind notwendigerweise englisch oder französisch, und manchmal ein Sanskritwort, aber dies nur, weil ich Sanskrit physisch gelernt habe. Manchmal habe ich auch Sanskrit gehört (nicht physisch), das von einem andern Wesen gesprochen wurde, aber das nimmt keine klare Gestalt an, es bleibt im Verschwommenen, und wenn ich zu einem völlig materiellen Bewußtsein zurückkehre, erinnere ich mich an einen vagen Klang, aber nicht an ein präzises Wort. Sobald sich die Erfahrung formuliert, ist es folglich IMMER ein individueller Blickwinkel.

Es braucht eine Art SEHR STRENGE Aufrichtigkeit; man wird von einer Begeisterung ergriffen, weil die Erfahrung eine außerordentliche Macht in sich birgt, die Macht ist da – sie ist vor den Worten da, sie wird durch Worte reduziert –, aber die Macht ist da, und mit dieser Macht fühlt man sich universal, und man hat den Eindruck: "Das ist eine universelle Offenbarung." – Ja, es ist eine universelle Offenbarung, aber wenn du sie mit Worten ausdrückst, ist sie nicht mehr universal: sie ist nurmehr für Gehirne gültig, die dazu gebaut sind, diese Ausdrucksweise zu verstehen. Die Kraft ist dahinter, aber man muß über die Worte hinausgehen.

(Schweigen)

Sie kommen immer mehr, diese Sachen, die ich auf ein Stück Papier hinkritzle, und es ist immer derselbe Vorgang: immer ist es zuerst eine Art Bersten, wie eine hervorbrechende Wahrheitsmacht, die ein großes, blendend-weißes Feuerwerk produziert... (Mutter lächelt), noch viel mehr als ein Feuerwerk! Und dann rotiert und rotiert es (über den Kopf weisende Geste), es arbeitet und arbeitet; dann der Eindruck einer Idee (aber die Idee ist weiter unten, sie ist wie eine Umhüllung), und die Idee enthält ihre Empfindung, sie schließt die Empfindung in sich – die Empfindung war schon vorher da, aber ohne die Idee, und somit konnte man sie nicht definieren. Es gibt nur eines: immer ist es ein Hervorbrechen einer leuchtenden Macht. Dann, wenn man nachher hinschaut und man sehr ruhig bleibt, vor allem der Kopf muß still sein – verstummt all das (Geste einer nach oben gerichteten Bewegungslosigkeit)... und dann, plötzlich, spricht jemand im Kopf (!), jemand spricht. Es ist dieses Bersten, das spricht. Dann nehme ich Papier und Bleistift und schreibe. Aber zwischen dem Gesprochenen und dem Geschriebenen liegt noch ein kleiner Schritt, der bewirkt, daß etwas da oben mit dem Geschriebenen nicht zufrieden ist. Somit halte ich mich nochmals ruhig: "Ach, nein, nicht jenes Wort: dieses hier" – manchmal braucht es zwei Tage, bis es wirklich endgültig ist. Jene aber, die sich mit der Macht der Erfahrung begnügen, pfuschen das hin und locken einen ins Reich der sensationellen Enthüllungen, die Entstellungen der Wahrheit sind.

Man muß sehr bedachtsam, sehr ruhig und sehr kritisch sein – vor allem sehr ruhig, äußerst still und nicht versuchen, allzu forsch an die Erfahrung heranzugehen: "Nun, ist es dies oder jenes?", dann verdirbt man alles. Aber hinschauen, sehr aufmerksam hinschauen. Und in den Worten gibt es einen Rest, etwas, das von der ersten Schwingung zurückbleibt (ach, so wenig), aber etwas, das einen lächeln läßt, das angenehm ist und prickelt... wie perlender Wein; und dann ist es hier farblos (Mutter zeigt auf ein Wort oder einen Abschnitt einer imaginären Prägung), und so schaut man mit seiner Kenntnis der Sprache oder mit dem Sinn für den Rhythmus der Worte hin, und man merkt: "Da liegt ein Stein begraben" – der Stein muß weg; dann wartet man, und auf einmal, paff, kommt es, und es fällt an seinen Platz: das passende Wort. Wenn man geduldig ist, wird es nach ein oder zwei Tagen ganz exakt.

Ich habe den Eindruck, daß es immer so war, aber jetzt ist es ein sehr normaler, alltäglicher Zustand. Der Unterschied besteht darin, daß man sich vorher mit einer Halbheit zufriedengab (beim Durchsehen von gewissen Sachen, die ich so geschrieben habe, merke ich, daß es sich um eine Annäherung handelt, daß man sich mit einer Halbheit zufriedengab), jetzt hingegen ist man bedachtsamer, vernünftiger – auch geduldiger. Man wartet, bis es Form annimmt.

Im Zusammenhang damit habe ich etwas anderes bemerkt, nämlich, daß ich die mir bekannten Sprachen nicht mehr auf die gleiche Weise kenne. Es ist sehr speziell, besonders, was das Englische betrifft... Es gibt eine Art Instinkt, der auf dem Rhythmus der Worte basiert und der von was weiß ich woher kommt (vielleicht vom Überbewußtsein der Sprache). Dieser Instinkt läßt einen wissen, ob ein Satz stimmt oder nicht – es handelt sich dabei überhaupt nicht um ein mentales Wissen, ganz und gar nicht (all das ist weg, selbst die Rechtschreibkenntnisse sind weg!), sondern es ist eine Art Sinn, ein Gefühl für den inneren Rhythmus. Ich habe das in diesen letzten Tagen bemerkt: in den Geburtstagskarten finden sich Zitate (jemand tippt die Zitate, und manchmal macht er dabei Fehler), und es war ein Zitat von mir darunter (ich konnte mich durchaus nicht erinnern, dies geschrieben oder gedacht zu haben), ich sah es (es war auf englisch), und ich sah, daß es eine Stelle gab, die wie ein Ausrutscher erschien: sie stimmte nicht. Darauf wurde mir klar: "Der Satz wäre korrekt, wenn er so oder so wäre" (dies zu sagen, heißt die Sache zu sehr mentalisieren: es ist eine Art Empfindung; es ist kein Gedanke, sondern eine Empfindung, wie eine Klangempfindung). Schreibt man den Satz auf diese Weise, so stimmt der Klang; schreibt man ihn auf jene andere Weise, wobei man dieselben Worte gebraucht, aber sie umstellt (wie es der Fall war), stimmt der Satz nicht, und um jenen Satz, in dem die Worte umgestellt waren, zu korrigieren, war es nötig, ein kleines Wort hinzuzufügen (in jenem Fall war es "it"), mit dem Klang "it" darin kam er zum Stimmen... Alle möglichen Dinge – wenn man mich auf der mentalen Ebene fragte, würde ich sagen: "Ich habe keine Ahnung!" Es entspricht keinerlei Wissen, aber es ist von einer außerordentlichen Präzision!

Und ich verstand, daß dies die richtige Art und Weise ist, eine Sprache zu kennen. Im Französischen hatte ich das schon immer ein wenig, wenn ich schrieb – früher war es weniger präzis, verschwommener, aber der Sinn für den Rhythmus des Satzes war darin enthalten: Wenn der Satz in diesem Rhythmus ist, stimmt er; wenn er nicht stimmt, mangelt es ihm an Rhythmus. Dies war sehr vage, ich hatte nie versucht, dem auf den Grund zu gehen oder es zu präzisieren, aber in den letzten Tagen ist es sehr exakt geworden. Im Englischen finde ich es noch interessanter, weil das Englische in meinem Gehirn offensichtlich weniger unterbewußt als das Französische ist (nicht viel weniger, aber immerhin weniger), und jetzt kommt es augenblicklich. Auch ist es so evident, daß ich dem größten Gelehrten, der "Nein" dazu sagte, entgegnen würde: "Sie täuschen sich, es ist so."

Das ist das Bemerkenswerte daran, dieses Wissen ist völlig unabhängig vom äußeren, gelehrten Wissen, völlig, und es ist absolut, es steht nicht zur Diskussion: "Sie können sagen, was Sie wollen, Sie können mir mit Grammatik, mit Wörterbüchern, mit dem Sprachgebrauch kommen... So stimmt es und damit basta!"

 

1 Die Geschichte hatte eine Fortsetzung, siehe Agenda Bd. 9, 22.5.68

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