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Mutters

Agenda

zehnten Band

26. Februar 1969

Vor zwei oder drei Tagen erhielt Pavitra einen Brief aus Frankreich von jemandem, der sich beklagte (Mutter lacht), daß Franzosen, die vom Ashram zurückkamen, berichteten, die Sitten im Ashram seien äußerst "locker", kurzum, alles sei in einem jämmerlichen Zustand. Diese Person drückte nun ihre "Wünsche" aus, daß sich "die Sitten im Ashram wieder bessern."

Pavitra fragte mich: "Soll ich darauf antworten?" Im ersten Augenblick sagte ich (lachend): "Es lohnt sich nicht zu antworten, da gibt es nichts zu sagen." Aber nachdem er weggegangen war, kam es (Geste von oben), nicht direkt als Antwort an diese Person sondern als Antwort auf eine gewisse Einstellung, die recht verbreitet ist. Zuerst kam es auf französisch, in drei Teilen: ein Satz mit einer Reihe von Erfahrungen, dann ein zweiter Satz mit einer weiteren Reihe und schließlich ein dritter Satz. Die Verbindung wurde nicht aufgeschrieben.

(Mutter reicht Satprem eine Notiz)

"Urteile niemals nach den Erscheinungen und erst recht nicht nach Gerüchten ..."

Damit kam eine ganze Reihe... Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll: keine Sätze sondern eine Art Wissen, daß Urteile natürlich stets mehr oder weniger bewußt auf der Ethik basieren, in der man erzogen wurde, der Ethik des Landes, in dem man lebt. Also schrieb ich:

"Was in einem Land als moralisch gilt, ist in einem anderen unmoralisch ..."

Das ist eine Tatsache.

Und hier der Schluß:

"Der Dienst für das Göttliche verlangt eine Aufrichtigkeit der Selbstaufopferung, die allen Moralauffassungen abgeht."

Das ist wahr, es gibt keine einzige Moral, keine Religion, die das hat. Niemand wagte, dies den Leuten zu sagen.

Das war mir bisher nicht aufgefallen, und dieser Anlaß machte mich darauf aufmerksam.

Du meinst, daß diese Selbstaufopferung auch eine Aufgabe aller Prinzipien der Moral mit sich bringt?

Ja, natürlich. Aber vor allem hat keine Moral je gesagt: "Ihr dürft die Dinge nicht auf euch selbst beziehen." Sie sagen: "Ihr dürft nicht egoistisch sein, ihr sollt brav sein ...", all das, aber niemand kritisiert dieses abgetrennt von den anderen existierende Ich-Gefühl, während die wahre Haltung das verlangt.

All das kam sehr deutlich – es erscheint wie in "Szenen", ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll... und so deutlich! Es kam immer wieder – ich wollte es wegscheuchen, aber es kam zurück, bis ich es aufschrieb. Als ich es geschrieben hatte, ließ es mich in Ruhe.

Diese Moralisten bilden sich ein, sie stünden "außerhalb" der Zerrüttung der "anderen", während sie doch alle im selben Schlamm stecken!

(Mutter lacht) Natürlich! Ach, die Moralisten halten sich für sehr überlegen.

Aber wenn man ein wenig kratzt, ist es nicht hübsch.

Ja, es ist genau das Gleiche.

*
*   *

Etwas später

Die Arbeit schreitet schnell voran...

Für mich gehen die Dinge schnell und kraftvoll voran, und man müßte sie ständig aufschreiben... Manche Augenblicke sind schwierig.

Es ist zu viel; es sind zu viele Dinge, man kann sie nicht alle aussprechen.

(Mutter scheint von weither zu sprechen)

Offensichtlich handelt es sich um eine Arbeit der Veränderung des Bewußtseins (Mutter berührt ihren Körper), und es geht enorm schnell voran, deshalb erinnere ich mich nicht mehr an die einzelnen Übergänge, an die Abschnitte...

Das Ich-Gefühl des Körpers ist verschwunden, was zu einem sehr seltsamen Ergebnis geführt hat... Im Augenblick, wo die Erfahrung stattfindet, kann ich sie gerade noch beschreiben, aber... Erstens gibt es kein Gefühl der Begrenzung mehr, das heißt, einer Begrenzung des Körpers als einer getrennt existierenden Sache; die Wahrnehmung, daß man "sich" stößt und daß "etwas anderes" einen getroffen hat, ist zum Beispiel völlig verschwunden (ich kann das nicht erklären). Und dies läßt...

Ich habe keinerlei Erinnerungen mehr, ich kann mich nicht an eine Sache erinnern und sie erzählen: ich kann nur im Augenblick der Erfahrung darüber reden, auf eine fast visuelle Weise – ich weiß nicht, wie ich das erklären soll (Mutter betrachtet ihre Hände), es ist nicht begrenzt und... Unmöglich, ich kann es nicht beschreiben.

Eines besteht auf andauernde, beständige Weise, und zwar eine Art BewußtseinsZUSTAND, der in Beziehung mit der materiellen Welt steht... Normalerweise entstehen die Empfindungen an einer präzisen Stelle des Körpers, dann werden sie wahrgenommen und irgendwo im Gehirn registriert – bei mir ist das gar nicht mehr so. Die Wahrnehmungen... es sind aber nicht wirklich Wahrnehmungen sondern bestimmte Schwingungen, und sie kommen von überallher (Geste im Umfeld); zum Teil von hier (vom Körper), aber auch so und so... (Geste zu allen Seiten), von überallher. Das Bewußtsein... ich versuchte schon zu sehen, wo das Bewußtsein ist, und es befindet sich irgendwo dort oben. Es ist überall – überall ausgebreitet –, aber es gibt trotzdem ein Bewußtseinszentrum irgendwo dort oben (Geste oberhalb des Kopfes), dort ist es dichter. Ansonsten ist es überall ausgebreitet. Aber hier ist es etwas dichter (gleiche Geste oberhalb des Kopfes), kompakt und stabil (Mutter schließt ihre Fäuste in einer unerschütterlichen Geste), und dies gibt die "Befehle" an den Körper weiter (alle diese Worte sind jedoch idiotisch; wenn ich sie ausspreche, widern sie mich an). Dort befindet sich jedenfalls die dauerhafte und ständige Beziehung zum Höchsten Bewußtsein – ich sage "Höchstes Bewußtsein", um keine langen Sätze machen zu müssen; ich könnte sagen "das Göttliche", aber das Göttliche ist so absolut allgegenwärtig, daß... Es ist nicht das Gleiche (Geste nach oben), ich kann auch nicht sagen "Wille", denn es hat keine der Eigenschaften des menschlichen Willen: es ist kein Wille, der über etwas "ausgeübt" wird, nein, es besteht IN SICH. Als Annäherung könnte man sagen: etwas zwischen Vision-Entscheidung-Wille-Macht, all das vereint. Ich weiß nicht. Und viel mehr als das. Dort befindet sich jedenfalls das Zentrum, soweit es den Körper und seine unmittelbare Umgebung betrifft. Und das ist... Seltsam, es ist zugleich außerordentlich zwingend und allmächtig, aber auch der Friede ("Friede" ist ein armseliges nichtiges Wort), der Friede und die vollkommene Unbewegtheit ("Unbewegtheit" ist idiotisch – aber wie soll ich darüber sprechen...). Das ist ständig da (Geste oberhalb von Mutter).

Und das nimmt nun den Platz des bewußten Willens ein, um den Körper zu bewegen: für seine innere Funktion und für sein Handeln. Der Augenblick (es geschieht stufenweise, aber es gibt einen "Augenblick"), wo die alte Funktionsweise (die gewöhnliche Funktionsweise) beseitigt wird oder verschwindet und durch Das ersetzt wird (Geste oberhalb), da wird es... (fließende Geste), ich weiß nicht, ob es kurz oder lang dauert, aber da gibt es einen schwierigen Übergangspunkt. Der Körper wird erfaßt... (hier oder da, an einer bestimmten Stelle, für einen bestimmten Zweck) ein Leerraum zwischen der alten Gewohnheit und der neuen Funktionsweise. Dieser Übergang bringt einen Augenblick der Beklemmung. In den meisten Bereichen ist er sich der Dummheit dieser Reaktion bewußt... Aber die betroffene Funktion oder Stelle oder... wird von Entsetzen erfaßt. Dort ist er dann auf eine materielle Unbewegtheit angewiesen, damit die Dinge wieder in Ordnung kommen.

Dies ist eine völlig unzureichende und dumme Beschreibung, aber ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll! – Keine Worte. Dies ist nur eine Annäherung.

Und all das vollzieht sich in einem ununterbrochenen, soliden, außerordentlich stetigen Bewußtsein (Mutter macht eine umfassende Geste), das überall so ist.

Und begleitet von einem Bombardement eindringender Gedanken und Empfindungen von den anderen – wie ein ständiges Bombardement, das jetzt allmählich deutlich als von außen kommend wahrgenommen wird. Dies führt jedoch zur Notwendigkeit einer ununterbrochenen Reinigung.

Das ist etwas völlig anderes, als es noch vor drei Monaten war, völlig anders... Zur Zeit ist es noch schwierig zu beschreiben.

Beides besteht zugleich: auf der einen Seite die wahre Wahrnehmung und auf der anderen eine Art verminderte und verlangsamte Erinnerung an die alte Weise. Und innerhalb dieser alten Weise gibt es... allerlei unerwünschte Dinge, die aber allgemein, universell sind, und die sich deshalb nur schwer verändern lassen, weil diese Art "Formation", die sich gerade entwickelt, der Welt noch fremd ist.

Auch bei meiner Arbeit mit den Leuten und den Dingen bleibe ich stets in Kontakt mit derselben höheren Gegenwart, wenn sich mir aber die Seinsart der Leute und der Dinge aus irgendeinem Grund aufzwingt, hat das eine sonderbare Auswirkung 1 .

Ich bin noch mitten im Übergangsstadium.

Spreche ich laut genug?

Ja, ja!

Wir sind noch im Übergangsstadium.

(Schweigen)

(Mutter sieht auf die Uhr) Ich glaube, die Zeit wird immer unmöglicher.

Ich werde buchstäblich von Leuten und von Arbeit überschüttet. Gleichzeitig manifestiert sich aber keinerlei Befehl oder Druck, daß ich mich davon befreien sollte. Es herrscht eine Art Geschehen-Lassen dieses ewigen und lächelnden Friedens (weite und rhythmische Geste), sehr lächelnd – ewig und lächelnd... Und eine ständige Demonstration für den Körper, daß nicht dies ihn ermüdet, daß es nicht an der Arbeit, an den Leuten, an den Dingen liegt, nichts von alledem, sondern sein eigener Übergangszustand und seine eigene Unvollkommenheit sind die Ursache –, nichts anderes.

In diesem Bewußtsein gibt es etwas, das in einem solchen Frieden lächelt... Das ist absolut wunderbar... Wenn man es nicht selber gefühlt hat, kann man nicht verstehen, was das ist. Etwas Wunderbares. Und natürlich bemüht sich das... es arbeitet daran, die Beherrschung über alle diese Zellen zu erlangen.

Da bleibt noch viel zu tun.

Sonderbar... (Mutter lacht)

 

1 Die folgende undatierte handgeschriebene Notiz Mutters verdeutlicht das Problem sehr gut: "Wenn die äußere Welt durch die Menschen meiner Umgebung ihren Willen dem Rhythmus des inneren Lebens aufzuzwingen versucht, verursacht das eine Gleichgewichtsstörung, die zu überwinden der Körper nicht immer die Zeit hat." (Siehe auch das Gespräch vom 5. Juni 1965, Agenda Bd. 6, S. 111)

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