Sri Aurobindo
Das Göttliche Leben
Buch 1
Kapitel IX. Das Reine Seiende
Ein einziges Unzerteilbares, das ist reines Sein.
Chhandogya Upanishad, Vl.2.1.
Ziehen wir unseren Blick aus einer ichhaften Vorliebe für begrenzte und flüchtige Interessen zurück und betrachten die Welt mit leidenschaftslosen, wißbegierigen Augen, die nur nach der Wahrheit forschen, dann ist unser erstes Ergebnis die Wahrnehmung einer grenzenlosen Energie unendlichen Seins, unendlicher Bewegung, unendlicher Aktivität, die sich in unbegrenzten Raum, in ewige Zeit ergießt. Dieses Sein ist unendlich erhaben über unser Ich, über jedes Ich und jede Ich-Kollektivität. Auf der Waage dieser Energien sind die grandiosen Schöpfungen von Äonen nur der Staub eines Augenblicks: In ihrer unberechenbaren Summe gelten zahllose Myriaden der Gestirne nur als ein winziger Schwarm. Wir handeln, fühlen und weben unsere Lebens-Gedanken instinktiv so, als ob diese ungeheure Welt-Bewegung um uns als Mittelpunkt kreise und wirke zu unserem Nutzen, uns zu Hilfe oder Harm, oder als ob ihr Hauptanliegen eigentlich die Befriedigung unserer egoistischen Sehnsüchte, Gefühle, Ideen und Wertungen wäre, so wie wir sie zu unserem Hauptinteresse machen. Wenn wir aber wirklich zu sehen beginnen, erkennen wir, daß die Welt-Energie für sich selbst existiert und nicht für uns. Sie hat ihre eigenen gigantischen Ziele, ihre eigene komplexe, grenzenlose Idee, ihr eigenes mächtiges Verlangen oder Entzücken, das sie zu erfüllen sucht. Sie hat ihre eigenen ungeheuren Maßstäbe, die auf unsere Armseligkeit wie mit einem nachsichtigen und ironischen Lächeln herabblicken. Trotzdem dürfen wir unser Pendel nicht zum anderen Extrem ausschlagen lassen und uns eine zu positive Vorstellung von unserer eigenen Unwichtigkeit bilden. Auch das wäre ein Akt der Unwissenheit. Wir würden dabei unsere Augen vor wichtigen Tatsachen des Universums verschließen.
Denn diese grenzenlose Bewegung betrachtet uns nicht so, als ob wir für sie unwichtig wären. Die Naturwissenschaft offenbart uns, wie ihre Sorgfalt bis ins kleinste reicht, wie klug ihr Plan, wie intensiv die Hingabe ist, die sie ihren geringsten wie ihren größten Werken widmet. Diese mächtige Energie ist eine allen gleichermaßen gerechte, unparteiische.
Mutter, samam brahma,
nach dem bedeutungsvollen Begriff der Gita. Ihre Intensität und Bewegungskraft
ist dieselbe, ob sie ein System von Sonnen erschafft und erhält oder das Leben
in einem Ameisenhaufen organisiert. Die Illusion von Größe und Quantität
verführt uns dazu, das eine als groß und das andere als geringfügig anzusehen.
Wenn wir im Gegensatz dazu nicht auf die Masse der Quantität, sondern auf die
Kraft der Qualität schauen, werden wir die Ameise für größer halten als das
Sonnensystem, das sie bewohnt, und den Menschen für bedeutender als die ganze
unbelebte Natur zusammengenommen. Aber das ist wieder die Illusion der Qualität.
Treten wir hinter beide zurück und untersuchen nur die Intensität der Bewegung,
deren Aspekte Qualität und Quantität sind, nehmen wir wahr, daß brahman
gleichermaßen in allem wohnt, was ist. Da alles gleichermaßen an seinem Wesen
teilhat, sind wir versucht zu sagen: brahman ist mit seiner Energie
gleichermaßen an alle verteilt. Aber auch das ist eine Illusion der Quantität.
Brahman wohnt in allem unteilbar, und es scheint nur so, als ob es zerteilt
und ausgeteilt sei. Schauen wir noch einmal und prüfen mit Beobachtung, die
nicht von intellektuellen Begriffen beherrscht ist, sondern durch Intuition
gebildet wird und ihren Höhepunkt in der Erkenntnis durch Identität findet, dann
sehen wir, daß das Bewußtsein dieser unendlichen Energie ein anderes ist als
unser mentales Bewußtsein. Es ist unteilbar. Es gibt nicht einen gleichen Teil
seiner selbst, sondern sein ganzes Selbst zu ein und derselben Zeit sowohl an
das Sonnensystem wie an den Ameisenhaufen. Für brahman gibt es nicht ein
Ganzes und Teile davon, sondern jedes Ding ist selbst ganz brahman und
empfängt sein volles Genüge durch das Ganze des brahman. Qualität und
Quantität sind verschieden, das Selbst ist gleichmäßig dasselbe. Form der
Aktionskraft, ihre Art und das Resultat ihrer Stärke variieren unendlich, aber
die ewige, ursprüngliche, unendliche Energie ist dieselbe in allen. Die Kraft
der Stärke, die den starken Menschen ausmacht, ist kein bißchen größer als die
Kraft der Schwäche, die den Schwachen charakterisiert. Die Energie, die in der
Repression verausgabt wird, ist ebenso groß wie die auf die Expression
verwendete. Sie ist dieselbe in Verneinung und Bejahung, im Schweigen wie im
Laut.
Die erste Abrechnung, die wir in Ordnung zu bringen
haben, ist darum diejenige zwischen der unendlichen Bewegung, der Energie des
Seins, das die Welt ist, und uns selbst. Gegenwärtig führen wir noch eine
falsche Buchhaltung. Wir sind für das All unendlich wichtig, aber für uns ist das All nebensächlich. Wir nehmen nur uns selbst wichtig. Das ist
das Kennzeichen der Ur-Unwissenheit, die die Wurzel des Ichs ist, das nur mit
sich selbst als Mittelpunkt denken kann, als ob es das All wäre, und von dem,
was nicht es selbst ist, nur so viel akzeptiert, als anzuerkennen es mental
geneigt oder worauf Rücksicht zu nehmen es durch die Schockwirkungen seiner
Umgebung gezwungen ist. Wenn das Ich nun gar zu philosophieren beginnt,
behauptet es dann nicht, die Welt existiere nur in seinem Bewußtsein und durch
dieses? Die einzige Probe auf die Wirklichkeit sind ihm sein eigener
Bewußtseinszustand oder seine mentalen Maßstäbe. Alles, was außerhalb dieses
Gesichtskreises liegt, erscheint ihm leicht als falsch oder nicht-existent.
Diese mentale Selbstgenügsamkeit des Menschen bewirkt ein System falscher
Rechnungsführung, die uns davon abhält, dem Leben den rechten vollen Wert
abzugewinnen. Die Ansprüche des menschlichen Mentals und Ichs beruhen zwar in
gewissem Sinn auf Wahrheit, aber diese Wahrheit tritt erst hervor, wenn das
Mental seine Unwissenheit verstanden, das Ich sich dem All unterworfen und in
ihm seine gesonderte Selbstbehauptung verloren hat. Denn das ist der Anfang
wahren Lebens, das wir anerkennen: wir, oder vielmehr die Ergebnisse und äußeren
Erscheinungen, die wir mit “wir” bezeichnen, sind nur eine Teilbewegung der
unendlichen Bewegung, und dieses Unendliche ist es, das wir unbedingt erkennen,
das wir bewußt sein und das wir mit voller Hingabe zur Erfüllung bringen müssen.
Der andere Teil der richtigen Abrechnung liegt in der Einsicht, daß wir in
unserem wahren Selbst eins sind mit der Gesamtbewegung und ihr gegenüber nicht
als von geringerem oder untergeordnetem Wert gelten. Das alles in der Art
unseres Seins, Denkens, Fühlens und Handelns zum Ausdruck zu bringen, ist
notwendig für die höchste Stufe eines wahren oder göttlichen Lebens.
Um die Abrechnung richtig machen zu können, müssen wir
wissen, was dieses All, diese unendliche, allmächtige Energie ist. Hier stoßen
wir auf eine neue Schwierigkeit. Denn von der Reinen Vernunft wird uns
versichert – und das scheint auch vom Vedanta behauptet zu werden –, daß in der
gleichen Weise, wie wir dieser Bewegung untergeordnet und ein Aspekt von ihr
sind, so auch diese Bewegung einem Etwas untergeordnet und ein Aspekt von etwas
anderem als sie selbst ist, von einer großen, zeitlosen, raumlosen Stabilität,
sthanu, die unveränderlich, unerschöpflich, unveräußerlich ist. Sie handelt
selbst nicht, obwohl sie diese ganze Aktion in
sich enthält. Sie ist nicht Energie sondern reines Sein. Wer nur diese
Welt-Energie wahrnimmt, kann tatsächlich erklären, daß es so etwas nicht gibt.
Die Vorstellung von einer ewigen Stabilität, einem unveränderlichen reinen Sein
sei eine Fiktion unserer intellektuellen Begriffe, die von einer falschen Idee
des Stabilen ausgehe. Denn es gebe nichts, das stabil sei. Alles sei Bewegung,
und unser Begriff des Stabilen sei ein künstliches Gebilde unseres mentalen
Bewußtseins, durch das wir uns einen festen Standpunkt sichern wollen, um mit
der Bewegung praktisch umgehen zu können. Man kann leicht zeigen, daß das
innerhalb der Bewegung selbst wahr ist. Dort gibt es nichts, das stabil wäre.
Alles, was feststehend zu sein scheint, ist nur ein Block von Bewegung, die
Formulierung einer im Wirken begriffenen Energie, die unser Bewußtsein so
beeinflußt, daß sie ihm ruhend zu sein scheint. Das ist etwa so, wie uns die
Erde still zu stehen scheint oder wie ein Eisenbahnzug uns, die wir in ihm
fahren, als bewegungslos erscheint, während draußen die Landschaft
vorüberfliegt. Ist es nun aber ebenso wahr, daß es nichts gibt, das dieser
Bewegung zugrunde liegt, sie fördert und erhält, selbst aber bewegungslos und
unveränderlich ist? Ist es wahr, daß das Dasein nur aus Aktion der Energie
besteht? Oder ist diese Energie nicht vielmehr ein Ausströmen aus dem Sein?
Wir sehen sofort, daß ein solches Sein, wenn es überhaupt existiert, ebenso wie die Energie, unendlich sein muß. Weder Vernunft noch Erfahrung, weder Intuition noch Phantasie bezeugen uns die Möglichkeit, daß es irgendwo schließlich einen Endpunkt geben kann. Alles, was endet und beginnt, setzt etwas voraus, das jenseits von Ende und Anfang liegt. Ein absolutes Ende und ein absoluter Anfang sind nicht nur begrifflich ein Widerspruch, sondern auch ein Widerspruch zum Wesen der Dinge, Vergewaltigung und Fiktion. Unendlichkeit legt sich den Erscheinungen der Endlichkeit durch ihr unausweichliches Selbst-Sein auf.
Das ist jedoch nur Unendlichkeit im Blick auf Zeit und
Raum, eine ewige Dauer, eine unbegrenzte Ausdehnung. Die Reine Vernunft geht
weiter. Wenn sie in ihrem farblosen strengen Licht Zeit und Raum betrachtet,
weist sie darauf hin, daß beide Kategorien des Bewußtseins sind, Bedingungen,
unter denen wir unsere Wahrnehmung der Phänomene ordnen. Wenn wir auf das Sein
an sich schauen, verschwinden Zeit und Raum. Wenn es überhaupt eine Ausdehnung
gibt, ist sie keine räumliche, sondern eine
psychologische Ausdehnung. Gibt es überhaupt eine Dauer, dann ist sie keine
zeitliche, sondern eine psychologische Dauer. Dann können wir leicht einsehen,
daß Ausdehnung und Dauer nur Symbole sind, die dem Mental etwas
vergegenwärtigen, das nicht in intellektuelle Begriffe übersetzt werden kann:
eine Ewigkeit, die uns als der gleiche, alles in sich enthaltende, immer neue
Augenblick, und eine Unendlichkeit, die uns als der gleiche, alles in sich
enthaltende, alles durchdringende Punkt ohne räumliche Größe erscheint. Dieser
Konflikt der Begriffe, der so scharf und doch ein so genauer Ausdruck von jenem
Etwas ist, das wir wirklich wahrnehmen, zeigt uns, daß hier Mental und Sprache
ihre Grenzen überschritten haben und darum ringen, eine Wirklichkeit
auszudrücken, in der die eigenen konventionellen Vorstellungen und notwendigen
Widersprüchlichkeiten in eine unbeschreibliche Identität verschwinden.
Ist das aber eine wahre Darstellung? Könnte es nicht
sein, daß Zeit und Raum nur deshalb verschwinden, weil das Sein, das wir
betrachten, eine Fiktion des Intellekts ist, ein phantastisches Nihil als
Sprachschöpfung, die wir in begriffliche Wirklichkeit auszubauen versuchen?
Wieder betrachten wir jenes Sein-an-sich und sagen nein. Es gibt hinter dem
Phänomen nicht nur etwas Unendliches, sondern Undefinierbares. Von keinem
Phänomen und von keiner Totalität von Phänomenen können wir behaupten, daß sie
absolut existieren. Selbst wenn wir alle Phänomene auf ein einziges grundlegend
universales Phänomen der Bewegung oder der Energie zurückführen, das keine
weitere Reduktion zuläßt, erhalten wir nur ein undefinierbares Phänomen. Der
eigentliche Begriff der Bewegung enthält in sich die potentielle Gegebenheit der
Ruhe und verrät dadurch, daß sie Aktivität eines Seins ist. Die wahre Idee von
Energie in Aktion enthält in sich die Idee von Energie, die sich der Aktion
enthält. Eine absolute Energie, die nicht in Aktion ist, ist einfach und rein
absolutes Sein. Wir haben nur diese Alternative: entweder ein undefinierbares
reines Sein oder eine undefinierbare Energie in Aktion. Ist letztere allein
wahr, ohne stabile Basis oder Ursache, dann ist Energie ein durch die allein
existierende Aktion oder Bewegung erzeugtes Ergebnis oder Phänomen. Dann haben
wir kein Sein, oder wir haben das Nihil der Buddhisten, bei dem das Sein nur
Eigenschaft eines ewigen Phänomens, der Aktion, des Karma, der Bewegung ist.
Das, so versichert die Reine Vernunft, läßt meine Wahrnehmungen unbefriedigt. Es
widerspricht meinem fundamentalen Schauen, deshalb kann
es nicht sein. Das führt uns empor, auf Stufen eines Aufstiegs, der zuletzt
abrupt aufhört, und die ganze Treppe hängt ohne Widerlager im Leeren.
Wenn dieses undefinierbare, unendliche, zeitlose und
raumlose Sein ist, dann ist es notwendig ein reines Absolutes. Es kann nicht in
irgendeiner Quantität oder in viele Quantitäten summiert werden; es kann auch
nicht aus einer Qualität oder aus einer Kombination von Qualitäten
zusammengesetzt sein. Es ist kein Aggregat von Formen oder formales Substrat für
Formen. Würden alle Formen, Quantitäten und Qualitäten verschwinden, so würde
dieses Sein doch bleiben. Ein Sein ohne Quantität, ohne Qualität und ohne Form
ist nicht nur begrifflich denkbar, es ist das einzige, das wir hinter diesen
Phänomenen begreifen können. Notwendigerweise meinen wir, wenn wir sagen, es sei
ohne diese Eigenschaften, daß es sie überragt, daß es etwas ist, in das sie auf
solche Weise eingehen, daß das zu sein aufhört, was wir Form, Qualität und
Quantität nennen, und daß sie aus ihm als Form, Qualität und Quantität in die
Bewegung hervortreten. Sie gehen nicht in eine einzige Form, eine einzige
Qualität oder eine einzige Quantität ein, die allem übrigen zugrunde liegt –
denn so etwas gibt es nicht – sondern in etwas, das durch keinen dieser Begriffe
definiert werden kann. So gehen alle Dinge, die Zustandsformen und Erscheinungen
der Bewegung sind, in Jenes ein, aus dem sie herkamen. Dort werden sie, insoweit
sie existieren, zu etwas, das nicht mehr mit den Begriffen beschrieben werden
kann, die für sie in der Bewegung zutreffen. Darum sagen wir, das reine Sein ist
ein Absolutes. Es ist an sich selbst durch unser Denken unerkennbar, obwohl wir
in höchster Identität, die über die Begriffe der Erkenntnis hinausgeht, in es
zurücktreten können. Im Gegensatz dazu ist die Bewegung das Feld des Relativen.
Doch enthalten nach der eigentlichen Definition des Relativen alle Dinge in der
Bewegung in sich das Absolute, sie sind in Ihm enthalten, und sie sind das
Absolute. Die vom Vedanta gegebene Illustration, die diese Identität in ihrem
Unterschied zum Absoluten und Relativen am nächsten darstellt, ist die Beziehung
der Phänomene der Natur zum fundamentalen Äther, der in ihnen enthalten ist, sie
konstituiert, sie in sich enthält und doch so verschieden von ihnen ist, daß
sie, wenn sie in ihn eingehen, das zu sein aufhören, was sie jetzt sind. Wenn
wir von Dingen sagen, sie kehren in das zurück, aus dem sie kamen, verwenden wir
notwendigerweise die Sprache unseres Zeit-Bewußtseins und
müssen uns dabei vor seinen Illusionen hüten. Das Hervortreten der Bewegung aus
dem Unbeweglichen ist ein ewiges Phänomen. Unsere Begriffe und Wahrnehmungen
sind nur deshalb gezwungen, dieses Phänomen in eine zeitliche Ewigkeit von
aufeinanderfolgender Dauer zu versetzen – womit die Ideen von immer
wiederkehrenden Anfang, Mitte und Ende verbunden sind weil wir es uns nicht in
jenem anfang- und endlosen, immer-neuen Augenblick vorstellen können, der die
Ewigkeit des Zeitlosen ist.
Man könnte einwenden, dies alles sei nur so lange
gültig, als wir die Begriffe der Reinen Vernunft akzeptieren und ihnen
unterworfen bleiben. Die Begriffe der Vernunft hätten aber keine zwingende
Kraft. Wir dürften das Sein nicht durch das beurteilen, was wir mental
begreifen, sondern durch das, was wir als seiend sehen. Die reinste, freieste
Form der Einsicht in das Dasein, wie es ist, zeige uns nichts als Bewegung. Es
existieren nur zwei Dinge, Bewegung im Raum und Bewegung in der Zeit, wobei die
erstere objektiv, die letztere subjektiv ist. Ausdehnung ist wirklich, Dauer ist
wirklich, Raum und Zeit sind etwas Wirkliches. Selbst wenn wir hinter die
Ausdehnung im Raum zurücktreten und diese als psychisches Phänomen wahrnehmen
könnten, als einen Versuch des Mentals, das Dasein praktisch handhabbar zu
machen, daß wir das unzertrennbare Ganze auf einen begrifflichen Raum verteilen,
könnten wir doch nicht hinter die Bewegung von Aufeinanderfolge und Wechsel in
der Zeit zurücktreten. Denn diese sei der eigentliche Stoff unseres Bewußtseins.
Wir und die Welt seien eine Bewegung, die dauernd vorwärtsschreitet und sich
dadurch vermehrt, daß sie alle Aufeinanderfolgen der Vergangenheit in ein
Gegenwärtiges einbezieht, das sich uns wieder als den Anfang aller
Aufeinanderfolgen der Zukunft darstellt – ein Beginnen, ein Gegenwärtiges, das
sich uns immer wieder entzieht, weil es nicht ist, denn es ist schon vergangen,
bevor es geboren wird. Was ist, sei die ewige unteilbare Aufeinanderfolge der
Zeit, die auf ihrem Strom eine progressive Bewegung von Bewußtsein trage, das
auch unteilbar sei.1
Dauer also, ewig aufeinanderfolgende Bewegung und
Wechsel in der Zeit, sei das einzige Absolute. Werden sei das einzige Sein.
In Wirklichkeit ist dieser Gegensatz zwischen tatsächlicher Einsicht in das Sein und begrifflichen Fiktionen der Reinen Vernunft trügerisch. Wenn in dieser Sache Intuition wirklich im Gegensatz zu Intelligenz stünde, könnten wir nicht ein rein begriffliches Vernunftdenken gegen fundamentale Einsicht vertrauensvoll unterstützen. Aber diese Berufung auf die intuitive Erfahrung ist unvollständig. Sie ist nur insoweit gültig, als sie fortschreitet, und irrt dort, wo sie kurz vor der vollständigen Erfahrung Halt macht. Solange sich die Intuition nur an das klammert, was wir werden, sehen wir uns in dauerndem Vorwärtsschreiten von Bewegung und Wechsel des Bewußtseins in der ewigen Aufeinanderfolge von Zeit. Wir sind der Strom, die Flamme in der Bildsprache des Buddhismus. Es gibt aber eine höchste Erfahrung und höchste Intuition, durch die wir hinter das Ich unserer Außenseite zurücktreten und finden, daß dieses Werden, dieser Wechsel und diese Aufeinanderfolge nur die äußere Erscheinung unseres Wesens sind und daß es Jenes in uns gibt, das überhaupt nicht in das Werden involviert ist. Wir können nicht nur die Intuition von diesem Etwas haben, das stabil und ewig in uns ist, können nicht nur in der Erfahrung einen flüchtigen Blick werfen hinter den Schleier der ständig dahinflutenden Erscheinungen des Werdens, sondern wir können uns auch dorthin zurückziehen und ganz in ihm leben. Dadurch bewirken wir eine völlige Wandlung in unserem äußeren Leben, in unserer Haltung gegenüber der Bewegung der Welt und in unserer Einwirkung auf sie. Die Stabilität, in der wir so leben können, ist genau das, was die Reine Vernunft uns bereits gegeben hat, obwohl man auch ohne das Vernunftdenken dahin gelangen kann und ohne im voraus zu wissen, was es ist: Es ist reines Sein, ewig, unendlich, undefinierbar, frei von den Einwirkungen der Aufeinanderfolge der Zeit, nicht involviert in die Ausdehnung des Raums, jenseits von Form, Quantität und Qualität. Es ist das Selbst, allein und absolut.
Das reine Sein ist also
eine Tatsache und kein bloßer Begriff. Es ist die fundamentale Wirklichkeit. Wir
wollen aber sofort hinzufügen: Bewegung, Energie, Werden sind ebenso Tatsache
und Wirklichkeit Die höchste Intuition und die ihr entsprechende Erfahrung mögen
die andere korrigieren, darüber hinausgehen, ja sie auch suspendieren; aber sie
schaffen sie nicht ab. Wir haben also zwei fundamentale Tatsachen des reinen
Seins und des Welt-Daseins, eine Tatsache des Seins und eine Tatsache des
Werdens. Die eine oder die andere zu bestreiten, ist leicht. Die Tatsachen des
Bewußtseins anzuerkennen und ihre Beziehungen zueinander zu entdecken, ist die
wahre, fruchttragende Weisheit.
Wir müssen uns daran erinnern, daß Stabilität und Bewegung nur unsere psychischen Repräsentationen des Absoluten sind, wie das auch bei Einheit und Vielheit der Fall ist. Das Absolute steht jenseits von Stabilität und Bewegung, ebenso jenseits von Einheit und Vielfalt. Es hat seinen ewigen Stand der Ruhe in dem Einen und Stabilen, aber es wirbelt um sich selbst unendlich, unfaßbar, sicher in der Bewegung und vielfältig. Welt-Dasein ist der ekstatische Tanz Shivas, der den Körper des Gottes vor den Augen des Schauenden zahllos vervielfältigt: er beläßt aber jenes farblos-weiße Sein genau dort, wo und was es war, immer ist und ewig sein wird. Sein einziger absoluter Zweck ist die Freude am Tanz.
Da wir aber das Absolute an sich weder beschreiben noch ausdenken können, jenseits von Stabilität und Bewegung, jenseits von Einheit und Vielheit, und da uns das auch nicht zusteht, müssen wir die doppelte Tatsache annehmen und beide, Shiva und Kali, anerkennen. Wir müssen zu erkennen suchen, was diese unermeßliche Bewegung in Zeit und Raum im Blick auf jenes zeitlose und raumlose Reine Sein ist, das Eine und Stabile, auf das Meßbarkeit und Unmeßbarkeit unanwendbar sind. Wir haben gesehen, was Reine Vernunft, Intuition und Erfahrung über das Reine Sein, über sat zu sagen haben. Was haben sie aber über die Kraft, die Bewegung, über shakti zu sagen?
Als erstes haben wir uns zu fragen: Ist diese Kraft
einfach nur Kraft, nur intelligenzlose Bewegungsenergie? Oder ist das
Bewußtsein, das aus ihr in diese materielle Welt, in der wir leben,
hervorzutreten scheint, nicht allein eines ihrer phänomenalen Resultate,
vielmehr ihre eigene wahre und geheime Natur? In Begriffen des Vedanta: ist
diese Kraft einfach prakriti, nur eine Bewegung von Kraftwirkung und
Verfahren, oder ist prakriti in
Wirklichkeit eine Macht von chit, ihrer Natur nach eine Kraft
schöpferischer Selbstbewußtheit? Um die Lösung dieses wesentlichen Problems
dreht sich alles übrige.
1 Unteilbar in der Totalität der Bewegung. Jeder Augenblick von Zeit und von Bewußtsein mag als gesondert von seinem Vorgänger und Nachfolger angesehen werden, jede auf die vorhergehende folgende Aktion von Energie als ein neues Quantum oder als eine neue Schöpfung. Das hebt aber die Kontinuität nicht auf, ohne die es keine Dauer in der Zeit und keinen Zusammenhang des Bewußtseins gäbe. Ob ein Mensch geht, rennt oder Sprünge macht, seine Schritte sind zwar stets voneinander getrennt, aber es ist etwas vorhanden, das die Schritte unternimmt und die Bewegung zusammenhängend macht.