Mutters
Agenda
achten Band
Mutter kommt eine dreiviertel Stunde zu spät.
Offensichtlich herrscht irgendwo ein Wille, den Zeitsinn auszulöschen, denn... Es ist wirklich interessant, ich habe allerlei solche Erfahrungen. Normalerweise habe ich Arbeit für sechsunddreißig Stunden am Tag, so verspäte ich mich natürlich jeden Tag mehr und mehr: Immer später lege ich mich schlafen, ich muß die Arbeit der Nacht verrichten, und manchmal bin ich morgens verspätet, ich kam sogar schon eine ganze Stunde zu spät. Aber mit einer bestimmten Konzentration kann ich morgens in einer halben Stunde erledigen, was mich normalerweise eine Stunde kosten würde. In dieser Hinsicht habe ich viel gelernt.
Jetzt, um diese Zeit (10:45) sehe ich, daß die einzige Ermüdung darin besteht, daß ich das Gefühl habe, verspätet zu sein, sonst könnte ich unbegrenzt arbeiten. Da gibt es etwas zu lernen. Ich sage dir das, weil es mir eben in den Sinn kam: Der Zweck ist wohl, den Schlüssel zur Meisterung der Zeit zu finden: nicht regelmäßig zu sein, sondern alles – über kurz oder lang –, in einer verkürzten oder verlängerten Zeitspanne zu tun – damit die Zeit ihre konkrete Realität verliert.
Für mich wäre das sehr leicht; die Schwierigkeit liegt in all den Leuten um mich herum, die (lachend) ein chaotisches, sinnloses Leben führen. Es gibt einen unzusammenhängenden Anschein. Ich kann nicht jemandem sagen: "Ich treffe Sie um die und die Zeit", denn es ist nicht wahr; ich weiß nicht, wann ich ihn sehen werde. Da die Leute aber zu einer festgesetzten Zeit essen, schlafen und arbeiten und alles geregelt ist, schafft es eine schreckliche Verwirrung – aber was soll ich tun?
Es ist unbequem. Wenn man ganz allein ist, macht es nichts, aber wenn man mit vielen Leuten zu tun hat, wird es sehr schwierig.
Es herrscht das Gefühl einer Elastizität der Zeit, das heißt, daß sie keine konkrete Realität hat; nur die menschlichen Organisationen geben ihr eine konkrete Realität... Bleibt noch die Sonne, aber im Augenblick stört sie nicht sehr, denn für meine Arbeit brauche ich kein Tageslicht; ich kann mich egal wann ausruhen und egal wann arbeiten, aber das organisierte Leben, so wie es ist...? Ich weiß nicht.
Etwas muß gefunden werden.
Eine Lösung wäre, den Schlaf zu verkürzen und die Müdigkeit beheben zu können.
Das genügt nicht. Das genügt nicht, denn ich habe diese Erfahrung gemacht: Es gelang mir, mich jede Nacht nur noch zwei Stunden auszuruhen, und das führte zu absolut nichts – absolut nichts. Je mehr Zeit man hat, um so mehr Arbeit erhält man.
Ja.
Jetzt ist es jeden Tag ein wirklicher Ansturm. Täglich kommen vierzig, fünfzig, sechzig Leute. Ohne all die Dinge zu zählen, die ich unterzeichnen und um die ich mich kümmern muß, und dann die finanzielle Seite, die besonders... (lachend) interessant ist, das heißt, je mehr ich arbeite, um so weniger Geld habe ich. Ich zahle fast von Stunde zu Stunde, und trotzdem schulde ich noch Leuten Geld, die stürmisch danach verlangen... denn für Leute, die auf Geld warten, um ihr Essen zu bezahlen, ist es nicht sehr angenehm, wenn sie es nicht erhalten.
Aber es ist eine Art Gewaltakt, um all das abzuschaffen, was man für die normalen und natürlichen Regeln hält. Voilà.
Ich möchte dir damit keine Erklärung für meine Verspätung abgeben, denn ich versuche, rechtzeitig zu kommen. In der Hinsicht lasse ich mich wirklich nicht gehen, ganz und gar nicht; aber da ist gewiß ein viel wirksamerer Wille als der meine.
(Dann reicht Mutter Blumen)
Das ist "die göttliche Reinheit" 1 . Was soll "göttliche Reinheit" bedeuten?... Daß das Göttliche nur seinen eigenen Einfluß empfängt!... Ich verstehe. Oder daß das Individuum nur den göttlichen Einfluß empfängt – hier mein Kind (Mutter gibt Satprem die Blume).
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Etwas später
Habe ich mit dir die Botschaft zum 21. Februar besprochen? Nein? Kam es nicht im Gespräch mit dir?...
Es geht nur darum, Formeln zu brechen, weißt du, Gedankenformeln, mentale Kategorien, das ist nicht meine Schuld (ich will sagen, ich tat es nicht absichtlich). Es kam so. (Mutter liest ihre Botschaft):
Das sicherste Mittel, die Manifestation der göttlichen Liebe zu beschleunigen, ist, am Triumph der Wahrheit mitzuarbeiten.
Für eine oberflächliche Geisteshaltung... Was uns betrifft, wir wissen, daß das stimmt, denn, wie Sri Aurobindo sagte, die Wahrheit muß wirklich begründet sein und herrschen, bevor die Göttliche Liebe sich in ihrer ganzen Macht und Herrlichkeit manifestieren kann... ohne alles niederzureißen.
Sri Aurobindo drückte es noch stärker aus, er sagte, sonst würde sie "alles zerschmettern".
Ich werde diese Botschaft geben.
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Dann kommt Mutter auf den Beginn der Unterhaltung zurück:
Ach, die Korrespondenz hat ungeheure Ausmaße angenommen! Fünfundzwanzig, dreißig, manchmal vierzig Briefe täglich. Natürlich bemühe ich mich vergeblich... Ist es nur eine kurze Notiz, geht es gut, aber ich kann täglich höchstens auf acht oder zehn Briefe antworten: ich habe nur eineinhalb Stunden zur Verfügung, das ist nicht viel – nicht einmal das. Nein, nein, das ist eine Stunde zu viel: ich habe nur eine halbe Stunde! Aber ich dehne sie aus: ich habe Zeit von sieben bis halb acht abends, aber ich verlängere täglich bis acht Uhr. Das Abendessen ist für halb acht vorgesehen, und ich nehme es um acht zu mir. Ich sollte eigentlich um halb zehn schlafen gehen und um halb fünf aufstehen; gestern war es fast elf, als ich zu Bett ging, das passiert häufig, das heißt, eine Stunde zu spät. Manchmal stehe ich zu spät auf. Zwischen ein und zwei Uhr morgens habe ich den ersten Abschnitt der Konzentration beendet, damit der Körper ruhen kann. Danach beginne ich meine Arbeit. Vor der Arbeit eine kleine Konzentration, um dann, wie auch immer die Arbeit beschaffen ist, um halb fünf zurückzukehren. Manchmal ist es allerdings später, manchmal wird es Viertel vor fünf. Danach habe ich Zeit für die Morgentoilette, und da habe ich wirklich interessante Erfahrungen: Mit einer gewissen Konzentration (sie hat nichts mit dem Willen zu tun: eine gewisse Art von Konzentration und Kontaktaufnahme mit der Gegenwart) und einem Gefühl der Relativität, der wirklich beachtlichen Relativität der materiellen Zeit, da kann man dieselbe Sache sehr viel schneller verrichten. Ich fand heraus, daß man die Zeit um mehr als die Hälfte verkürzen kann, einfach durch eine Konzentration. Man tut die Dinge auf genau die gleiche Art, aber es nimmt keine Zeit in Anspruch – wie?... die Geheimnisse sind noch nicht offenbart. Aber das Phänomen besteht.
Genau dasselbe... es ist kein "Prinzip", sondern eine Art, die Dinge zu tun, oder eine Seinsweise, und dasselbe gilt für alle Dinge: für die Müdigkeit, das Einsetzen einer Krankheit, d.h. die Ursache der Krankheiten (die innere Störung oder die Empfänglichkeit für äußere Störungen), all das spielt sich auch auf dieselbe Weise ab. Wenn man dem die Intensität eines Glaubens oder einer Verehrung hinzufügt, ist es viel leichter, aber es spielt sich auf die gleiche Weise ab. Was geschieht also? Für die innere Wahrnehmung, die Wahrnehmung des Bewußtseins, ist es ein Prinzip der Störung – ein Prinzip oder fast ein Geschmack daran, ich weiß nicht, es liegt zwischen einer Gewohnheit und der Vorliebe für Störungen – und dies wird ersetzt durch... ja (um so allgemein wie möglich zu sein) durch eine Schwingung der Harmonie. Aber diese Schwingung der Harmonie ist voller Licht, voller Süße, voller... Wärme, Intensität und einer wunderbaren Ruhe. Wenn "das" nun jenes andere ersetzt, löst sich alles auf, was der Welt der Störung angehört. UND die Starrheit der Zeit verschwindet 2 . Die Zeit... vielleicht könnte man sagen (es ist nur eine Redensart), die Zeit wird ersetzt durch eine Folge... (Mutter verharrt eine lange Zeit in innerer Betrachtung)
Das ist ein Merkmal der materiellen Welt.
Nimm die einfachsten und konkretesten Dinge, zum Beispiel das Zähneputzen. Dies ist ein äußerst flexibler Vorgang, und meistens geschehen die Dinge nicht gewohnheitsmäßig sondern durch eine absichtliche Routine, die auf persönlicher Erfahrung basiert, damit es keiner speziellen Konzentration bedarf – so kann es fast automatisch geschehen. Aber dieser Automatismus ist sehr flexibel, sehr plastisch, denn eben entsprechend der Intensität der Konzentration variiert die Zeit (indem man vorher und nachher auf die Uhr schaut, wird es einem klar): man kann die Zeit gewiß um mehr als die Hälfte verkürzen, aber die Dinge werden dabei auf genau die gleiche Weise getan: man läßt nichts aus, man tut sie auf dieselbe Weise. Um sicher zu sein, kann man zum Beispiel zählen, wieviel Male man die Zähne bürstet oder den Mund ausspült – ich nehme absichtlich das Banalste, denn bei anderen Aktivitäten besteht eine natürliche Flexibilität in der Ausführungszeit, die sie länger oder kürzer machen kann (da ist es leichter verständlich), aber bei den konkretesten und den banalsten Dingen ist es auch so. Es gibt kein: "Oh, heute lasse ich das aus" oder: "Ich übergehe das" – nichts dergleichen: alles geschieht auf die gleiche Weise, aber mit einer Art Konzentration und einem ständigen Ruf – da ist ein ständiger Ruf. Dieser Ruf könnte sich materiell durch das Sprechen des Mantras ausdrücken, aber es ist nicht einmal das: es ist das GEFÜHL des Rufens, einer Aspiration – vor allem ein Ruf. Ein Anruf. Wenn das Mental Sätze formulieren will, sagt es: "Herr, nimm Besitz von Deinem Königreich." Ich erinnere mich, bei gewissen Dingen, bei gewissen Störungen, wenn etwas nicht gut geht (und mit der Wahrnehmung eines sehr geschärften Bewußtseins kann man sehen, ob die Störung zum Beispiel der natürliche Ursprung einer Krankheit oder der Beginn von etwas sehr Ernstem ist), und mit diesem Ruf, der Konzentration und der Antwort... [löst es sich auf]. Es ist fast eine Unterwerfung, denn es ist eine Hingabe ohne Hintergedanken: Die geschädigte Stelle öffnet sich dem Einfluß, nicht mit der Idee, geheilt zu werden, sondern einfach so (Geste einer sich öffnenden Blume), bedingungslos – das ist die machtvollste Geste.
Sobald man es in Worten formuliert, wird es künstlich – es ist viel aufrichtiger, viel wahrer, viel spontaner als irgend etwas mental Formuliertes oder Formulierbares. Keine Formel kann die Aufrichtigkeit, Einfachheit und Spontaneität der materiellen Bewegung wiedergeben – etwas ohne Berechnung. Es gab eine Zeit, wo das Formulieren sogar eine sehr unangenehme Empfindung verursachte, als ob etwas Künstliches über etwas spontan Wahres gelegt würde; dieses Unbehagen konnte erst durch die höhere Erkenntnis behoben werden, daß man, sobald etwas formuliert ist, darüber hinausgehen muß. Zum Beispiel ERHEISCHT jede ausgedrückte oder beschriebene Erfahrung einen neuen Fortschritt, eine neue Erfahrung, es beschleunigt die Bewegung. Das war ein Trost, denn gerade bei der alten Empfindung von etwas sehr Stabilem, sehr Solidem und Unbeweglichem aufgrund der Trägheit (der vergangenen Trägheit, die gerade transformiert wird, aber Spuren hinterlassen hat), wegen dieser Trägheit besteht eine Tendenz, die Solidität der Dinge zu bevorzugen. Somit ist da eine Freude, gezwungen zu sein: "Nein, nein, kein Ausruhen, kein Anhalten, vorwärts! – immer weiter und weiter"... Wenn eine Erfahrung sehr fruchtbar und erfreulich war und eine große Kraft und eine große Wirkung hatte, ist die erste Bewegung die, sich zu sagen: "Davon rede ich nicht, ich will sie für mich behalten." Danach kommt: "Ich werde darüber sprechen, um noch weiter voranzuschreiten" – um weiterzugehen, immer weiter und weiter...
Es liegt eine Stabilität in dem Entschluß und der Aspiration, die man allein hier findet (Mutter schlägt auf den Boden). Das ist die Charakteristik der Materie. Weißt du, wenn sie sich hingibt und Vertrauen hat, wird das so beständig, so konstant und... eine Freude, eine Art Erweiterung, eine leuchtende Ausdehnung – dies wird ein solch beständiges Bedürfnis, wie es in keinem anderen Teil des Wesens jemals der Fall war. Es hat sich wirklich ETABLIERT – ohne Anstrengung, spontan, natürlich, wie etwas Normales. Wenn diese Materie wirklich göttlich wird – wirklich göttlich –, kann man voraussehen, daß ihre Manifestation unendlich viel vollständiger, vollkommener in allen Details und dauerhafter sein wird als sonstwo.
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(Gegen Ende des Gesprächs geht Mutter zur englischen Übersetzung der Botschaft für den 21. Februar 1969 über und zögert bei einer Redewendung:)
Mir ist aufgefallen, daß die Engländer jetzt sprachlich viel flexibler sind als diejenigen, die das Englisch der viktorianischen Zeit lernten, das viel starrer war.
Gewöhnlich brauche ich nur hinzuhören, und Sri Aurobindo sagt es mir... Sri Aurobindos Englisch war sehr flexibel, und die Puristen diskutierten über bestimmte Formulierungen. Ich erinnere mich, daß er mir über gewisse Kritiker sagte: "Aber das liegt daran, daß sie nicht verstehen! Wenn ich es so ausdrücke, bedeutet es das, und wenn ich es anders ausdrücke, etwas anderes. Wenn ich ein Wort in meinem Satz umstelle, verändert das den Sinn." Er war sehr genau.
Nimmt man solche kleinen Worte (Mutter zögerte zwischen "am Triumph der Wahrheit mitarbeiten" und "für den Triumph der Wahrheit mitarbeiten"), so besteht ein subtiler Bedeutungsunterschied, wenn man das eine oder das andere benutzt. Die klassische Formulierung ergibt meistens den banalsten, gewöhnlichsten, oberflächlichsten Sinn.
1 Lobelia longiflora
2 Es ist interessant zu bemerken, daß das gleiche Prinzip sowohl für die Starrheit der Zeit als auch für die Krankheiten zutrifft.