Mutters
Agenda
zehnten Band
(Mutter möchte mit Satprem einige Passagen ihrer Savitri-Übersetzung durchsehen.)
Jetzt merke ich jedoch, daß sie bei diesen Zitaten an manchen Stellen mittendrin Zeilen entfernt haben, und plötzlich sage ich mir: "Aber das fügt sich ja gar nicht aneinander!" Also fragte ich F, und sie sagte: "Ja, sie haben hier und dort ein oder zwei Zeilen entfernt ..." Was läßt sich da tun?
Das ist absurd.
Hier, all das ist fertig...
Ich brauche es nicht zu sehen: du mußt es anschauen. Ich habe es ja übersetzt.
Was soll ich tun?
(Lachend) Sehen, ob meine Übersetzung gut ist.
Aber hör mal, liebe Mutter!... Warum das?
Doch, manches könnte besser ausgedrückt werden.
Ja, aber ich bin da vorsichtig. Weißt du, ich habe gemerkt, daß das, was man mit einem literarischen Wissen für "besser" hält, im Sinne der wahren Kraft nicht unbedingt besser ist.
Damit stimme ich überein.
Hör zu, im Grunde mußt du nur sehen (du kannst es gleich jetzt ansehen), ob dir irgend etwas nicht so gut erscheint... Ich übersetze das "einfach so"; ich kann nicht sagen, daß ich an meiner Übersetzung festhalte, ganz und gar nicht, wenn du also Vorschläge hast... (Satprem liest eine Passage laut vor.)
Wie du sagst, mag das Französische vielleicht etwas unbeholfen wirken, aber vielleicht ist das die einzige Möglichkeit, den Text genau zu übersetzen. Manchmal tue ich es absichtlich.
Er war durch einen Vorhang des erleuchteten Mentals dort zugelassen,
der zwischen unseren Gedanken und unbeschränkter Schau hängt,
und fand dort die geheime Grotte, das mystische Tor
ganz nahe bei der Quelle der Vision in seiner Seele
und trat dort ein, wo der Herrlichkeit Schwingen schweben,
im sonnenbeschienenen Raum, wo für immer alles bekannt ist.
(Savitri, I.V.84 1)
Brood? [Im Englischen sagte Sri Aurobindo wörtlich: wo der Herrlichkeit Schwingen brüten]
Das vermittelt einem das Bild einer Henne, die ihre Eier ausbrütet! "The wings of Glory" [die Flügel der Herrlichkeit] brüten die Dinge aus, damit sie sich verwirklichen.
Dort werden in verborgner Kammer, stumm und verschlossen,
des Kosmos-Schreibers Aufzeichnungen aufbewahrt,
und dort sind auch die Tafeln jenes heiligen Gesetzes...
die Symbol-Mächte für die Zahl und für die Form
und der geheime Kodex der Geschichte dieser Welt
und die Entsprechung der Natur mit unsrer Seele
tief eingeschrieben ins geheime Herz des Lebens.
In jener Glut des Geistes Raums der Erinnerungen
konnte der Seher die klaren Randbemerkungen wiederfinden,
die ihm das krause vieldeutige Pergament erhellten...
(ibid.)
(Mutter lacht) "... das krause vieldeutige Pergament ..."
Ist das alles?
Er sah den ungestalteten Gedanken in den seelenlosen Formen,
erkannte, daß Materie schwanger war von spirituellem Sinn
und das Mental es wagt, das Unwißbare zu erforschen,
das Leben seine Schwangerschaft mit diesem Goldenen Kind.
Sein Herz ergriff jetzt unermeßlich eine Hoffnung und ein Wille,
und um des Übermenschen Form klar zu erkennen,
erhob er seine Augen zu den unsichtbaren Höhen des Geistes
in seiner Sehnsucht, eine größre Welt herabzubringen.
(I.V.86)
(Schweigen)
Gestern las ich einen anderen Abschnitt von Savitri, wo er erzählt, wie der König transformiert wird 2 – das sind ALLES Erfahrungen, die mein Körper jetzt hat. Und ich wußte nichts von diesem Text (ich erinnerte mich gar nicht mehr daran). Es war, als läse ich alle Erfahrungen, die mein Körper gerade macht. Das ist interessant.
ALLES steht in Savitri.
Er muß diese Erfahrungen selber gehabt haben, um sie so beschreiben zu können.
(Schweigen)
Rätselhaft bleibt, warum er fortgegangen ist...
Ja.
Ich erinnere mich noch sehr deutlich (ich sehe noch die ganze Szene in seinem Zimmer) an eine Unterhaltung, die ich einmal mit ihm hatte – ich weiß nur nicht mehr, wie das Thema aufkam. Es war... (ich weiß nicht mehr, was dem vorausging, verstehst du), aber er sagte mir: "We can't both remain upon earth, one must go." [Wir können nicht beide auf der Erde bleiben, einer von uns muß gehen.] Ich erwiderte darauf: "I am ready, I'll go." [Ich bin bereit, ich werde gehen.] Da sagte er: "No, you can't go, your body is better than mine, you can undergo the transformation better than I can." [Nein, du darfst nicht gehen. Dein Körper ist besser als meiner, du kannst die Transformation besser durchstehen als ich.]
Seltsamerweise war das... vor all seinen physischen Schwierigkeiten.
Damals hatte ich dem Gespräch keine große Bedeutung zugemessen; erst als er gegangen war, kam mir das plötzlich wieder in den Sinn, und ich sagte mir: "Ach, er hatte es also gewußt!"... Das war... ich weiß nicht. Als er es sagte, klang es fast wie eine Vermutung, verstehst du. Das war kurz nachdem wir von dem anderen Haus in dieses hier umgezogen waren 3, denn es war in dem Zimmer unten, vor seinem Unfall, bevor er sich das Bein brach 4 . Wie kamen wir wohl auf dieses Thema? Ich weiß es nicht mehr. Das ist weg. Aber ich erinnere mich sehr deutlich, ich sehe noch das Zimmer und alles – wie er war, wie er mir sagte: "We can't both remain upon earth." [Wir können nicht beide auf Erden bleiben.] Das ist alles.
Aber warum können nicht "beide" bleiben?
Ja, da liegt die Frage.
Warum?
Als er mir das sagte, kam es mir so offensichtlich vor, daß ich ihn nicht einmal danach gefragt habe. Deshalb muß es die Folge von etwas gewesen sein, und dieses Etwas ist weg.
Ich erinnere mich nämlich, ihm geantwortet zu haben: "I am absolutely ready, I'll go." [Ich bin absolut bereit, ich werde gehen], und er schaute mich an und sagte mir: "No, your body is better than mine, it can undergo ..." [Nein, dein Körper ist besser als meiner, er ist fähig ...]
Warum?... Wie oft habe ich mich das seither gefragt.
Man wäre doch geneigt zu denken, zu zweit könnte man sich gegenseitig unterstützen...
(nach einem Schweigen)
In diesen Tagen kam dies wieder, und ich schaute mir das nochmals an, aber... (Mutter öffnet die Hände mit einer Geste, es nicht zu wissen).
Es hing von etwas ab, aber was? Ich weiß es nicht.
(Schweigen)
Ich erinnere mich an etwas anderes, das nicht so lange zurückliegt. Nach seinem Hinscheiden war ich einmal unten (das liegt auch schon eine Weile zurück, vielleicht ein oder zwei Jahre nach seinem Abschied), ich war unten im Badezimmer, und dort nahm ich früh morgens an einem kleinen Tischchen mein Frühstück zu mir. Während ich zu essen anfing, kam er und stand neben mir (Geste). Er war so konkret, daß ich den Eindruck hatte, ÄUSSERST WENIG würde genügen, damit er sich wieder materialisierte. Ich sagte ihm: "Oh, you are coming back!" [Oh, du kommst zurück!] Darauf antwortete er mir: "I'll be with you, but I can't come back materially – I MUST NOT come back materially." [Ich werde bei dir sein, aber ich kann nicht materiell zurückkommen – ich DARF NICHT materiell zurückkommen.]
Seine Erscheinung war so materiell, daß ich plötzlich den Eindruck hatte: Ein Nichts würde genügen, damit... [er sich materialisiert].
Aber bedeutet das nicht, daß deine Gegenwart hier ihm helfen könnte, sich eines Tages in einem anderen Körper zu materialisieren?
Ja, ja... Das sagte er deutlich (ich habe ihn gefragt), er sagte deutlich: "I'll come back only in a supramental body." [Ich werde nur in einem supramentalen Körper wiederkommen.]
Das war vor dem, was ich gerade erzählte.
Du wirst ihm also helfen, sich zu materialisieren?
Ja.
Das ist die große Frage des supramentalen Körpers, ich weiß nicht.
Ja, aber wenn er sich materialisiert, ist es anders. Es ist nicht dasselbe wie ihn zu erschaffen.
Ja.
Wenn Sri Aurobindo sich wieder materialisiert, aber in einem anderen Körper...
Du meinst in einem lebenden Körper?
In einem lebenden Körper, aber von einer anderen Substanz als der physischen.
Ja, aber was ich sagen will: diese Substanz... wann, wie, was?
Auf einem sehr viel niedrigeren Niveau bringen gewisse Leute doch dauerhafte Materialisationen zustande: wie diese Steine, die im "Guest House" fielen. 5
Ja.
Warum könnte sich diese Substanz aus Licht nicht auf die gleiche Weise materialisieren?
(langes Schweigen)
Menschen, die solche Materialisationen vollbringen, sind immer ziemlich dick, und es handelt sich um eine besondere Substanz (bei all diesen Medien). Das sind keine dauerhaften Materialisationen.
Die Materialisation der Steine, die damals fielen, war aber dauerhaft. 6
(Schweigen)
Das läßt mich an etwas anderes denken: Kennst du diesen S.B. mit den vielen Haaren?... Doktor S hat ihn gerade besucht – er kam mit einem Ring zurück. Ich persönlich hielt das immer für einen Taschenspielertrick, aber der Arzt scheint zu sagen... er erzählte: "Er machte eine Bewegung (Geste eines Taschenspielerkunststücks), und dann legte er mir das in die Hand."
Vielleicht ist das eine Materialisation.
Ja, aber diese Art von Materialisation bedient sich der niedrigsten Wesenheiten der vitalen Welt – dieser Mann tut das sehr oft; er betreibt einen widerlichen Kommerz mit niedrigen Wesenheiten. 7
Ach so!
Ja. Die supramentale Materialisation wäre hingegen eine andere Art von Materialisation...
Als der Arzt wiederkam, SAH ich jedenfalls, daß sich das ausschließlich im Vital abspielt. Da bin ich mir ganz sicher.
Aber er materialisiert etwas.
Ja.
(Schweigen)
Von alldem hab ich keine Ahnung. Es liegt gänzlich außerhalb meines Bewußtseins.
Ja, aber der Trick mit dem Ring findet auf einem ganz niedrigen Niveau statt. Bei Sri Aurobindo würde es sich um eine andere Art von Materialisation handeln.
(langes Schweigen)
Wir werden sehen.
Ich weiß es jedenfalls nicht.
(Schweigen)
In einer kindlichen Vorstellungsweise könnte man sich einen Sri Aurobindo vorstellen, dessen leuchtende Substanz wächst, sich entwickelt, und dann, wenn der Moment gekommen ist, muß vielleicht nur noch ein Übergang vollzogen werden.
Das ist möglich. Jedenfalls ist gewiß, daß er im Subtilphysischen ist. Er ist ständig da.
Mein Körper weiß sehr wohl, daß er nicht mit außergewöhnlichen Fähigkeiten begabt ist. Er macht sich keine Illusionen. Das einzige, worüber er verfügt, ist ein ständiger brennend-intensiver Glaube, den nichts erschüttern kann. Das ist alles.
Er hat noch nie das Verlangen oder den Ehrgeiz verspürt, Wunder zu vollbringen – das interessiert ihn nicht. Er hat viele wunderbare Dinge gesehen, aber er fühlte immer, daß es... der Höchste Herr war, der sie vollbrachte (das erscheint ihm übrigens völlig natürlich). Aber die Vorstellung solcher Dinge... Wenn solche Spekulationen aufkommen, weist er sie zurück, er sagt: "Nein, das interessiert mich nicht." Dinge, die von den Leuten als "wunderbar" angesehen werden, interessieren ihn nicht. Er wäre keineswegs erstaunt, Sri Aurobindo eines Tages eintreten zu sehen; aber er möchte nicht... er trachtet nicht danach, es selber zu vollbringen. Er verspürt keinerlei Bedürfnis, die Leute in Erstaunen zu versetzen.
Ja, natürlich.
Wir werden sehen 8 . (Mutter lacht)
1 In Anlehnung an die deutsche Übersetzung von Heinz Kappes, Verlag Hinder und Deelmann, Gladenbach.
2 Die Weltseele, II.XIV.
3 Im Februar 1927.
4 Am 24. November 1938.
5 1920.
6 Einige Schüler (darunter Amrita) hatten sie mehrere Jahre aufgehoben.
7 Zu diesem Thema wird man mit Interesse die von Pavitra aufgezeichneten "Abendgespräche mit Sri Aurobindo" lesen, besonders jenes vom 12. Mai 1926.
8 Am Nachmittag des gleichen Tages kam Satprem plötzlich ein Gedanke, und er schrieb Mutter folgende Notiz: "Nach unserem Gespräch heute morgen dachte ich plötzlich: Savitri machte sich doch auf, um Satyavan dem Tode zu entreißen... Wird Mutter demnach Sri Aurobindo zurückbringen?" Angeblich antwortete Mutter dem Überbringer des Briefes: "Etwas in der Art."