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Mutters

Agenda

siebenten Band

8. Oktober 1966

(Die Rede ist von Satprems Geburtstag. Trotz seines persönlichen Charakters veröffentlichen wir hier den Text dieses Gesprächs, denn der "rhythmische" Sinn von Geburtstagen ist von allgemeinem Interesse, und es gibt, wie Mutter sagt, immer eine Kurve der Vergangenheit, die sich nicht leicht mit der Kurve der Zukunft verbinden läßt.)

Bald ist dein Geburtstag.

Ich sehe, daß das, was wir Geburtstag nennen, eine Gelegenheit ist, Bilanz zu ziehen. Aus diesem Grunde konsultiert man ja auch die Astrologen an bestimmten Daten.

Das Individuum hat eine gewisse Beziehung oder ein Beziehungsgeflecht mit dem Universellen, und es muß ein Rhythmus darin liegen; die Dinge wiederholen sich automatisch am selben Punkt in der Zeit. Jedes Jahr sollte man also Bilanz ziehen können hinsichtlich dessen, was unten ist und was oben, oder was hinten liegt und was vorne.

Es muß so sein, weil für dich das Bilanzziehen anfangs dieses Monats begann. Das drückt sich dann in diesen "Geburtstagskarten" aus und in dem, was ich dir an deinem Geburtstag sagen werde (das alles ist nicht ausgedacht: es kommt einfach, und das ist sehr lustig, ich wohne einem dauernden Schauspiel bei). Und ich habe etwas sehr Interessantes gesehen; vielleicht ist es das, was ich dir für dein Buch sagen wollte 1 .

Es ist wie das Zusammentreffen zweier Kurven: eine, die aus der Vergangenheit kommt, und eine, die in die Zukunft führt, und der Geburtstag ist der Schnittpunkt dieser beiden Kurven. Ich habe dein Buch wie eine Kulmination der Kurve aus der Vergangenheit gesehen... Und es gibt einen Punkt, der in deinem Denken oder deiner Vorstellung noch nicht klar ist (Geste über dem Kopf): es ist etwas, das zur aufsteigenden Kurve der Zukunft gehört. Dieser Punkt ist die Schwierigkeit: die Bewegung, die zur Kurve der Vergangenheit gehört, hat Mühe, sich mit der Bewegung der Zukunft zu verbinden. Ich sehe das wie ein Schema. Es ist kein Gedanke sondern ein Schema. Es gibt einen Punkt, wo die beiden Kurven nicht zusammenkommen.

Ich habe zwei "Karten" ausgesucht. Dort liegen sie. Ich zeige sie dir aber noch nicht; du bekommst sie am 29. Ich weiß noch nicht, was ich schreiben werde oder ob ich überhaupt etwas schreiben werde.

Aber es scheint mir für dein persönliches Leben ein ganz entscheidendes Jahr zu sein – dein LEBEN (wie soll ich sagen?), dein ewiges Leben in dir. Das ewige Leben in deiner Individualität. Die Schwierigkeit scheint zu sein, die beiden Bewegungen miteinander zu verbinden... Sie sind noch nicht verbunden. Sehr interessant; ich habe diese Kurven gesehen, sie sind sehr schön.

All das ereignet sich da oben, und es ist sehr lustig: Wenn ich sehe, sehe ich nicht so (Geste von unten nach oben), sondern so (Geste von oben nach unten), ich sehe da oben. Etwas höher als da (Geste über dem Kopf), und von da oben sehe ich.

Aber ich habe sie gesehen, diese beiden Kurven. Ich kenne sie, ich sehe sie seit Anfang des Monats, und sie werden immer deutlicher. Sie sind sehr schön – sehr schön und elegant. Und diese da [die neue] ist wie eine wunderbare Fontäne – viel schöner noch! Und sie steigt weiter an, sie fällt nicht wieder ab, sondern läßt einen goldenen Regen auf die Erde fallen.

Sehr gut.

Wenn mir jemand ein Bild davon malen würde, gäbe ich es dir.

*
*   *

(Etwas später geht es um die Frage eines jungen Schülers über eine im "Abenteuer des Bewußtseins" beschriebene Episode von Sri Aurobindos Leben, als dieser Agnostiker war und mit dem Yoga begann, "um sein Land zu befreien".)

In einem Kapitel mit dem Titel "Das Ende des Intellekts" habe ich gesagt, daß Sri Aurobindo zunächst Agnostiker war und vor allem seinen Intellekt kultiviert hatte. V machte eine Zusammenfassung dieses Kapitels, und am Ende fragt er: Wie kann man yogische Disziplinen praktizieren, ohne an Gott oder das Göttliche zu glauben?

Wieso? – Ganz einfach, das sind doch nur Worte! Wenn man den Yoga praktiziert, ohne an Gott oder das Göttliche zu glauben, dann praktiziert man ihn, um sich zu vervollkommnen, um Fortschritte zu machen – aus allen möglichen Gründen.

Gibt es wohl viele Menschen... (ich meine nicht jene, die eine Religion haben: die lernen einen Katechismus, wenn sie ganz klein sind, das besagt also nicht viel), aber gibt es unter wahllos herausgegriffenen Menschen viele, die ans Göttliche glauben?... In Europa auf jeden Fall nicht. Aber selbst hier, wo es traditionell ziemlich viele gibt, die eine "Familiengottheit" haben, kann es ohne weiteres vorkommen, daß sie sie einfach in den Ganges werfen, wenn sie mit ihr unzufrieden sind. Das kommt vor, ich kenne welche, die das mit ihrer Familien-Kali getan haben. Wenn man an das Göttliche glaubt, kann man so etwas nicht tun, oder?

Ich weiß nicht... Ans Göttliche glauben?... Man dürstet nach einer gewissen Vollkommenheit, vielleicht sogar danach, sich selbst zu übertreffen, etwas Höheres zu erreichen als das, was ist. Wenn man ein Philanthrop ist, trägt man die Aspiration in sich, daß es die Menschheit besser hat und daß sie weniger unglücklich und weniger elend ist, lauter solche Dinge – dafür kann man einen Yoga praktizieren, aber das heißt nicht glauben. Glauben bedeutet den Glauben zu haben, daß es ohne das Göttliche keine Welt gibt, darum geht es doch; daß die Existenz der Welt Beweis genug ist für das Göttliche. Keine bloße "Überzeugung", nicht etwas, worüber man lange nachgedacht hätte oder das einem beigebracht wurde, nichts von alledem! Ein Glaube. Der Glaube des gelebten Wissens – kein angelerntes Wissen –, daß die Existenz der Welt einen ausreichenden Beweis für das Göttliche darstellt: ohne das Göttliche keine Welt. Und dies ist so offensichtlich, daß man den Eindruck hat, man müsse ein bißchen blöde sein, anders darüber zu denken. Und das "Göttliche" nicht im Sinne einer "raison d'être", eines "Ziels", einer Krönung, nichts dergleichen: Die Welt, so wie sie ist, ist der Beweis für das Göttliche. Denn sie IST das Göttliche in einem gewissen Aspekt (zwar recht entstellt, aber immerhin).

Für mich ist es sogar noch viel stärker: Wenn ich eine Rose anschaue wie jene, die ich dir gegeben habe, etwas, das eine solche Konzentration spontaner Schönheit enthält (keine gemachte, sondern eine spontane Schönheit, ein Aufblühen), man braucht das nur zu sehen, und man ist sicher, daß es das Göttliche gibt – es ist eine Gewißheit. Man kann einfach nicht anders, als daran zu glauben. Wie diese Leute – das erscheint mir phantastisch! –, die die Natur studiert haben, wirklich eingehend studiert haben, wie alles funktioniert und geschieht und existiert... wie kann man all dies aufrichtig, aufmerksam und sorgfältig studieren, ohne absolut davon überzeugt zu sein, daß das Göttliche existiert? Wir nennen es das "Göttliche" – das Wort ist ein Nichts! (Mutter lacht) Die Existenz selbst ist für mich ein unwiderlegbarer Beweis dafür, daß es... nur DAS gibt – etwas, das wir nicht benennen, das wir nicht definieren und auch nicht beschreiben können, aber das wir spüren und immer mehr WERDEN können. "Etwas" Vollkommeneres als jegliche Perfektion, schöner als alle Schönheiten, wunderbarer als alle Wunder, etwas, das selbst eine Totalität all dessen, was ist, nicht ausdrücken kann – und es gibt nur DAS. Kein "Etwas", das im Nichts schwebt – es gibt nur Das.

 

1 Der Sannyasin. Satprem klagte über Schwierigkeiten, den Schluß des Buches zu schreiben.

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