Mutters
Agenda
elften Band
DIE HÖLLE
(Mutter scheint es etwas besser zu gehen, aber sie ist immer noch sehr erschöpft.)
Ich wollte dir etwas sagen, nun erinnere mich nicht mehr...
Vielleicht kommt es wieder.
(sehr langes Schweigen, dann deutet Mutter mit einer Geste an, daß sie sich erinnert, und taucht wieder ein)
Es kommt, aber es ist noch nicht genau genug.
Hast du nichts zu fragen?
Betrifft es die Nacht, in der du in dieser Hölle warst?
Ja. Es war... Ich werde versuchen, es zu erklären. Du weißt, daß man sagt, OM sei der Ton des ganzen Universums, das sich dem Höchsten zuwendet und den Höchsten anfleht – all dies zusammen ergibt das OM. In analoger Weise hatte ich das Gefühl, der ganze Schmerz der Welt zu sein – der ganze Schmerz der Welt (wie soll ich sagen?) auf einmal empfunden. Ich kann es nicht ausdrücken.
Das muß es sein, denn anfangs wurde ich beherrscht, verstehst du: Wenn es kam, war ich wie erdrückt von der Sache; während ich von dem Moment an, wo ich es so verstand, mich über den Schmerz erheben konnte. Es geht viel besser. Aber als ich darüber sprach, war es sehr... es hatte sogar den Charakter einer Offenbarung. Es war sehr präzise – präzise und konkret. Jetzt ist es nur noch eine Übersetzung.
Ich fühlte gleichzeitig einen außerordentlichen Schutz, der mich davor bewahrte, verrückt zu werden... Das war eine SEHR konkrete Erfahrung, die mehrere Stunden anhielt – der Schutz eines höheren Bewußtseins und einer Art Kraft, die die Sache beherrschte, mit der Wahrnehmung: Wenn Das nicht da wäre, würde es ausreichen, die meisten Leuten zum Wahnsinn zu treiben.
Aber der Körper ist sehr... der Körper ist sehr in Mitleidenschaft gezogen (Mutter berührt ihr linkes Auge, ihre Stirn). Da gibt es...
Fast unmöglich zu essen – das ist ein großes Problem.
(sehr langes stöhnendes Schweigen)
Der Eindruck eines Erdrücktwerdens ist noch nicht verschwunden.
Es ist wie etwas, das mich hindert, frei zu atmen.
Aber die Nacht nach dem Tag, als ich dich sah und dich bat (lächelnd), du möchtest für mich beten...
Ja, liebe Mutter.
Diese Nacht war absolut wunderbar – absolut friedlich und wunderbar. Eine Nacht, wie ich sie seit langer, langer Zeit nicht mehr hatte... Ich dankte dir – ich weiß nicht, ob du das weißt!
O Mutter...
(Mutter lacht,
Satprem legt seinen Kopf auf Mutters Schoß,
Schweigen)
Aber Sri Aurobindo? Sri Aurobindo...
Ja.
Was sagt er?
(nach einem Schweigen)
Ich hatte... das war schrecklich, ich hatte das Bewußtsein all dessen, was er physisch erlitt. Und das war fast am schwersten zu ertragen (Mutters Stimme ist tränenerstickt)... Als ob er physisch... Und unsere physische Unbewußtheit daneben – die Art physischer TORTUR, die er auf sich nahm 1 . Das war etwas vom Allerschwierigsten.
Die Folter, die er zu ertragen hatte und die wir so leichtfertig behandelten, als ob... als ob er nichts spürte. Das war etwas vom Schrecklichsten.
(sehr langes Schweigen,
Mutter taucht ein,
um dann aufzuschrecken)
Siehst du, das ist es (Mutter macht eine Geste des Erstickens): ein quälender Druck, schrecklich.
Es ist kein Gedanke, sondern ... (gleiche Geste eines Erstickens).
Aber liebe Mutter, dient dieser Schmerz der Erde nicht dazu, das Höchste Bewußtsein auch da, ganz in der Tiefe herbeizurufen?
Ja, sicherlich. Das sage ich mir auch und versuche, das zu finden, aber...
Etwas muß gefunden werden.
(sehr langes Schweigen)
Das ist es (gleiche Geste eines Erstickens), und es ist immer noch da... An einer Stelle, hier, da herrscht ein so fürchterlicher Druck... Merkst du, wie schwer es mir fällt zu atmen? – Das ist es. Es ist ständig so.
(Schweigen)
Es ist hier (Mutter zieht eine Linie auf Brusthöhe). Und es besteht ein Verbot zu... (Mutter macht eine Geste aufzusteigen und sich wieder dem Ursprung oberhalb des Kopfes anzuschließen)... Als ob ich unbedingt etwas finden müßte.
(Schweigen 2)
Wieviel Uhr ist es?
Zehn nach elf, liebe Mutter.
Hast du nichts zu sagen?
Hat das Mantra denn keine Wirkung darauf?
Mein Körper wiederholt das Mantra unaufhörlich. Ich glaube, er könnte sonst gar nicht durchhalten... ständig, ständig.
(Schweigen)
Manchmal sage ich mir, daß UNSERE Dunkelheiten DEIN Hindernis sind, und wenn wir unsere eigene Finsternis besiegen könnten...
Oh, natürlich wäre das leichter für mich. Aber das... (wie soll ich sagen?) das ist nicht meine Angelegenheit. Ich habe nicht das Recht, dies zu fordern: ich muß die Arbeit tun... Wie ich dir sagte, brachte dein Gebet in jener Nacht... du kennst das englische Wort relief: Das brachte eine enorme Erleichterung.
(sehr langes stöhnendes Schweigen)
Es ist seltsam, das packt mich so (Geste von der Taille bis zu den Knien), besonders da (Geste zur Taille). Ich kann nicht beschreiben, was es ist – eine schreckliche Bedrängnis... Wenn es hierhin kommt (zur Brust), dann schreie ich.
Es ist in den Beinen bis hinunter zu den Knien. Jetzt kann ich kaum noch laufen.
Das ist völlig physisch, materiell.
(Schweigen)
Ach...
Ich weiß sehr gut, was erforderlich wäre: Das Phänomen müßte beobachtet, statt gefühlt werden – gewußt werden: ein Wissen anstelle des Gefühls. Dann wäre es wie alle anderen Arten von Wissen... Aber wovon hängt das ab? Ich weiß es nicht.
(langes Schweigen)
Wir werden siegen, liebe Mutter.
Ja.
(Schweigen, Satprem legt seine Stirn auf Mutters Schoß)
Verstehst du... daß es besiegt werden wird, davon bin ich ABSOLUT überzeugt, aber... ist der Augenblick gekommen, ist er da?
Und dieser Zweifel ist eine Tortur.
(Mutter nimmt Satprems Hände)
1 "Wir bestanden auf gefährlichen Medikamenten ..." gesteht einer der Ärzte, die Sri Aurobindo behandelten (Nirodbaran, I am here). Sri Aurobindo sagte nein – einmal. Mutter sagte nein. Dann sagten sie nichts mehr. "Er wußte, daß die Medikamente von keinerlei Nutzen waren, und er lehnte sie kategorisch ab", bemerkt einer der Ärzte, "aber da wir unverständig waren und das Gewicht der Worte nicht ermessen konnten, die er in seinem üblichen Tonfall ausgesprochen hatte, bestanden wir auf gefährlichen Medikamenten, denen wir vertrauten." Ibid. S. 20. Es sei bemerkt, daß dasselbe Phänomen sich bei Mutter wiederholen wird.
2 Eine Stimme rief, "Geh, wo niemand gegangen! Grab tiefer, noch tiefer Bis du erreichst den grimmigen Grundstein Und klopf an das schloßlose Tor." Ich ließ die Oberflächen-Götter des Denkens, Die durstigen Seen des Lebens Und tauchte zu den Geheimnissen unten Durch die dunklen Wege des Körpers. (A God's Labour)