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Sri Aurobindo

Das Göttliche Leben

Buch 1

Kapitel IX. Das Reine Seiende

Ein einziges Unzerteilbares, das ist reines Sein.

Chhandogya Upanishad, Vl.2.1.

Ziehen wir unseren Blick aus einer ichhaften Vorliebe für begrenzte und flüchtige Interessen zurück und betrachten die Welt mit leidenschaftslosen, wißbegierigen Augen, die nur nach der Wahrheit forschen, dann ist unser erstes Ergebnis die Wahrnehmung einer grenzenlosen Energie unendlichen Seins, unendlicher Bewegung, unendlicher Aktivität, die sich in unbegrenzten Raum, in ewige Zeit ergießt. Dieses Sein ist unendlich erhaben über unser Ich, über jedes Ich und jede Ich-Kollektivität. Auf der Waage dieser Energien sind die grandiosen Schöpfungen von Äonen nur der Staub eines Augenblicks: In ihrer unberechenbaren Summe gelten zahllose Myriaden der Gestirne nur als ein winziger Schwarm. Wir handeln, fühlen und weben unsere Lebens-Gedanken instinktiv so, als ob diese ungeheure Welt-Bewegung um uns als Mittelpunkt kreise und wirke zu unserem Nutzen, uns zu Hilfe oder Harm, oder als ob ihr Hauptanliegen eigentlich die Befriedigung unserer egoistischen Sehnsüchte, Gefühle, Ideen und Wertungen wäre, so wie wir sie zu unserem Hauptinteresse machen. Wenn wir aber wirklich zu sehen beginnen, erkennen wir, daß die Welt-Energie für sich selbst existiert und nicht für uns. Sie hat ihre eigenen gigantischen Ziele, ihre eigene komplexe, grenzenlose Idee, ihr eigenes mächtiges Verlangen oder Entzücken, das sie zu erfüllen sucht. Sie hat ihre eigenen ungeheuren Maßstäbe, die auf unsere Armseligkeit wie mit einem nachsichtigen und ironischen Lächeln herabblicken. Trotzdem dürfen wir unser Pendel nicht zum anderen Extrem ausschlagen lassen und uns eine zu positive Vorstellung von unserer eigenen Unwichtigkeit bilden. Auch das wäre ein Akt der Unwissenheit. Wir würden dabei unsere Augen vor wichtigen Tatsachen des Universums verschließen.

Denn diese grenzenlose Bewegung betrachtet uns nicht so, als ob wir für sie unwichtig wären. Die Naturwissenschaft offenbart uns, wie ihre Sorgfalt bis ins kleinste reicht, wie klug ihr Plan, wie intensiv die Hingabe ist, die sie ihren geringsten wie ihren größten Werken widmet. Diese mächtige Energie ist eine allen gleichermaßen gerechte, unparteiische.

Mutter, samam brahma, nach dem bedeutungsvollen Begriff der Gita. Ihre Intensität und Bewegungskraft ist dieselbe, ob sie ein System von Sonnen erschafft und erhält oder das Leben in einem Ameisenhaufen organisiert. Die Illusion von Größe und Quantität verführt uns dazu, das eine als groß und das andere als geringfügig anzusehen. Wenn wir im Gegensatz dazu nicht auf die Masse der Quantität, sondern auf die Kraft der Qualität schauen, werden wir die Ameise für größer halten als das Sonnensystem, das sie bewohnt, und den Menschen für bedeutender als die ganze unbelebte Natur zusammengenommen. Aber das ist wieder die Illusion der Qualität. Treten wir hinter beide zurück und untersuchen nur die Intensität der Bewegung, deren Aspekte Qualität und Quantität sind, nehmen wir wahr, daß brahman gleichermaßen in allem wohnt, was ist. Da alles gleichermaßen an seinem Wesen teilhat, sind wir versucht zu sagen: brahman ist mit seiner Energie gleichermaßen an alle verteilt. Aber auch das ist eine Illusion der Quantität. Brahman wohnt in allem unteilbar, und es scheint nur so, als ob es zerteilt und ausgeteilt sei. Schauen wir noch einmal und prüfen mit Beobachtung, die nicht von intellektuellen Begriffen beherrscht ist, sondern durch Intuition gebildet wird und ihren Höhepunkt in der Erkenntnis durch Identität findet, dann sehen wir, daß das Bewußtsein dieser unendlichen Energie ein anderes ist als unser mentales Bewußtsein. Es ist unteilbar. Es gibt nicht einen gleichen Teil seiner selbst, sondern sein ganzes Selbst zu ein und derselben Zeit sowohl an das Sonnensystem wie an den Ameisenhaufen. Für brahman gibt es nicht ein Ganzes und Teile davon, sondern jedes Ding ist selbst ganz brahman und empfängt sein volles Genüge durch das Ganze des brahman. Qualität und Quantität sind verschieden, das Selbst ist gleichmäßig dasselbe. Form der Aktionskraft, ihre Art und das Resultat ihrer Stärke variieren unendlich, aber die ewige, ursprüngliche, unendliche Energie ist dieselbe in allen. Die Kraft der Stärke, die den starken Menschen ausmacht, ist kein bißchen größer als die Kraft der Schwäche, die den Schwachen charakterisiert. Die Energie, die in der Repression verausgabt wird, ist ebenso groß wie die auf die Expression verwendete. Sie ist dieselbe in Verneinung und Bejahung, im Schweigen wie im Laut.

Die erste Abrechnung, die wir in Ordnung zu bringen haben, ist darum diejenige zwischen der unendlichen Bewegung, der Energie des Seins, das die Welt ist, und uns selbst. Gegenwärtig führen wir noch eine falsche Buchhaltung. Wir sind für das All unendlich wichtig, aber für uns ist das All nebensächlich. Wir nehmen nur uns selbst wichtig. Das ist das Kennzeichen der Ur-Unwissenheit, die die Wurzel des Ichs ist, das nur mit sich selbst als Mittelpunkt denken kann, als ob es das All wäre, und von dem, was nicht es selbst ist, nur so viel akzeptiert, als anzuerkennen es mental geneigt oder worauf Rücksicht zu nehmen es durch die Schockwirkungen seiner Umgebung gezwungen ist. Wenn das Ich nun gar zu philosophieren beginnt, behauptet es dann nicht, die Welt existiere nur in seinem Bewußtsein und durch dieses? Die einzige Probe auf die Wirklichkeit sind ihm sein eigener Bewußtseinszustand oder seine mentalen Maßstäbe. Alles, was außerhalb dieses Gesichtskreises liegt, erscheint ihm leicht als falsch oder nicht-existent. Diese mentale Selbstgenügsamkeit des Menschen bewirkt ein System falscher Rechnungsführung, die uns davon abhält, dem Leben den rechten vollen Wert abzugewinnen. Die Ansprüche des menschlichen Mentals und Ichs beruhen zwar in gewissem Sinn auf Wahrheit, aber diese Wahrheit tritt erst hervor, wenn das Mental seine Unwissenheit verstanden, das Ich sich dem All unterworfen und in ihm seine gesonderte Selbstbehauptung verloren hat. Denn das ist der Anfang wahren Lebens, das wir anerkennen: wir, oder vielmehr die Ergebnisse und äußeren Erscheinungen, die wir mit “wir” bezeichnen, sind nur eine Teilbewegung der unendlichen Bewegung, und dieses Unendliche ist es, das wir unbedingt erkennen, das wir bewußt sein und das wir mit voller Hingabe zur Erfüllung bringen müssen. Der andere Teil der richtigen Abrechnung liegt in der Einsicht, daß wir in unserem wahren Selbst eins sind mit der Gesamtbewegung und ihr gegenüber nicht als von geringerem oder untergeordnetem Wert gelten. Das alles in der Art unseres Seins, Denkens, Fühlens und Handelns zum Ausdruck zu bringen, ist notwendig für die höchste Stufe eines wahren oder göttlichen Lebens.

Um die Abrechnung richtig machen zu können, müssen wir wissen, was dieses All, diese unendliche, allmächtige Energie ist. Hier stoßen wir auf eine neue Schwierigkeit. Denn von der Reinen Vernunft wird uns versichert – und das scheint auch vom Vedanta behauptet zu werden –, daß in der gleichen Weise, wie wir dieser Bewegung untergeordnet und ein Aspekt von ihr sind, so auch diese Bewegung einem Etwas untergeordnet und ein Aspekt von etwas anderem als sie selbst ist, von einer großen, zeitlosen, raumlosen Stabilität, sthanu, die unveränderlich, unerschöpflich, unveräußerlich ist. Sie handelt selbst nicht, obwohl sie diese ganze Aktion in sich enthält. Sie ist nicht Energie sondern reines Sein. Wer nur diese Welt-Energie wahrnimmt, kann tatsächlich erklären, daß es so etwas nicht gibt. Die Vorstellung von einer ewigen Stabilität, einem unveränderlichen reinen Sein sei eine Fiktion unserer intellektuellen Begriffe, die von einer falschen Idee des Stabilen ausgehe. Denn es gebe nichts, das stabil sei. Alles sei Bewegung, und unser Begriff des Stabilen sei ein künstliches Gebilde unseres mentalen Bewußtseins, durch das wir uns einen festen Standpunkt sichern wollen, um mit der Bewegung praktisch umgehen zu können. Man kann leicht zeigen, daß das innerhalb der Bewegung selbst wahr ist. Dort gibt es nichts, das stabil wäre. Alles, was feststehend zu sein scheint, ist nur ein Block von Bewegung, die Formulierung einer im Wirken begriffenen Energie, die unser Bewußtsein so beeinflußt, daß sie ihm ruhend zu sein scheint. Das ist etwa so, wie uns die Erde still zu stehen scheint oder wie ein Eisenbahnzug uns, die wir in ihm fahren, als bewegungslos erscheint, während draußen die Landschaft vorüberfliegt. Ist es nun aber ebenso wahr, daß es nichts gibt, das dieser Bewegung zugrunde liegt, sie fördert und erhält, selbst aber bewegungslos und unveränderlich ist? Ist es wahr, daß das Dasein nur aus Aktion der Energie besteht? Oder ist diese Energie nicht vielmehr ein Ausströmen aus dem Sein?

Wir sehen sofort, daß ein solches Sein, wenn es überhaupt existiert, ebenso wie die Energie, unendlich sein muß. Weder Vernunft noch Erfahrung, weder Intuition noch Phantasie bezeugen uns die Möglichkeit, daß es irgendwo schließlich einen Endpunkt geben kann. Alles, was endet und beginnt, setzt etwas voraus, das jenseits von Ende und Anfang liegt. Ein absolutes Ende und ein absoluter Anfang sind nicht nur begrifflich ein Widerspruch, sondern auch ein Widerspruch zum Wesen der Dinge, Vergewaltigung und Fiktion. Unendlichkeit legt sich den Erscheinungen der Endlichkeit durch ihr unausweichliches Selbst-Sein auf.

Das ist jedoch nur Unendlichkeit im Blick auf Zeit und Raum, eine ewige Dauer, eine unbegrenzte Ausdehnung. Die Reine Vernunft geht weiter. Wenn sie in ihrem farblosen strengen Licht Zeit und Raum betrachtet, weist sie darauf hin, daß beide Kategorien des Bewußtseins sind, Bedingungen, unter denen wir unsere Wahrnehmung der Phänomene ordnen. Wenn wir auf das Sein an sich schauen, verschwinden Zeit und Raum. Wenn es überhaupt eine Ausdehnung gibt, ist sie keine räumliche, sondern eine psychologische Ausdehnung. Gibt es überhaupt eine Dauer, dann ist sie keine zeitliche, sondern eine psychologische Dauer. Dann können wir leicht einsehen, daß Ausdehnung und Dauer nur Symbole sind, die dem Mental etwas vergegenwärtigen, das nicht in intellektuelle Begriffe übersetzt werden kann: eine Ewigkeit, die uns als der gleiche, alles in sich enthaltende, immer neue Augenblick, und eine Unendlichkeit, die uns als der gleiche, alles in sich enthaltende, alles durchdringende Punkt ohne räumliche Größe erscheint. Dieser Konflikt der Begriffe, der so scharf und doch ein so genauer Ausdruck von jenem Etwas ist, das wir wirklich wahrnehmen, zeigt uns, daß hier Mental und Sprache ihre Grenzen überschritten haben und darum ringen, eine Wirklichkeit auszudrücken, in der die eigenen konventionellen Vorstellungen und notwendigen Widersprüchlichkeiten in eine unbeschreibliche Identität verschwinden.

Ist das aber eine wahre Darstellung? Könnte es nicht sein, daß Zeit und Raum nur deshalb verschwinden, weil das Sein, das wir betrachten, eine Fiktion des Intellekts ist, ein phantastisches Nihil als Sprachschöpfung, die wir in begriffliche Wirklichkeit auszubauen versuchen? Wieder betrachten wir jenes Sein-an-sich und sagen nein. Es gibt hinter dem Phänomen nicht nur etwas Unendliches, sondern Undefinierbares. Von keinem Phänomen und von keiner Totalität von Phänomenen können wir behaupten, daß sie absolut existieren. Selbst wenn wir alle Phänomene auf ein einziges grundlegend universales Phänomen der Bewegung oder der Energie zurückführen, das keine weitere Reduktion zuläßt, erhalten wir nur ein undefinierbares Phänomen. Der eigentliche Begriff der Bewegung enthält in sich die potentielle Gegebenheit der Ruhe und verrät dadurch, daß sie Aktivität eines Seins ist. Die wahre Idee von Energie in Aktion enthält in sich die Idee von Energie, die sich der Aktion enthält. Eine absolute Energie, die nicht in Aktion ist, ist einfach und rein absolutes Sein. Wir haben nur diese Alternative: entweder ein undefinierbares reines Sein oder eine undefinierbare Energie in Aktion. Ist letztere allein wahr, ohne stabile Basis oder Ursache, dann ist Energie ein durch die allein existierende Aktion oder Bewegung erzeugtes Ergebnis oder Phänomen. Dann haben wir kein Sein, oder wir haben das Nihil der Buddhisten, bei dem das Sein nur Eigenschaft eines ewigen Phänomens, der Aktion, des Karma, der Bewegung ist. Das, so versichert die Reine Vernunft, läßt meine Wahrnehmungen unbefriedigt. Es widerspricht meinem fundamentalen Schauen, deshalb kann es nicht sein. Das führt uns empor, auf Stufen eines Aufstiegs, der zuletzt abrupt aufhört, und die ganze Treppe hängt ohne Widerlager im Leeren.

Wenn dieses undefinierbare, unendliche, zeitlose und raumlose Sein ist, dann ist es notwendig ein reines Absolutes. Es kann nicht in irgendeiner Quantität oder in viele Quantitäten summiert werden; es kann auch nicht aus einer Qualität oder aus einer Kombination von Qualitäten zusammengesetzt sein. Es ist kein Aggregat von Formen oder formales Substrat für Formen. Würden alle Formen, Quantitäten und Qualitäten verschwinden, so würde dieses Sein doch bleiben. Ein Sein ohne Quantität, ohne Qualität und ohne Form ist nicht nur begrifflich denkbar, es ist das einzige, das wir hinter diesen Phänomenen begreifen können. Notwendigerweise meinen wir, wenn wir sagen, es sei ohne diese Eigenschaften, daß es sie überragt, daß es etwas ist, in das sie auf solche Weise eingehen, daß das zu sein aufhört, was wir Form, Qualität und Quantität nennen, und daß sie aus ihm als Form, Qualität und Quantität in die Bewegung hervortreten. Sie gehen nicht in eine einzige Form, eine einzige Qualität oder eine einzige Quantität ein, die allem übrigen zugrunde liegt – denn so etwas gibt es nicht – sondern in etwas, das durch keinen dieser Begriffe definiert werden kann. So gehen alle Dinge, die Zustandsformen und Erscheinungen der Bewegung sind, in Jenes ein, aus dem sie herkamen. Dort werden sie, insoweit sie existieren, zu etwas, das nicht mehr mit den Begriffen beschrieben werden kann, die für sie in der Bewegung zutreffen. Darum sagen wir, das reine Sein ist ein Absolutes. Es ist an sich selbst durch unser Denken unerkennbar, obwohl wir in höchster Identität, die über die Begriffe der Erkenntnis hinausgeht, in es zurücktreten können. Im Gegensatz dazu ist die Bewegung das Feld des Relativen. Doch enthalten nach der eigentlichen Definition des Relativen alle Dinge in der Bewegung in sich das Absolute, sie sind in Ihm enthalten, und sie sind das Absolute. Die vom Vedanta gegebene Illustration, die diese Identität in ihrem Unterschied zum Absoluten und Relativen am nächsten darstellt, ist die Beziehung der Phänomene der Natur zum fundamentalen Äther, der in ihnen enthalten ist, sie konstituiert, sie in sich enthält und doch so verschieden von ihnen ist, daß sie, wenn sie in ihn eingehen, das zu sein aufhören, was sie jetzt sind. Wenn wir von Dingen sagen, sie kehren in das zurück, aus dem sie kamen, verwenden wir notwendigerweise die Sprache unseres Zeit-Bewußtseins und müssen uns dabei vor seinen Illusionen hüten. Das Hervortreten der Bewegung aus dem Unbeweglichen ist ein ewiges Phänomen. Unsere Begriffe und Wahrnehmungen sind nur deshalb gezwungen, dieses Phänomen in eine zeitliche Ewigkeit von aufeinanderfolgender Dauer zu versetzen – womit die Ideen von immer wiederkehrenden Anfang, Mitte und Ende verbunden sind weil wir es uns nicht in jenem anfang- und endlosen, immer-neuen Augenblick vorstellen können, der die Ewigkeit des Zeitlosen ist.

Man könnte einwenden, dies alles sei nur so lange gültig, als wir die Begriffe der Reinen Vernunft akzeptieren und ihnen unterworfen bleiben. Die Begriffe der Vernunft hätten aber keine zwingende Kraft. Wir dürften das Sein nicht durch das beurteilen, was wir mental begreifen, sondern durch das, was wir als seiend sehen. Die reinste, freieste Form der Einsicht in das Dasein, wie es ist, zeige uns nichts als Bewegung. Es existieren nur zwei Dinge, Bewegung im Raum und Bewegung in der Zeit, wobei die erstere objektiv, die letztere subjektiv ist. Ausdehnung ist wirklich, Dauer ist wirklich, Raum und Zeit sind etwas Wirkliches. Selbst wenn wir hinter die Ausdehnung im Raum zurücktreten und diese als psychisches Phänomen wahrnehmen könnten, als einen Versuch des Mentals, das Dasein praktisch handhabbar zu machen, daß wir das unzertrennbare Ganze auf einen begrifflichen Raum verteilen, könnten wir doch nicht hinter die Bewegung von Aufeinanderfolge und Wechsel in der Zeit zurücktreten. Denn diese sei der eigentliche Stoff unseres Bewußtseins. Wir und die Welt seien eine Bewegung, die dauernd vorwärtsschreitet und sich dadurch vermehrt, daß sie alle Aufeinanderfolgen der Vergangenheit in ein Gegenwärtiges einbezieht, das sich uns wieder als den Anfang aller Aufeinanderfolgen der Zukunft darstellt – ein Beginnen, ein Gegenwärtiges, das sich uns immer wieder entzieht, weil es nicht ist, denn es ist schon vergangen, bevor es geboren wird. Was ist, sei die ewige unteilbare Aufeinanderfolge der Zeit, die auf ihrem Strom eine progressive Bewegung von Bewußtsein trage, das auch unteilbar sei.1 Dauer also, ewig aufeinanderfolgende Bewegung und Wechsel in der Zeit, sei das einzige Absolute. Werden sei das einzige Sein.

In Wirklichkeit ist dieser Gegensatz zwischen tatsächlicher Einsicht in das Sein und begrifflichen Fiktionen der Reinen Vernunft trügerisch. Wenn in dieser Sache Intuition wirklich im Gegensatz zu Intelligenz stünde, könnten wir nicht ein rein begriffliches Vernunftdenken gegen fundamentale Einsicht vertrauensvoll unterstützen. Aber diese Berufung auf die intuitive Erfahrung ist unvollständig. Sie ist nur insoweit gültig, als sie fortschreitet, und irrt dort, wo sie kurz vor der vollständigen Erfahrung Halt macht. Solange sich die Intuition nur an das klammert, was wir werden, sehen wir uns in dauerndem Vorwärtsschreiten von Bewegung und Wechsel des Bewußtseins in der ewigen Aufeinanderfolge von Zeit. Wir sind der Strom, die Flamme in der Bildsprache des Buddhismus. Es gibt aber eine höchste Erfahrung und höchste Intuition, durch die wir hinter das Ich unserer Außenseite zurücktreten und finden, daß dieses Werden, dieser Wechsel und diese Aufeinanderfolge nur die äußere Erscheinung unseres Wesens sind und daß es Jenes in uns gibt, das überhaupt nicht in das Werden involviert ist. Wir können nicht nur die Intuition von diesem Etwas haben, das stabil und ewig in uns ist, können nicht nur in der Erfahrung einen flüchtigen Blick werfen hinter den Schleier der ständig dahinflutenden Erscheinungen des Werdens, sondern wir können uns auch dorthin zurückziehen und ganz in ihm leben. Dadurch bewirken wir eine völlige Wandlung in unserem äußeren Leben, in unserer Haltung gegenüber der Bewegung der Welt und in unserer Einwirkung auf sie. Die Stabilität, in der wir so leben können, ist genau das, was die Reine Vernunft uns bereits gegeben hat, obwohl man auch ohne das Vernunftdenken dahin gelangen kann und ohne im voraus zu wissen, was es ist: Es ist reines Sein, ewig, unendlich, undefinierbar, frei von den Einwirkungen der Aufeinanderfolge der Zeit, nicht involviert in die Ausdehnung des Raums, jenseits von Form, Quantität und Qualität. Es ist das Selbst, allein und absolut.

Das reine Sein ist also eine Tatsache und kein bloßer Begriff. Es ist die fundamentale Wirklichkeit. Wir wollen aber sofort hinzufügen: Bewegung, Energie, Werden sind ebenso Tatsache und Wirklichkeit Die höchste Intuition und die ihr entsprechende Erfahrung mögen die andere korrigieren, darüber hinausgehen, ja sie auch suspendieren; aber sie schaffen sie nicht ab. Wir haben also zwei fundamentale Tatsachen des reinen Seins und des Welt-Daseins, eine Tatsache des Seins und eine Tatsache des Werdens. Die eine oder die andere zu bestreiten, ist leicht. Die Tatsachen des Bewußtseins anzuerkennen und ihre Beziehungen zueinander zu entdecken, ist die wahre, fruchttragende Weisheit.

Wir müssen uns daran erinnern, daß Stabilität und Bewegung nur unsere psychischen Repräsentationen des Absoluten sind, wie das auch bei Einheit und Vielheit der Fall ist. Das Absolute steht jenseits von Stabilität und Bewegung, ebenso jenseits von Einheit und Vielfalt. Es hat seinen ewigen Stand der Ruhe in dem Einen und Stabilen, aber es wirbelt um sich selbst unendlich, unfaßbar, sicher in der Bewegung und vielfältig. Welt-Dasein ist der ekstatische Tanz Shivas, der den Körper des Gottes vor den Augen des Schauenden zahllos vervielfältigt: er beläßt aber jenes farblos-weiße Sein genau dort, wo und was es war, immer ist und ewig sein wird. Sein einziger absoluter Zweck ist die Freude am Tanz.

Da wir aber das Absolute an sich weder beschreiben noch ausdenken können, jenseits von Stabilität und Bewegung, jenseits von Einheit und Vielheit, und da uns das auch nicht zusteht, müssen wir die doppelte Tatsache annehmen und beide, Shiva und Kali, anerkennen. Wir müssen zu erkennen suchen, was diese unermeßliche Bewegung in Zeit und Raum im Blick auf jenes zeitlose und raumlose Reine Sein ist, das Eine und Stabile, auf das Meßbarkeit und Unmeßbarkeit unanwendbar sind. Wir haben gesehen, was Reine Vernunft, Intuition und Erfahrung über das Reine Sein, über sat zu sagen haben. Was haben sie aber über die Kraft, die Bewegung, über shakti zu sagen?

Als erstes haben wir uns zu fragen: Ist diese Kraft einfach nur Kraft, nur intelligenzlose Bewegungsenergie? Oder ist das Bewußtsein, das aus ihr in diese materielle Welt, in der wir leben, hervorzutreten scheint, nicht allein eines ihrer phänomenalen Resultate, vielmehr ihre eigene wahre und geheime Natur? In Begriffen des Vedanta: ist diese Kraft einfach prakriti, nur eine Bewegung von Kraftwirkung und Verfahren, oder ist prakriti in Wirklichkeit eine Macht von chit, ihrer Natur nach eine Kraft schöpferischer Selbstbewußtheit? Um die Lösung dieses wesentlichen Problems dreht sich alles übrige.

 

1 Unteilbar in der Totalität der Bewegung. Jeder Augenblick von Zeit und von Bewußtsein mag als gesondert von seinem Vorgänger und Nachfolger angesehen werden, jede auf die vorhergehende folgende Aktion von Energie als ein neues Quantum oder als eine neue Schöpfung. Das hebt aber die Kontinuität nicht auf, ohne die es keine Dauer in der Zeit und keinen Zusammenhang des Bewußtseins gäbe. Ob ein Mensch geht, rennt oder Sprünge macht, seine Schritte sind zwar stets voneinander getrennt, aber es ist etwas vorhanden, das die Schritte unternimmt und die Bewegung zusammenhängend macht.

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