Mutters
Agenda
sechsten Band
(Satprems letzten Brief an Mutter betreffend)
Hast du meine Antwort bekommen? (Mutter macht eine Geste mentaler Kommunikation) Nein? Ich habe dir sehr viel gesagt, sehr viel.
Ich habe den Eindruck, dich in den letzten beiden Nächten mehrere Male gesehen zu haben, aber... Ich versuchte dauernd, das Tonbandgerät bereitzumachen, um aufzunehmen, was du mir sagtest, aber es funktionierte nicht!
(Mutter lacht, dann nach einem Schweigen) Weißt du wirklich nicht, wo deine Schwierigkeit liegt?... Ist das nicht eine Unzufriedenheit? Das, was man im Englischen "Frustration" nennt, etwas, das enttäuscht ist?
Ja, aber das ist nur eine Art, es auszudrücken. Man könnte auch sagen: "Etwas Unerfülltes".
Ja, aber dieses "Unerfüllte" ist ein Gefühl, das man hat und das man bis zur Verwirklichung, bis zur Transformation haben muß. Das ist nicht nur natürlich, sondern sogar unerläßlich, denn bei jenen, die sich erfüllt oder zufrieden fühlen, ist die Sache gelaufen, sie rühren sich nicht mehr.
Ja, sicher.
Diese Art von longing [Sehnsucht], das Gefühl, daß einem etwas fehlt – etwas, das man haben möchte, das einem fehlt –, wird um so stärker, je weiter man geht.
Ja, aber das ist es nicht genau... Ich weiß nicht, wo ich stehe, ich weiß nicht, auf welchem Weg ich bin. Ich weiß überhaupt nichts.
Aber das ist ja großartig, mein Kind! Das heißt, daß du den Bereich der mentalen Gebilde verlassen hast.
Die mentalen Formationen sagen: "Man ist auf diesem Weg" oder "Man steht an jenem Punkt der Verwirklichung" oder... Für mich ist das bedauernswert! Wenn man da drin steckt, ist man immer noch ein Gefangener der mentalen Denkart.
Ja, aber in dem Maße, wo man irgendwohin geht...
Aber weißt du genau, wohin du gehst?
Sicher nicht, aber...
Niemand weiß das, mein Kind! Niemand, auch ich nicht. Und es ist gut, das nicht zu wissen.
Ich verstehe, ich will auch nicht wissen, wohin ich gehe, aber das, worum ich bitte, was ich wissen möchte, ist, daß ich überhaupt gehe, daß ich vorankomme. Es gibt keinerlei Zeichen, verstehst du, gar keine. Es ist, als würde ich in einem Zug mit heruntergelassenen Jalousien irgendwohin fahren. Vielleicht kommt man voran, vielleicht auch nicht, man weiß es nicht, aber es gibt keinerlei Zeichen, daß man sich auf etwas, was ich nicht definiere, ZUBEWEGT. Deswegen weiß ich überhaupt nicht, wo ich stehe, was ich mache.
Weißt du (soll ich offen sein?), das ist lediglich eine vitale Unzufriedenheit. Soviel weiß ich, denn das war schon immer (wie soll ich sagen?) meine große Schwierigkeit mit dir. Früher war es hundertmal, tausendmal heftiger; jetzt fängt es an, sich zu beruhigen. Es liegt an einem von sehr intensiven Sehnsüchten geprägten Vital (es müssen überhaupt keine gewöhnlichen Begierden sein), aber eine fast aggressive Intensität und... es ist vor allem unbefriedigt. Vor Jahren war das wirklich sehr stark; jetzt hat es sich beruhigt. Aber immer, wenn das Vital auf den Plan tritt, ist es so (und man muß dem Vital aus gesundheitlichen Gründen einen gewissen Freiraum gewähren, man kann es nicht völlig unterbinden, weil der physische Körper dann leidet)... Wenn du so willst, gibt mir das den Eindruck eines Katzenvitals! Die Katzen haben ein fabelhaftes Vital (lachend). Sehr viel geschickter und intensiver als das der menschlichen Wesen, aber die Katze kratzt, und der Eindruck entsteht: "Ich bin nicht glücklich. Ich bin einfach nicht glücklich." (Mutter lacht)
Nein, aber in den ersten Jahren hier bekam ich zum Beispiel fast jede Nacht irgendein Zeichen, daß ich auf dem Weg bin, 1 daß ich vorankomme – winzige Zeichen, wirklich nichts Besonderes: ein Auto, das mich mitnimmt, eine Wanderung in den Bergen, vollkommen unwesentliche Dinge, aber sie sagten mir, daß ich vorankomme. "Es läuft gut, ich bin auf dem Weg." Aber jetzt bekomme ich schon seit Jahren nicht nur keinerlei Zeichen mehr, sondern ich sehe nur noch Negatives wie Löcher, Unfälle, Höllen... aber niemals ein Zeichen, das mir sagen würde: "Ach ja, ich mache Fortschritte. Es geht, ich komme voran." – Nichts dergleichen. Daher frage ich mich: Komme ich überhaupt voran? Ich weiß es nicht. Ich wünschte nur eine Ermutigung, einfach eine kleine Geste, die mir sagt: "Ja, du bist auf dem Weg, es geht vorwärts. Du bist auf dem Weg, mach dir keine Sorgen!"
Aber was verstehst du unter einer "Geste"?
Ein Zeichen.
Und was nennst du ein "Zeichen"?... Nun, ich glaube, daß du ein gewisses Vertrauen in mich hast, und wenn ich dir sage, daß du nicht nur Fortschritte machst, sondern sogar sehr schnell vorankommst, würde dir das etwas bedeuten? Du wirst mir sagen: "Beweise es mir!" – Ich kann es dir nicht beweisen, es ist etwas, das ich sehe, das ich weiß.
Aber ich würde gern ein wenig SEHEN, daß ich Fortschritte mache. Ich bitte nicht um großartige Dinge, nur etwas, das mir von Zeit zu Zeit sagt, "mach dir keine Sorgen, du bist auf dem Weg," während ich immer nur Löcher, Höllen und Abwasserkanäle sehe. Warum kann es nicht von Zeit zu Zeit ein kleines Licht oder eine schöne Landschaft sein?
(Mutter lacht) Bist du sicher, daß du nie so etwas siehst?
Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Ich finde Spuren von Höllen, aber von der anderen Seite ist nie ein Anzeichen zu finden.
Du sprichst von deinen nächtlichen Aktivitäten?
Ja, ich meine die nächtlichen Aktivitäten. Ich verlange nicht einmal ein Zeichen mit offenen Augen, aber wenigstens nachts. Tagsüber, das versteht sich, gibt es nichts... Es ist keine Unzufriedenheit, sondern... ja, ein Bedürfnis zu wissen, ob man überhaupt vorankommt!
Aber ich habe dir doch gesagt, daß du vorankommst – und das reicht dir nicht! Du sprichst von einem "Bedürfnis zu wissen", aber du verlangst von mir einen Beweis.
Es geht nicht um einen Beweis. Wenn du mir sagst, daß ich vorankomme, versteht das zwar mein Mental, aber...
Dann ist es dein Vital. Das habe ich dir ja gesagt. Und ich betone diesen Punkt: Dein Vital mußte unter Kontrolle gehalten werden, weil... nun, wegen seiner Natur. Natürlich sagt es sich dabei: "All das will ich ja gar nicht; ich habe keinen Beweis, daß es vorwärtsgeht."
Hast du keinerlei Zeichen einer psychischen Gegenwart in dir?
(Nach einem Schweigen) Seit Jahren habe ich das Gefühl (es ist ein Gefühl, keine Vision), das Gefühl einer großen Weite von Licht, und wenn ich lange genug schweige, fühle ich mich darin friedlich und ruhig, und es ist für die Ewigkeit. Gut, ja, das ist da, immer.
Aber, mein Kind, das ist ja wunderbar!
Das war aber schon immer da, das ist nichts Neues!
Manche Leute haben das eine Minute lang in ihrem Leben und machen eine wunderbare Verwirklichung daraus.
Es ist immer da. Ich weiß sehr wohl, daß es immer da ist, ich weiß es, das ist für mich eine greifbare Tatsache.
Ja.
Ich versichere dir, du kannst mir das glauben (Mutter lacht), ich habe da ein klein bißchen Erfahrung: dies ist getan. Um es poetisch auszudrücken: "Dein Kopf ist im Licht." Aber dein Vital will diese Verwirklichung nicht; dein Vital erstrebt eine vitale Verwirklichung wie zum Beispiel, als du im Urwald warst und dir mit der Machete den Weg freischlugst: es sucht das Gefühl von Lebenskraft. Und das wurde ihm verwehrt, aus yogischen UND materiellen Gründen – in beiden Extremen –, weil der Körper dafür nicht geschaffen wurde und (lachend) der Yoga damit keine Zeit zu verlieren hatte. Also ist Monsieur Vital wütend. Es wurde ihm gesagt: "Beruhige dich, sei ruhig, ganz ruhig; es ist schon gut, auch du sollst deine Freude haben, aber... transformiert!" Es ist vielleicht weniger kämpferisch oder empört oder aggressiv als früher, aber es ist nicht glücklich, und dieses Vital gibt dir den Eindruck: "Aber ich habe ja gar kein Zeichen, daß ich vorankomme, daß ich Fortschritte mache! Ganz im Gegenteil! Alles wird immer glanzloser, trübsinniger und gewöhnlicher und entspricht immer weniger meinem Ideal und meinen Wünschen ..."
Ganz so ist es nicht... Ja, in manchen Ausartungen mag es so sein, aber...
(Mutter nimmt Satprems Hände) Für mich bist du immer noch ganz klein und ganz jung, weißt du.
Also los, sag mir, was du mir sagen willst.
Dir sagen?
Du hattest angefangen, mir etwas zu sagen, du sagtest: "Ganz so ist es nicht ..." (lachend) natürlich!
Ich weiß nicht. Es dreht sich immer um diese Frage der Vision. Hätte ich doch nur von Zeit zu Zeit eine schöne Vision. Schau, einmal in Ceylon (es war das einzige Mal in meinem Leben) hörte ich eine Musik, das war... wunderbar, sie war wirklich göttlich. Ja, für mich ist das ein Zeichen (das passierte ein einziges Mal in meinem Leben), und ich sagte mir: "Ja, gut, ich bin nicht fern – da ist etwas." Das ist ein Zeichen für mich. Oder wenn ich ein schönes Licht erblicke oder... So etwas ermutigt mich, und ich sage mir: "Ja, es läuft gut." Danach kann ich in die Hölle hinabsteigen und alle möglichen widersinnigen Sachen durchstehen, weil ich mir sage: "Wenigstens weiß ich, daß ich mich auf etwas zubewege." Aber verstehst du, das ist mir nur einmal in zehn Jahren passiert. Gewiß, das Vital bemächtigt sich dessen und macht eine Unzufriedenheit daraus. Aber sonst sage ich mir mit der normalen Vernunft: "Was passiert? Ich weiß es nicht." Ich bin nirgendwo, und ich warte.
Aber, mein Kind, auch ich warte – ich bin Millionen Jahre alt, und ich warte.
Gerade dieser Tage bin ich in dem Zustand, den du beschreibst, in dem man sich fragt: "Aber wo, wo nur ist der konkrete Beweis, daß sich das alles ändern wird?" Die Dinge sind wirklich nicht schön anzusehen – wo ist da der konkrete Beweis? Und immer wieder werde ich davon bestürmt, die schwerste Prüfung, der man überhaupt ausgesetzt sein kann: Sri Aurobindos Weggang. Denn Sri Aurobindo sprach immer so, als würde er nicht gehen. Deshalb kommt dies immer wie eine Verneinung: "Schau her, all das sind Träume für spätere Jahrtausende." Und es kommt wieder und wieder und wieder (Geste des Behämmertwerdens); worauf so etwas wie ein Schwert aus Licht kommt, unberührbar: Die Gewißheit.
Dann fragt man nicht mehr – man sagt nichts mehr, man fragt nicht mehr. Man hat die Geduld des Glaubens: "Wenn Du willst, dann wird es sein." Jedenfalls gebe ich nicht mehr nach, ich bleibe so (nach oben gekehrte Geste): das unversehrte Licht.
Alle äußeren Ereignisse widersprechen dem. Trotz der inneren Transformation (die gewiß ist, man erhält jede Sekunde Beweise dafür) behält der Körper die Gewohnheit des Zerfalls. Und gerade wenn man glaubt, die Dinge renkten sich ein (eben um einem einen Beweis zu geben, daß man vorankommt), passiert etwas, als wollte es einem zeigen, daß all dies eine Illusion ist. Und es wird immer zugespitzter, immer heftiger. Immer kommt da eine Stimme (die ich gut kenne, es ist die Stimme der Gegenkräfte, die einen auf die Probe stellen), die einem sagt (gleiche Geste des Behämmertwerdens): "Sieh nur, wie du dich täuschst, wie du dir Illusionen machst, all das ist ein bloßes Trugbild, sieh nur ..." Wenn man dem Beachtung schenkt, ist man verloren. Man ist ganz einfach verloren.
Man kann sich also nur die Ohren zustopfen und die Augen schließen, um sich dann dort oben festzuklammern.
Seit Sri Aurobindo gegangen ist, kommt dies unablässig wieder (gleiche hämmernde Geste), und weißt du: grausamer als jegliche menschliche Folter und alle nur erdenklichen Grausamkeiten. Das ist etwas entsetzlich Grausames, es enthält all die Bosheit der Grausamkeit, und es kommt wieder und wieder (gleiche Geste). Jedesmal, wenn das Wesen in einer Freude der Gewißheit aufblüht (gleiche Geste): "Sei ruhig!..."
Deswegen sage ich, die Verwirklichung ist nur für die Stärksten. Dann schämt man sich über das, was schwach in einem ist, und man opfert es auf: "Befreie mich von meiner Schwäche!" Dafür muß man schrecklich stark sein – die Kraft der Ausdauer, die sich durch nichts erschüttern läßt. Es kommt wie eine Bosheit in Perfektion, die nur da ist, um einem die ganze Zeit zu sagen (gleiche Geste): "Du täuschst dich, es ist nicht möglich, du täuschst dich, es ist nicht möglich ..." Und dann: "Siehst du, hier ist der Beweis dafür, daß ich recht habe: Sri Aurobindo, der wußte, ging ja selber." Wenn man dem Beachtung schenkt und es glaubt, ist man rettungslos verloren. Das ist sehr einfach, man ist verloren. Und genau das wollen sie ja. Nur... sie dürfen keinen Erfolg haben, man muß sich festklammern. Seit wie vielen Jahren?... (hämmernde Geste) fünfzehn Jahre, mein Kind – seit fünfzehn Jahren (gleiche Geste). Kein Tag vergeht ohne solche Angriffe, keine Nacht... Du sagst, du sähest Schreckliches – mein Kind, deine Schrecken müssen etwas sehr Charmantes sein im Vergleich zu den Schrecken, die ich zu Gesicht bekomme! Ich glaube, kein menschliches Wesen könnte den Anblick der Dinge ertragen, die ich gesehen habe. Und all dies wird mir gezeigt, wie um mir zu sagen, daß meine sämtlichen "Ambitionen" verrückt sind. Ich habe darauf nur eine Antwort: "Herr, Du bist überall, Du bist in allem. Wir müssen nur lernen, Dich durch alles hindurch zu sehen."
Erst dann beruhigt es sich.
Ich habe dir das bereits gesagt, und zwar nicht, um dir eine Freude zu machen oder dich zu trösten, sondern weil es eine Tatsache ist, die ich selber mit Neugier und Interesse beobachtet habe: Dort oben, im tiefen intellektuellen Verständnis und im großen Licht, sind wir uns außerordentlich nah. Und das zeigt sich in übereinstimmenden Erfahrungen im intellektuellen Bewußtsein. Ich weiß von deinen Schwierigkeiten, ich kenne sie, ich erkannte sie schon am ersten Tag, als ich dich sah (schon bevor du hierherkamst); in dieser Beziehung ist bereits ein großer Fortschritt erzielt worden, außer daß deine Gesundheit durch diesen Kampf erschüttert wurde. Ich weiß, daß du vollkommen geheilt werden kannst, aber um vollkommen geheilt zu werden, muß sich dein Vital umwandeln – und mit Umwandeln meine ich nicht, sich unterordnen – umwandeln heißt verstehen. Umwandeln heißt mitwirken.
(Satprem legt seinen Kopf auf Mutters Knie)
1 Eigenartigerweise hatte Satprem in den ersten Jahren tatsächlich alle möglichen Erfahrungen, und seine Nächte waren stets voll bewußt, sobald er den Körper verließ, aber dann hörten plötzlich alle diese Erfahrungen auf, als hätte man ihn absichtlich in seinen Körper verbannt, ohne Ausweg. Er brauchte lange, bis er einsah, daß es sich um einen "Yoga im Körper" handelte.