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Mutters

Agenda

zwölften Band

11. Dezember 1971

(Zu Beginn des Gesprächs liest Satprem Mutter den Text für das indische Radio vor, um den sie ihn anläßlich der Hundertjahrfeier Sri Aurobindos gebeten hatte. Der Text wird im Addendum wiedergegeben. Dann setzt sich das Gespräch fort.)

Ich möchte dich etwas fragen, einen Aphorismus Sri Aurobindos betreffend. Als man die Aphorismen im Bulletin veröffentlichte, hattest du gesagt, man solle diesen weglassen. Es ist ein ziemlich rätselhafter Aphorismus, und ich würde ihn gern verstehen. Und weil wir eine Gesamtausgabe aller Aphorismen herausgeben, wollte ich wissen, ob wir ihn veröffentlichen sollen oder nicht... Sri Aurobindo sagt folgendes:

76 – Europa rühmt sich seiner praktischen und wissenschaftlichen Organisation und Effizienz. Ich warte darauf, daß seine Organisation perfekt ist, dann wird ein Kind es zerstören.

Wo hat er das geschrieben?

In den Aphorismen.

Ja, aber er hat kein spezielles Buch geschrieben: sie wurden hier und da gesammelt.

Nein, nein, liebe Mutter! Ganz und gar nicht. Sri Aurobindo hatte ein besonderes Heft, in das er diese Aphorismen nach und nach eintrug.

Oh, er schrieb sie in ein Heft...

Und dieser stand inmitten der anderen.

(nach einem Schweigen)

Ein "Kind"...

Was hatte er zu Beginn geschrieben?

"Prides herself" [rühmt sich].

Rühmt sich...

(Schweigen)

Ich würde ihn mit aufnehmen.

Aber was wollte er damit ausdrücken?

Ich weiß es nicht.

Natürlich kann nur die Macht zerstört werden, denn die Erde zerstört man nicht.

Ja, die Erde zerstört man nicht, aber eine Zivilisation kann man zerstören.

Ja.

Nun, er sagt: "Europa wird zerstört werden."

Ja... aber welches Kind?

(Mutter bleibt versunken)

Im Moment weiß ich es nicht.

Ich habe den Eindruck, dies kam wie etwas absolut Wahres, eine absolut wahre Voraussage – aber ich weiß es nicht.

Du hattest gesagt, es sei besser, ihn wegzulassen 1 .

Jetzt habe ich ganz im Gegenteil das Gefühl, daß man es sagen MU&Szlig;.

Aber ich glaube nicht, daß die Zeit gekommen ist – ich will sagen, für die Verwirklichung. Die Zeit ist gekommen, es zu sagen, aber noch nicht für die Verwirklichung.

"Das Kind ..." ist es vielleicht das Kind der Neuen Welt?... Mit einem Lächeln läßt es all das einstürzen.

Ja, möglicherweise – das ist möglich.

(Schweigen)

Dies enthält eine erschreckende Macht... Etwas Ungeheures.

Du kannst dir die Macht, die darin enthalten ist, gar nicht vorstellen – als ob wirklich das Göttliche selbst spräche: "Ich warte ..." – sagte er: "I am waiting"?

Ja.

Nächstes Jahr...

Ich werde sehen, ob etwas kommt.

 

ADDENDUM

(Satprems Text für den indischen Rundfunk anläßlich der Hundertjahrfeier Sri Aurobindos:)

Sri Aurobindo und die Zukunft der Erde

Manchmal erblickt ein großer wandernder Gedanke die noch unerfüllten Zeitalter, ergreift die Kraft in ihrem ewigen Fluß und schleudert eine machtvolle Vision auf die Erde, die wie eine Macht ist, das wirklich werden zu lassen, was sie sieht – die Welt ist eine Vision, die wahr wird, ihre Vergangenheit und Gegenwart sind nicht eigentlich das Ergebnis eines dunklen Antriebs, der vom Grunde der Zeiten aufsteigt, mittels einer langsamen Ansammlung von Sedimenten, die uns allmählich formen – und uns ersticken und einschließen –, sondern es ist die mächtige goldene Anziehungskraft der Zukunft, die uns fast gegen unseren Willen zieht, so wie die Sonne den Lotos aus dem Schlamm zieht, und uns zu einer größeren Pracht führt, die weder unser Sumpf noch unsere Anstrengungen noch unsere Triumphe der Gegenwart hätte vorhersehen oder schaffen können.

Sri Aurobindo ist diese Vision und diese Macht, die Zukunft in die Gegenwart schleudern zu können. Für einen Augenblick sah er, und was er sah, werden die Zeitalter erfüllen, und Millionen von Menschen werden sich, ohne es zu wissen, auf die Suche nach diesem neuen, nicht wahrnehmbaren Schauer machen, der in die Atmosphäre der Erde eingedrungen ist. Von Zeit zu Zeit erscheinen große Wesen unter uns, um einen großen Quader der Wahrheit im Grabgewölbe der Vergangenheit zu öffnen. Und diese Wesen sind in Wahrheit die großen Zerstörer der Vergangenheit, sie kommen mit dem Schwert der Erkenntnis und zerschlagen unsere zerbrechlichen Reiche.

In diesem Jahr werden wir das hundertste Geburtsjahr Sri Aurobindos feiern – er ist kaum einer Handvoll Menschen bekannt, und dennoch wird sein Name noch erschallen, wenn unsere großen Männer von gestern oder heute unter ihren eigenen Trümmern begraben worden sind. Sein Werk wird von Philosophen diskutiert, von Dichtern zitiert, man spricht von seiner soziologischen Vision, von seinem Yoga – aber Sri Aurobindo ist eine lebende AKTION, ein Wort, das sich verwirklicht, und jeden Tag können wir unter tausend Umständen, die die Erde zu zerreißen und ihre Strukturen umzustürzen scheinen, den ersten Rückstrom der Kraft sehen, die er in Bewegung gesetzt hat. Zu Beginn des Jahrhunderts, als Indien noch gegen die englische Vorherrschaft kämpfte, rief Sri Aurobindo aus: "Es erfordert nicht nur eine Revolte gegen das britische Reich sondern eine Revolte gegen die gesamte universale Natur!" 2

Denn das Problem ist fundamental. Es geht nicht darum, der Welt eine neue Philosophie oder neue Ideen oder sogenannte Erleuchtungen zu bringen. Es geht nicht darum, das Gefängnis wohnlicher zu gestalten oder den Menschen mit immer phantastischeren Kräften auszustatten – bewaffnet mit seinen Mikroskopen und Teleskopen bleibt der Menschenzwerg ein Zwerg, schmerzbefallen und machtlos; wir schicken Raketen auf den Mond, aber wir kennen unser eigenes Herz nicht. "Es geht darum", sagt Sri Aurobindo, "eine neue physische Natur zu schaffen, die die Wohnstatt eines supramentalen Wesens in einer neuen Evolution sein wird." 3 Denn "die Unvollkommenheit des Menschen ist nicht das letzte Wort der Natur, aber auch seine Vervollkommnung ist nicht der letzte Gipfel des Geistes." 4 Jenseits des mentalen Menschen, der wir sind, öffnet sich die Möglichkeit eines anderen Wesens, das die Führung der Evolution übernehmen wird, so wie der Mensch eines Tages die Führung der Evolution unter den Affen übernommen hat. "Wenn das Tier ein lebendiges Laboratorium ist, in dem die Natur, wie man sagt, den Menschen gebildet hat, so ist der Mensch selbst vielleicht auch ein lebendiges und denkendes Laboratorium, in dem und MIT DESSEN BEWU&Szlig;TER ZUSAMMENARBEIT die Natur den Übermenschen formen wird, den Gott". 5 Und Sri Aurobindo sagt uns, wie dieses andere Wesen, dieses supramentale Wesen, zu bilden ist – und er sagt es nicht nur, sondern er tut es, öffnet den Weg zur Zukunft, bringt den Rhythmus der Evolution auf die Erde, die neue Schwingung, die die mentale Schwingung ersetzen wird, so wie eines Tages ein Gedanke kam, um die langsame Routine der Tiere zu stören, und diese neue Schwingung wird uns die Macht geben, die Mauern unseres menschlichen Gefängnisses niederzureißen.

Und unser Gefängnis zerbricht schon: "Das Ende eines Evolutionsstadiums", verkündet Sri Aurobindo, "ist gewöhnlich gekennzeichnet durch ein mächtiges Wiederaufleben all dessen, was aus der Evolution ausscheiden muß." 6 Dieses beschleunigte Aufplatzen aller alten Formen sehen wir überall um uns herum – unsere Grenzen, unsere Kirchen, unsere Gesetze, unsere Moral brechen auf allen Seiten zusammen. Und sie brechen nicht deshalb zusammen, weil wir gemein, unmoralisch, unreligiös sind oder weil wir nicht rational genug, nicht weise genug, nicht menschlich genug sind – sondern, weil wir ans Ende des Menschseins gelangen. Die alte Mechanik ist beendet – denn wir befinden uns im Übergang zu ETWAS ANDEREM. Es ist keine moralische Krise, die die Welt erschüttert, sondern eine "evolutionäre Krise". Wir sind nicht auf dem Weg zu einer besseren oder einer schlechteren Welt – wir sind mitten in einer MUTATION zu einer radikal anderen Welt, so anders, wie sich die Welt des Menschen von der Welt der Affen im Tertiär unterschieden haben muß. Wir betreten eine neue Ära, die supramentale Epoche. Man verläßt sein Land, wandert ziellos umher, hält Ausschau nach Drogen, sucht das Abenteuer, man ruft hier zum Streik auf, stellt dort Reformen auf und wieder Revolutionen – aber in der Tat ist es nichts von alledem. Man ist auf der Suche nach dem neuen Wesen, ohne es zu wissen, man ist mitten in der menschlichen Revolution.

Sri Aurobindo gibt uns den Schlüssel. Möglicherweise entzieht sich uns die Bedeutung unserer eigenen Revolution, weil wir das Bestehende verlängern wollen – es verfeinern, verbessern, sublimer machen wollen. Der Affe wäre vielleicht demselben Irrtum anheimgefallen, als er mitten in seiner Affen-Revolution steckte, um einen Menschen hervorzubringen; er hätte vielleicht einen Superaffen hervorbringen wollen, imstande, geschickter auf die Bäume zu klettern, besser zu jagen, schneller zu laufen, ausgestattet mit größerer Wendigkeit und Schläue. Auch wir wollten mit Nietzsche einen "Übermenschen" bauen, der doch nur ein Supermensch war, oder mit den Spiritualisten einen Superheiligen, einen Ausbund an menschlicher Tugend und Weisheit. Doch wir sind der Tugenden und Weisheiten überdrüssig! Selbst auf ihren Höhepunkt getrieben, sind sie immer noch dieselbe alte vergoldete Armut, das glorreiche Gegenstück unserer hartnäckigen Misere: "Das Übermenschentum", sagt Sri Aurobindo, "ist nicht der auf seinen natürlichen Gipfel gekletterte Mensch, kein höherer Grad an menschlicher Größe, an Wissen, Macht, Intelligenz, Willen... oder Genie... an Heiligkeit, Liebe, Reinheit oder menschlicher Perfektion." 7 Es ist ETWAS ANDERES, eine andere Schwingung des Wesens, ein anderes Bewußtsein.

Aber wenn dieses Bewußtsein nicht auf den Gipfeln des Menschlichen liegt, wo werden wir es dann finden?... Vielleicht ganz einfach in dem, was wir am meisten vernachlässigt haben, seitdem wir in den mentalen Zyklus eingetreten sind – im Körper. Er ist unsere Basis, unser evolutionäres Fundament, der alte Stamm, auf den wir immer zurückkommen und der sich uns schmerzlich in Erinnerung bringt, indem er uns leiden, altern und sterben läßt. "Diese Unvollkommenheit selbst", versichert Sri Aurobindo, "enthält die Stoßkraft zu einer höheren und vollkommeneren Perfektion. Sie enthält die äußerste Begrenztheit, die dennoch zu einem höchsten Unbegrenzten strebt. Gott ist im Schlamm eingeschlossen... aber gerade die Tatsache dieses Eingeschlossenseins bringt die Notwendigkeit mit sich, den Ausweg aus dem Gefängnis zu finden." 8 Dort liegt das alte, niemals geheilte Übel, die niemals veränderte Wurzel, die dunkle Matrix unseres Elends, kaum anders als jene zur Zeit der Lemuren. Diese physische Substanz muß also transformiert werden, sonst wird sie nacheinander all die menschlichen oder übermenschlichen Kunstgriffe, die wir darüber stülpen möchten, zunichte machen. Dieser Körper, diese physische, zellulare Substanz enthält "allmächtige Kräfte", 9 ein stummes Bewußtsein, das alle Lichter und alle Unendlichkeiten enthält, ebenso wie die mentalen und spirituellen Unermeßlichkeiten – denn in Wahrheit ist alles göttlich, und wenn der Herr des Universums nicht in einer einzigen kleinen Zelle haust, ist er nirgendwo. Dieses düstere ursprüngliche zellulare Gefängnis muß aufgebrochen werden. Und solange wir das nicht tun, werden wir uns weiter vergeblich im goldenen oder eisernen Zirkel unseres mentalen Gefängnisses drehen. "Die sogenannten absoluten Naturgesetze", sagt Sri Aurobindo... "sind nur ein von der Natur eingerichtetes Gleichgewicht, eine Rille, in der die Natur zu arbeiten gewöhnt ist, um gewisse Resultate zu erzielen. Aber wenn man das Bewußtsein wechselt, wird sich zwangsläufig auch die Rille ändern." 10

Dies ist das neue Abenteuer, zu dem Sri Aurobindo uns einlädt, ein Abenteuer ins Unbekannte des Menschen. Ob wir es wollen oder nicht, die gesamte Erde ist dabei, zu einer neuen Rille überzugehen – aber warum nicht willentlich? Warum arbeiten wir nicht mit an diesem unerhörten Abenteuer, an unserer eigenen Evolution, anstatt tausendmal dieselbe alte Geschichte zu wiederholen, anstatt künstlichen Paradiesen nachzujagen, die unseren Durst niemals stillen werden, oder jenseitigen Paradiesen, die unsere Erde samt unseren Körpern der Fäulnis überlassen. "Warum erst anfangen, wenn es bloß darum geht, hinauszukommen?" rief die Mutter aus, die das Werk Sri Aurobindos fortsetzt. "Wozu dient es, so viel gekämpft, so viel gelitten zu haben, etwas geschaffen zu haben, das zumindest seiner äußeren Erscheinung nach so tragisch und dramatisch ist, wenn es bloß darum geht, zu lernen, sich aus dem Staub zu machen – wir hätten besser gar nicht erst damit angefangen!... Die Evolution ist kein gewundener Weg, um abgekämpft an den Ausgangspunkt zurückzukommen; ganz im Gegenteil," sagt die Mutter, "es geht darum, die gesamte Schöpfung die Freude des Seins, die Schönheit des Seins, die Größe des Seins zu lehren, die Majestät eines sublimen Lebens und andauernde Entwicklung, ununterbrochen fortschreitend in dieser Freude, dieser Schönheit, dieser Größe – dann ergibt alles einen Sinn." 11

Dieser Körper, dieses so obskure Lasttier, das wir bewohnen, ist das Erfahrungsfeld von Sri Aurobindos Yoga – der ein Yoga der ganzen Erde ist, denn es leuchtet ein: Wenn ein einziges Wesen unter unseren Millionen Leiden es schafft, den evolutionären Sprung und die Mutation des nächsten Zeitalters in sich zu vollziehen, wird das Gesicht der Erde dadurch radikal verändert, und alle sogenannten Mächte, deren wir uns heute rühmen, werden wie Kinderspiele erscheinen angesichts dieses Strahlens des allmächtigen in einem Körper materialisierten Geistes. Sri Aurobindo sagt uns, es sei möglich – nicht nur möglich sondern unausweichlich. Es ist dabei zu geschehen. Und vielleicht hängt alles nicht so sehr von einer äußersten Anstrengung des Menschlichen ab, seine Grenzen zu überschreiten – denn dies bedeutete, auf unsere eigenen menschlichen Kräfte zurückzugreifen, um uns von diesen menschlichen Kräften zu befreien –, als vielmehr von einem Ruf, einem bewußten Schrei der Erde nach diesem neuen Wesen, das sie schon in sich selbst trägt. Alles ist schon da in unserem Herzen: die höchste Quelle, die die höchste Kraft ist – aber wir müssen sie in unseren Betonwald rufen, wir müssen unsere Richtung verstehen. Der vervielfältigte Schrei der Erde, dieser Millionen Menschen, die nicht mehr weiterkönnen, die ihr Gefängnis nicht mehr wollen, muß einen Riß schaffen, durch den die neue Schwingung einbrechen wird. Alle diese scheinbar unüberwindlichen Gesetze, die uns in ihrer vererbten und wissenschaftlichen Rille gefangenhalten, werden angesichts der Freude dieser "Kinder mit goldenen Sonnenaugen" 12 einstürzen. "Erhofft euch nichts vom Tod!", sagt die Mutter, "im Leben ist euer Heil. In ihm muß man sich transformieren. Auf der Erde schreitet man fort, auf der Erde verwirklicht man. Im Körper selbst erringt man den Sieg." 13

"Und laßt nicht weltliche Vernunft in eure Ohren flüstern", sagt Sri Aurobindo, "denn es ist die Stunde des Unerwarteten." 14

Pondicherry, 9. Dezember 1971
Satprem

 

1 Siehe Agenda Bd. 4 vom 28. August 1963.

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2 A.B. Purani, Evening Talks, S. 45

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3 On Himself, XXVI.112

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4 The Life Divine, XIX.763

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5 The Life Divine, XVIII.3

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6 The Ideal of the Karmayogin, III.347

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7 The Hour of God, XVII.7

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8 Dilip K. Roy, Sri Aurobindo Came to Me, S. 415

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9 Savitri, IV.III. 370

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10 A.B. Purani, Evening Talks, S. 92

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11 Entretiens, 1958, S. 231

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12 Savitri, III. IV.343

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13 Kommentare zur Dhammapada, S. 23

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14 The Hour of God, XVII.1

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