Sri Aurobindo
Das Göttliche Leben
Buch 1
Kapitel VII. Das Ich und die Dualitäten
Die Seele, die ihren
Sitz auf demselben Baum der Natur hat, wird aufgezehrt und getäuscht und hat
Kummer, weil nicht sie der Herr ist. Wenn sie aber jenes andere Selbst und
dessen Hoheit schaut und mit ihm, der der Herr ist, zur Einung kommt,
schwindet ihr Kummer dahin.
Svetasvatara Upanishad, IV, 7.
Wenn in Wahrheit alles saccidananda ist, können Tod, Leiden, Böses, Beschränkung nur die in der praktischen Wirkung positive, im Wesen negative Schöpfung eines verzerrenden Bewußtseins sein, das aus der totalen, einenden Erkenntnis seiner selbst in den Irrtum von Trennung und partieller Erfahrung verfallen ist. Das ist der Sündenfall des Menschen, wie er in dem poetischen Gleichnis der hebräischen Genesis versinnbildlicht ist. Jener Fall des Menschen ist sein Abirren aus der völligen, lauteren Annahme Gottes und seiner selbst, oder vielmehr Gottes in sich selbst, in ein trennendes Bewußtsein, das jenes ganze Gefolge der Gegensatzpaare nach sich zieht: Leben und Tod, Gutes und Böses, Freude und Leid, Fülle und Mangel, die Frucht eines zerteilten Wesens. Das ist die Frucht, die Adam und Eva, purusha und prakriti, die von der Natur verführte Seele, gegessen haben. Die Erlösung kommt dadurch, daß wir das Universale im Individuum und den spirituellen Begriff im physischen Bewußtsein wiedererlangen. Nur dann kann es der Seele in der Natur erlaubt sein, an der Frucht des Lebensbaumes teilzuhaben, wie Gott zu sein und für immer zu leben. Nur dann kann der Zweck, weshalb sie in das materielle Bewußtsein herabgekommen ist, erfüllt werden, wenn die Erkenntnis von Gut und Böse, von Freude und Leiden, von Leben und Tod dadurch vollendet wurde, daß die menschliche Seele ein höheres Wissen erlangt, das diese Gegensätze miteinander versöhnt, sie im Universalen zur Identität bringt und ihre Zertrennungen in das Ebenbild der göttlichen Einheit umwandelt.
Für saccidananda, das in allen Dingen in
weitester Allgemeinheit und unparteilicher Universalität ausgebreitet ist,
können Tod, Leiden, Böses und Begrenzung höchstens die ins Extreme umgekehrten
Begriffe, die Schattengestalten ihrer lichtvollen Gegensätze sein. So wie alle
diese Dinge von uns gefühlt werden, sind sie nur
Töne einer Disharmonie. Sie formulieren Absonderung, wo sie Einheit, und
Mißverständnis, wo sie Einverständnis sein sollten. Sie versuchen, zu
unabhängigen Harmonien zu kommen, wo sich jedes Instrument von selbst in das
Ganze des Orchesters einfügen sollte. Jede Totalität muß – und wäre sie auch nur
eine Totalität in einem einzigen Schema der universalen Vibrationen, nur eine
Totalität des physischen Bewußtseins – ohne den Besitz all dessen, was jenseits
von ihr und hinter ihr in Bewegung ist, in ihrem Bereich eine Rückverwandlung in
die Harmonie und eine Versöhnung der schrillen Gegensätze sein. Andererseits
können aber für saccidananda, das die Gestaltungen des Universums
transzendiert, die dualen Begriffe als solche, gerade wenn man sie so versteht,
nicht mehr mit Recht anwendbar sein. Transzendenz gestaltet um. Sie versöhnt
nicht die Gegensätze, sie wandelt sie vielmehr in etwas Übergeordnetes um, das
ihre Gegensätzlichkeiten beseitigt.
Zuerst müssen wir aber danach streben, das Individuum wieder in Beziehung zur Harmonie des gesamten Universums zu bringen. Hier ist es für uns nötig – sonst gibt es kein Entkommen aus dem Problem –, daß wir klar sehen: Die Begriffe, in denen unser jetziges Bewußtsein die Werte des Universums darbietet, sind, auch wenn sie praktisch für die Zwecke von Erfahrung und Fortschritt des Menschen gerechtfertigt sind, nicht die einzigen, in denen man diese Werte wiedergeben kann, und sie dürften auch nicht die vollständigen, rechten und letzten Formulierungen sein. So wie es Sinnesorgane oder Träger von Sinnesbefähigungen geben kann, die unsere physische Welt in verschiedener Weise und vielleicht besser wahrnehmen, weil sie vollkommener sind als unsere Sinnesorgane oder Sinnesbefähigung, mag es auch andere mentale und supramentale Betrachtungsweisen des Universums geben, die über die unsrigen hinausgehen. Es gibt Bewußtseinszustände, in denen Tod nur eine Verwandlung innerhalb unsterblichen Lebens ist, Schmerz heftige Rückflut der Wogen universalen Entzückens, Begrenztheit eine Rückwendung des Unendlichen zu sich selbst, Böses ein Kreisen des Guten um seine eigene Vollkommenheit. Das ist keineswegs nur so im abstrakten Begreifen, sondern auch in aktueller Schau und in ständiger und substantieller Erfahrung. Zu solchen Bewußtseinszuständen zu gelangen, sollte für den Einzelnen einer der wichtigsten und unentbehrlichsten Schritte seines Fortschreitens zur Selbst-Vervollkommnung sein.
Gewiß müssen die von
unseren Sinnen und vom dualistischen Sinnen-mental gegebenen praktischen Werte
in ihrem eigenen Bereich Geltung behalten und als Standard für die gewöhnliche
Lebenserfahrung so lange akzeptiert werden, bis eine umfassendere Harmonie
fertig ist, in die sie eingehen und sich umwandeln können, ohne den Halt an
jenen Wirklichkeiten zu verlieren, die sie repräsentieren. Würde man die
Sinnesbefähigungen ohne das Wissen erweitern, das den alten Sinneswerten ihre
richtige Deutung von dem neuen Standpunkt aus gibt, so könnte das zu ernstlichen
Störungen, zu Unfähigkeiten führen und den Menschen unbrauchbar machen für das
praktische Leben und für die geordnete, disziplinierte Verwendung der Vernunft.
Ebenso kann die Ausweitung unseres mentalen Bewußtseins über die Erfahrung der
ichhaften Dualitäten hinaus in ein unreguliertes Einswerden mit einer Form
totalen Bewußtseins leicht Verwirrung und Behinderung des aktiven menschlichen
Lebens innerhalb der geltenden Ordnung der Beziehungen in der Welt herbeiführen.
Das liegt zweifellos der Mahnung der Gita an den Menschen zugrunde, der das
Wissen besitzt, er dürfe die Lebens- und die Denkgrundlage der Unwissenden nicht
in Verwirrung bringen, denn sie würden durch sein Vorbild verführt, wären aber
unfähig, das Prinzip seines Handelns zu begreifen, und würden so ihr eigenes
Wertsystem verlieren, ohne zu einer höheren Grundlegung zu gelangen.
Solch eine Störung und Leistungsverminderung kann man
für sich persönlich akzeptieren, und viele große Seelen haben das für eine
Übergangszeit getan und so den Preis für ihren Eintritt in ein umfassenderes
Dasein entrichtet. Das wahre Ziel des menschlichen Fortschritts muß aber
bleiben, wirkungsvoll und synthetisch das Gesetz jenes erweiterten Daseins in
einer neuen Ordnung von Wahrheiten neu zu interpretieren und es in einer
richtigen, machtvolleren Einwirkung dieser Befähigungen auf das Lebens-Material
des Universums darzustellen. Für die menschlichen Sinne wandert die Sonne rund
um die Erde, sie war für die Menschen Daseinsmittelpunkt, und die Bewegungen des
Lebens wurden auf der Grundlage eines Mißverstehens geordnet. Die Wahrheit ist
das genaue Gegenteil davon; aber ihre Entdeckung hätte wenig genützt, wenn es
nicht eine Naturwissenschaft gäbe, die die neue Anschauung zum Mittelpunkt einer
rationalen und geordneten Erkenntnis macht, die den Wahrnehmungen der Sinne ihre
richtigen Werte beilegt. Genauso kreist für das mentale Bewußtsein Gott um das
personale Ich, und alle Seine Werke und Wege
werden vor das Gericht unserer ichhaften Empfindungen, Gefühle und Auffassungen
gestellt und erhalten hier Werte und Deutungen, die zwar eine Verdrehung und
Umkehrung der Wahrheit der Dinge, aber doch nützlich und praktisch ausreichend
sind für eine gewisse Entwicklung menschlichen Lebens und Fortschritts. Sie sind
eine primitive praktische Systematisierung unserer Erfahrung der Dinge und so
lange gültig, als wir noch in einer gewissen Ordnung von Ideen und Aktivitäten
zu Hause sind. Sie stellen aber nicht den letzten und höchsten Zustand
menschlichen Lebens und Wissens dar. “Wahrheit ist der Weg, nicht die
Unwahrheit.” Es ist nicht die Wahrheit, daß Gott das Ich als das Zentrum des
Daseins umkreist und vom Ich und seiner Schau der Dualitäten beurteilt werden
kann, sondern daß das göttliche Wesen selbst die Mitte ist und daß das
Individuum nur dann seine wirkliche Wahrheit erfährt, wenn es diese in den
Begriffen des Allumfassenden und Transzendenten erkennt. Würde man die bisherige
ichhafte Auffassung durch diese neue ohne angemessene Erkenntnisgrundlage
ersetzen, so führte das dazu, daß man alte Ideen durch neue ersetzt, die aber
immer noch unrichtig und willkürlich sind, und so anstelle einer ruhigen
Unordnung richtiger Werte eine ungestüme Unordnung hervorbringt. Solche
Unordnung kennzeichnet oft das Auftreten neuer Philosophien und Religionen und
leitet wertvolle Umwälzungen ein. Das wahre Ziel wird aber nur erreicht, wenn
wir um die richtige zentrale Auffassung ein vernunftgemäßes, wirkungsvolles
Wissen ordnen können, in dem das ichhafte Leben alle seine Werte umgewandelt und
verbessert wieder finden kann. Dann werden wir jene neue Ordnung von Wahrheiten
besitzen, die es uns ermöglichen, unser jetziges Dasein durch ein mehr
göttliches Leben zu ersetzen und gotterfüllter und kraftvoller mit unseren
Fähigkeiten auf das Lebens-Material des Universums einzuwirken.
Jenes neue Leben und jene neue Macht des integralen
menschlichen Selbsts muß notwendigerweise auf wirklicher Einsicht in die großen
Wahrheiten beruhen, die eine Übersetzung der Natur des göttlichen Seins in
unsere Art des Erfassens der Dinge sind. Das muß dadurch geschehen, daß das Ich
auf seinen falschen Standpunkt und seine falschen Gewißheiten verzichtet, in die
richtige Beziehung und Harmonie zu den Totalitäten eintritt, deren Teil es
bildet, und zu den Transzendenzen, denen es entstammt. Es soll sich vollkommen
für eine Wahrheit und ein Gesetz öffnen, die über seine herkömmlichen Ordnungen hinausgehen, für eine Wahrheit, die seine eigene Erfüllung ist, und für
ein Gesetz, das seine Befreiung bringt. Sein Ziel muß dabei sein, jene Werte
aufzugeben, die Schöpfungen der egoistischen Betrachtung der Dinge sind. Dessen
Krönung ist, Beschränkung, Unwissenheit, Tod, Leiden und das Böse zu
transzendieren.
Hier auf Erden und in unserem menschlichen Leben können wir so lange nicht die Dualitäten transzendieren und beseitigen, wie die Grundbegriffe dieses Lebens zwangsläufig an unsere gegenwärtigen ichzentrierten Bewertungen gebunden sind. Solange das Leben seiner Natur nach ein individuelles Phänomen und nicht Repräsentation eines universalen Seins und das Atmen eines mächtigen Lebens-Geistes ist, solange die Gegensatzpaare, die Antwort des Individuums auf seine Kontakte mit dem Leben, nicht nur eine Reaktion, sondern das wirkliche Wesen und die Grundbedingungen alles Lebens sind, solange die Begrenztheit die unabänderliche Natur der Substanz ist, aus der unser Mental und unser Körper gebildet sind, solange Zersetzung durch den Tod die erste und letzte Bedingung des Lebens, sein Ende und sein Anfang sind, solange Lust und Schmerz der untrennbare duale Stoff jeder Empfindung, solange Freude und Leid das notwendige Licht und der Schatten jedes Gefühls und solange Wahrheit und Irrtum die beiden Pole sind, zwischen denen ewig jede Erkenntnis sich bewegen muß – solange können wir das alles nur dann transzendieren, wenn wir das menschliche Leben in einem Nirvana jenseits von allem Dasein aufgeben oder in eine andere Welt, in einen Himmel gelangen, der ganz anders konstituiert ist als dieses materielle Universum.
Für das herkömmliche Mental des Menschen, der an seine
vergangenen und gegenwärtigen Assoziationen gebunden bleibt, ist es nicht sehr
leicht, sich ein zwar noch menschliches, aber doch radikal verändertes Dasein
innerhalb unserer jetzigen festgelegten Lebensverhältnisse vorzustellen. Im
Blick auf unsere mögliche höhere Evolution sind wir eigentlich in der Lage des
Affen, der nach Darwins Theorie unser Ahne ist. Für jenen Affen, der sein
Instinkt-Leben auf den Urwaldbäumen führte, wäre die Vorstellung unmöglich
gewesen, eines Tages würde ein Geschöpf seiner Art auf Erden eine neue, Vernunft
genannte, Fähigkeit auf die Materialien seiner inneren und äußeren Existenz
anwenden, würde mit dieser Macht seine Instinkte und Gewohnheiten beherrschen
und die Bedingungen seines physischen Lebens verändern, würde sich Häuser aus
Stein erbauen, die Kräfte der Natur manipulieren, über die Meere fahren, durch die Lüfte fliegen, würde Gesetze für sein Verhalten
schaffen und bewußte Methoden entwickeln für seine mentale und spirituelle
Entfaltung. Auch wenn eine solche Vorstellung dem Affen-Mental möglich gewesen
wäre, hätte der Affe sich doch wohl schwerlich vorstellen können, er selbst
werde sich durch Fortschritt der Natur oder durch langes Bemühen des Willens und
seiner eigenen Tendenz in jenes Geschöpf entwickeln können. Da der Mensch
Vernunft erwarb und darüber hinaus die Macht seiner Phantasie und Intuition
einsetzte, kann er sich ein Dasein vorstellen, das höher steht als sein eigenes,
und er kann sogar seinen persönlichen Aufstieg über seinen jetzigen Zustand
hinaus zu jenem Dasein ins Auge fassen. Seine Idee von einem höchsten Zustand
ist eine Verabsolutierung all dessen, was seinen eigenen Auffassungen positiv
und seinem instinktiven Streben wünschenswert erscheint: Erkenntnis ohne den
negativen Schatten von Irrtum, Seligkeit ohne Verneinung in der
Leidenserfahrung, Macht ohne ständige Infragestellung durch Unfähigkeit,
Reinheit und Seinsfülle ohne das gegenteilige Empfinden von Mangel und
Beschränkung. So stellt er sich seine Götter vor, ebenso konstruiert er seine
Himmel. Jedoch stellt sich seine Vernunft eine mögliche Erde und eine mögliche
Menschheit nicht ebenso vor. Sein Traum von Gott und Himmel ist in Wirklichkeit
ein Traum von seiner eigenen Vollkommenheit. Wenn er dessen praktische
Verwirklichung hier als sein höchstes Ziel annehmen will, steht er aber vor der
gleichen Schwierigkeit, wie es seinem Ahnen, dem Affen, ergangen wäre, hätte man
von ihm gefordert, er solle an sich selbst als an den zukünftigen Menschen
glauben. Seine Phantasie und religiösen Bestrebungen mögen dem Menschen jenes
Ziel vor Augen halten. Setzt sich aber sein rationales Denken durch, verwirft es
Phantasie und transzendente Intuition und legt sie als brillanten Aberglauben
beiseite, der den harten Tatsachen des materiellen Universums widerspreche; so
wird daraus allenfalls eine ihn inspirierende Vision des Unmöglichen. Möglich
erscheinen ihm nur bedingtes Wissen, begrenzte Freude und Macht, ein immer
bedrohtes Gutes.
Dennoch ist im Prinzip der Vernunft selbst die Bejahung
einer Transzendenz enthalten. Denn nach ihrem ganzen Ziel und Wesen ist Vernunft
das Suchen nach Erkenntnis, sozusagen das Streben nach Wahrheit durch Ausschluß
von Irrtum. Sie blickt und strebt nicht nur nach dem Übergang von einem größeren
zu einem geringeren Irrtum, sondern sie setzt eine positive, präexistente
Wahrheit voraus, auf die wir uns durch die
Dualitäten von richtiger und falscher Erkenntnis hindurch fortschreitend
hinbewegen können. Wenn unsere Vernunft hinsichtlich der anderen Bestrebungen
der Menschheit nicht die gleiche instinktive Gewißheit besitzt, so deshalb, weil
ihr dort die gleiche eingeborene wesenhafte Erleuchtung fehlt, die sie ihrer
eigenen positiven Betätigung zugrunde legt. Wir können uns wohl eine positive
absolute Verwirklichung von Glück vorstellen, weil das Herz, dem dieses Urgefühl
für das Glück angehört, seine eigene Form von Gewißheit hat, zum Glauben fähig
ist und weil unser Denken sich die Ausschaltung von unbefriedigtem Mangel, dem
offensichtlichen Grund des Leidens, vorstellen kann. Wie sollen wir uns aber die
Ausschaltung des Schmerzes aus unserem nervlichen Empfinden oder des Todes aus
dem leiblichen Leben vorstellen? Dennoch ist die Zurückweisung des Schmerzes ein
vorherrschender Instinkt der Empfindungen und die Ablehnung des Todes eine
dominierende Forderung, tief gegründet im Wesen unserer Vitalität. Aber diese
Dinge stellen sich unserer Vernunft dar als instinktives Streben und nicht als
verwirklichbare Möglichkeiten.
Dennoch sollte das gleiche Gesetz überall gelten. Der Irrtum der praktischen Vernunft liegt in ihrer übermäßigen Unterwerfung unter die augenfällige Tatsächlichkeit, die sie unmittelbar als wirklich empfinden kann, und darin, daß ihr der Mut fehlt, tiefer liegende Tatsachen einer möglichen Verwirklichung bis hin zu ihrem logischen Schluß zu verfolgen. Was jetzt ist, ist die Realisierung einer vorausgegangenen möglichen Verwirklichung. Was gegenwärtig nur potentiell verwirklichbar ist, ist der Hinweis auf eine künftige Realisierung. Und hier existiert eine potentielle Verwirklichung; denn die Bemeisterung der augenfälligen Dinge hängt davon ab, daß wir ihre Ursachen und Abläufe kennen, und wenn wir die Gründe für Irrtum, Kummer, Schmerz, Tod wissen, können wir mit einiger Hoffnung auf ihre Beseitigung hinarbeiten. Wissen ist Macht, Erkenntnis ist Meisterschaft.
Tatsächlich verfolgen wir als Ideal, soweit wir damit
kommen, die Ausschaltung all dieser negativen oder uns feindlichen Phänomene.
Ständig versuchen wir, die Ursachen von Irrtum, Schmerz und Leiden zu
verringern. Die Naturwissenschaft träumt davon, daß sie, je weiter ihre
Erkenntnisse reichen, die Geburt regulieren und das Leben grenzenlos verlängern,
wenn nicht den Tod überhaupt besiegen kann. Da wir aber bloß äußere oder
sekundäre Ursachen ins Auge fassen, können wir nur daran denken, diese in
gewissem Umfang zu beseitigen, nicht jedoch die
Wurzeln dessen ausrotten, gegen das wir kämpfen. Wir sind deshalb so
eingeschränkt, weil wir um sekundäre Wahrnehmungen ringen und nicht um eine
Grund-Erkenntnis, weil wir zwar die Abläufe der Dinge kennen, aber nicht ihr
Wesen. So gelangen wir zwar zu einer machtvolleren Bewältigung der Umstände,
aber nicht zu einer wesentlichen Herrschaft über sie. Könnten wir die
wesentliche Natur und die wesentliche Ursache von Irrtum, Leiden und Tod
begreifen, dann dürften wir hoffen, zu einer Herrschaft über sie zu gelangen,
die dann keine relative, sondern eine vollständige sein würde. Wir könnten sogar
hoffen, jene ganz und gar auszuschalten und so den mächtigen Instinkt unserer
Natur dadurch zu rechtfertigen, daß wir jenes absolute Gute gewinnen: Seligkeit,
Erkenntnis, Unsterblichkeit, die wir in unserer Intuition als den wahren,
höchsten Zustand des menschlichen Wesens erkennen.
Der alte Vedanta bietet uns eine solche Lösung im Begriff und in der Erfahrung des brahman als der einzigen universalen und wesentlichen Tatsache und der Natur des brahman als saccidananda. In dieser Schau ist das Wesentliche alles Lebens die Bewegung eines universalen und unsterblichen Seins, das Wesentliche alles Empfindens und Fühlens das Spiel einer universalen selbst-seienden Seins-Seligkeit, das Wesentliche alles Denkens und Wahrnehmens die Ausstrahlung einer universalen, alles durchdringenden Wahrheit, das Wesentliche aller Aktivität die fortschreitende Entfaltung eines universalen, aus dem Selbst wirkenden Guten.
Spiel und Bewegung verkörpern sich aber in einer
Vielfalt von Formen, einer Vielartigkeit von Tendenzen, einem Zusammenspiel von
Energien. Die Vielfalt läßt das Einwirken eines bestimmenden, zeitweise
entstellenden Faktors zu: des individuellen Ego. Die Natur des Ichs ist
Selbst-Begrenzung des Bewußtseins durch ein gewolltes Nicht-Erkennen der übrigen
Wirkungen des vielfältigen Spiels und sein ausschließliches Aufgehen in einer
einzigen Form, einer einzigen Kombination von Tendenzen, einem einzigen Bereich
von Energiebewegungen. Ego ist der Faktor, der die Reaktionen von Irrtum,
Kummer, Schmerz, Bösem und Tod bestimmt; denn es legt diese Werte Bewegungen
bei, die sonst in ihrer richtigen Beziehung zum Einen Sein, zur Seligkeit,
Wahrheit und dem Guten repräsentiert würden. Fänden wir wieder die richtige
Beziehung, könnten wir die vom Ego bestimmten Reaktionen ausschalten und sie
schließlich auf ihre wahren Werte zurückführen. Diese Entdeckung kann dadurch bewirkt werden, daß der Einzelne in der rechten Weise am
Bewußtsein der Totalität teilnimmt und des Transzendenten bewußt wird, das die
Totalität repräsentiert.
In den späteren Vedanta schlich sich folgende Idee ein und wurde zum starren Dogma: Das begrenzte Ego sei nicht nur die Ursache der Dualitäten, sondern wesenhafte Grundbedingung für die Existenz des Universums. Wenn wir uns von der Unwissenheit des Ichs und von den daraus herrührenden Begrenzungen befreien, schalten wir die Dualitäten aus; mit ihnen eliminieren wir aber auch unsere Existenz in der kosmischen Bewegung. So gelangen wir wieder dahin zurück, daß die Natur der menschlichen Existenz ihrem Wesen nach böse und illusorisch sei und alles Ringen um Vollkommenheit im Leben der Welt eitel. Hier könnten wir allenfalls ein relatives Gutes suchen, das aber immer mit seinem Gegenteil verknüpft sei. Bekennen wir uns aber zu der umfassenderen und tieferen Idee, derzufolge das ich nur eine zwischenstufige Repräsentation von etwas ist, das jenseits von ihm existiert, entrinnen wir dieser Konsequenz und können den Vedanta zur Erfüllung des Lebens verwenden, statt dem Leben zu entfliehen. Die wesenhafte Ursache und Grundlage universalen Daseins ist der Herr, ishvara oder purusha, der sich in individuellen und universalen Formen offenbart und sie in Besitz hält. Das begrenzte Ich ist nur das Bewußtseins-Phänomen der Zwischenstufe, das für eine gewisse Entwicklungslinie notwendig ist. Folgt der Einzelne dieser Linie, so kann er zu dem gelangen, das jenseits von ihm ist und das er repräsentiert. Er kann es auch weiter repräsentieren, aber dann nicht mehr als ein unerleuchtetes beschränktes Ego, sondern als Mittelpunkt Göttlichen Wesens und universalen Bewußtseins, das alle individuellen Bestimmungen umfaßt, verwendet und in Harmonie mit dem Göttlichen Wesen umwandelt.
Wir haben also die Manifestation des Göttlichen
Bewußten Wesens in der Totalität der physischen Natur als die Grundlage
menschlichen Daseins im materiellen Universum. Wir haben das Hervortreten dieses
Bewußten Wesens in einem involvierten und darum unvermeidlich evolvierenden
Leben, Mental und Supramental als die Grundlagen unseres aktiven Wirkens. Diese
Evolution hat es dem Menschen ermöglicht, in der Materie in Erscheinung zu
treten. Sie wird es ihm auch ermöglichen, fortschreitend Gott im Körper zu
manifestieren, – die universale Inkarnation. In der vom Ich bestimmten Gestalt
besitzen wir den Vermittlungsfaktor von entscheidender Bedeutung, der es dem
Einen möglich macht, als die bewußten Vielen aus
jener indeterminierten, allgemeinen, finsteren und gestaltlosen Totalität
emporzutauchen, die wir das Unterbewußte nennen, hrdya samudra, “das
Ozean-Herz in den Dingen” nach dem Rig Veda. Wir haben die Dualitäten Leben und
Tod, Freude und Leid, Lust und Schmerz, Wahrheit und Irrtum, Gutes und Böses als
die ersten Gestaltungen ichhaften Bewußtseins, als das natürliche,
unvermeidliche Ergebnis seines Versuchs, Einheit in einer künstlichen
Konstruktion seiner selbst zu realisieren außerhalb der totalen Wahrheit des
Guten, des Lebens und der Seins-Seligkeit im Universum. Diese ichhafte
Konstruktion wird dadurch aufgelöst, daß der Einzelne sich selbst für das
Universum und für Gott öffnet als das Mittel, um zu jener höchsten Erfüllung zu
gelangen, von der das ichhafte Leben in gleicher Weise nur ein Vorspiel ist, wie
es das Tierleben für das Menschenleben war. Wir realisieren das All im
Individuum, indem wir das begrenzte Ich in ein bewußtes Zentrum göttlicher
Einheit und Freiheit umwandeln. Das ist das Ziel, bei dem diese Erfüllung
anlangt. So strömt das unendliche, absolute Sein, die Wahrheit, das Gute, und
die Seligkeit des Wesens auf die Vielen in der Welt über als das göttliche
Endergebnis, auf das sich die Zyklen unserer Evolution hinbewegen. Das ist die
erhabene Geburt, die die mütterliche Natur in sich trägt. Sie ringt danach,
hiervon entbunden zu werden.