Sri Aurobindo
Das Göttliche Leben
Buch 1
Kapitel I. Das Streben des Menschen
Usha folgt denen zum Ziel, die ins Jenseitige weitergehen. Sie ist die erste in der Folge der ewigen Morgendämmerungen, die kommen, – sie weitet sich aus, bringt das Lebendige hervor, erweckt einen Gestorbenen... Wie weit reicht sie, wenn sie Einklang schafft zwischen den Morgendämmerungen, die früher leuchteten, und denen, die jetzt scheinen müssen? Sie sehnt sich nach den Morgen der Vergangenheit und bringt ihr Licht zu vollem Glanz. Sie strahlt ihr Licht in die Zukunft und eint sich mit denen, die noch kommen sollen.
Kutsa Angirasa – Rig Veda, I.113.8.10.
Dreifach sind jene höchsten Geburten dieser göttlichen Kraft, die in der Welt ist, sie sind wahr, sie sind begehrenswert. Dort regt Er sich, weit-offenbar, im Inneren des Unendlichen, und leuchtet klar, lichtvoll, Erfüllung bringend... Was in Sterblichen unsterblich ist und im Besitz der Wahrheit, ist ein Gott, er wohnt im Innern als eine Kraft, die sich in unseren göttlichen Mächten auswirkt... Erhebe dich hoch über alles, o Stärke, zerreiße alle Schleier und offenbare in uns die Dinge der Gottheit.
Vamadeva – Rig Veda, IV.1.7., IV.2.1., IV.4.5.
Das früheste Anliegen im erwachten Denken des Menschen und, wie es scheint, sein unentrinnbares und letztes ist auch das höchste, das sein Denken sich vorstellen kann, – denn es überlebt die längsten Zeiträume des Skeptizismus und kehrt nach jeder Verbannung wieder zurück. Es offenbart sich in der Ahnung der Gottheit, im Impuls zur Vollkommenheit, im Suchen nach reiner Wahrheit und unvermischter Seligkeit, im Empfinden einer geheimen Unsterblichkeit. Die frühen Morgendämmerungen menschlicher Erkenntnis bezeugen dieses ständige Streben. Heute sehen wir, daß sich eine Menschheit anschickt, zu ihren ursprünglichen Sehnsüchten zurückzukehren, gesättigt und doch nicht befriedigt von der sieghaften Analyse des Äußeren der Natur. Die älteste Formulierung der Weisheit verspricht auch ihre letzte zu sein: Gott, Licht, Freiheit, Unsterblichkeit.
Diese unvergänglichen
Ideale der Menschheit stehen andererseits in Widerspruch zu ihrer alltäglichen
Erfahrung und sind die Bestätigung höherer und tieferer Erfahrungen, die für die
Menschheit im allgemeinen ungewöhnlich sind und in ihrer organischen
Vollständigkeit nur durch eine revolutionäre individuelle Anstrengung oder durch
einen evolutionären allgemeinen Fortschritt erlangt werden können. Als die
Offenbarung Gottes in der Materie und als das Ziel der Natur in ihrer irdischen
Evolution wird uns verheißen: Wir sollen in einem tierhaften, vom Ego bestimmten
Bewußtsein das göttliche Wesen erkennen, besitzen und sein. Wir dürfen unsere
zwielichtige oder verfinsterte physische Mentalität in die Fülle supramentaler
Erleuchtung verwandeln. Wir können Frieden und eine aus dem Selbst seiende
Seligkeit dort erbauen, wo es jetzt nur die Spannung vergänglicher
Befriedigungen gibt, die stets bedrängt werden vom physischen Schmerz und Leiden
des Gemüts. Wir vermögen die Fundamente zu einer unendlichen Freiheit in der
Welt zu legen, die sich uns als ein Komplex mechanischer Notwendigkeiten
präsentiert. Wir sollen unsterbliches Leben in einem Leib entdecken und
verwirklichen, der dem Tod und ständiger Veränderung unterworfen ist. Für den
gewöhnlichen materiellen Intellekt, der seine gegenwärtige
Bewußtseins-Organisation als äußerste Grenze seiner Möglichkeiten ansieht, ist
der direkte Widerspruch zwischen den unverwirklichten Idealen und der
verwirklichten Tatsächlichkeit ein endgültiges Argument gegen den Wert jener
Ideale. Wenn wir aber die Wirkensweisen der Natur gründlicher erforschen, kommt
uns diese direkte Widersprüchlichkeit eher vor als Teil der tiefsinnigen Methode
der Natur und als das Siegel ihrer vollen Zustimmung.
Denn alle Probleme des Daseins sind im wesentlichen
Probleme der Harmonie. Sie entstehen aus der Wahrnehmung einer unaufgelösten
Disharmonie und dem unbewußten Verlangen nach einer unentdeckten Übereinstimmung
oder Einheit. Die praktischen und mehr animalischen Schichten im Menschen
bringen es fertig, sich mit einer unaufgelösten Disharmonie zufriedenzugeben.
Das ist aber für sein voll erwachtes Mental unmöglich. Gewöhnlich gehen selbst
seine praktischen Seiten der allgemeinen Notwendigkeit einer Lösung nur dadurch
aus dem Wege, daß sie entweder das Problem ausklammern oder einen faulen,
unerleuchteten Nützlichkeitskompromiß eingehen. Denn die gesamte Natur sucht
wesenhaft nach Harmonie: das Vital und die Materie in ihrem eigenen Bereich
ebenso wie das Mental durch die Ordnung seiner Wahrnehmungen.
Je größer die scheinbare Unordnung der dargebotenen Materialien oder die
scheinbare Verschiedenheit, selbst bis zur unvereinbaren Gegensätzlichkeit der
Elemente, die verwendet werden müssen, ist, desto stärker der Ansporn zur
Harmonie. Er drängt nach einer feineren und machtvolleren Ordnung, als sie
normalerweise durch ein weniger schweres Bemühen zustande kommen kann. Das
aktive Leben in Einklang zu bringen mit einem zu formenden Material, in dem
Trägheit die Grundlage der Aktivität zu sein scheint, ist ein Problem des
Entgegengesetzten, das die Natur gelöst hat und in immer umfassenderer Vielfalt
zu lösen sucht. Seine vollkommene Lösung wäre die materielle Unsterblichkeit
eines völlig durchorganisierten, das Mental unterstützenden Tierkörpers. Ein
anderes Problem des Entgegengesetzten, bei dem die Natur erstaunliche Ergebnisse
zustande gebracht hat und nach immer neuen höheren Wundern strebt, ist der
Einklang zwischen bewußtem Mental und bewußtem Willen mit einer Gestalt und
einem Leben, die an sich nicht offenkundig ihres Selbsts bewußt sind und
bestenfalls einen mechanischen oder unterbewußten Willen aufbringen können. Ihr
höchstes Wunder wäre hier das Bewußtsein eines Tierwesens, das nach der Wahrheit
und dem Licht nicht mehr nur sucht, sondern beide zugleich mit der praktischen
Allmacht besitzt, die aus dem Besitz eines unmittelbaren, vervollkommneten
Wissens herrührt. So ist also dieser Aufwärtsdrang im Menschen nach
Harmonisierung immer umfassenderer Gegensätze nicht nur an sich vernunftgemäß,
sondern einzig mögliche Erfüllung eines Gesetzes und Bemühens, wie sie einer
grundlegenden Methode der Natur und dem wahren Sinn ihres universalen Ringens zu
entsprechen scheinen.
Wir sprechen von der Evolution des Lebens in der
Materie, von der Evolution des Mentals in der Materie. Evolution ist aber ein
Wort, das eigentlich nur das Phänomen feststellt, ohne es zu erklären. Denn es
scheint keinen Grund zu geben, warum sich Leben aus materiellen Elementen oder
Mental aus lebendigen Formen durch Evolution entfalten sollte, wenn wir nicht
die vedantische Lösung annehmen, daß Leben schon in Materie und Mental schon in
Leben involviert ist, weil ihrem Wesen nach Materie eine Form verhüllten Lebens
und Leben eine Form verhüllten Bewußtseins ist. Dann dürfte nur wenig gegen
einen weiteren Schritt in der Reihe und gegen die Zustimmung dazu eingewendet
werden können, daß mentales Bewußtsein selbst nur eine Form und eine Verhüllung
höherer Zustände ist, die jenseits des Mentals liegen. In diesem Fall erweist sich der unbesiegbare Drang des Menschen zu Gott, Licht,
Seligkeit, Freiheit, Unsterblichkeit wohl an seinem richtigen Platz in der Kette
einfach als der zwingende Impuls, durch den Natur die Evolution über das Mental
hinaus sucht, und er erscheint ebenso natürlich, wahr und richtig zu sein wie
der Impuls zum Leben, den sie in gewisse Formen der Materie einpflanzte, und wie
der Impuls zum Mental, den sie gewissen Formen von Leben eingab. Wie dort, so
existiert dieser Impuls hier mehr oder minder dunkel in ihren verschiedenen
Gefäßen mit einer immer höher ansteigenden Reihe in der Macht seines
Willens-zum-Sein. Wie dort, so entwickelt er sich hier in Stufen und muß die
notwendigen Organe und Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen. So wie der
Impuls zum Mental von den empfindsameren Reaktionen des Lebens in Metall und
Pflanze bis zu seiner vollen Organisation im Menschen emporreicht, so gibt es
auch im Menschen die gleiche emporsteigende Reihe, die Vorbereitung, wenn nicht
noch mehr, eines höheren göttlichen Lebens. Das Tier ist ein lebendiges
Laboratorium, in dem die Natur sozusagen den Menschen erarbeitet hat. Der Mensch
mag sehr wohl ein denkendes, lebendiges Laboratorium sein, in dem sie mit seiner
bewußten Mitwirkung den Über-Menschen, den Gott erarbeiten will. Oder sollten
wir nicht besser sagen: Gott offenbaren will? Denn wenn die Evolution die
fortschreitende Offenbarung seitens der Natur von dem ist, was in ihr schlief
oder involviert in ihr wirkte, ist die Natur auch die offenbare Realisation von
dem, was sie insgeheim ist. Wir dürfen sie also nicht auf einer gewissen Stufe
ihrer Evolution bitten, innezuhalten, und wir haben auch nicht das Recht, mit
den Vertretern der Religion als verkehrt und anmaßend oder, mit den Vertretern
des Rationalismus, als Krankheit oder Halluzination ihre etwaige Absicht oder
ihr Bemühen zu verurteilen, über die jetzige Stufe hinauszugehen. Wenn es wahr
ist, daß Geist in Materie involviert und sichtbare Natur insgeheim Gott ist,
dann ist es für den Menschen auf Erden das erhabenste und legitime Ziel, in sich
selbst das Göttliche zu offenbaren und Gott im Innern und nach außen hin zu
verwirklichen.
So rechtfertigt sich vor der überlegenden Vernunft wie
vor dem drängenden Instinkt oder der Intuition der Menschheit das ewige
Paradoxon und die ewige Wahrheit eines göttlichen Lebens in einem Tierkörper,
der einem sterblichen Gehäuse innewohnenden unsterblichen Sehnsucht oder
Wirklichkeit eines sich in begrenzten Mentalwesen und getrennten Ichs
repräsentierenden einzigen und universalen Bewußtseins, eines transzendenten, unbegrenzbaren, zeitlosen und
raumlosen Wesens, das allein Zeit, Raum und Kosmos möglich und in diesen allen
die höhere Wahrheit durch den niedrigeren Begriff realisierbar macht. Man hat
manchmal den Versuch unternommen, Fragen, die schon so oft vom logischen Denken
für unlösbar erklärt wurden, endgültig loszuwerden und die Menschen zu
überreden, ihre mentale Betätigung auf die praktischen unmittelbaren Probleme
ihrer materiellen Existenz im Universum zu beschränken. Solche Fluchtversuche
hatten aber nie dauerhafte Wirkung. Die Menschheit kehrt von ihnen mit nur noch
heftigerem Drang zum Forschen und noch stärkerem Hunger nach unmittelbarer
Lösung zurück. Aus diesem Hunger zieht der Mystizismus seinen Nutzen, und neue
Religionen entstehen, um die alten zu ersetzen, die man zerstörte oder ihrer
Bedeutung beraubte durch einen Skeptizismus, der selbst nicht befriedigte, da
das Forschen zwar sein Beruf, er aber nie willens war, gründlich genug zu
ermitteln. Eine Wahrheit ableugnen oder ersticken zu wollen, weil sie in ihrem
äußeren Wirken noch unerleuchtet ist und nur zu oft durch finsteren Aberglauben
oder eine rohe Glaubensform dargestellt wird, ist selbst eine Art von
Obskurantismus. Schließlich erweist sich, daß der Wille, sich einer kosmischen
Notwendigkeit deshalb zu entziehen, weil es mühevoll und schwierig ist, sie
durch leicht greifbare Ergebnisse zu rechtfertigen, und weil es lange dauert,
ihre Abläufe unter Kontrolle zu bringen, keine Anerkennung der Wahrheit der
Natur, sondern eine Revolte gegen den geheimen mächtigeren Willen der Großen
Mutter ist. Es ist besser und vernünftiger, wir nehmen das, was sie uns als
Menschheit zu verwerfen verbietet, an und erheben es aus dem Bereich blinden
Instinkts, unerleuchteter Intuition und ziellosen Strebens empor in das Licht
der Vernunft und in einen aufgeklärten und bewußt vom Selbst gelenkten Willen.
Wenn es dann ein höheres Licht erleuchteter Intuition oder sich selbst
enthüllender Wahrheit gibt, die jetzt im Menschen blockiert oder unwirksam ist
oder nur zeitweise wie durch einen Schleier aufblitzt oder nur gelegentlich
aufleuchtet wie das Nordlicht an unserem materiellen Himmel, auch dann sollen
wir uns nicht fürchten, weiter zu streben. Denn wahrscheinlich wird das der
nächsthöhere Zustand eines Bewußtseins sein, demgegenüber das Mental nur eine
Vorform und Verschleierung darstellt. Der Pfad unserer fortschreitenden
Selbst-Ausweitung in jenen höchsten Zustand, der am Ende der Ruheplatz der
Menschheit ist, mag durch die Herrlichkeiten dieses Lichtes hindurchführen