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Mutters

Agenda

neunten Band

6. November 1968

(Über einen Besuch, den Satprem einer alten französischen Schülerin namens Bharatidi im Krankenhaus von Vellore abgestattet hat, wo sie operiert werden soll. Bharatidi, ein Mitglied der "École Française d'Extrême-Orient" [Französische Schule des Fernen Ostens], ist bekannt für ihren funkelnden Geist, ihr lebhaftes Wesen und ihre beißende Ironie.)

Du hast also Bharatidi besucht?

Ja, Mutter. Sie ist wirklich eine gute Frau, was für eine Kraft sie hat! Und welch einen Sinn für Humor, sie ist wirklich eine Königin.

Ja.

Sie hat einen großen Edelmut.

Oh, ja.

Hast du ihr meine Karte gegeben?

Ja, ihr kamen Tränen in die Augen.

Morgen wird sie operiert.

Morgen vormittag.

Ich habe mich gefragt, ob das wirklich unvermeidlich ist. Sie wissen nicht einmal, ob es sich um Krebs handelt.

Es handelt sich um einen Tumor: es kann Krebs oder ein gutartiger Tumor sein.

Nun, sie trifft ihre Anordnungen, sie hat schon all ihr Geld verteilt.

Die Ärzte meinen, wenn man nicht operiere, werde es immer schlimmer.

Ja.

Wie alt ist sie?

Über siebzig glaube ich. 1 Man bereitet sie mit Bluttransfusionen auf die Operation vor. Sie ist physisch sehr schwach, sehr ausgezehrt. Doch sie hat diese ungeheure Energie...

Sie wußte nicht, daß sie dies hatte?

Nein... Es tut so gut, ein menschliches Wesen von solcher Würde zu treffen...

Oh, ja.

... Sie erzählt mit großem Humor vom Besuch der Missionare und der Schwestern, die sie zu bekehren versuchen (es handelt sich um ein protestantisches Krankenhaus)...

Ach?

Es gibt dort also Bischöfe und Nonnen, und einmal kamen sie in ihr Zimmer, um sie zu bekehren. Sie erzählt das mit solchem Humor: "Ich habe keine Angst vor dem Sterben, ich weiß, daß man mehr als einmal geboren wird!" Das verschlug ihnen die Sprache.

Ja, sie hat mir durch M eine Botschaft schicken lassen: "Ich habe keine Angst vor dem Sterben, denn ich weiß, daß man nicht stirbt." Das ist sehr gut.

(langes Schweigen)

Zwischen meinem Mental und dem ihrigen bestand eine seltsame Verbindung... Wenn ich die Dinge betrachtete und darüber sprach, übernahm ich Bharatidis Tonfall und ihre Art, über die Dinge zu sprechen und sie zu sehen. Ich fragte mich immer, warum das so war, bis ich mir die Sache näher anschaute: in einem früheren Leben waren wir zusammen im selben Körper. Das ist sehr lange her.

Es ist wirklich merkwürdig und sehr interessant... Plötzlich pflegte ich mit ihrer Stimme zu sprechen: der Tonfall, die Worte, alles, war ganz und gar sie. 2

Sie hat ein gut entwickeltes Mental, wirklich sehr schön.

Bevor sie hierher kam, war sie Buddhistin 3 und Kommunistin – eine sehr überzeugte Kommunistin.

(Schweigen)

Sind das militante Protestanten im Krankenhaus?

Oh, ja. Überall in den Zimmern sieht man große Aufschriften: "He died for our sins" [Er starb für unsere Sünden], mit Bibelversen an den Wänden.

Oh!

Sie sind sehr protestantisch. Auch hört man dauernd religiöse Lieder...

(nach einem Schweigen)

Diese Protestanten sind schlimmer als die Katholiken.

Das läßt mich immer an eine dänische Frau denken (die Mutter Hohlenbergs 4, die hier war), die zufällig nach Paris kam und die ich eines Morgens bei mir zum Frühstück eingeladen hatte. Wenn du diese Frau gesehen hättest... Ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang, aber die Rede kam auf die Katholiken, und sie wurde dermaßen zornig! Sie schrie: "Diese Götzendiener!..." (Mutter lacht) Schrecklich!

Sie sind noch schlimmer... Ich kenne beide Haltungen, ich habe beide gesehen: die Protestanten sind schlimmer. Sie sind viel... sie sind hart, sehr hart. Alles Künstlerische am Katholizismus war ihnen suspekt. Sie verwandelten ihn in...

Eine mentale Moral.

Ja, genau.

Kennst du die Geschichte von diesem "Evangelisten", einem Pastor, der in dem Haus wohnte, wo H jetzt lebt? Natürlich hatte er Kontakte mit dem Ashram, und ich weiß nicht wie, jedenfalls erhielt er einige "messages", die ihn glauben ließen, ich stellte mich als Gott dar – daß ich ein Gott sei –, und das machte ihn rasend. Er schrie: "Aber unser Gott ist wenigstens am Kreuz gestorben, er hat für uns gelitten ..." In der Art. "... Während sie ein bequemes Leben führt ..."

Es war schrecklich.

"... das hatte wenigstens einen Wert: er litt für uns, und er starb am Kreuz."

Ja, das habe ich im Krankenhaus gesehen, diese große Aufschrift: "He died for our sins."

Entsetzlich!

In riesigen Buchstaben.

Wirklich entsetzlich.

Das ist ganz einfach barbarisch.

Ja.

(Schweigen)

Sie sind weniger zahlreich, viel weniger als die Katholiken.

Ihre Religion ist so eng – eng und hohl –, im Grunde steckt nichts dahinter. An dem Tag, wo dies alles zusammenbricht, werden sie vollkommen verblüfft dastehen.

Ja.

Man sieht das vor allem in Amerika: es bricht hervor aus allen Fugen. Bei den Katholiken gibt es zumindest einige wahre Wurzeln...

Vor langer Zeit stellte ich eine vergleichende Studie an über das, was ich in all den heiligen und religiösen Stätten sah und spürte, und das ist wirklich interessant. In den protestantischen Kirchen beschränkte es sich auf das Mental, es gab nichts anderes – nichts: es war vollkommen trocken. Ein Mental, und nichts dahinter.

Bei den Katholiken hing es sehr stark von der jeweiligen Kirche oder Kathedrale ab: je nach Ort war es ganz unterschiedlich. Dann verglich ich dies mit den Heiligtümern der anderen Religionen... Bei meinen Reisen pflegte ich sie immer zu besuchen – das war hoch interessant.

Die buddhistischen Tempel sind SEHR GUT. Offensichtlich nihilistisch, aber immer mit einer sehr konzentrierten Atmosphäre – ungeheuer konzentriert und AUFRICHTIG. Ein aufrichtiges Streben.

In den Tempeln hier... Ach, hier bin ich allen möglichen Dingen begegnet (auch vielen kleinen Teufeln!). Hier war es wirklich sehr interessant... In einem Tempel bat mich eine Gottheit um meine Hilfe, um Einfluß auf die Leute zu erlangen. Sie sagte mir: "Ich gebe dir alles, was ich habe, und du sorgst dafür, daß ..." (Sie sagte mir das nicht genau mit diesen Worten: ich übertrage). Ich fuhr im Wagen zu ihrem Tempel, und während der Fahrt erschien sie plötzlich im Auto, völlig überraschend. Sie sagte mir: "Komm und hilf mir, meine Macht zu steigern, ich gebe dir dafür alles, was ich habe!..." (Es war im gleichen Tempel, wo man einmal im Jahr Hunderten von Hühnern den Garaus macht.) 5 Ich sagte ihr: "Nein."

Wenn ich diese widerlichen Massaker nur verhindern könnte...

Aber an vielen dieser Tempel gefällt mir die Atmosphäre sehr.

Ja.

Man findet darin eine so alte Schwingung, so alt...

Ja.

Man hat den Eindruck, daß man darin Jahrtausende wiedererkennt.

Ja.

(langes Schweigen)

Hat man ihr diese Sprüche ins Zimmer gehängt?

Ja, ja, überallhin.

Hat sie sie nicht entfernen lassen?

In einer Ecke liegt sogar eine Bibel... Nein, nein, unmöglich, das entfernen zu lassen!

In ihrem Zimmer.

Ja.

Und du, als du dort krank warst, hat man dir auch eine Bibel gegeben?

Nein, ich habe keine Bibel gesehen, aber es gab auch Schilder mit Sprüchen (ich weiß nicht mehr, was für welche).

Sie machen Propaganda.

Oh, ja, aber sicher.

(langes Schweigen)

Hast du nichts, keine Arbeit oder sonstwas?

V hat wieder etwas gesehen. Etwas Unerwartetes. Jeden Abend geht er zum Samadhi, um zu meditieren, wobei er dort noch nie in seinem Leben Visionen gehabt hat: dort ist nur Sri Aurobindo und sonst nichts, schon seit Jahren. Aber neulich hatte er plötzlich eine Vision: Er sah Kali aus dem Samadhi austreten, dort, wo Sri Aurobindos Kopf liegt – Kali, ganz in Blau, mit goldenen Ornamenten bedeckt.

An welchem Tag war das?

Vor vielleicht vier oder fünf Tagen.

(Mutter bleibt lange in Schweigen versunken,
darauf folgt ein Mißverständnis:)

Mir mißfällt das sehr, sie dort zu spüren.

Was V überraschte, war, daß sie nicht nackt sondern mit Gold bedeckt war.

Was sagst du da?

Ach, du sprichst von Bharatidi! Pardon!

Macht gar nichts, was hast du über Kali gesagt?

Ihn überraschte es, daß sie mit Gold bedeckt war, statt nackt zu sein.

Sie trat aus dem Samadhi aus?

Nein, das überrascht mich gar nicht. 6

Meine Gedanken bezogen sich auf Bharatidi... sie sollte nicht dort sterben, denn dies ist ein schlechter Ort zum Sterben.

Ja. Als ich dort lag, bekam ich einen schrecklichen Eindruck.

Ja.

Die ganze Zeit sagte ich mir: ich muß hier raus, ich muß hier raus!...

Oh, ich wollte die ganze Zeit, daß du dort rauskommst.

Nun, ja.

 

Addendum

(Ein Brief von Mutter an Bharatidi)

(der ungefähr 1963 geschrieben wurde, in einer Zeit, als Mutter keine Schüler empfing, außer bisweilen jene, die heiraten wollten. Bharatidi, damals 73-jährig, schrieb Mutter, ob sie wohl heiraten müsse, um Anrecht auf ein Gespräch zu erhalten...)

O Bharatidi, meine teuerste Freundin!

Bitte heiraten Sie nicht, das wäre ein ungeheurer Verlust für uns alle – denn Sie müßten dann den Ashram zumindest für die Zeit der Flitterwochen verlassen...

Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen. Wenn ich Sie nicht empfange, liegt dies daran, daß ich nicht spreche, und, schlimmer noch, daß ich nichts verstehe, und wie könnte ich Sie empfangen, ohne all die interessanten Dinge zu hören, die Sie mir jedesmal zu berichten haben?...

Mein Programm besteht im allgemeinen aus fünf Minuten Meditation, mitunter weniger – und wie könnte ich Sie darum bitten, dafür zwei Stockwerke zu erklimmen?

Wenn es Ihnen recht ist, warten wir ein wenig, bis der Druck (nicht der arterielle wohlgemerkt!) etwas nachgelassen hat.

Wie Sie wissen, habe ich den großen Vorteil, ohne die Notwendigkeit einer physischen Präsenz bei Ihnen zu sein, und Ihre Stimme hallt häufig in meinem inneren Gehör wieder – und ich antworte immer im Schweigen.

Ich habe diesen langen schriftlichen Diskurs hier angefügt, um Ihnen meine besten Neujahrswünsche zu übermitteln.

Mit all meiner Zärtlichkeit

Mutter

 

1 Suzanne Karpelès oder Bharatidi wurde am 17. März 1890 in Paris geboren.

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2 Siehe im Addendum einen Brief von Mutter an Bharatidi, der die Art ihrer Beziehung illustriert.

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3 Bharatidi war eine Kennerin der Pali-Sprache, die von den Buddhisten des Südens verwendet wird, und des Sanskrits.

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4 Ein Maler, der ein Standbild von Sri Aurobindo im Profil gesehen malte.

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5 Mutter erzählte diese Geschichte in der Agenda Bd. 2, vom 29. April 1961.

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6 Gold ist die Farbe des Supramentals.

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