Mutters
Agenda
achten Band
3. Juni 1967
A schreibt, er habe in Paris Leute getroffen, die um Auskünfte über Auroville baten. Er antwortete ihnen mit einem Brief, dann sagte er sich kurz vor dem Abschicken: Vielleicht ist es doch besser, ihn Mutter zu zeigen. Er schickte mir den Brief – zum Glück! Diese Leute fragten ihn nach den Aufnahmebedingungen für Auroville; er antwortet ihnen: "Ach, noch ist nichts entschieden, wir werden sehen!" (Mutter lacht) Nun habe ich eine kleine Notiz vorbereitet, denn er tat, als gäbe es noch keine Aurovillianer. Ich weiß nicht, ob er dies absichtlich tat, um die Leute zu entmutigen, aber auf jeden Fall ist es nicht gut, so etwas zu schreiben. Drei- oder vierhundert Aurovillianer wurden schon angenommen, und ich habe unterzeichnet. Wir können also nicht so antworten... Ich weiß, worauf er sich bezieht, ich hatte ihm nämlich gesagt, DIE MATERIELLEN LEBENSBEDINGUNGEN in Auroville würden natürlich nicht im voraus willkürlich festgelegt.
Ich schrieb folgendes:
In psychologischer Hinsicht sind die wesentlichen Bedingungen:
1) Die Überzeugung von der essentiellen menschlichen Einheit und der Wille, am Kommen dieser Einheit mitzuwirken.
2) Der Wille, an allem mitzuarbeiten, was die zukünftigen Verwirklichungen fördert.
Das ist alles, es ist nicht kompliziert.
Und dann in materieller Hinsicht:
Die materiellen Bedingungen werden im Laufe der Verwirklichung erarbeitet werden.
Das ist nicht allzu kompliziert.
Natürlich werden wir eine Anmerkung in dem Sinne hinzufügen, daß die Leute nach dem Lesen der Broschüren, "Warum Auroville" und ihrer Zustimmung, einstweilen ihr Foto mit einem Antrag schicken sollen, wobei ich es bin, die sie annimmt oder nicht. Denn solange es nicht mehr sind, einige Hundert, ist es leicht, die Fotos anzuschauen, um so eine minimale Garantie zu haben, daß keine Taugenichtse hinzustoßen. Es ist nämlich sehr leicht zu sagen: "Oh, ich bin absolut überzeugt und will mitarbeiten", aber das sind nur Worte... Ich kann nicht alle Leute empfangen, aber schon anhand ihres Fotos kann man recht gut erkennen, ob sie aufrichtig sind oder nicht.
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Etwas später
Ach, ich habe etwas viel Interessanteres... K hält einen Kurs ab (über Soziologie, glaube ich), aber basierend auf Sri Aurobindos Schriften. Weißt du, ENDLICH habe ich in der Schule erreicht, daß es nicht zwingend ist, Prüfungen abzulegen; falls man während des Unterrichts Interesse und Aufmerksamkeit an den Tag legt, kann man ohne eine Bescheinigung oder Prüfungen in eine höhere Klasse aufrücken 1 . Nach so vielen Jahren habe ich das endlich durchgesetzt! Somit wurde den Studenten gesagt: "Die Entscheidung liegt bei euch; wenn ihr Prüfungen ablegen wollt, dann könnt ihr sie haben; wenn ihr aber keine Notwendigkeit dafür fühlt und gut vorankommt, braucht ihr sie nicht abzulegen und rückt genauso in die höheren Klassen auf." K mit seinem einfachen Herz dachte, alle Kinder hätten Sri Aurobindos Lehre verstanden und würden eine gesunde Verachtung für Prüfungen und die alten Wege spüren. Also erwartete er, daß seine Schüler ihm sagen würden: "Oh, dann legen wir keine Prüfungen ab ..." Doch alle von ihnen, mit einer einzigen Ausnahme, sagten, sie zögen Prüfungen vor, um ein Zeugnis zu erhalten...
Er war sehr enttäuscht und sagte mir: "Wie ist das möglich nach alldem?... Ich war mir so sicher, daß sie verstanden hätten. Obwohl sie Sri Aurobindo studiert haben, hängen sie immer noch an den alten Vorstellungen!" Darauf sagte er mir: "In einem Brief Sri Aurobindos habe ich einen Abschnitt gefunden, der vielleicht eine Erklärung gibt, und ich frage Sie, ob ich acht geben muß." Ich bejahte.
Hier ist der Brief, ich finde ihn sehr gut:
Allgemein läßt sich sagen, daß ein Übermaß an Eifer, Leute, besonders sehr junge Leute, in die Sadhana ziehen zu wollen, nicht ratsam ist. Der Sadhak, der zu diesem Yoga stößt, muß sich wirklich berufen fühlen, und sogar mit dem wirklichen Ruf ist der Weg oft schwer genug. Lockt man aber Leute im Geiste einer enthusiastischen Propaganda herbei, so besteht die Gefahr, ein imitatives und unwirkliches Feuer zu entfachen und nicht die wahre Agni, oder aber ein kurzlebiges Feuer, das nicht andauern kann und vom Ansturm vitaler Wellen erstickt wird. Das ist besonders bei jungen Leuten so, die prägsam sind und leicht von Ideen und übermittelten Fremdgefühlen gepackt werden – dann taucht das Vital mit seinem unbefriedigten Verlangen auf, und sie werden zwischen zwei gegensätzlichen Kräften hin und her geworfen oder sehr bald dem starken Sog des gewöhnlichen aktiven Lebens und der Befriedigung ihres Verlangens erliegen, was die natürliche Tendenz der Jugend ist. Oder aber das ungeeignete adhar [Gefäß] riskiert, unter dem Druck eines Rufes zu leiden, für den es nicht oder noch nicht bereit war. Wenn man die wahre Sache in sich selbst trägt, dann geht man hindurch und nimmt den vollen Weg der Sadhana auf sich, aber nur eine Minderheit handelt so. Es ist besser, nur solche Leute aufzunehmen, die aus eigenem Antrieb kommen, und von diesen auch nur jene, deren Ruf wirklich aufrichtig ihr eigener und beständig ist.
Sri Aurobindo
6. Mai 1935
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Etwas später
Am 31. sah ich Y. Sie blieb etwa eine Stunde und sprach über ihre Hoffnungen: Sie sieht die Möglichkeit einer Art weltweiten Fernsehens (ich weiß nicht, ob dies technisch machbar wäre) mit Telefonverbindungen und einem Zentralbüro, in dem höchstqualifizierte Persönlichkeiten alle möglichen Fragen beantworten würden, so daß sich eine universale Ausbildung organisieren ließe (jedenfalls weltweit), bei dem das Wissen und die besten Fähigkeiten aller Länder in künstlerischer, literarischer und wissenschaftlicher Hinsicht in einer Art Sendezentrum gesammelt würden und mit dem man sich nur in Verbindung setzen müßte. Anstatt auf mehr oder weniger unfähige Lehrer angewiesen zu sein, erhielte man die qualifizierteste und beste Antwort auf jede Frage. Somit hätte man weltweit Zugang zur bestmöglichen Ausbildung, und jeder fände genau das, was er sucht; man wäre nicht gezwungen, zahlreiche unnütze Unterrichtsstunden zu besuchen, um das bißchen aufzuschnappen, das man wissen will. Man bekäme es direkt, indem man sich mit dem Zentrum in Verbindung setzen würde: man wählt die entsprechende Nummer und erhält die Antwort.
Wenn sich das verwirklichen ließe, wäre es sehr gut. Auf diese Weise wären die schönsten Kunstwerke, die besten Lehren, all das Beste, was die Menschheit auch in Zukunft hervorbringt, an einem Ort gesammelt und allen, die einen Fernseher haben, zugänglich. Dies in Form von Bildern und der Erklärung oder als Text und Sprache. Eine Art riesiges Zentralgebäude, wo alles gesammelt würde. Dies erschien mir recht verlockend. Ich sagte ihr, wir würden das in Auroville machen (nicht das Zentralbüro: nur eine Empfangsstation). Sie erklärte: Anstelle der Lehrer, die etwas lehren, was sie nicht gut beherrschen, erhielte man für jedes Fach den besten Unterricht... (Ich habe sie nicht gefragt, WER die Auswahl der Leute treffen würde. Das bleibt ein heikler Punkt.) Aber die Idee erschien mir sehr verlockend. Sie meinte, man bewege sich auf das zu.
Ja, aber das ist immer noch eine Art Enzyklopädie.
Ja.
Gewiß sehr interessant, aber die beste Ausbildung wäre eine solche, die einen in Kontakt mit jenem Bereich des Wissens brächte, wo man alle Antworten selber findet.
Ah, das wäre sehr gut!
Ja, das wäre die wahre Ausbildung. Damit bräuchte man die Antwort nicht in einer Superbibliothek zu suchen: man berührt etwas dort oben und erhält alle Antworten.
Das ist aber viel schwerer.
Vielleicht nicht... Als Junge war ich mir völlig bewußt, daß ich von dort oben etwas HERUNTERZIEHEN konnte und daß die Antwort dort oben zu finden war. Kinder wissen dies noch nicht. Wenn man ihnen sagen, ihnen zeigen, verständlich machen könnte, daß das Wissen dort ist, daß man es einfangen kann...
Ja.
Doch man gewöhnt sie im Gegenteil daran, sich auf Bücher zu stützen, eben auf Enzyklopädien. Ich mußte zuerst hierher kommen, um die Bedeutung von dem zu verstehen, was ich von dort oben "herunterzog". Das heißt, ich wurde in meiner Kindheit überhaupt nicht dazu ermutigt.
Aber Z hat solche Versuche angestellt. Er erzählte mir von einem Mädchen in der Schule, das überhaupt keine Phantasie hatte: Wenn man ihr eine Frage stellte, konnte sie nur die Dinge wiederholen, die sie gelernt hatte. Wenn man ihr eine Aufgabe stellte, konnte sie diese nie lösen. So war sie also, oben völlig blockiert. Er brachte ihr bei, genau mit dieser intuitiven Zone in Beziehung zu treten, indem er ihr riet, sich ruhig zu verhalten, das Schweigen herzustellen und zu horchen. Nach einer gewissen Zeit erzielte sie so offenbar außerordentliche Ergebnisse – wirklich erstaunliche Antworten, die gewiß aus dem Bereich der Intuition kamen. Und das ist eine konkrete Tatsache, er hat dies in der Schule getan.
Ja, so müßte man vorgehen, das ist viel wichtiger.
Viel wichtiger als eine Maschine.
Ich hörte mir den Vorschlag von Y an und fand, dies sei immerhin besser als die Anstellung unfähiger Lehrer.
Aber es bleibt noch eine Unklarheit (darüber diskutierte ich nicht), und zwar, was die Qualität der Antworten-AUSWAHL betrifft. Geht man hingegen dorthin, zum Ursprung zurück, kann man sicher sein.
Das versuchen sie nun hier in ihren neuen Klassen zu tun: ihnen beizubringen, mit der intuitiven Zone in Kontakt zu treten.
Das ist sicher viel besser.
1 Am 14. April 1967 schickte Mutter folgende Mitteilung an die Schule: "Von nun an sind die den höheren Kurs betreffenden Regeln folgendermaßen abgeändert: (1) Studenten, die ein Zeugnis für den erfolgreichen Abschluß des höheren Kurses als volle Studenten erlangen wollen, müssen selbstverständlich alle vorgeschriebenen Prüfungen ablegen und den Bestimmungen, die ein volles Studium definieren, genügen. (2) Die anderen Studenten können wählen, ob sie die Prüfungen ablegen wollen oder nicht. Es wird keinen Zwang in bezug auf die Übertrittsprüfungen geben. (3) Trotz dieses Unterschieds werden alle Studenten in Lehrangelegenheiten gleich behandelt.