Mutters
Agenda
zehnten Band
(Mutters Gesundheit ist seit einiger Zeit sehr gestört. Die meisten der letzten Gespräche vollzogen sich in schweigender Kontemplation.)
...Und dann ist da die kleine S.U. (kennst du sie?), die mit ihrer Arbeit unzufrieden ist und die mich bittet, ihr zu helfen, Fortschritte zu machen. Da riet ich ihr: "Lies Satprems Buch!" Also begann sie, Satprems Buch zu lesen. Und jetzt sagt sie: "Was tun, wenn ich etwas nicht verstehe?" Ich erwiderte: "Wenn du etwas nicht verstehst, frag mich!" Gestern zitierte sie einen Teil eines Satzes (du weißt, wie sie es anstellen: sie nehmen einen Teil eines Satzes und fragen dann: "Was soll das nur bedeuten?"). Ich antwortete ihr. Es ging um einen Satz, wo es heißt, daß es zwei "Positionen" gibt: die materialistische und die spiritualistische – dann zitierst du mich, indem du sagst, man müsse eine andere Haltung einnehmen, eine "dritte Haltung". Sie verstand das nicht (Mutter reicht Satprem den Text). 1
Meine Antwort erfolgte umgehend. Aber ich wollte ihr noch sagen: "Beim nächsten Mal könntest du ja Satprem fragen ..."
Das hat nicht dieselbe Wirkung.
Nein, aber du könntest es ihr besser erklären. (Mutter lacht)
Ach, nein.
Du kannst das behalten, wenn es dich amüsiert... meine Kommentare zu deinem Buch. (Mutter reicht ihre Antwort)
"In der Welt fallen die Leute zumeist in zwei Kategorien: die Materialisten, die nur an die Materie glauben, und die Spiritualisten, die die Materie zurückweisen und sich nur auf den Geist stützen.
Sri Aurobindo ist weder Materialist noch Spiritualist. Er läßt beides zu, strebt aber eine transformierte, durch den Geist vergöttlichte Materie an, die die Wahrheit ausdrücken kann, statt sie ständig zu verneinen."
Das ist alles.
Was bringst du denn mit?
Ich wollte dich auf etwas aufmerksam machen (letztes Mal konnte ich nicht darüber sprechen): Paolo 2, der für das Fernsehen eine Reportage über den Ashram dreht, wollte mich fotografieren und filmen usw. Zuerst sagte ich: "Ich will das erst mit Mutter besprechen"; aber das war in letzter Zeit nicht möglich... Schließlich tauchte er gestern plötzlich mit seiner Kamera auf, und ich ließ es geschehen.
Paolo ist doch sehr nett.
Ja, aber trotzdem bedeutet es, mich zur Schau zu stellen...
Ach, mein Kind, und ich erst!
Aber bei dir ist das anders.
Entschuldige! Es ist noch schlimmer. (Mutter lacht) Verstehst du, mein Körper hat ein Gespür für das Lächerliche, er sagt: "Seht nur! Man stellt mich zur Schau, obwohl ich sehr wenig (um nicht zu sagen nichts) mit dieser Angelegenheit zu tun habe."
Sie klammern sich an ihren... übertriebenen Individualismus. Was tun?
Jedenfalls wollte ich dich davon in Kenntnis setzen. Er bat mich auch, etwas zu schreiben: ein "Manifest für die Jugend", das als Hintergrund für diesen Dokumentarfilm dienen soll. Das ist wichtiger.
Das ist nützlich, doch es wird dir Arbeit machen.
Es muß kurz sein, aber mit Kraft und Einfachheit.
Ja... Das ist interessanter.
Bist du nicht mehr müde?
Nein, nein, liebe Mutter.
(Mutter legt ihre Hand auf Satprems Stirn)
Dann ist es gut. Paolo ist nett, er ist großzügig. Man muß ihm helfen.
Ich habe noch etwas anderes... (Mutter zieht eine Mappe aus einem Stapel von Briefen und verschiedenen Dingen hervor). Jeden zweiten Tag erhalte ich dieses Heft. Laß uns nachsehen, ob etwas Interessantes darin steht...
(Mutter liest)
"Zu sein, was Mutter will, bedeutet das nicht, transformiert zu werden?"
Sehr einfach zu beanworten (Mutter schreibt):
"Unbestreitbar.
Für alle: sich auf diese Transformation vorbereiten.
Für einige: mit der Arbeit der Transformation beginnen.
Für eine sehr kleine Anzahl: den Vorgang der Transformation beschleunigen."
(Mutter wendet sich Satprem zu)
Ist der Gedanke nicht klar?
Oh, doch!
(Mutter lacht) Ich sehe ihn täglich für ein oder zwei Minuten. Er fragte mich: "Ist es möglich, jeden Tag eine neue Geburt zu erleben?" Ich antwortete: "Das ist möglich... wenn man dazu fähig ist!"
Wir werden seine Reaktion sehen (Mutter scheint sich sehr zu amüsieren).
(Schweigen)
Weißt du, diese kleine S.U. (ich hab noch nie darüber gesprochen)... Ich erinnere mich nicht mehr genau, wann es war, sie war noch ein winziger Wicht. Vor Jahren, als dein famoser Sannyasin 3 hierher kam, wollte er ein worship to the Mother 4 abhalten, und er tat etwas... nicht gerade Barmherziges (dieses Individuum hatte eine gewisse Fähigkeit): Er brachte in dieses Kind eine Emanation eines höheren Geistes herab (den er für eine Emanation der Mutter hielt). Er vollzog die Zeremonie, aber dann war es viel zu stark für das Kind, worauf er zu mir kam und sagte: "Ich werde die Kleine zu Ihnen schicken, damit Sie die Emanation wieder entfernen, man kann sie so nicht lassen."
Er schickte sie zu mir, und ich sah, daß er tatsächlich etwas in sie gelegt hatte (durchaus etwas Gutes: es war absolut nichts Schlechtes). Mehrere Tage lang beschäftigte ich mich damit, zu sehen, inwieweit sich das anpassen ließ, ohne das Bewußtsein des Kindes allzusehr zu beeinträchtigen, also nur das zu entfernen, was zu stark war... Die Arbeit war interessant, und alles ging gut. Das gab der Kleinen ein gewisses Vertrauen zu mir (natürlich sagte ich ihr nichts, niemand sagte ihr jemals etwas) – ein ziemlich außergewöhnliches Vertrauen. (Damals war sie erst so groß.) Und deshalb interessierte ich mich seither besonders für sie, denn in ihr steckt wirklich eine Aspiration – es erweckte eine Aspiration in ihrem Wesen. Aus dem Grund beschloß ich, ihr zu helfen, und deswegen spreche ich mit dir darüber. Sie hat Substanz (dein Sannyasin war recht empfindsam, er hatte gespürt, daß sie aufnahmefähig war). Wenn er mich vorher gefragt hätte, hätte ich ihm gesagt: "Tun Sie das auf gar keinen Fall, so etwas darf man nicht tun!" – Er hätte das ganze Leben dieses Kindes beeinträchtigen können. Damals hatte er ein oberflächliches Vertrauen in mich, er kam und sagte mir: "Jetzt muß das wieder entfernt werden." (Mutter lacht)
Aber das Kind weiß nichts, es darf nichts davon wissen.
Scheinbar tun das die Sannyasins und andere des öfteren... aber es ist gefährlich.
(Schweigen)
Welche Neuigkeiten bringst du? Nichts?
Die Arbeit schreitet in Windeseile voran. Der Körper... er beklagt sich nicht. Er beklagt sich nicht, denn... Zwei Dinge geschehen gleichzeitig. Er hat immer mehr und auf eine immer präzisere Weise die volle Wahrnehmung seiner... das genaue Wort ist Nichtigkeit (das ist eine als selbstverständlich akzeptierte Tatsache, und es gibt nicht einmal den Schatten eines Bedauerns darüber, denn er hat das volle Bewußtsein, daß es nicht anders sein kann; im gegenwärtigen Zustand der Materie kann es gar nicht anders sein)... Es gibt einen interessanten Entwicklungsprozeß, durch den er IM DETAIL sieht, wie die Kraft des Bewußtseins wirkt, und... um es einfach auszudrücken, was wir daraus machen. Das ist hoch interessant. Für alles, die Details einer jeden Minute: Wie die Kraft des Bewußtseins agiert, und... was wir daraus machen. Hin und wieder zeigt sich ein wunderbarer Schlüssel für gewisse Probleme, und es wird einem die Chance gegeben, den Schlüssel anzuwenden, um zu sehen, wie das funktioniert – es funktioniert auf wunderbare Weise.
Aber all das... verstehst du, das ist wie ein Tropfen in einem Ozean von Arbeit. Die Arbeit ist weltumfassend – mehr und mehr, sogar der Körper hat eine Beziehung zu allem –, folglich ist das ziemlich gewaltig. Aber das Gefühl der Unbegrenztheit der Kraft (nicht nur des Bewußtseins sondern auch der Kraft) wird immer beständiger. Das Ausmaß der Arbeit im Verhältnis zur Form (Mutters Körper) wird sehr spürbar und auf sehr konkrete Weise sichtbar, aber die Nichtigkeit dieser Form... nicht einmal die Relativität sondern fast die Inexistenz, das Gefühl einer sich fortsetzenden Illusion. Und dann erscheint auf eine ganz konkrete Weise die wunderbare Allmächtigkeit der Bewußtseins-Kraft, und zwar mit dem Eindruck, daß das, was man "Wunder" nennt, eine Selbstverständlichkeit, ein natürlicher Ablauf ist. Aber, verstehst du, die Arbeit hat die Ausmaße des Bewußtseins, und sie soll ausgeführt werden durch... (lachend) etwas vom Ausmaß des Körpers. So bekommt man den Eindruck, man müsse eine Unendlichkeit in einen einzelnen Punkt zwängen... Das läßt sich nicht mit Worten ausdrücken... Jedenfalls brauche ich Ruhe.
Vor allem das viele unnütze Gerede... Zum Beispiel fällt es mir jetzt sehr schwer, die Briefe zu lesen: sie enthalten stets mindestens hundertmal zu viele Worte. Und man sieht deutlich, wie das im Kopf der Person zustandekommt (Geste eines Wirrwarrs). Bei mir (Geste zur Stirn) ist es wunderbar ruhig und still und weiß geblieben... oh, das ist wirklich eine Gnade. Das bleibt, aber all diese Dinge versuchen einzudringen – doch es reagiert nicht, sie werden auf Distanz gehalten. Und dann die Fürsorge, die Sorge, die waltet, um die Angelegenheit so leicht zu machen, wie wir es zulassen – wunderbar, einfach wunderbar!... Natürlich wird man manchmal vom Gewicht der Dummheiten erdrückt, aber trotz allem besteht im Hintergrund eine so UNGEHEURE wohlwollende und lächelnde Güte, daß... diese Dinge nicht ins Gewicht fallen – keine Sorge. Voilà.
Der Körper fühlt sich wie in der Schwebe zwischen zwei Zuständen: einen, den die Menschen "Leben" nennen, und den anderen, den sie "Tod" nennen. Der Körper fühlt sich, als hinge er dazwischen: weder am Leben noch... (lachend) tot – weder das eine noch das andere. Er steht zwischen beiden. Seltsam, sehr seltsam. Man hat den Eindruck (eher eine Wahrnehmung), daß die geringste kleine Störung (Geste eines Umschwenkens nach links) genügen würde, um ihn auf die andere Seite zu schleudern, und daß ein winziger Schritt (Geste eines Umschwenkens nach rechts, ins "Leben") vereitelt wird durch etwas, das wir nicht verstehen. Ein Nichts genügt, um...
Man muß sich nur äußerst ruhig verhalten.
Dies ist der Eindruck des Körpers: Nur ruhig bleiben – selbst im Augenblick, wo es zu knirschen beginnt, bei von außen eindringenden Dingen und Umständen, auch wenn zurückgebliebene Zellen so machen (reibende Geste), schlecht angepaßt sind und man fast einbricht; dann muß man nur äußerst ruhig bleiben ..., und es geht vorbei (weite, glättende Geste)... wunderbar! Etwas wie... ich weiß nicht, wie ich das nennen soll, es ist einfach wunderbar (gleiche unermeßliche, vollkommen unbewegte Geste). Und gleichzeitig immer die Empfindung eines Lächelns – eines allmächtigen Lächelns.
Seit Wochen wirkte es nur auf meinen Körper, der sich in einem sehr konzentrierten Zustand befand, und neuerdings (erst seit gestern) begann es (Geste der Ausdehnung), sich auf andere Leute auszubreiten. Ganz unerwartete Dinge geschehen, d.h. Dinge, die weder vorausgesehen noch gewollt oder vorbereitet waren: Plötzlich kommt dieses Bewußtsein und packt eine Person, die da ist (Geste wie ein Tornado), dann agiert es durch diesen Körper (Mutter)... und es trägt die Menschen in seinem Wirbel davon. Besonders heute. Gestern drang eine Art aktive Kraft in den Körper ein, die sich überhaupt nicht mehr darum kümmert, ob es einem schlecht geht 5; und heute morgen konnte ich das zweimal beobachten: Ich sah... mit "ich" meine ich das Bewußtsein hier (Geste oberhalb des Kopfes), das wie ein Zeuge ist (unbewegte Geste), der nicht die geringste Reaktion zeigt, nicht die geringsten Anstalten macht, in die Arbeit dieses neuen Bewußtseins einzugreifen, und er beobachtet: Durch diesen Körper hindurch kam die Kraft, nahm die andere Person (gleiche Geste eines Tornados), und trug sie mit sich fort... Wirklich amüsant! Das waren zwei schwierige Fälle, zwei Fälle, wo ich wirklich auf eine erhebliche Schwierigkeit traf – das erfaßte die Person, ja, wie ein Kind mit einem Ball spielt. Außerordentlich! Wenn "Das" beständig würde... Ich weiß nicht.
Wir werden sehen.
Es scheint amüsant zu werden.
(Schweigen)
Ganz offensichtlich ist ein aktiver Wille am Werk, damit dieser Körper lernt, in einem Zustand zu leben, wo es weder Leben noch Tod gibt – ein Zustand, der etwas anderes ist.
Ich weiß nicht... Ich weiß nicht, was geschehen wird – man sagt ihm nicht, was geschehen wird. Das ist auch sehr leicht zu verstehen: Wenn der Körper im voraus wüßte, was geschehen wird, würde er sicherlich Dummheiten begehen, anstatt sehr aufmerksam zu sein und... einfach so zu sein, nicht nur "zuzuhören" (es ist keine Frage des Hörens), sondern aufmerksam zu sein gegenüber dem Impuls, genau das zu tun, was er tun soll und was von ihm gewollt wird – für alles, alles, alles, bis zur geringsten Angelegenheit: essen, schlafen, sprechen, bewegen, alles. Die ganze Zeit so zu sein: darauf achten, nichts zu tun, was nicht genau dem entspricht, was getan werden soll.
Und (lachend) es erscheint ihm immer völlig absurd, daß jemand denken könnte, er sei eine "Person" (der Körper). Er hat so sehr den Eindruck eines Fließens, daß alles, was nicht fließend ist, verlogen wirkt. Das ist wirklich amüsant.
Voilà.
Genug geschwatzt für heute!
Geht es dir gut?
1 "Satprems Buch, das du mir gegeben hast, gefällt mir gut. Aber ich stoße auf zwei Schwierigkeiten. Die erste, das sind die Worte. Ich kenne die Bedeutung mehrerer Worte nicht. Die zweite ist, daß einige Abschnitte nicht klar sind. Hier ist einer: "... etwas, das wir mit Mutter als dritte Position bezeichnen könnten, jenes "Andere", das wir so dringend brauchen; wir, das heißt Menschen, die sich weder in materialistischer Beschränktheit noch in spiritueller Exklusivität zu Hause fühlen."
2 Ein italienischer Filmregisseur, Architekt und Maler.
3 Der Sannyasin, der Satprem die Initiation gab.
4 Es handelt sich um ein besonderes tantrisches Puja oder Ritual (kumari puja), in dessen Verlauf der Offiziant gewisse Kräfte (eine Emanation der Mutter) in ein sehr junges Kind herabkommen läßt. Dies war am 20. Oktober 1958.
5 Mutter war in den letzten Tagen "bei schlechter Gesundheit".