Mutters
Agenda
zwölften Band
7. April 1971
Wir bräuchten eine Botschaft für das Darshan am 24....
(nach einem Schweigen)
Ich weiß nicht, ob es gut ist... Es drückt meine Erfahrung in diesen Tagen aus:
(Mutter schreibt mit geschlossenen Augen)
Die Blindheit der Menschen ist derart, daß viele Menschen die Wahrheit zu erlangen hoffen, während sie gleichzeitig die Gewohnheit des Lügens voll beibehalten.
Mindestens vier oder fünf Leute um mich herum lügen – lügen mir ins Gesicht! In diesen Tagen.
Soll ich das nehmen?... Du bist nicht glücklich damit.
Doch, doch! Ich stimme völlig zu... Denn die Lüge hat viele Ebenen 1 .
Jedenfalls sage ich "die Gewohnheit des Lügens", ich sage nicht "die Lüge".
Ja, liebe Mutter, ich weiß wohl, ich sprach von mir selbst.
(Mutter lacht) Was ich da sage, liegt auf einer sehr niedrigen Ebene. Sie erzählen mir Lügen, um mich zu bewegen, gewisse Dinge zu tun. In diesen Tagen. Sie tun es so spontan, daß es ihnen nicht einmal in den Sinn kommt, daß ich es erfahren werde.
M war der erste Fall 2 .
Wenn ich diese Botschaft gebe, werden sie denken: "Ach, gut; wenn viele es tun, dann ist es ja nicht so schlimm." Das macht nichts!... (Lachen) Sie verdrehen die Dinge immer so.
Ich könnte es in anderer Form bringen:
Wenn man nach der Wahrheit strebt, ist es unerläßlich, nicht zu lügen.
Die Leute werden sagen: "Ach, das ist selbstverständlich."
Ganz so selbstverständlich scheint es doch nicht zu sein!
Sie tun es trotzdem.
Man könnte auch sagen:
Unnötig zu betonen, daß es für jeden nach Wahrheit Strebenden unerläßlich ist, keine Lügen zu erzählen. 3
Besonders die Lügen der niederen Natur sind schwierig aufzulösen.
(Mutter nickt) Ja, aber das ist nicht dasselbe wie "Lügen erzählen".
Lügen sind immer das Zeichen eines Mangels an Mut. Man sieht der eigentlichen Situation nicht ins Gesicht.
(Mutter geht in sich,
lange Kontemplation)
Hast du nichts zu fragen?
(Sujata schiebt Satprem ein Papier zu: "Geht Indien vorwärts?")
Was unternimmt Indien, liebe Mutter?
Ich erhielt Neuigkeiten von Indira, die mir mitteilte, daß man jede mögliche Hilfe dorthin schickt [nach Bangladesh]. Sie nehmen eine sehr positive Haltung ein. Aber sie meint, daß es als Ergebnis wahrscheinlich Krieg mit Pakistan geben wird, und vielleicht sogar mit China – sie erwarten das.
Um so besser! – Laß die Lüge aufplatzen!
Weißt du, daß sie mich um meine Meinung gebeten hatten? Ich hatte ihnen gesagt, sie müßten dringend helfen 4 (dieser Brief war ihr überbracht worden). Man brachte mir ihre Antwort. Sie sagte, das sei selbstverständlich, und sie täten es schon: sogar ärztliche Hilfe, alles. Man schickt alles. Aber Westpakistan hat an Rußland geschrieben... (Mutter versucht sich zu erinnern). Sie sind verärgert [Rußland?], denn sie hatten den Rat gegeben, keinen Krieg anzuzetteln, und man befolgte ihn nicht. Da sagten sie [die Pakistani]: "Und jetzt geben wir Indien den Rat, nicht zu helfen, denn... das würde Krieg bedeuten." Rußland informierte Indien. China hat klar Stellung für Pakistan genommen.
Das kann also sehr unangenehm werden.
Es muß geregelt werden, liebe Mutter.
England und Amerika sind immer noch so (Geste des Schwankens).
Für sie ist das eine "interne Angelegenheit" Pakistans.
Ja.
Mir scheint, in Indien zögert man eine wirksame Stellungnahme hinaus, dieses Land anzuerkennen.
Oh, es geschieht in diesen Tagen. Vor zwei oder drei Tagen...
Ich spreche von einer offiziellen Anerkennung der Regierung von Bangladesh.
Dort gibt es keine Regierung.
Doch, sie sagten, es gebe eine Regierung – eine provisorische Regierung.
Wann sagten sie das?
Vor mindestens fünf oder sechs Tagen.
Ja, aber der Herr [Sheikh Mujibur] wurde gefangengenommen – und noch dazu gefoltert, um ihn zu zwingen, Dinge zu sagen, die er nicht sagen will 5 .
Das ist schrecklich, mein Kind!
Ja, ja.
(Schweigen)
Doch ich habe den Eindruck, je mehr Indien zögert oder ausweicht, um so schwieriger wird die Situation.
Aber damit ist Schluß. Sie machen keine Ausflüchte mehr.
Ja, außer daß es die Regierung von Bengalen nicht offiziell anerkennen will.
Doch.
Wie das?
Sie trugen selbst dazu bei, sie zu bilden.
Ach?
In diesen Tagen – die Neuigkeiten sind noch nicht herausgekommen. Ich erhielt Nachrichten, die noch nicht veröffentlicht wurden.
(Schweigen)
Es ist viel ernster, als es scheint.
Ja, liebe Mutter.
(Schweigen)
Aber ich habe den Eindruck, daß Indien das Symbol für die Schlacht der Welt ist, und daß das neue Bewußtsein sich nicht in der Welt niederlassen kann, solange Indien nicht seine Einheit wiedergefunden hat.
Ja.
(Schweigen)
Offensichtlich ist Indien das Symbol der Neuen Welt, die entsteht, und Indien muß symbolisch "eins" sein, damit die Neue Welt zustande kommen kann...
Ja.
Folglich muß Pakistan verschwinden 6 .
Aber ja!
Darüber gibt es nicht den geringsten Zweifel. Die Zeit ist offenbar reif.
Aber sie haben die Gelegenheit schon verpaßt 7 .
Sie haben die Gelegenheit schon einmal verpaßt, ja. Aber diesmal... darf man sie nicht wieder verpassen.
(Schweigen)
Aber Indien selbst ist geteilt.
Geteilt?
Ja, zum Beispiel in Orissa. Ein großer Teil Orissas steht ganz unter dem Einfluß Sri Aurobindos, und ein anderer rebelliert... N.S. hat erbitterte Feinde dort. Sie wurde nominiert [bei den Wahlen] und hat erbitterte Feinde – Indien selbst ist geteilt.
(Schweigen)
Die Lage ist ernst.
Es bräuchte einen so brennenden Glauben... aber... (Geste des Zerbröckelns)
Verstehst du, die Kraft wirkt derartig... Lügen, die seit Jahren grassierten, wurden auch hier sichtbar – überall besteht die Vermischung.
Es bräuchte... nicht wahr, es bräuchte eine so große Kraft der Wahrheit, damit sie fähig wäre, das zu überwinden.
(Schweigen)
Für mich ist der Sieg sicher, aber ich weiß nicht, ob es für morgen ist oder... (Geste in die Ferne)
Ich weiß nicht, welchen Weg wir nehmen werden, um dorthin zu gelangen.
Der Sieg ist sicher, das ist offensichtlich, aber welchen Weg wird man einschlagen?
Das hängt sehr von unserer individuellen Einstellung ab, und gerade das verstehen sie nicht. Man müßte sich so stark an die Wahrheit klammern, daß einen nichts berühren kann.
(Schweigen)
Es läuft immer auf dasselbe hinaus: "Was Du willst, Herr, was Du willst."
Aber es ist gewaltig geworden.
1 Satprem dachte an die Ebene des Unbewußten.
2 Siehe das vorhergehende Gespräch.
3 Diese Version wurde schließlich als Botschaft für den 24. April gewählt.
4 Am 3. April schrieb Mutter eine Botschaft an Indira.
5 Ihn zu zwingen, öffentlich der Unabhängigkeit Bengalens abzuschwören.
6 Satprem meint natürlich nicht die physische Auslöschung von Pakistan sondern die Beseitigung dieser künstlichen Trennung, die durch die Engländer geschaffen wurde nach dem Motto: "Teile, um zu herrschen". Es sei daran erinnert, daß die Moslems jahrhundertelang in völliger Eintracht mit den Indern gelebt haben bis zu dem Tag im Jahr 1947, wo man in Downing Street anders darüber entschied, sich dabei auf den politischen Ehrgeiz von gewissen Indern stützend, die unzufrieden darüber waren, nicht ihren Machtanteil zu haben.
7 1965 mit dem berüchtigten "Waffenstillstand" und dem Rückzug in Taschkent.