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Mutters

Agenda

elften Band

22. April 1970

Hast du mir heute Fragen mitgebracht?

(Lachend) Nein.

Und du?

(Schweigen)

Äußerlich: kranke Menschen, Schwierigkeiten, Komplikationen... Sehr schwierig... Sehr schwierig... Es nimmt fast die Form eines verbissenen Wütens an.

Nur die Aphorismen von Sri Aurobindo werden immer lustiger. Hast du sie mitgebracht?

(Satprem liest)

483 – Die Sünde ist eine List und eine Verkleidung Krishnas, um sich vor den Blicken der Tugendhaften zu verstecken. O Pharisäer, erblicke Gott im Sünder, sündige in dir selbst, um dein Herz zu läutern, und umarme deinen Bruder!

"Sündige in deinem Herzen", das scheint... Ist das nicht ein Scherz? Ist es das Wort "sündigen" oder "fischen"?

Es ist "sinning" [sündigen].

Im Französischen ist das schwierig zu unterscheiden. 1

Da ist noch ein so schöner:

482 – Mein Geliebter nahm mir mein Sündengewand ab...

Oh, ja, das ist vortrefflich! Und als er ihm sein Tugendgewand wegnahm...

...und ich ließ es mit Freuden fallen; dann zupfte er an meinem Tugendgewand, doch ich fühlte mich beschämt und erschreckt und versuchte ihn daran zu hindern. Erst als er es mir mit Gewalt entriß, sah ich, wie sehr mir meine Seele verhüllt gewesen war.

Ach, das ist wirklich vortrefflich!

Aber T [eine Schülerin, die Mutter "Fragen" über die Aphorismen stellt] schickt mir vier oder fünf Aphorismen auf einmal, ohne dazwischen Platz zu lassen, um jeden zu beantworten... So kommentiere ich immer nur den letzten.

Es wäre gut zu sagen: "Lassen wir unser Tugendgewand fallen, um bereit für die Wahrheit zu sein."

Dies ist eines der Dinge, die ständig geschehen (schon sehr lange). Seit langem ist der Körper frei von dieser Illusion von Sünde und Tugend. Das erscheint ihm vollkommen... lächerlich!

Im Kontakt mit den Menschen... Meistens weiß ich wenig über die Menschen, die ich sehe, deshalb sehe ich sie unvoreingenommen – so, wie sie sind. Und NACHHER frage ich, oder man erzählt mir Dinge und... (lachend) ich stelle fest, daß sich meistens ein Kontakt anknüpft (wenn ich sie sehe, entsteht ein Kontakt, eine Empfänglichkeit), und zwar oft gerade mit denen, die von den anderen am meisten verachtet werden... und die sich nach außen hin wirklich wie Rüpel verhalten. Erst kürzlich hatte ich wieder eine solche Erfahrung.

Zu den Dingen, deren Schwingung am schwierigsten zu ertragen ist, gehört offensichtlich die moralische Entrüstung. Weißt du, die Leute erzählen mir, was geschieht (jeder erzählt mir eine Geschichte), und die Schwingungen, die am schwierigsten zu ertragen sind, sind die der moralischen Entrüstung, diese verursachen... (Geste eines unangenehmen Knirschens).

Eines muß ich allerdings dazu sagen: Wenn die Menschen zu mir kommen (jene, die ich nicht kenne – ich meine nicht die, die ich jeden Tag sehe), bei all diesen Besuchern kommt stets ihr Bestes zum Ausdruck. Mehrmals hatte ich einen Kontakt mit Menschen und den Eindruck, daß da etwas zu machen sei, sie waren empfänglich – und danach verhalten sich diese Menschen schlecht und schaffen Unordnung oder stören die anderen sehr. Aber wenn sie vor mir stehen, sind sie nicht dieselben. Und sie fühlen es, sie fühlen, daß etwas anderes aktiv wird. Aber das ist die Präsenz, die... sie zwingt. Dann gehen sie weg [von Mutter] und benehmen sich sehr schlecht, sie streiten sich, sie... Das ist sehr schwierig.

Ich sehe die Leute aus Auroville (einmal die Woche), um an dieser Substanz zu arbeiten, und das ist wirklich interessant (Leute, die ich nicht kenne: jedesmal bringt man mir zwei oder drei neue – einige bleiben, und die andern wechseln sich ab). Ich sagte: "Jene, die ein Bad der Stille wollen, können abwechselnd kommen, und es wird kein Wort gesprochen." Das ist wirklich interessant. Manche führen sich dort wie regelrechte Flegel auf... Trotzdem fühlen sie, daß sie hier etwas Besseres sind als dort. Allerdings müßten die anderen große Geduld aufbringen...

(Schweigen)

Was möchtest du fragen oder sagen?... Du mußt nicht "fragen": erzähl mir etwas!

Wie kann man einen bewußten Kontakt mit dem Subtilphysischen herstellen?

Das, mein Kind, weiß ich nicht, weil ich das nie willkürlich tat. (Mutter lacht) Es kam von allein.

Jetzt ist es ganz merkwürdig, in manchen Augenblicken sind beide da, und dann... Zum Glück schweige ich (ich spreche nur mit dir), denn sonst würde man bestimmt sagen: "Mutter spinnt!" (Lachen)

Zum Beispiel gibt es eine Region (eine Zeitlang war ich ausschließlich dort – vor einigen Monaten, ich erinnere mich nicht mehr, vielleicht vor etwas längerer Zeit, vor einem Jahr), eine Region, wo es viele Naturszenen gibt: Felder, Gärten und... Aber alles befindet sich hinter Netzen – verschiedenfarbigen Netzen... Und das hat einen Sinn. Alles, alles befindet sich hinter Netzen, man ist sozusagen... als ob man sich in Netzen bewegte. Aber es ist nicht ein einziges Netz: das Netz hängt in seiner Form und Farbe von dem ab, was dahinter ist. Und dies ist... das Kommunikationsmittel. Verstehst du, zum Glück sage ich nichts, denn sonst würde man sagen, ich spinne. Mit offenen Augen, am hellichten Tag, stell dir vor! Da sehe ich zum Beispiel mein Zimmer (ich befinde mich hier und sehe Leute), und gleichzeitig sehe ich eine Landschaft oder etwas anderes, und alles verändert und bewegt sich... mit einem solchen Netz zwischen mir und der Landschaft... Das Netz scheint das zu sein... (wie?), was dieses Subtilphysische vom gewöhnlichen Physischen trennt. Und was repräsentiert dieses Netz? Ich weiß es nicht... Weißt du, da gibt es überhaupt keine Mentalisierung, keine Erklärung, keinen Gedanken, keine Überlegung, all dies ist definitiv aus dem Weg geräumt worden. Und gerade deshalb sehe ich...

Auch das Empfinden ist nicht mehr das gleiche. Unsere physische Art zu fühlen ist nicht mehr vorhanden, sie ist anders... Es ist eher eine Frage der Nähe oder der Kommunikationslosigkeit, der Gleichgültigkeit; aber die Dinge, die der gleichgültigen Welt angehören, kommen nicht zum Vorschein, wenn die doppelte Vision aktiv ist.

(Schweigen)

Die Nächte sind sehr merkwürdig. Doch gerade, weil all das nicht mentalisiert ist, gibt es kaum Möglichkeiten, es zu beschreiben oder zu erklären... Doch dieses Subtilphysische vermittelt auf ganz konkrete Weise das Gefühl, die Empfindung oder die Wahrnehmung (ich weiß nicht, wie man das nennen soll) der göttlichen Gegenwart – der göttlichen Gegenwart in allen Dingen, überall. Und deshalb ist der Körper... man könnte sagen teils so, teils so (schwankende Geste zwischen zwei Welten)... Das fragte ich mich heute morgen (der Körper fragte sich): Wie und warum kommt es trotz dieser fast ständigen göttlichen Wahrnehmung (denn dieses Bewußtsein etabliert sich immer mehr, das sagte ich schon), wieso spürt er immer noch diese Qual? – Er lebt in einer fast ständigen Qual. Was bedeutet diese Qual?... Dafür gibt es weder eine Erklärung noch... In dem Augenblick, als er sich dies fragte, kam etwas von dieser so humorvollen Art von Sri Aurobindo, als sei er es selbst (aber nicht sichtbar), und sagte mir: "Schau genau hin: Hinter dieser Qual liegt die reine Freude." Und heute morgen, als ich auf meinem Bett saß und im Begriff war aufzustehen, da überkam mich diese Art von... ich kann nicht sagen Schmerz, sondern... eher ein Unwohlsein (ich weiß nicht), beim Gedanken an den ganzen vor mir liegenden Tag (nicht der "Gedanke": sozusagen die Last des bevorstehenden Tages), und genau in dem Augenblick, als ich dieses Unwohlsein spürte (ich mußte mich anstrengen, um aufzustehen und meine Arbeit zu beginnen), war gleichzeitig etwas, das im Hintergrund lachte, ganz weit im Hintergrund, und es sagte: Aber was soll das!... Es war in einer Glückseligkeit. Woraufhin der Körper sich sehr bemühte, seinen gesunden Menschenverstand beizubehalten (dies ist Teil seines Aufbaus) und nicht den Verstand zu verlieren... Man hat den Eindruck, man sei... weißt du, genau an der Grenze: eine winzige Bewegung und... (Geste der Auflösung).

Bisher hatte er stets genügend gesunden Menschenverstand und einen Sinn fürs Praktische – all dies scheint zu zerbröseln... Was die Lage rettet, ist... Ich SEHE – ich weiß nicht, wie ich es erklären soll – ich sehe, daß dies die Reaktion der Leute ist, denn natürlich haben die Leute, die damit konfrontiert sind, ganz und gar den Eindruck, man sei verrückt, also sage ich mir: "Was macht das schon aus! Was kann das schon ausmachen, was sie von mir denken – wer auch immer, mir ist das völlig egal." Dem Körper ist es vollkommen egal (und im restlichen Wesen ist dies sowieso ein Kinderspiel). Da zeigen sich in meiner Erinnerung gewisse Gesichtsausdrücke von Sri Aurobindo mit seinem Lächeln angesichts der ach so vernünftigen Verhaltensweisen... und die Lächerlichkeit dieser vernünftigen Verhaltensweisen wird offensichtlich. Darin lebe ich ständig.

Und die beiden Dinge liegen so dicht beieinander (Mutter preßt ihre Handflächen eng aneinander)... ich weiß nicht, wie ich sagen soll: in einer bestimmten Haltung (aber es ist keine künstlich gewollte Haltung, sondern spontan) fühlt man sich VOLLKOMMEN wohl, alles ist friedlich und normal, und angesichts derselben Tatsache existiert direkt daneben... nicht einmal daneben: weder darin noch... (wie soll ich sagen?) gleichzeitig besteht eine leichte Beklemmung. Und diese Beklemmung ist ständig vorhanden – vielleicht ist das die Beklemmung einer alten Seinsweise, die stirbt, ich weiß es nicht, aber dies ergibt eine eigenartige Situation.

Doch alles wird einfach, wenn jemand da ist, der empfänglich ist, das heißt jemand, der ohne Gedanken kommt, ohne... der einfach wie ein Schwamm ist und absorbiert. Dann wird die Präsenz ganz konkret spürbar. Die Dinge sind genau gleich, aber die Präsenz wird ganz konkret... nicht nur spürbar: sie zwingt sich geradezu auf, und so entsteht ein Stillstand, eine Stabilisierung – und alles wird vollkommen.

Das hängt sehr davon ab... ich will sagen: NOCH hängt es von der Empfänglichkeit der Menschen ab... In den letzten Tagen hatte ich den Eindruck... (wie soll ich sagen?) etwas wie eine Wahrnehmung, die Wahrnehmung einer UNGEHEUREN Kraft. Diese Kraft schien fähig zu sein, einen Toten wiederauferstehen zu lassen. Eine ungeheure Kraft, die sich des Körpers bedient – ohne bewußte Identifikation, aber ganz natürlich, ohne... als gäbe es keinen Widerstand. Dies ist ein natürlicher Zustand, und es ist weder dies noch das noch jenes, sondern... ALLES (Geste einer unermeßlichen Bewegung), das den Umständen entsprechend handelt.

Gewöhnlich sage ich nichts – dies ist das erste Mal, denn es gibt immer noch eine Art Erinnerung an das, was vorher war, mit dem Bewußtsein, daß eine unverblümte Beschreibung dieser Dinge... Ich weiß nicht, welchen Eindruck das auf die Menschen machen würde... Dem Körper ist dies egal, aber da ist etwas, das wacht – ich sehe dieses "Etwas" wie eine Person (die ich übrigens nicht kenne), die über meinen Körper und über die Umstände wacht und mich von gewissen Dingen abhält... damit es nicht zu Katastrophen kommt.

Es ist eine unpersönliche Person; es besteht keine persönliche Verbindung zu ihr, aber sie hat die Aufgabe, über das Wohlbefinden dieses Körpers zu wachen, vor allem hinsichtlich seiner Beziehungen zu den anderen, denn er selbst hat ein Stadium erreicht, wo... ihm das völlig gleichgültig ist.

Merkwürdige Dinge. Manche Leute sind sehr wohlgesinnt, ja, man könnte sogar sagen, voller Zuneigung und Aufmerksamkeit, und... ich weiß nicht, ich kann es nicht erklären... gewisse Dinge müssen so bleiben, wie sie sind, und nichts darf diese Leute stören, doch der Körper kümmert sich überhaupt nicht darum. Das bewußte, aktive Wesen ist ausschließlich dem höchsten Bewußtsein zugewandt, einzig damit beschäftigt, das zu tun, was dieses Bewußtsein will, während andere (mehrere oder einer) dafür zu sorgen haben, daß die Dinge im gegenwärtigen Übergangsstadium verständlich sind. 2

(Schweigen)

Was die Menschen betrifft, wenn man mir von einem Umstand berichtet oder wenn mir jemand (sei es direkt oder durch eine andere Person) von einer Schwierigkeit erzählt, so kommt die klare Vision dessen, was zu tun ist, und dies entspricht überhaupt keinem Gedanken, nichts (wenn ich es einmal gesagt habe, dann erinnere ich mich im allgemeinen nicht einmal mehr an das, was ich gesagt habe). Und ganz praktisch: dies muß man tun, jenes darf man nicht tun.

Das gewöhnliche Leben, die gewöhnliche Art und Weise, erscheint wie auf einen Bildschirm projiziert (es ist überhaupt nicht innen, sondern...), und ständig zeigt sich die Unordnung des gewöhnlichen Lebens als substanzlos, aber wahrnehmbar. Wann immer noch etwas da ist, das dem gegenüber offen ist, dann ist die Folge ein Unwohlsein, sehr unangenehme Dinge – das wird immer unwirklicher und kann mich nicht mehr berühren... Aber man kann nie wissen.

Würde man es in allen Einzelheiten beschreiben, so wäre dies absolut das Leben... [eines Verrückten]. Glücklicherweise mache ich noch den Anschein, im Besitz meines gesunden Menschenverstands zu sein (Lachen).

Aber ich spreche nicht von alledem.

(Genau in diesem Augenblick drängte sich Satprem sehr stark folgender Gedanke auf, den er Mutter beinahe mitgeteilt hätte: "Wenn der Raupe plötzlich die Sicht des Menschen gegeben wäre, dann würde das natürlich ihre ganze Logik auf den Kopf stellen.")

(langes Schweigen)

(Zu Sujata) Und du, hast du mir etwas zu sagen?

Sehr oft, wenn ich nachher 3 vor dir sitze, fühle ich...

Ich höre nicht.

Wenn Satprem gegangen ist, mache ich meinen "Pranam"; dann scheint mir, daß unter deinem Blick mein wahres inneres Wesen nach vorn kommt.

Ja.

Und merkwürdigerweise fühle ich eine Kraft von... kennst du den Ganges, die Göttin des Ganges? Ich fühle eine Verwandtschaft mit ihr.

Mit dem Fluß?

Mit dieser Göttin.

Sieh an! Merkwürdig.

(Schweigen)

Das bedeutet die Kraft der vitalen Anpassungsfähigkeit, diese Identifikation [mit dem Ganges]... Und wahrscheinlich gibt es Familien derartiger Wesen.

(Mutter geht in sich)

Verleiht dir das ein besonderes Gefühl, wenn du das hast? Fühlst du etwas Besonderes?

(Sujata:) Im Augenblick ist es, als sei ich sehr nach innen gekehrt, und gleichzeitig kommt das innere Wesen hervor: beides zugleich.

Ja.

(Mutter geht von neuem in sich)

 

1 sündigen = pécher; fischen = pêcher.

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2 Siebzehn Jahre früher, am 20. Mai 1953, hatte Mutter während eines Gesprächs mit allen auf dem Sportplatz des Ashrams versammelten Schülern diese Frage gestellt: "Kann ein Körper sich verändern, ohne daß sich etwas in seiner Umgebung verändert? Wie wäre euer Verhältnis zu den anderen Dingen, wenn ihr euch so sehr verändert habt? Auch zu anderen Wesen?... Es scheint notwendig zu sein, daß sich eine ganze Reihe von Dingen verändert, zumindest in einem gewissen relativen Ausmaß, damit man weiterexistieren könnte ..." Darin liegt vielleicht das ganze Problem.

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3 Im allgemeinen bleibt Sujata noch einige Augenblicke mit Mutter allein, nachdem Satprem gegangen ist.

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