Sri Aurobindo
Das Göttliche Leben
Buch 1I
Kapitel XXIV. Die Entwicklung des spirituellen Menschen
Genauso wie die Menschen zu Mir kommen, so nehme Ich sie an. Es ist mein Pfad, dem die Menschen von allen Seiten folgen . . . Welche Form der Anbetende auch wählt, um gläubig zu verehren, ich bestärke in ihm den Glauben an sie, und mit diesem Glauben legt er sein Sehnen in seine Anbetung und empfängt er von mir die Erfüllung seines Verlangens. Begrenzt ist aber diese Frucht. Jene Verehrenden, deren Opfer den Göttern, den Elementargeistern dargebracht wird, kommen zu den Göttern, den Elementargeistern. Jene aber, deren Opfer Mir dargebracht wird, sie gelangen zu Mir.
Gita, IV. 11; VII. 21-23.
In diesen gibt es nicht das tiefe Erstaunen und die Macht. Die verborgenen Wahrheiten existieren nicht für den Verstand der Unwissenden.
Rig Veda, VII. 61.5.
Wie ein Seher, der die verborgenen Wahrheiten und ihre Entdeckungen des Wissens herausarbeitet, brachte er die sieben Werkleute des Himmels ins Dasein. Im Licht des Tages sprachen sie und erwirkten die Dinge ihrer Weisheit.
Rig Veda, IV. 16. 3.
Seher-Weisheiten, geheime Worte, die dem Seher ihre Bedeutung verraten.
Rig Veda, IV. 3.16.
Niemand weiß um ihre Geburt. Sie wissen nur die Art ihrer Erzeugung voneinander: Aber der Weise nimmt diese verborgenen Mysterien wahr, gerade das, was die Große Göttin, die vielfarbene Mutter, als die Brust ihres Wissens trägt.
Rig Veda, VII. 56.2,4.
Zur Gewißheit wurde ihnen, die geläutert sind in ihrem Wesen, die Bedeutung des höchsten spirituellen Wissens.
Mundaka Upanishad, III. 2.6.
Er ringt mit diesen Mitteln und besitzt das Wissen: In ihm tritt dieser Geist ein in seinen höchsten Zustand... Zufrieden im Wissen haben sie, die Weisen, ihr spirituelles Wesen aufgebaut in Einung mit dem spirituellen Selbst. Sie erlangen den Allgegenwärtigen überall und gehen ein in das All.
Mundaka Upanishad, III. 2.4,5.
Auf den frühesten
Stufen der evolutionären Natur stehen wir vor dem dumpfen Geheimnis ihrer
Unbewußtheit. Nichts offenbart hier einen Sinn oder eine Absicht in ihren
Werken. Es gibt keine Andeutung irgendwelcher anderen Prinzipien des Seienden
als jene erste Formulierung, mit der sie sich unmittelbar und ausschließlich
befaßt und die auch für immer ihre einzige Beschäftigung zu sein scheint: Denn
in ihrem ursprünglichen Wirken tritt allein Materie in Erscheinung, die einzige
dumpfe, gewaltige kosmische Wirklichkeit. Hätte es einen Zeugen der Schöpfung
gegeben, der bewußt aber uneingeweiht war, er hätte nur beobachtet, wie aus
einem unermeßlichen Abgrund scheinbaren Nicht-Seins eine Energie auftauchte, die
sich mit der Erschaffung von Materie befaßte, mit einer materiellen Welt und
materiellen Gegenständen. Sie ordnete die Unendlichkeit des Unbewußten in den
Plan eines grenzenlosen Universums, in ein System zahlloser Welten ein, die sich
rings um ihn ohne ein gewisses Ende, ohne Begrenzung im Raum ausdehnten.
Unermüdlich erschuf sie Nebel oder Haufen von Sternen, Sonnen und Planeten. Sie
existierte für sich allein, ohne Sinn, leer von Ursache und Absicht. Ihm wäre
das Ganze als ein gewaltiger nutzloser Mechanismus erschienen, als mächtige
bedeutungslose Bewegung, als Schauspiel von Äonen ohne Zeugen, als kosmisches
Gebäude ohne Bewohner. Denn er hätte kein Anzeichen eines innewohnenden Geistes
gesehen, kein Wesen, zu dessen Freude das erschaffen wurde. Eine Schöpfung
dieser Art konnte nur das Ergebnis einer unbewußten Energie sein; oder ein
Lichtspieltheater der Illusionen, ein Schattenspiel, ein Puppenspiel von
Gestalten, die von einem überbewußten indifferenten Absoluten reflektiert
werden. Er hätte keinen Beweis für das Dasein einer Seele, keine Andeutung von
Mental oder Leben in dieser unermeßlichen, unbegrenzbaren Entfaltung von Materie
gesehen. Es wäre ihm als unmöglich oder unvorstellbar erschienen, daß in dieses
wüste, für immer unbelebte, empfindungslose Weltall wimmelndes Leben
hervorbrechen würde, eine erste Schwingung von etwas Okkultem und
Unberechenbarem, das lebendig und bewußt ist, eine geheime spirituelle
Wesenheit, die sich ihren Weg an die Oberfläche ertastet.
Hätte er aber einige Äonen später wieder einmal auf
dieses sinnlose Panorama geschaut, er könnte dann zumindest in einer kleinen
Ecke des Universums dieses Phänomen entdeckt haben, einen Fleck, wo die Materie
zubereitet, ihre Entwicklung genügend gesichert, organisiert, stabilisiert und als Schauplatz für eine neue Entwicklung hergerichtet
war: die Erscheinung lebender Materie, Leben in den Dingen, das hervortrat und
sichtbar wurde. Trotzdem hätte der Beobachter noch nichts davon verstanden, denn
die evolutionäre Natur verhüllt noch ihr Geheimnis. Er würde eine Natur gesehen
haben, die nur damit befaßt war, diesen Ausbruch von Leben, diese neue Schöpfung
gesichert zu erhalten. Das Leben schien aber ohne Bedeutung in sich, nur für
sich selbst zu leben, – eine Schöpfermacht, die nach Laune und in
unerschöpflicher Fülle damit beschäftigt ist, den Samen ihrer neuen Kraft
auszustreuen und in einem schönen, verschwenderischen Überfluß eine Menge ihrer
Formen gesichert zu erhalten oder später Gattung und Art aus reiner Freude am
Erschaffen endlos zu vermehren: als ob ein kleiner Tupfen lebensvoller Farbe und
Bewegung in die ungeheuere kosmische Wüste gespritzt worden wäre, sonst nichts.
Der Beobachter hätte sich nicht vorstellen können, daß ein denkendes Mental auf
dieser winzigen Insel von Leben erscheinen würde, ein Bewußtsein im Unbewußten
erwachen könnte; eine neue intensive subtile Schwingung an die Oberfläche kommen
und das Dasein des in der Tiefe versunkenen Geistes deutlicher verraten würde.
Er hätte zuerst den Eindruck gewonnen, das Leben sei zunächst nur irgendwie
seiner selbst gewahr geworden, und das sei alles. Denn dieses kärgliche
neugeborene Mental schien nur ein Diener des Lebens zu sein, eine Erfindung, um
dem Leben leben zu helfen, ein Mechanismus zu seiner Erhaltung, eine Waffe zum
Angriff und zur Verteidigung, eine Unterstützung für bestimmte Bedürfnisse und
vitale Befriedigungen, ein Helfer, um Lebens-Instinkt und Lebens-Implus
freizusetzen. Ihm konnte es gar nicht als möglich erscheinen, daß in diesem
kleinen Leben, das so unauffällig inmitten der Unermeßlichkeiten vegetierte, in
einer einzigen Art aus einer winzigen Menge ein mentales Wesen hervortreten
würde: ein Mental, das zwar noch dem Leben dient, das aber auch das Leben und
die Materie zu seinen Dienern macht, das sie verwendet zur Erfüllung seiner
eigenen Ideen, seines Willens, seiner Wünsche; ein mentales Wesen, das
Gebrauchsgegenstände, Werkzeuge und Instrumente aller Art aus der Materie
erschaffen würde, um sie für vielerlei nützliche Zwecke zu verwenden; das aus
ihr Städte, Häuser, Tempel, Theater, Laboratorien, Fabriken errichten würde; das
Statuen aus ihr meißelt, Höhlenkathedralen heraushaut, Architektur, Skulptur,
Malerei, Dichtung und Hunderte von Handwerken und Künsten
erfindet; das die Mathematik und Physik des Universums und das
verborgene Geheimnis seiner Struktur entdeckt; das um des Mentals willen und für
seine Interessen, für das Denken und für das Wissen lebt; das sich in den
Denker, den Philosophen, den Wissenschaftler entwickelt und das in erhabener
Verachtung der Herrschaft der Materie in sich die verborgene Gottheit erweckt
und zum Abenteurer wird, der nach dem Unsichtbaren jagt, zum Mystiker, zum
spirituell Suchenden.
Wenn aber der Beobachter nach mehreren Zeitaltern oder
Zyklen wieder zugeschaut und dieses Wunder in seinem vollen Ablauf gesehen
hätte, würde er vielleicht auch dann den Vorgang noch nicht verstanden haben, da
er durch seine ursprüngliche Erfahrung, allein die Materie sei im Universum
wirklich, im Dunkeln gehalten wird. Es würde ihm immer noch als unmöglich
vorkommen, daß der verborgene Geist hervortritt und in seinem Bewußtsein ganz
auf der Erde wohnt als der, der sein Selbst und die Welt erkennt und die Natur
beherrscht und besitzt. Er würde sagen: “Unmöglich! Was da alles vor sich ging,
ist nicht viel; ein wenig Pulsieren der sensitiven grauen Gehirnmasse; eine
verrückte Laune in einem bißchen unbelebter Materie, das sich auf einem kleinen
Fleck im Universum bewegt.” Dagegen würde ein neuer Beobachter, der am Ende der
Geschichte hinzukommt, der von den vergangenen Entwicklungen unterrichtet und
unvoreingenommen ist durch die Täuschungen des Anfangs, ausrufen: “Das also war
das beabsichtigte Wunder, das letzte von vielen, – der Geist, der in die
Unbewußtheit untergetaucht war, ist aus ihr hervorgebrochen und bewohnt jetzt
unverhüllt die Form der Dinge, die er, verhüllt, zu seinem Wohnsitz und zum
Schauplatz seines Hervortretens erschaffen hatte.” In der Tat könnte ein noch
bewußterer Beobachter schon zu einem früheren Zeitpunkt der Entfaltung, gar bei
jedem Schritt ihres Verlaufes, den Schlüssel zur Lösung entdeckt haben. Denn auf
jeder Stufe nimmt das stumme Geheimnis der Natur, auch wenn es immer noch da
ist, ab. Es wird ein Hinweis auf den nächstfolgenden Schritt gegeben; eine
offenkundigere bedeutsame Vorbereitung wird sichtbar. Schon in dem, was im Leben
unbewußt zu sein scheint, kommen Anzeichen eines Empfindens an die Oberfläche
und werden sichtbar. Im Leben, das sich bewegt und atmet, ist das Hervortreten
eines sensitiven Mentals erkennbar. Die Vorbereitung für ein denkendes Mental
ist nicht völlig verborgen. Schon während der Entwicklung des denkenden Mentals
erscheinen dort auf einer frühen Stufe die Äußerungen eines primitiven Ringens und später eines entwickelten Suchens nach
spirituellem Bewußtsein. Wie das Pflanzenleben in sich die dunkle Möglichkeit
des bewußten Tiers enthält, wie sich im Tier-Mental die Regungen von Gefühl und
Wahrnehmung und die primitiven Begriffe andeuten, die die erste Grundlage für
den Menschen, den Denker, bilden, so wird der Mensch, das mentale Wesen, durch
das Bemühen der evolutionären Energie so verfeinert, daß sich aus ihm der
spirituelle Mensch, das völlig bewußte Wesen entwickeln kann. Das ist der
Mensch, der über sein erstes materielles Selbst hinausgekommen ist, der
Entdecker seines wahren Selbsts und seiner höchsten Natur.
Nimmt man dies als die Absicht in der Natur an, so
erheben sich sofort zwei Fragen, die eine endgültige Antwort verlangen: erstens
nach der genauen Art, wie sich der Übergang vom mentalen zum spirituellen Wesen
vollzieht; zweitens, sobald dies geklärt ist, nach Hergang und Methode der
Entwicklung des spirituellen aus dem mentalen Menschen. Auf den ersten Blick
könnte es als evident erscheinen, daß jede Stufe nicht nur aus der ihr
vorausgehenden, sondern in dieser hervortritt. So taucht Leben in der Materie
auf und wird in seinem Selbst-Ausdruck weithin durch seine materiellen
Bedingungen begrenzt und bestimmt. So tritt Mental in einem Leben-in-der-Materie
auf und wird ähnlich in seinem Selbst-Ausdruck durch die vitalen und materiellen
Bedingungen begrenzt und bestimmt. Ebenso müsse in einem im Leben-in-der-Materie
verkörperten Mental Geist auftauchen und weithin durch die mentalen Bedingungen
begrenzt und bestimmt sein, in denen er, wie dieses die vitalen und materiellen
Bedingungen seines Daseins hier, seine Wurzeln hat. Man könnte sogar behaupten,
die spirituelle Evolution in uns sei, wenn es eine solche Evolution in uns
gegeben hat, nichts als ein Teil der mentalen Evolution, eine besondere Funktion
der menschlichen Mentalität. Das spirituelle Element sei keine besonders
ausgezeichnete oder getrennte Wesenheit und könne kein unabhängiges
Hervortreten, keine supramentale Zukunft haben. Das mentale Wesen könne ein
spirituelles Interesse oder eine besondere Vorliebe dafür entfalten und als
Folge davon ebensogut eine spirituelle wie eine intellektuelle Mentalität
entwickeln, eine wundersame Seelen-Blüte seines mentalen Lebens. Das Spirituelle
könne in manchen Menschen ebenso zu einer vorherrschenden Neigung Werden, wie es
in anderen eine vorherrschende künstlerische oder pragmatische Neigung gebe. So
etwas wie ein spirituelles Wesen, das die
mentale Natur in die spirituelle empornehme und in sie verwandle, könne es
jedoch nicht geben. Möglich sei lediglich die Entwicklung eines neuen und
möglicherweise feineren und selteneren Elements im mentalen Wesen. Das ist es
also, was man nun deutlich herausstellen muß: den Unterschied zwischen dem
Spirituellen und dem Mentalen, die Art dieser Entwicklung und die Faktoren, die
sie ermöglichen und so unvermeidlich machen, daß es zu diesem Hervortreten des
Geistes in seinem wahren, besonderen Charakter kommen muß, so daß er nicht mehr,
wie er es jetzt großenteils in seinem Wirken ist oder in seiner Art des
Sichtbarwerdens zu sein scheint, eine untergeordnete oder vorherrschende
Gestaltung unserer Mentalität ist, sondern sich als eine neue Macht erweist, die
schließlich die mentale Seite überhöhen und statt ihrer der Lenker des Lebens
und der Natur wird.
Es ist wohl wahr, oberflächlicher Betrachtung scheint
Leben nur ein Produkt der Aktivität von Materie, das Mental ein solches von
Leben zu sein. Daraus könnte folgen, was wir Seele oder Geist nennen, sei nur
eine Macht der Mentalität, Seele eine feinere Form von Mentalität, Spiritualität
eine höhere Aktivität des verkörperten mentalen Wesens. Das ist aber eine
oberflächliche Betrachtung der Dinge, dadurch verursacht, daß sich das Denken
auf die äußere Erscheinung und den Ablauf der Vorgänge konzentriert und nicht
auf das schaut, was hinter den Vorgängen steht. Im gleichen Sinn könnte man
ebensogut zu dem Schluß kommen, Elektrizität sei nur Produkt oder Wirkform von
Wasser und Wolkenmaterie, weil aus solch einem Kräftefeld ein Blitz entsteht.
Eingehendere Untersuchung hat uns aber das Gegenteil gezeigt, daß beides, Wolke
und Wasser, die elektrische Energie zur Grundlage, als die sie konstituierende
Macht oder Energie-Substanz haben: Was Ergebnis zu sein scheint, ist – in
Wirklichkeit, wenn auch nicht seiner Form nach – Ursprung. Die Wirkung geht in
der Essenz der scheinbaren Ursache, das Prinzip der hervorgetretenen Aktivität
seinem gegenwärtigen Wirkungsfeld voraus. So ist es durchweg in der
evolutionären Natur. Die Materie hätte nicht belebt werden können, wäre nicht
das Lebens-Prinzip dagewesen, die Materie zu konstituieren und als das Phänomen
eines Lebens-in-der-Materie hervorzutreten. Leben-in-Materie hätte nicht
anfangen können, zu fühlen, wahrzunehmen, zu denken, Vernunft zu entfalten,
hätte nicht das Mental-Prinzip hinter Leben und Substanz gestanden und diese als
sein Betätigungsfeld konstituiert, um im
Phänomen eines denkenden Lebens und Körpers hervorzutreten. So ist auch die im
Mental in Erscheinung tretende Spiritualität der Hinweis auf eine Macht, die
selbst Leben, Mental und Körper begründet und aufgebaut hat und jetzt als
spirituelles Wesen in einem lebenden und denkenden Körper hervortritt. Wie weit
dieses Hervortreten gehen wird, ob es vorherrschend wird und sein Instrument
transformiert, ist eine spätere Frage. Notwendig ist aber, daß wir in erster
Linie feststellen: Das Sein des Geistes ist etwas anderes als das Mental und
größer als dieses. Spiritualität ist etwas anderes als Mentalität. Das
spirituelle Wesen ist deshalb etwas vom mentalen Wesen Unterschiedenes: Geist
tritt als etwas Endgültiges in der Evolution hervor, weil er das ursprüngliche
Element und Bewirkende der Involution ist. Evolution ist eine umgekehrte Aktion
der Involution. Was in der Involution Unterstufe und zuletzt abgeleitet ist, muß
in der Evolution als erstes sichtbar werden. Was in der Involution das
Ursprüngliche und Grundprinzip ist, tritt in der Evolution als Letztes und
Höchstes hervor.
Ferner gilt, daß es für das Mental des Menschen
schwierig ist, die Seele oder das Selbst oder sonst ein spirituelles Element in
ihm von der mentalen und vitalen Gestaltung, in der sie erscheinen, scharf zu
unterscheiden. Das trifft aber nur so lange zu, als das Hervortreten noch nicht
vollständig ist. Im Tier ist das Mental noch nicht scharf getrennt von seiner
eigenen Lebens-Prägung und -Materie. Seine Regungen sind so sehr den
Lebens-Bewegungen involviert, daß es sich noch nicht von ihnen loslösen, noch
nicht von ihnen getrennt dastehen und sie beobachten kann. Im Menschen ist aber
das Mental gesondert worden. Er kann seine mentalen Vorgänge als etwas erkennen,
das von seinen Lebens-Vorgängen unterschieden ist. Sein Denken und sein Wille
können sich von seinen Empfindungen und Impulsen, Begehren und
Gefühls-Reaktionen lösen. Sie können diesen selbständig gegenüberstehen, sie
beobachten und beherrschen, ihre Funktion bestätigen oder aufheben. Er kennt
aber die Geheimnisse seines eigenen Wesens noch nicht gut genug, um entscheidend
und gewiß seiner selbst als eines mentalen Wesens in Leben und Körper inne zu
werden. Er hat aber einen Eindruck davon und kann innerlich diese Position
einnehmen. So erscheint auch zuerst die Seele im Menschen nicht als etwas vom
Mental und mentalisierten Leben völlig Verschiedenes. Ihre Bewegungen sind den
Mental-Bewegungen involviert, ihre Wirkweisen
scheinen mentale und emotionale Aktivitäten zu sein. Das mentale menschliche
Wesen ist sich einer Seele in seinem Innern nicht bewußt, die hinter Mental,
Leben und Körper zurücktritt, sich von ihnen loslöst, ihr Wirken und ihre
Gestaltung sieht, kontrolliert und formt. Das ist aber in dem Maß, wie die
innere Entwicklung fortschreitet, genau das, was geschehen kann, muß und auch
wirklich geschieht. Es ist der lange hinausgezögerte, jedoch unausweichliche
nächste Schritt in unserer evolutionären Bestimmung. Es kann zu einem
entscheidenden Hervortreten kommen, in dem sich das Wesen vom Denken trennt und
sich in einem inneren Schweigen als der Geist im Mental schaut. Oder es sondert
sich ab von den Lebens-Bewegungen, vom Begehren, den Sensationen, kraftvollen
Impulsen und gewahrt sich als den Geist, der das Leben unterstützt. Ober es
trennt sich vom Körper-Sinn und erkennt sich als Geist, der die Materie beseelt:
So entdecken wir uns selbst als den purusha, als ein mentales Wesen, als
eine Lebens-Seele oder als ein subtiles Selbst, das den Körper trägt und erhält.
Viele Menschen halten das für eine ausreichende Entdeckung des wahren Selbsts.
In gewissem Sinn haben sie auch recht. Denn das ist das Selbst oder der Geist,
das sich so im Blick auf die Aktivitäten der Natur selbständig darstellt. Diese
Offenbarung seiner Gegenwart reicht aus, das spirituelle Element von ihnen
abzulösen. Aber die Entdeckung des Selbsts kann noch weitergehen. Sie kann sogar
jede Beziehung zu Form und Aktivität der Natur beiseite stellen. Denn man kann
diese Selbste als Repräsentanten einer göttlichen Wesenheit erkennen, der
gegenüber Mental, Leben und Körper nur Formen und Instrumente sind. Dann sind
wir die Seele, die die Natur betrachtet, alle ihre dynamischen Wirkungen in uns
erkennt, und zwar nicht durch mentale Wahrnehmung und Beobachtung, sondern durch
ein inneres Bewußtsein, dessen unmittelbares Empfinden der Dinge und
selbständige, genaue innere Schau, So wird die Seele durch ihr Hervortreten
fähig, alle Macht über unsere Natur auszuüben und sie zu verändern. Wenn im
Wesen völliges Schweigen herrscht, entweder die Stille des ganzen Wesens oder
die Stille hinter ihm, die unbeeinträchtigt bleibt von den Bewegungen der
Außenseite, können wir eines Selbsts gewahr werden, einer spirituellen Substanz
unseres Wesens, eines Seins, das umfassender ist als die Seelen-Individualität.
Es breitet sich in die Universalität aus, geht über alle Abhängigkeit von
jeglicher natürlichen Form oder Aktivität hinaus und
weitet
sich nach oben hin in eine Transzendenz, deren Grenzen nicht erkennbar sind.
Diese Befreiungen der spirituellen Seite in uns sind der entscheidende Schritt
der spirituellen Entwicklung in der Natur.
Erst durch diese entscheidenden Bewegungen wird der
wahre Charakter der Evolution deutlich erkennbar. Denn bis dahin gab es nur
vorbereitende Vorgänge, einen Druck der psychischen Wesenheit auf Mental, Leben
und Körper, um dadurch ein wahres Seelen-Wirken zu entfalten, ein Drängen des
Geistes oder des Selbsts zur Befreiung vom Ich, von der vordergründigen
Unwissenheit, eine Hinwendung des Mentals und Lebens zu einer noch verborgenen
Wirklichkeit, -vorläufige Erfahrungen, partielle Formulierungen eines
spiritualisierten Mentals, eines spiritualisierten Lebens, aber noch keine
vollständige Umwandlung und keine Wahrscheinlichkeit, daß sich die Seele oder
das Selbst ganz enthüllen oder daß eine grundsätzliche Umwandlung der Natur
eintritt. Sobald es zu einem entscheidenden Hervortreten der Seele kommt, ist
das Zeichen dafür ein uns innewohnendes Bewußtsein, das in seinem passiven
Zustand oder aktiven Wirken etwas Ursprüngliches und aus sich selbst Seiendes
ist. Es erkennt sich allein durch die Tatsache seines Wesens. Auf dieselbe Weise
erkennt es durch Identität mit sich alles, was in ihm selbst ist. Es sieht auch
immer mehr all das, was unserem Mental außerhalb zu sein scheint, auf dieselbe
Weise durch eine Bewegung von Identität oder durch ein innerlich unmittelbares
Bewußtsein, das den Gegenstand umhüllt, ihn durchdringt und in ihn eingeht. Es
entdeckt sich selbst im Gegenstand und wird in ihm einer Wirklichkeit bewußt,
die nicht Mental, Leben oder Körper ist. Es gibt also offensichtlich ein
spirituelles Bewußtsein, das etwas anderes ist als das mentale. Es bezeugt das
Vorhandensein eines spirituellen Wesens in uns, das anders ist als unsere
vordergründige Personalität. Zuerst mag sich dieses Bewußtsein aber auf einen
Zustand des Wesens beschränken, der losgelöst ist von der Aktivität unserer
unwissenden vordergründigen Natur. Es beobachtet sie, beschränkt sich auf das
Erkennen und die Betrachtung der Dinge mit einem spirituellen Sinn und einer
Schau ihres Seins. Für sein Wirken kann es immer noch von den mentalen, vitalen
und physischen Instrumenten abhängen oder ihnen erlauben, im Einklang mit ihrer
Natur zu wirken, sich selbst aber mit der Erfahrung des Selbsts, dem Erkennen
des Selbsts, einer inneren Befreiung und letztlich einer vollen Freiheit
begnügen. Es kann aber auch – und gewöhnlich tut es das
- eine gewisse Autorität auf Denken, Lebens-Bewegung und körperliches Wirken
ausüben, sie lenken und beeinflussen. Eine Kontrolle mag sie läutern, emporheben
und dadurch veranlassen, sich einer höheren und reineren Wahrheit ihres Selbsts
zuzuwenden, dieser zu gehorchen oder Instrumentation dafür zu sein, daß eine
mehr göttliche Macht oder eine erleuchtete Lenkung Einfluß gewinnt, die nicht
mental sondern spirituell ist und daran erkannt werden kann, daß sie einen
gewissen göttlichen Charakter trägt, – die Inspiration eines größeren Selbsts
oder das Gebot des Herrschers über allem Seienden, des ishvara. Die Natur
mag ebenfalls den Anregungen seitens der psychischen Wesenheit gehorchen, in
innerer Erleuchtung fortschreiten und einer inneren Lenkung folgen. Das bedeutet
schon eine beträchtliche Entwicklung und kommt zumindest auf den Anfang einer
psychischen und spirituellen Transformation heraus. Es ist aber möglich, noch
weiter zu gehen. Denn wenn das spirituelle Wesen sich einmal im Innern
freigemacht hat, kann es im Mental die höheren Zustandsformen des Wesens
entfalten, die seine eigene natürliche Atmosphäre sind. Es kann eine
supramentale Energie und Aktivität herabbringen, die dem Wahrheits-Bewußtsein
eigen sind. Dann könnten die gewöhnlichen Instrumentationen des Mentals, des
Lebens und sogar des Körpers völlig transformiert und zu Teilen unseres Wesens
werden, die nicht länger der wenn auch einigermaßen erleuchteten Unwissenheit
angehören, sondern einer supramentalen Schöpfung, die das wahre Wirken des
spirituellen Wahrheits-Bewußtseins und Wissens wäre.
Am Anfang leuchtet diese Wahrheit des Geistes und der
Spiritualität dem Mental noch nicht von selbst ein. Der Mensch wird mental
seiner Seele inne als etwas, das anders ist als sein Körper, höher als sein
normales Mental und Leben. Aber er hat von ihr noch kein klares Empfinden, er
fühlt nur einige ihrer Einwirkungen auf seine Natur. Da diese Einwirkungen aber
Mental- und Lebens-Form annehmen, wird die Trennungslinie nicht eindeutig und
scharf gezogen. Die Wahrnehmung der Seele gewinnt noch keine unterscheidbare und
gesicherte Unabhängigkeit. Ganz allgemein hält man irrtümlicherweise einen
Komplex von Teil-Wirkungen des psychischen Drucks auf die mentalen und vitalen
Schichten, ein Gebilde, das mit mentalem Bestreben und vitalem Begehren
vermischt ist, für die Seele. Genauso wird das separative Ich für das Selbst
gehalten, obwohl das Selbst in seinem wahren Wesen
sowohl allumfassend wie individuell ist. Und ebenso wird eine Mischung von
mentalem Bestreben und vitaler Begeisterung, die noch durch eine feste, erhabene
Überzeugung, Selbsthingabe oder altruistischen Eifer hochgetrieben werden, mit
Spiritualität verwechselt. Aber diese Unklarheiten und Verwirrungen sind als
vorübergehende Stufe der Evolution unvermeidlich. Weil Unwissenheit ihr
Ausgangspunkt ist und unsere anfängliche Natur prägt, muß die Entwicklung
notwendig mit unvollkommener intuitiver Wahrnehmung und instinktivem Drang oder
Suchen anfangen, ohne daß wir schon Erfahrung oder klares Wissen erworben
hätten. Unvermeidlich müssen gerade jene Formen, die die ersten Auswirkungen der
Wahrnehmung der spirituellen Entwicklung oder ihres Drängens, ihre ersten
Anzeichen sind, von solch unvollkommener oder tastender Art sein. Aber der so
entstehende Irrtum wirkt sich als starkes Hindernis für das rechte Verstehen
aus. Darum muß mit Nachdruck hervorgehoben werden: Spiritualität ist nicht hohe
Intellektualität, nicht ein Idealismus oder eine ethische Wendung des Mentals,
auch keine moralische Reinheit und Sittenstrenge; sie ist weder Religiosität
noch feuriger Enthusiasmus oder übertriebene Glut der Gefühle und nicht einmal
alle diese ausgezeichneten Dinge zusammen. Eine mentale Überzeugung, ein Dogma
oder Glaubensbekenntnis, ein hohes emotionales Streben, eine Ordnung des
Verhaltens nach einer religiösen oder ethischen Formel – das alles ist noch
keine Errungenschaft oder Erfahrung des Geistes. Für Mental und Leben sind diese
Dinge von hohem Wert. Als vorbereitende Bewegungen, die der Natur des Menschen
zu Disziplin und Reinheit oder zu einer rechten Gestaltung verhelfen, sind sie
für die spirituelle Entwicklung als solche wertvoll. Sie gehören aber noch der
mentalen Entwicklung an; spirituelle Verwirklichung, Erfahrung und Umwandlung
hat damit noch nicht angefangen. Ihrem Wesen nach ist Spiritualität ein Erwachen
zur inneren Wirklichkeit unseres Wesens, zu Geist, Seele, dem Selbst der Seele,
zu etwas, das anders ist als unser Mental, Leben und Körper. Es ist das innere
Streben, Jenes zu erkennen, zu fühlen und zu sein, in Kontakt mit der höheren
Wirklichkeit zu kommen, die jenseits von uns ist, das Universum durchdringt,
aber auch unser eigenes Wesen bewohnt, mit Ihm in Kommunion zu kommen und in
Einung mit Ihm zu sein, unser ganzes Leben hinzuwenden, umzuwandeln, zu
transformieren als Ergebnis dieses Strebens, dieses Kontakts und der Einung. Es
ist ein
Emporwachsen oder Erwachen zu einem
neuen Werden oder neuen Wesen, einem neuen Selbst und einer neuen Natur.
Tatsächlich muß die schöpferische Bewußtseins-Kraft in unserem Erdendasein eine doppelte Entwicklung in einem fast gleichzeitigen Prozeß vorwärtstreiben, wobei sie allerdings dem niedrigen Element besondere Priorität und größeren Nachdruck verleiht. Es gibt einerseits die Entwicklung unserer äußeren Natur, der Natur des mentalen Wesens in Leben und Körper. Und es gibt andererseits die Entwicklung im inneren Wesen, in unserer verborgenen subliminalen und spirituellen Natur, die nach Selbst-Offenbarung drängt, da diese Offenbarung mit dem Hervortreten des Mentals möglich wird, wenigstens ihre Vorbereitung und sogar ihr Anfang. Notwendigerweise muß aber noch für lange Zeit die größere Sorge der Natur darauf gerichtet sein, das Mental bis zur größtmöglichen Weite, Höhe und Feinheit zu entwickeln. Denn nur so kann die Enthüllung einer völlig intuitiven Intelligenz, des Übermentals, des Supramentals und der schwierige Übergang zu einer höheren Instrumentation des Geistes vorbereitet werden. Wäre es die einzige Absicht der Natur, die wesenhafte spirituelle Wirklichkeit zu offenbaren und unser Wesen in ihrem reinen Sein aufhören zu lassen, hätte dieses Drängen auf die Entwicklung des Mentals keinen Zweck. Denn der Geist kann an jedem Punkt aus der Natur wieder ausbrechen, unser Wesen von ihm absorbiert werden. Intensives Erglühen des Herzens, völliges Schweigen des Mentals, eine einzige alles verzehrende Leidenschaft des Willens würden ausreichen, um diese alles überhöhende Bewegung zustande zu bringen. Wäre die endgültige Absicht der Natur auf eine andere Welt gerichtet, würde dasselbe Gesetz wirksam. Denn überall und an jedem Punkt der Natur kann der Drang zu einer anderen Welt hin stark genug sein, um durchzubrechen, das Wirken auf der Erde zu verlassen und in eine andere spirituelle Welt einzugehen. Ist es aber ihre Absicht, das Seiende in umfassender Weise umzuwandeln, dann ist diese doppelte Entwicklung verständlich und rechtfertigt sich selbst. Denn für dieses Ziel ist sie unentbehrlich.
Das zwingt aber zu einem schwierigen und langsamen
spirituellen Fortschritt. Erstens muß das Hervortreten des Geistes bei jedem
Schritt darauf warten, daß die Instrumente zubereitet sind. Wenn dann eine
spirituelle Gestaltung auftaucht, ist sie unentwirrbar mit den Mächten,
Beweggründen und Antrieben eines unvollkommenen Mentals,
Lebens und Körpers vermischt. Ein herabziehender Zwang wird auf sie ausgeübt,
diesen Mächten, Beweggründen und Antrieben zu dienen. Eine Schwerkraft zieht sie
nach unten. Gefährliche Vermischung, ständige Versuchung bedroht sie, zu fallen
oder abzuweichen; zumindest sind das für sie Fesseln, eine schwere Bürde,
Verzögerung. Da wird es notwendig, auf eine schon vorher errungene Stufe
zurückzukehren, um etwas von der Natur heraufzuholen, das zurückblieb und
weiteren Fortschritt verhindert. Schließlich werden gerade durch die Eigenart
des Mentals, in dem Licht und Macht des Geistes zu wirken haben, diese bei ihrem
Auftauchen begrenzt und gezwungen, in Teilbereichen voranzukommen, erst der
einen, dann einer anderen Richtung zu folgen und die Vollendung in ihrer
Ganzheit entweder zu unterlassen oder auf später zu verschieben. Diese Hemmung,
dieser Widerstand von Mental, Leben und Körper, die verworrenen Leidenschaften
der Sinne des Lebens, die verdunkelnden und zweifelnden Ungewißheiten,
Verneinungen und Gegenformulierungen des Mentals, – das alles ist eine so große
und unerträgliche Behinderung, daß der spirituelle Antrieb die Geduld verliert
und diese Gegner mit aller Macht zu unterdrücken sucht. Er verleugnet das Leben,
tötet den Körper ab, bringt das Mental zum Schweigen und sucht seine eigene
Erlösung für sich allein zu erlangen. Sein Geist geht weiter in den reinen Geist
und wirft die ungöttliche und verdunkelte Natur völlig ab. Neben der hohen
Berufung, dem natürlichen Drängen des spirituellen Teils in uns, zu seinem
eigenen höchsten Element und Zustand zurückzukehren, ist diese Ansicht, die
vitale und physische Natur sei hinderlich für reine Spiritualität, ein
zwingender Grund für das Asketentum, für die Überzeugung, die Welt sei eine
Illusion, für das Streben nach einer anderen Welt, für das Drängen auf Abkehr
vom Leben und das leidenschaftliche Verlangen nach einem reinen und
unvermischten Absoluten. Der reine spirituelle Absolutismus ist eine Bewegung
des Selbsts zu seinem eigenen höchsten Selbst-Sein. Er ist aber auch für den
eigentlichen Zweck der Natur unentbehrlich. Denn ohne ihn würden die Vermischung
und die nach unten ziehende Schwerkraft das Hervortreten des Geistes unmöglich
machen. Der extreme Vertreter dieses Absolutismus, der Einsiedler, der Asket,
ist der Bannerträger des Geistes. Sein ockerfarbenes Gewand ist seine Flagge,
das Zeichen für die Absage an jeglichen Kompromiß, – wie ja tatsächlich das
Ringen um das Hervortreten des Geistes nicht durch
einen
Kompromiß beendet werden kann, sondern nur durch einen vollständigen
spirituellen Sieg und durch die bedingungslose Unterwerfung der niederen Natur.
Sei das hier unmöglich, dann müsse der Sieg eben irgendwoanders errungen werden.
Weigere sich die Natur, sich dem hervortretenden Geist unterzuordnen, dann müsse
die Seele sich aus ihr zurückziehen. So gibt es also beim Hervortreten des
Geistes diese zweifache Tendenz: einerseits den Drang, das spirituelle
Bewußtsein um jeden Preis im Wesen, sogar bis zur Verwerfung der Natur,
durchzusetzen, andererseits die Absicht der Spiritualität, sich auf alle Seiten
unserer Natur auszudehnen. Aber solange das erste noch nicht völlig erreicht
ist, kann das zweite nur unvollkommen und zögernd geschehen. Eine feste
Grundlage für das reine spirituelle Bewußtsein zu schaffen, ist das erste Ziel
in der Entwicklung des spirituellen Menschen. Dieses und das Drängen dieses
Bewußtseins, mit der Wirklichkeit, dem Selbst oder dem Göttlichen Wesen
unmittelbar in Berührung zu kommen, muß das wichtigste, bis es vollkommen
erreicht ist, sogar das einzige Anliegen des spirituellen Suchers sein. Das ist
das eine, was not tut und was von jedem Menschen in der ihm möglichen Weise und
entsprechend der in seiner Natur liegenden spirituellen Begabung getan werden
muß.
Der Weg, der bisher von der Evolution des spirituellen
Wesens durchlaufen wurde, muß von zwei Seiten her gesehen werden. Wir müssen die
von der Natur verwendeten Mittel, die Linien der Entwicklung und die von ihr
tatsächlich erreichten Erfolge im einzelnen Menschen betrachten. Bei ihrem
Versuch, das innere Wesen zu öffnen, hat die Natur vier Grundlinien verfolgt:
Religion, Okkultismus, spirituelles Denken und eine innere spirituelle
Realisation und Erfahrung. Die drei ersten sind Zugangswege; der letzte Weg
führt unmittelbar ins Innere Alle vier Mächte sind gleichzeitig aktiv geworden,
sie waren mehr oder weniger miteinander verbunden. Manchmal wirkten sie auf
verschiedene Weise zusammen. Ab und zu lagen sie miteinander im Streit. Auch
wirkten sie voneinander getrennt und unabhängig. Die Religion hat in ihrem
Ritual, Zeremoniell und den Sakramenten ein okkultes Element zugelassen. Sie hat
sich auf spirituelles Denken gestützt und aus diesem manchmal ein
Glaubensbekenntnis oder eine Theologie, manchmal die sie tragende spirituelle
Philosophie abgeleitet, – das erste ist gewöhnlich ihre Methode im Westen, das
letzte diejenige im Osten gewesen. Aber spirituelle Erfahrung ist ihr
endgültiges Ziel und die höchste Vollendung der
Religion, ihr Himmel und ihre erhabene Höhe. Die Religion hat aber auch manchmal
den Okkultismus gebannt oder ihr eigenes okkultes Element auf ein Minimum
beschränkt. Sie hat das philosophische Denken als einen trockenen,
intellektuellen Fremdling mißachtet und sich mit all ihrem Gewicht auf
Glaubenslehre und Dogma, auf pietistische Gefühlsglut und auf moralisches
Verhalten gestützt. Spirituelle Erkenntnis und Erfahrung hat sie auf ein
Mindestmaß begrenzt oder ganz darauf verzichtet. Der Okkultismus hat manchmal
das Spirituelle als sein Ziel herausgestellt und okkultes Wissen und okkulte
Erfahrung als Zugang dazu benutzt und eine Art mystischer Philosophie
formuliert. Häufiger hat er sich jedoch auf okkultes Wissen und Praktizieren
ohne jeden spirituellen Ausblick beschränkt. Er hat sich der Zauberei oder
reinen Magie zugewandt und ist sogar in Teufelskult abgeirrt. Spirituelle
Philosophie hat sich sehr oft an Religion als ihre Stütze und ihren
Erfahrungsweg angelehnt. Sie war das Ergebnis von Erkenntnis und Erfahrung oder
hat ihr Lehrgebäude als einen Zugang dazu aufgebaut. Sie hat aber auch alle
Hilfe – oder alle Behinderung – von Seiten der Religion abgelehnt und ist ihren
Weg aus eigener Kraft vorwärtsgegangen, wobei sie entweder mit mentaler
Erkenntnis zufrieden war oder darauf vertraute, ihren eigenen Weg der Erfahrung
und wirksamen Erziehung zu entdecken. Die spirituelle Erfahrung hat alle drei
Mittel zu ihrem Ausgangspunkt verwendet, hat sich aber auch ihrer aller
entledigt und allein auf ihre eigene reine Kraft verlassen: Sie hat okkulte
Erkenntnis und Mächte als gefährliche Verführungen, als Hindernisse und
Fallstricke zurückgewiesen und nach der einen Wahrheit des Geistes gesucht. Sie
hat auf die Philosophie verzichtet und kam statt dessen durch die Glut des
Herzens oder eine mystische innere Spiritualisierung an ihr Ziel. Sie ließ jede
religiöse Glaubenslehre, Gottesverehrung und religiöse Praxis hinter sich,
betrachtete sie als untergeordnete Stufe oder ersten Zugang. Sie ist darüber
hinausgegangen, hat auf all diese Hilfsmittel verzichtet und ist, dieses äußeren
Schmucks entkleidet, zur reinen unmittelbaren Berührung mit der spirituellen
Wirklichkeit gekommen. Alle diese verschiedenen Wege waren notwendig. Die Natur
hat im evolutionären Bemühen mit ihnen allen experimentiert, damit sie ihren
richtigen und ganzen Weg zum höchsten Bewußtsein und integralen Wesen findet.
Denn jede dieser
Methoden oder Zugangswege entspricht einer bestimmten Seite unseres ganzen
Wesens und darum auch einer Notwendigkeit zur Verwirklichung des vollständigen
Ziels der Evolution der Natur. Vier Dinge sind für die Selbst-Ausweitung des
Menschen notwendig, wenn er nicht das kleine und halb-kompetente Geschöpf der
kosmischen Kraft bleiben will, das er jetzt in seiner äußerlich sichtbaren Art
ist, das in seiner vordergründigen Unwissenheit in obskurer Weise nach der
Wahrheit der Dinge sucht, das nur Bruchstücke und Ausschnitte des Wissens
sammelt und systematisiert. Er muß sich selbst erkennen und alle in ihm
veranlagten potentiellen Fähigkeiten entdecken und verwenden. Um aber sich und
die Welt vollständig zu erkennen, muß er hinter sein Eigenes und dessen Äußeres
zurücktreten, tief unter seine mentale Oberfläche und die physische Außenseite
der Natur dringen. Das kann er nur durch volle Erkenntnis seines mentalen,
vitalen, physischen und psychischen Wesens, seiner Mächte und Abläufe und der
allgemein gültigen Gesetze und Prozesse des verborgenen Mentals und Lebens, die
hinter der materiellen Vorderseite des Universums stehen. Das ist das Feld des
Okkultismus, wenn wir das Wort in seiner weitesten Bedeutung nehmen. Er muß so
auch die verborgene Macht oder die Mächte kennenlernen, die die Welt
beherrschen: Wenn es ein kosmisches Selbst, einen Geist oder Schöpfer gibt, muß
der Mensch fähig sein, mit dieser Macht oder dieser Person in Beziehung zu
treten und in jedem möglichen Kontakt, jeder Kommunion mit Ihm bleiben können.
Er muß zu einer Art von Harmonie gelangen mit den Meister-Wesen des Universums
oder mit dem Allumfassenden Wesen und seinem allumfassenden Willen oder mit
einem Höchsten Wesen und Seinem erhabenen Willen. Er soll dem Gesetz folgen, das
Es ihm gibt, dem ihm zubemessenen oder offenbarten Ziel seines Lebens und
Verhaltens. Er soll sich zu den höchsten Höhen dessen emporheben, das Es von ihm
in seinem jetzigen Leben oder in seiner Existenz danach verlangt. Gibt es aber
keinen solchen universalen oder erhabenen Geist, kein solches Wesen, dann muß er
wissen, was es eigentlich gibt und wie er sich aus seiner gegenwärtigen
Unvollkommenheit und Ohnmacht dorthin emporschwingen kann. Zu diesem Ziel führt
der Weg der Religion: Ihre Absicht ist, das menschliche Wesen mit dem Göttlichen
Wesen zu verknüpfen und dadurch Denken, Leben und Fleisch so zu verfeinern, daß
sie die Herrschaft der
Seele und des Geistes
anerkennen. Dieses Erkennen muß aber mehr sein als eine Glaubenslehre oder eine
mystische Offenbarung. Das denkende Mental des Menschen soll fähig sein, das
Wissen mit dem Prinzip der Dinge und mit der beobachteten Wahrheit des
Universums in Beziehung zu setzen: das ist das Werk der Philosophie. Im Bereich
der Wahrheit des Geistes kann das nur von einer spirituellen Philosophie
geleistet werden, sei sie in ihrer Methode intellektuell oder intuitiv. Alle
Erkenntnis und alles Mühen darum kann aber nur dann Frucht tragen, wenn sie in
Erfahrung umgewandelt wird und zu einem Teil des Bewußtseins und zu seinen
gesicherten Wirkweisen geworden ist. Im spirituellen Bereich muß sich
schließlich all dieses religiöse, okkulte oder philosophische Erkennen und
Ringen, wenn es Frucht tragen soll, für das spirituelle Bewußtsein öffnen, für
Erfahrungen, die dieses Bewußtsein begründen, ständig erhöhen, ausweiten und
bereichern und die ein Leben und Wirken aufbauen, das in Übereinstimmung mit der
Wahrheit des Geistes steht. Das ist das Werk spiritueller Erkenntnis und
Erfahrung.
Naturgemäß muß jede Evolution zuerst durch langsame
Entfaltung vorwärtsgehen. Denn jedes neue Prinzip, das seine Mächte zur
Entwicklung bringt, muß seinen Weg aus einer Involution in die Unbewußtheit und
Unwissenheit herausfinden. Es hat die schwierige Aufgabe, sich aus der
Involution herauszureißen, aus dem festen Griff der Verfinsterung durch das
ursprüngliche Medium, gegen das Herabziehen und Zurückzerren, die instinktive
Opposition und den Widerstand der Unbewußtheit und die behindernde Vermischung
und blinden starrsinnigen Verzögerungen durch die Unwissenheit. Die Natur bejaht
zuerst ein vages Drängen und eine Tendenz, die ein Zeichen dafür ist, daß die
okkulte, subliminale, versunkene Wirklichkeit nach außen drängt. Da gibt es
kleine, halb-unterdrückte Andeutungen dessen, was sein soll, unvollkommene
Anfänge, primitive Elemente, rudimentäre Erscheinungen, winzige, unbedeutende,
kaum erkennbare Wirkungsquanten. Danach erscheinen kleine oder große
Gestaltungen. Eine eher charakteristische und leichter erkennbare Qualität zeigt
sich immer mehr, zuerst partiell, hier und dort, in geringer Intensität, dann
lebendiger und gestaltungskräftiger. Schließlich kommt es zu einem
entscheidenden Hervortreten, zu einer Umkehr des Bewußtseins, zum Anfang der
Möglichkeit einer radikalen Umwandlung. Es muß aber noch in jeder Hinsicht viel
getan werden. Ein langes und schwieriges Wachsen
zur Vollkommenheit steht dem evolutionären Bemühen bevor. Nicht nur muß alles
bisher Geleistete bestätigt und gegen Rückfall und die nach unten ziehende
Schwerkraft, gegen Versagen und Vernichtung abgesichert werden. Das Bewußtsein
muß auch in allen Bereichen seiner Möglichkeiten aufgeschlossen werden für die
Vollständigkeit all dessen, was der Mensch erreichen kann, für die höchste Höhe,
die Feinheit, die Reichtümer und für seine Weite. Es soll alles beherrschen,
alles umfassen und alles einbeziehen. Überall geht die Natur auf dieselbe Weise
vor. Wenn wir das mißachten, verfehlen wir die Absicht in ihrem Wirken und gehen
selbst im Irrgarten ihrer Verfahrensweisen verloren.
Dieser Prozeß hat in der Entwicklung der Religion im
menschlichen Mental und Bewußtsein stattgefunden. Was sie für die Menschheit
geleistet hat, kann nur verstanden und recht gewürdigt werden, wenn wir die
Bedingungen des Entwicklungsprozesses und ihre Notwendigkeit nicht übersehen.
Offensichtlich müssen die ersten Anfänge der Religion primitiv und unvollkommen
gewesen sein. Ihre Entwicklung wurde durch Beimischungen, Irrtümer,
Zugeständnisse an das menschliche Mental und die vitale Seite behindert, die oft
von nicht-spiritueller Art gewesen sein mögen. Da können sich dann unwissende,
schädliche, ja, verhängnisvolle Elemente einschleichen, die zu Irrtum und bösen
Folgen führen. In den religiösen Bereich dringen leicht negative Elemente
dergestalt ein, daß sie die Religion ihres höheren spirituellen Ziels und wahren
Charakters berauben: der Dogmatismus des menschlichen Mentals, seine
selbstherrliche Enge, seine Intoleranz und sein herausfordernder Egoismus, seine
Gebundenheit an begrenzte Wahrheiten und seine noch größere Neigung zu seinen
Irrtümern, oder die Gewalttätigkeit, der Fanatismus, die militante,
unterdrückende Selbst-Behauptung des Vitals, dessen heimtückisches Einwirken auf
das Mental, um dessen Zustimmung zu den eigenen Begierden und Gelüsten zu
erhalten. Hinter dem Namen der Religion mag sich viel Unwissenheit verbergen. Es
mögen viele Irrtümer und auch der Aufbau von ausgedehnten falschen Institutionen
zugelassen worden sein. Selbst viele Verbrechen und Vergehen gegen den Geist
sind vorgekommen. Aber diese verworrene Geschichte gehört zu jedem menschlichen
Bemühen. Wenn man das gegen die Wahrheit und Notwendigkeit der Religion
aufrechnen wollte, müßte man es auch der Wahrheit und Notwendigkeit jeder
anderen Form des Ringens der Menschheit
ankreiden, gegen alles Wirken des Menschen, gegen seine Ideale, sein Denken,
seine Kunst, seine Wissenschaft. Die Religion hat selbst ihre Ablehnung dadurch
herausgefordert, daß sie den Anspruch erhob, sie könne durch eine göttliche
Autorität, durch Inspiration, sakrosankte, unfehlbare Souveränität, die ihr von
oben verliehen sei, über die Wahrheit entscheiden. Sie suchte sich dem
menschlichen Denken, Fühlen und Verhalten aufzuzwingen, ohne Widerspruch oder
Fragen zu erlauben. Das ist ein übertriebener und unreifer Anspruch. Er wurde
der religiösen Idee irgendwie durch den zwingenden, absoluten Charakter der
Inspirationen und Erleuchtungen aufgenötigt, die ihr Garant und ihre
Rechtfertigung sind. Dazu kam die Notwendigkeit des Glaubens als eines
verborgenen Lichtes und einer von der Seele ausgehenden Macht inmitten von
Unwissenheit, Zweifel, Schwäche und Ungewißheit des Mentals. Glaube ist etwas
dem Menschen Unentbehrliches. Ohne ihn könnte er auf seinem Lebensweg durch das
Unbekannte nicht vorwärtskommen. Der Glaube sollte aber nicht aufgezwungen
werden, sondern als freie Erkenntnis oder gebietende Lenkung aus dem inneren
Geist kommen. Ein Anspruch darauf, ohne Widerspruch angenommen zu werden, wäre
nur dann gerechtfertigt, wenn das spirituelle Bemühen des Menschen schon so weit
gediehen ist, daß er ins höchste, totale und integrale Wahrheits-Bewußtsein
gelangt ist, das frei ist von aller unwissenden mentalen und vitalen
Beimischung. Dieses höchste Ziel liegt aber noch vor uns; es ist noch nicht
erreicht worden. Jener voreilige Anspruch hat das wahre Wirken des religiösen
Grundgefühls im Menschen verdunkelt, das ihn zur Göttlichen Wirklichkeit
hinführen und all das ausdrücken soll, was er in dieser Richtung bisher erlangt
hat. Es soll jedem menschlichen Wesen die Prägeform für eine spirituelle
Disziplin geben, für einen Weg, wie er die göttliche Wahrheit suchen, berühren
und sich ihr nahen kann, eine Methode, die den Entfaltungsmöglichkeiten seiner
Natur entspricht.
Man kann die umgreifende und anpassungsfähige Methode
der evolutionären Natur, die die umfassendste Weite vorsieht und doch die wahre
Absicht des religiösen Suchens des menschlichen Wesens bewahrt, an der
Entwicklung der Religion in Indien beobachteten, wo jede Menge religiöser
Ausdrucksformen, Kulte und Disziplinen erlaubt war, jene sogar ermutigt wurden,
Seite an Seite zu leben. Jeder Mensch war frei, das anzunehmen und zu befolgen,
was seinem Denken, Fühlen, Temperament und
seiner natürlichen Art zuinnerst entsprach. Es ist richtig und vernünftig, daß
es diese Formbarkeit gab, die einer experimentellen Entwicklung zukommt. Denn
die eigentliche Aufgabe der Religion ist es, Mental, Leben und körperliche
Existenz des Menschen darauf vorzubereiten, das spirituelle Bewußtsein in sich
aufzunehmen. Sie muß ihn bis zu dem Punkt führen, wo das innere spirituelle
Licht vollkommen hervorzutreten beginnt. An diesem Wendepunkt muß die Religion
lernen, sich unterzuordnen. Sie darf nun nicht mehr auf ihren äußeren
Eigentümlichkeiten beharren. Vielmehr muß sie dem inneren Geist die volle
Freiheit geben, seine eigene Wahrheit und Wirklichkeit zu entfalten. Inzwischen
soll sie so viel von der Mentalität, Vitalität und Körperlichkeit des Menschen
in sich aufnehmen, wie sie kann, um all seinen Betätigungen eine Wendung in die
spirituelle Richtung zu geben, zur Offenbarung einer spirituellen Bedeutung in
ihnen, zur Prägung durch spirituelle Verfeinerung, zum Anfang eines spirituellen
Charakters. Bei diesem Versuch treten die Irrtümer der Religion auf. Sie werden
durch das Wesen der Materie verursacht, mit der sie es zu tun hat. Dieser
minderwertigere Stoff dringt gerade in jene Formen ein, die als Vermittler
zwischen dem spirituellen und dem mentalen bzw. vitalen oder physischen
Bewußtsein dienen sollen, und drückt diese oft herab, entwürdigt und verdirbt
sie. Aber gerade in diesem Bemühen erweist sich die Religion als äußerst
nützlich, als eine Mittlerin zwischen Geist und Natur. In der menschlichen
Evolution leben immer Wahrheit und Irrtum nahe beieinander. Man darf die
Wahrheit nicht deshalb zurückweisen, weil sie Irrtümer im Gefolge hat. Wohl aber
müssen diese ausgemerzt werden. Das ist oft eine schwierige Sache; sie führt,
wenn sie nur grob geleistet wird, zu chirurgischem Schaden, der dem Körper der
Religion zugefügt wird. Was wir als Irrtum ansehen, ist häufig Symbol,
Verkleidung, eine verdorbene oder mißgestaltete Form einer Wahrheit, die bei
dieser brutal-radikalen Operation verloren ging, – die Wahrheit wird zusammen
mit dem Irrtum herausgeschnitten. Oft erlaubt die Natur, daß der gute Weizen für
lange Zeit zusammen mit nutzlosen Unkräutern wächst, weil nur so ihr eigenes
Wachstum und die freie Entwicklung möglich ist.
Die evolutionäre Natur erweckt den Menschen zuerst zu
einem primitiven spirituellen Bewußtsein. Am Anfang ist das ein vages Empfinden
für das das physische Wesen umgebende Unendliche und Unsichtbare; ein Sinn für Begrenzung; Ohnmacht des menschlichen Mentals und
Willens; eine Ahnung von etwas, das größer als er selbst und in der Welt
verborgen ist; das Gefühl für wohltätige und bösartige mächtige Wesenheiten, die
auf die Ergebnisse seines Handelns maßgebend wirken; die Gewißheit, daß eine
Macht hinter der von ihm bewohnten physischen Welt steht, die vielleicht diese
und ihn erschaffen hat; oder auch Mächte, die die Bewegungen der Welt gestalten
und beherrschen, während sie selbst vielleicht von dem höheren Unbekannten
beherrscht werden, das jenseits von ihnen existiert. Der Mensch mußte die Art
dieser Mächte bestimmen und Mittel finden, mit ihnen in Kommunikation zu treten,
sie günstig stimmen oder um Hilfe bitten. Außerdem suchte er nach Mitteln, um
die Triebkräfte der verborgenen Bewegungen der Natur aufzufinden und zu
beherrschen. Das konnte er nicht sogleich mit seiner Vernunft leisten, da diese
anfangs nur mit physischen Tatsachen umgehen konnte. Jenes war aber der Bereich
des Unsichtbaren und erforderte supraphysische Schau und Erkenntnis. Er mußte
sie durch Ausweitung der Fähigkeit zu Intuition und Instinkt erreichen, die
bereits im Tier vorhanden waren. Diese im denkenden Wesen ausgeweitete
mentalisierte Fähigkeit muß im frühen Menschen sinnenhafter und stärker gewesen
sein, wenn auch noch zumeist auf einer niederen Stufe, da er sich für alle
notwendigen ersten Entdeckungen weithin auf sie verlassen mußte. Er mußte aber
auch auf die Hilfe einer subliminalen Erfahrung vertrauen. Denn auch das
Subliminale muß bei ihm aktiver, eher bereit, zum Vorschein zu kommen, und
fähiger gewesen sein, seine Anlagen an der Außenseite zu gestalten, bevor er
lernte, sich allein auf seinen Intellekt und seine Sinne zu verlassen. Die so
durch den Kontakt mit der Natur empfangenen Intuitionen systematisierte sein
Mental, womit es die frühen Formen der Religion schuf. Diese ihm aktiv zur
Verfügung stehende Macht der Religion gab ihm auch das Empfinden, daß
supraphysische Kräfte hinter den physischen stehen. Sein Instinkt und eine
gewisse subliminale oder übernormale Erfahrung von supraphysischen Wesen, mit
denen er in Verbindung stehen konnte, veranlaßten ihn dann, wirksame Mittel zu
entdecken und zu kanalisieren, um dieses Wissen kraftvoll zu verwenden. So
wurden Magie und andere frühe Formen von Okkultismus geschaffen. Irgendwann muß
es ihm auch gedämmert haben, er besitze etwas Nicht-Körperliches in seinem
Innern, eine Seele, die den Körper überlebt. Gewisse übernormale
Erfahrungen, die wegen des Dranges, das Unsichtbare zu erkennen, aktiv
wurden, müssen ihm dazu verholfen haben, seine ersten primitiven Vorstellungen
von dieser Wesenheit in seinem Innern auszudrücken. Erst später begann er dann,
einzusehen, daß das, was er im Wirken des Universums wahrgenommen hatte, in
einer gewissen Form auch in seinem Innern existierte und daß auch in ihm
Elemente waren, die auf unsichtbare Mächte und Kräfte zum Guten oder Bösen
reagierten. Auf diese Weise haben wohl seine religiös-ethischen Vorstellungen
und seine Möglichkeiten zu einer spirituellen Erfahrung angefangen. So ist die
frühe, zuerst sehr oberflächliche und veräußerlichte Stufe menschlicher Religion
ein Gemisch von primitiven Intuitionen, okkultem Ritual, religiös-sozialer
Ethik, mystischer Erkenntnis oder Erfahrung, die im Mythus symbolisiert wurde;
ihr Sinn wurde aber durch eine geheime Einweihung und Disziplin bewahrt. Anfangs
waren diese Elemente zweifellos primitiv, unbedeutend und mangelhaft. Doch
gewannen sie Tiefe und Weite und gediehen in einigen Kulturen zu großer Fülle
und Bedeutung.
Als die Entwicklung von Mental und Leben zunahm – denn
darauf ist die Sorge der Natur im Menschen zu allererst gerichtet, und sie
zögert nicht, das auf Kosten anderer Elemente, die erst später gefördert werden
müssen, vorwärtszutreiben –, zeigte sich eine Tendenz zur Intellektualisierung.
Die ursprünglich notwendigen intuitiven, instinktiven und subliminalen Bildungen
werden nun von Strukturen überlagert, die durch die wachsende Kraft von Vernunft
und mentaler Intelligenz aufgebaut werden. Sobald der Mensch die Geheimnisse und
Prozesse der physischen Natur entdeckt, entfernt er sich immer mehr von seiner
früheren Zuflucht zu Okkultismus und Magie. Die Gegenwart und der empfundene
Einfluß von Göttern und unsichtbaren Mächten tritt in dem Umfang zurück, in dem
immer mehr Phänomene durch natürliche Vorgänge und mechanische Prozesse der
Natur erklärt werden. Trotzdem fühlt er aber das Bedürfnis nach einem
spirituellen Element und nach den spirituellen Faktoren in seinem Leben. Darum
läßt er noch eine Zeitlang die beiden Betätigungen nebeneinander herlaufen. Aber
die okkulten Elemente der Religion verlieren ihre Bedeutung, wenn sie auch noch
als Anschauungen bewahrt oder in Riten und Mythen begraben werden. Sie nehmen
ab, und das intellektuelle Element wird stärker. Wo und wenn diese
intellektualisierende Tendenz dann zu stark wird, kommt es zuletzt dazu, daß man
alles ausmerzt außer der Konfession, der
Institution, der formellen Praxis und Ethik. Sogar das Element der spirituellen
Erfahrung schwindet dahin. Es gilt als ausreichend, sich nur auf Glauben,
emotionale Glut und moralisches Verhalten zu verlassen. Jene erste Verschmelzung
von Religion, Okkultismus und mystischer Erfahrung ist völlig aufgelöst. Es
bleibt nur die, keinesfalls universale oder vollständige, jedoch ausdrückliche,
sichtbare Tendenz übrig, daß jede dieser Mächte ihren eigenen Weg zu ihrem Ziel
in ihrem je eigenen Charakter verfolgt. Das letzte Ergebnis dieser Stufe ist
eine völlige Verneinung von Religion, Okkultismus und allem, was supraphysisch
ist. Übrig bleibt ein harter trockener Krampf des oberflächlichen Intellekts,
der mit Gewalt das ganze schützende Heim, die Zufluchtsstätten für die tieferen
Weiten unserer Art beseitigt. Doch hält die evolutionäre Natur immer noch ihre
letzten Ziele im mentalen Bewußtsein einiger weniger Menschen lebendig und
verwendet die höhere mentale Entwicklung des Menschen dazu, sie auf eine höhere
Ebene emporzuführen und zu vertiefen. Gerade zur heutigen Zeit können wir nach
einem Zeitalter von triumphierendem Intellektualismus und Materialismus
sichtbare Beweise für diesen Prozeß in der Natur erkennen. Er offenbart sich
immer mehr als Rückkehr zur inneren Selbst-Entdeckung, als inneres Suchen und
Denken, als ein neuer Versuch zu mystischer Erfahrung, als ein tastendes Suchen
nach dem inneren Selbst, als ein Wiedererwachen zu einem gewissen Empfinden für
die Wahrheit und Macht des Geistes. Des Menschen Suchen nach seinem Selbst, nach
seiner Seele und nach der tieferen Wahrheit in den Dingen strebt danach, ihre
verlorene Kraft wiederzubeleben und wiederherzustellen, den alten
Glaubensüberzeugungen frisches Leben einzuflößen, neue Glaubensrichtungen zu
begründen und unabhängige religiöse Sekten zu entfalten. Nachdem der Intellekt
bis nahe an die natürlichen Grenzen seiner Befähigung zur physischen Erforschung
kam, dort auf das Urgestein stieß und gefunden hat, daß seine Wissenschaft
nichts weiter erklärt als den äußeren Vorgang in der Natur, hat er nun, wenn
auch noch versuchsweise und zögernd, begonnen, den Blick seines Forschens auf
die tieferen Geheimnisse des Mentals und der Lebenskraft und auf den Bereich des
Okkulten zu richten, was er bisher a priori abgelehnt hatte. Nun will er
erfahren, was darin Wahres ist. Auch die Religion als solche hat ihre Macht zu
überleben bewiesen und geht durch eine Entwicklung hindurch, deren endgültiger
Sinn
noch im Dunkeln liegt. In dieser neuen
Phase des Mentals, die wir jetzt, wenn auch noch unbestimmt und zurückhaltend,
aufkommen sehen, können wir die Möglichkeit zu einem Drang der Natur zur
entscheidenden Wende und einen Fortschritt der spirituellen Entwicklung
entdecken. Die Religion, die auf ihrer ersten Stufe unterhalb der Rationalität
reich, aber in einer gewissen Verfinsterung war, hatte unter dem Übergewicht des
Intellekts die Richtung zu einem aufgeklärten aber öden rationalen
Zwischenbereich eingeschlagen. Sie muß schließlich der aufsteigenden Kurve des
menschlichen Mentals folgen und höher zu ihren Gipfeln emporsteigen, zu ihrem
wahren oder weitesten Bereich in der Sphäre eines überrationalen Bewußtseins und
Wissens.
Wenn wir auf die Vergangenheit schauen, können wir noch Beweise für diese Entwicklungs-Linie der Natur sehen, wenn auch die meisten ihrer frühen Stufen vor uns verborgen sind in den ungeschriebenen Seiten der Vorgeschichte. Man hat behauptet, Religion sei in ihren Anfängen nichts weiter gewesen als eine Masse von Animismus, Fetischismus, Magie, Totemismus, Tabus, Mythen und abergläubischen Symbolen mit dem Medizinmann als Priester und einem winzigen Überzug primitiver menschlicher Unwissenheit, später bestenfalls eine Form von Natur-Verehrung. Im primitiven Mental des Menschen könnte das wohl so gewesen sein, wenn wir auch den Vorbehalt hinzufügen müssen, daß hinter vielem von seinen Überzeugungen und Praktiken eine Wahrheit von niederer aber sehr wirksamer Art gestanden haben muß, die wir mit unserer höheren Entwicklung verloren haben. Der primitive Mensch lebt intensiv in einem niederen, engen Bereich seines Lebens-Wesens. Dieser entspricht auf der okkulten Ebene einer unsichtbaren Natur, die von ähnlichem Gepräge ist und deren okkulte Mächte durch Wissen und gewisse Methoden zur Wirksamkeit gerufen werden können, wozu die niederen vitalen Intuitionen und Instinkte eine Tür auftun mögen. Auf einer ersten Stufe religiöser Anschauung und Praxis könnte das in Formen ausgedrückt worden sein, die der Art ihres Charakters und ihrer Interessen nach noch roh und urtümlich, noch nicht spirituell waren. Ihr Hauptelement könnte darin bestanden haben, kleine Lebens-Mächte und Elementar-Wesen herbeizurufen, um das niedere Lebens-Begehren und ein primitives physisches Wohlergehen zu fördern.
Diese primitive Stufe –
falls sie das tatsächlich war und nicht in dem, was wir noch von ihr erkennen,
ein Abfall, ein Überbleibsel, ein Rückfall von einer höheren Erkenntnis, die zu
einem vorausgegangenen Zyklus der Zivilisation gehörte, oder auch der verlorene
Rest einer toten oder veralteten Kultur – kann aber nur ein Anfang gewesen sein.
Auf sie folgte, nach manchen Zwischenstufen, der fortgeschrittene Typus der
Religion, über den wir noch in der Literatur oder in Dokumenten der frühen
zivilisierten Völker Nachricht besitzen. Dieser Typus, der zusammengesetzt war
aus polytheistischen Anschauungen und Kultus, Kosmologie, Mythologie, einem
Komplex von Zeremonien, Praktiken, rituellen und ethischen Geboten, die manchmal
tief in das Gesellschafts-System verwoben waren, bildete gewöhnlich eine
nationale oder Stammes-Religion, die genau die von der Gemeinschaft erreichte
Entwicklungsstufe von Denken und Leben zum Ausdruck brachte. In der äußeren
Struktur vermissen wir noch eine Stütze von tieferer spiritueller Bedeutung.
Diese Lücke war bei den höheren, entwickelteren Kulturen von einem starken
Hintergrund okkulten Wissens und Praktizierens oder von sorgfältig gehüteten
Mysterien ausgefüllt, die ein erstes Element von spiritueller Weisheit und
Disziplin enthielten. Öfters begegnet uns der Okkultismus als Beifügung oder als
Überbau; er ist jedoch nicht immer vorhanden. Die Hauptfaktoren sind Verehrung
göttlicher Mächte, Opfer, oberflächliche Frömmigkeit und gesellschaftliche
Ethik. Eine spirituelle Philosophie oder Vorstellung vom Sinn des Lebens scheint
anfangs noch zu fehlen. Ihre Anfänge sind aber mitunter in den Mythen und
Mysterien enthalten und treten in ein oder zwei Fällen deutlich aus ihnen
hervor, um ein selbständiges Dasein zu gewinnen.
Möglicherweise war der Mystiker oder Initiator des
Okkultismus überall der Schöpfer der Religion und hat seine geheimen
Entdeckungen der Masse des menschlichen Mentals in der Form von Glaubenslehren,
Mythos und religiöser Praxis aufgeprägt. Immer ist es der Einzelne, der die
Intuitionen der Natur empfängt und den Schritt nach vorn unternimmt; dabei zieht
oder schleppt er dann den Rest der Menschheit hinter sich her. Selbst wenn wir
das Verdienst an dieser neuen Schöpfung dem unterbewußten Massen-Mental
zuschreiben, wurde doch stets das okkulte oder mystische Element in jedem
einzelnen Mental hervorgebracht. Es muß individuelle Menschen gefunden haben,
durch die es hervortreten konnte. Denn die Methode der Natur wirkt anfangs nicht durch die Erfahrung, die Entdeckung und deren Ausdruck durch die
Masse. Das Feuer wird an einem einzelnen oder an mehreren Funken entzündet und
verbreitet sich von Herd zu Herd, von Altar zu Altar. Die spirituelle Bemühung
und Erfahrung der Mystiker wurde aber gewöhnlich in geheimen Formeln fest unter
Verschluß gehalten und nur an einige wenige Eingeweihte weitergegeben. Den
übrigen wurde sie übermittelt, besser: aufbewahrt in einer Masse von
überlieferten religiösen Symbolen. Diese Symbole bildeten das innerste Herz der
Religion im Mental der frühen Menschheit.
Aus dieser zweiten Stufe trat eine dritte hervor, auf
der man versuchte, die verborgene spirituelle Erfahrung und Erkenntnis
freizusetzen und allen als eine Wahrheit zur Verfügung zu stellen, die sie
ansprechen sollte und allgemein zugänglich gemacht werden konnte. Die Tendenz
setzte sich durch, das spirituelle Element nicht nur zum eigentlichen Herzstück
der Religion, sondern es auch allen Gläubigen durch eine exoterische Lehre
zugänglich zu machen. Wie jede exoterische Schule ihr eigenes System von
Erkenntnis und Erziehung besaß, so sollte jetzt auch jede Religion ihr
Erkenntnissystem, ihre Glaubenslehre und ihre spirituelle Disziplin bekommen. In
diesen beiden Formen der spirituellen Entwicklung, der esoterischen und der
exoterischen, im Weg des Mystikers und im Weg des religiösen Menschen, erkennen
wir das doppelte Prinzip der evolutionären Natur, das Prinzip einer intensiven
und konzentrierten Evolution im kleinen Raum und das Prinzip von Ausdehnung und
Ausweitung, damit die neue Schöpfung in einem möglichst umfassenden Bereich
verallgemeinert werde. Die erste Bewegung ist konzentriert dynamisch und
wirkungsstark. Die zweite strebt nach Ausbreitung und wird statisch. Als Folge
dieser neuen Entwicklung wurde das zuerst sorgfältig von einigen wenigen als
kostbarer Schatz gehütete spirituelle Streben der Menschheit immer mehr
verallgemeinert. Es verlor aber dadurch an Reinheit, Höhe und Intensität. Die
Mystiker gründeten ihr Bemühen auf das Talent zu überrationaler Erkenntnis, die
intuitiv, inspiriert und offenbarend ist, und auf die Kraft des inneren Wesens,
in die okkulte Wahrheit und Erfahrung einzudringen: Ober diese Kräfte verfügt
aber nicht die Masse der Menschen, oder nur in primitiver, unentfalteter,
fragmentarisch anfänglicher Form, auf die man nichts mit Sicherheit aufbauen
konnte. Darum mußte für sie in dieser neuen Entwicklung die spirituelle Wahrheit
in die intellektuellen Formen von Dogma und Glaubenslehre, in gefühlsbetonte
Gottesdienste und in ein einfaches, aber
bedeutungsvolles Ritual gekleidet werden. Damit wurde zugleich der kraftvolle
spirituelle innere Gehalt vermischt, verdünnt und mit Fremdem verschmolzen,
immer mehr von den niederen Elementen des Mentals, des Lebens und der physischen
Natur durchdrungen und nachgeäfft. Gerade diese Vermischung, Verschmelzung und
Durchdringung mit Verfälschendem, diese Profanierung der Mysterien und den
Verlust ihrer Wahrheit und Bedeutung, wie auch den Mißbrauch der okkulten Macht,
der durch den Umgang mit den unsichtbaren Mächten eintritt, fürchteten die
frühen Mystiker besonders. Sie versuchten, dies durch Geheimhaltung, strenge
Disziplin und Beschränkung auf wenige Eingeweihte zu verhindern. Ein anderes
unerfreuliches Ergebnis, die gefährliche diffuse Ausbreitung und das daraus
erfolgende Eindringen von Fremdem führte dazu, daß die spirituelle Erkenntnis in
ein Dogma formalisiert und die lebendige Praxis in der toten Masse von Kultus,
Zeremoniell und Ritual materialisiert wurde, was im Laufe der Zeit den Geist
zwang, aus dem Körper der Religion auszuziehen. Man mußte aber dieses Risiko auf
sich nehmen, da die äußere Ausdehnung eine innere Notwendigkeit des spirituellen
Drängens der evolutionären Natur war.
So entstanden die Religionen, die sich meistens für
gewisse spirituelle Ziele auf Glaubenslehre und Ritual stützen. Wegen ihrer
Erfahrungswahrheit behalten sie aber doch die grundlegende innere Wirklichkeit,
die sie ursprünglich beseelte und so lange fortdauern wird, wie es Menschen
gibt, die sie weitertragen und erneuern, als Mittel bei, mit denen die vom
spirituellen Impuls Ergriffenen das Göttliche Wesen realisieren und den Geist
freisetzen können. Diese Entwicklung hat später zu einer Teilung in zwei
Richtungen geführt, die katholische und die protestantische. Erstere hat die
Tendenz, den ursprünglichen gestaltungsfähigen Charakter der Religion, ihre
Vielseitigkeit und Anziehungskraft zu bewahren, mit der sie sich an die ganze
Natur des menschlichen Wesens wendet. Letztere hat diese umfassende Weite
verworfen. Sie dringt darauf, sich allein auf den reinen Glauben, Gottesdienst
und Lebensführung zu verlassen, die so vereinfacht werden, daß sie rascher und
leichter den allgemeinen Menschenverstand, das Herz und den sittlichen Willen
ansprechen. Diese Wendung führte dazu, übertrieben zu rationalisieren, die
meisten der okkulten Elemente, die eine Kommunikation mit dem herstellen, was
unsichtbar ist, zu entwerten und zu verurteilen. Man verläßt sich auf das
vordergründige Mental als ausreichenden Förderer
des spirituellen Bemühens. Häufige Folge dessen ist eine gewisse Trockenheit,
Verengung und Verarmung des spirituellen Lebens. Hat aber der Intellekt so viel
bestritten und ausgemerzt, findet er auch Raum und Gelegenheit genug, noch mehr
zu verneinen, bis er alles bestreitet, die spirituelle Erfahrung leugnet und
Spiritualität zusammen mit der Religion verwirft. Da bleibt dann nur der
Intellekt als die einzig überlebende Macht. Ist aber der Intellekt des Geistes
entleert, kann er nur äußere Erkenntnis, Mechanisierung und Tüchtigkeit
anhäufen. Schließlich trocknen dabei auch die verborgenen Quellen der Vitalität
aus, und es tritt eine Dekadenz ein, die keine innere Kraft mehr hat, das Leben
zu retten oder neues Leben zu erschaffen. Dann gibt es keinen anderen Ausweg
mehr als Tod und Zerfall und einen neuen Anfang, der aus der alten Unwissenheit
herausführt.
Das evolutionäre Prinzip hätte bei seinem fortschrittlichen Drängen sehr wohl die ursprüngliche Ganzheit seiner Bewegung bewahren können, wenn es die weise antike Harmonie nicht zerstört, sondern zu einer größeren Synthese des Prinzips der Konzentration mit dem Prinzip der Verbreitung ausgeweitet hätte. In Indien hat es, wie wir gesehen haben, eine Fortdauer der ursprünglichen Intuition und eine umfassende Bewegung der evolutionären Natur gegeben. Denn hier hat sich die Religion nicht auf ein einziges Glaubensbekenntnis oder Dogma beschränkt. Hier hat sie nicht nur eine große Verschiedenheit von Ausdrucksformen zugelassen, sondern auch erfolgreich alle Elemente aufbewahrt, die im Laufe der Religionsgeschichte gewachsen sind. Sie vermied es, irgendeines zu bannen oder auszumerzen. Sie hat den Okkultismus bis zu seinen äußersten Grenzen entfaltet. Spirituelle Philosophie aller Art hat sie akzeptiert. Jede mögliche Linie spiritueller Erkenntnis, Erfahrung und Selbst-Disziplin hat sie bis zum höchsten, tiefsten und umfassendsten Ergebnis verfolgt. Ihre Methode war die der evolutionären Natur selbst, alle Entwicklungen, alle Mittel der Kommunikation und Einwirkung des Geistes auf die Träger, alle Arten der Kommunion zwischen dem Menschen und dem Höchsten oder Göttlichen Wesen zuzulassen. Sie hat jeden möglichen Weg beschritten, zum Ziel zu gelangen, und diesen bis zum letzten geprüft. Im Menschen befinden sich alle Stufen spiritueller Entwicklung. Jede muß anerkannt und mit Mitteln versorgt werden, um sich einen Zugang zum Geist zu verschaffen, der ihrer Möglichkeit, adhikara, entspricht.
Selbst die primitiven,
noch überlebenden Formen wurden nicht gebannt, sondern zu einer tieferen
Bedeutung emporgehoben, solange in ihnen noch ein Drang zu den höchsten
spirituellen Zinnen im reinen erhabenen Äther lebendig war. Sogar der
ausschließlich dogmatische Typus der Religion wurde nicht an sich
ausgeschlossen. Er wurde in der unendlichen Verschiedenartigkeit der allgemeinen
Ordnung zugelassen, sofern nur irgendeine Verwandtschaft mit dem generellen Ziel
und Prinzip ersichtlich war. Diese vielfältige Gestaltungskraft suchte aber ihre
Stütze in einem festgelegten religiös-gesellschaftlichen System, das dem Prinzip
huldigte, die menschliche Natur arbeite sich in Stufen empor, bis sie auf ihrer
Höhe einem hohen spirituellen Bemühen zugewandt sei. Diese gesellschaftliche
feste Ordnung, die vielleicht zu einer gewissen Zeit für die Reinheit des Lebens
notwendig war, jedoch nicht ebenso in ihrer festgelegten und abgesicherten Form
eine Grundlage für die spirituelle Freiheit, war einerseits eine erhaltende
Kraft, andererseits aber auch ein Hindernis für den ursprünglichen Geist
allumfassender Weite. Sie wurde zum Element übermäßiger Verhärtung und
Beschränkung. Eine festgelegte Grundordnung mag unerläßlich sein. Wenn sie aber
im Wesentlichen festgelegt ist, muß sie in ihren Formen gestaltungsfähig und zur
evolutionären Umwandlung geeignet sein. Sie muß zwar eine Ordnung, aber eine
solche sein, die weiterwächst.
Trotzdem war das Prinzip dieser großen, vielseitigen
religiösen und spirituellen Entwicklung gesund. Indem sie das Ganze des Lebens
und der menschlichen Natur in sich aufnahm, das Wachsen des Intellekts
ermutigte, dessen Freiheit nie Widerstand leistete oder Fesseln anlegte, ihn
vielmehr beim spirituellen Suchen zur Hilfe aufrief, verhinderte sie den
Konflikt und seine unberechtigte Vorherrschaft, die im Westen dazu führte, daß
das religiöse Grundgefühl unterdrückt wurde, austrocknete und in bloßen
Materialismus und Säkularismus absank. Eine Methode von solcher Formbarkeit und
universalen Art, die alle Glaubensbekenntnisse und Formen der Religion zuließ
und doch über sie hinausging und jede Art von religiösem Element gestattete,
kann zu zahlreichen Konsequenzen führen, gegen die der Vertreter einer reinen
Lehre seine Einwände erheben mag. Das großartige Ergebnis, das sie rechtfertigt,
ist ein beispielloser Reichtum und eine mehr als tausendjährige Fortdauer, eine
unerschütterliche Beharrlichkeit, Allgemeinheit, Universalität, Höhe, Feinheit
und vielseitige Weite spirituellen Erfolgs,
Suchens und Bemühens. Tatsächlich kann sich das umfassendere Ziel der Evolution
nur durch eine solche Toleranz und Anpassungsfähigkeit in aller Fülle
ausarbeiten. Der Einzelne erwartet von der Religion, daß sie ihm ein Zugangstor
zur spirituellen Erfahrung öffne oder ein Mittel biete, sich ihr zuwenden zu
können. Er will Kommunion mit Gott, ein endgültiges Licht der Führung auf seinem
Lebensweg, eine Verheißung für das Jenseits oder eine Garantie für eine
glücklichere Zukunft im Überirdischen. Diese Bedürfnisse können auf der engeren
Grundlage dogmatischer Religiosität und konfessionellen Kultus befriedigt
werden. Doch auch hier ist es die umfassendere Absicht der Natur, die
spirituelle Entwicklung im Menschen vorzubereiten und ihn in ein geistiges Wesen
zu verwandeln. Religion dient ihr als Mittel dazu, sein Bemühen und sein Ideal
in diese Richtung zu lenken und jedem einzelnen, der dazu bereit ist, einen
Schritt auf dem Wege zu diesem Ziel zu ermöglichen. Dieser Absicht dient sie
durch die bunte Verschiedenartigkeit der Kulte, die sie geschaffen hat, von
denen manche endgültig, standardisiert und festgelegt, andere eher formbar,
unterschiedlich und vielseitig sind. Eine Religion, die selbst eine
Verschmelzung von Religionen ist und zugleich jeden Menschen mit seiner eigenen
Richtung innerer Erfahrung versorgt, würde wohl am meisten zu diesem Zweck der
Natur passen. Sie wäre eine reiche Pflanzstätte für spirituelles Wachsen und
Aufblühen, eine außerordentlich vielförmige Schule für die Disziplin und das
Bemühen der Seele und für die Selbst-Verwirklichung. Welche Irrtümer auch die
Religion begangen haben mag, dies ist ihre Funktion und ihr großer,
unentbehrlicher Nutzen und Dienst, das zunehmende Licht der Führung auf unserem
Weg hochzuhalten, der durch die Unwissenheit des Mentals zum vollständigen
Bewußtsein des Geistes und zur Erkenntnis des Selbsts führt.
Seinem Wesen nach ist der Okkultismus des Menschen
Bemühen, zu einem Wissen von den geheimen Wahrheiten und Macht-Möglichkeiten der
Natur zu gelangen. Das soll ihn herausheben aus der Versklavung durch die
physischen Begrenzungen seines Wesens. Im besonderen ist er ein Versuch, die
geheimnisvolle, okkulte, nach außen hin noch unentwickelte unmittelbare Macht
des Mentals über das Leben und von Mental und Leben über die Materie zu besitzen
und auszuüben. Zugleich bemüht er sich, Kommunikation mit Welten und Wesenheiten
herzustellen, die zu den supraphysischen Höhen, Tiefen und Zwischenbereichen des
kosmischen Wesens gehören. Er will diese Kommunion dazu
benützen, eine höhere Wahrheit zu beherrschen. Sie soll den Menschen in seinem
Willen unterstützen, sich zum Souverän über Fähigkeiten und Kräfte der Natur zu
machen. Dieses menschliche Streben geht von der Überzeugung, Intuition oder
Ahnung aus, daß wir nicht nur Geschöpfe aus Ton sind, sondern Seele, Mental und
Wille, die die Mysterien dieser und jeder anderen Welt erkennen können, und
nicht nur Schüler der Natur sondern ihre Eingeweihten und Meister. Der Okkultist
suchte auch, das Geheimnis der physischen Dinge zu erforschen. Bei diesem
Bemühen förderte er die Astronomie, schuf er die Chemie und gab den anderen
Wissenschaften Anregungen, da er auch die Geometrie und die Wissenschaft der
Zahlen verwendete. Weit mehr richtete er aber sein Forschen auf die Erkenntnis
der Geheimnisse der Übernatur. In diesem Sinne könnte man den Okkultismus als
die Wissenschaft vom Übernatürlichen beschreiben. In Wirklichkeit ist er aber
nur die Entdeckung des Supraphysischen, das Überschreiten der materiellen
Begrenzung. Der Kern des Okkultismus ist nicht die unmögliche Einbildung, die
hofft, über alle Kraft der Natur hinauszugehen und die reine Phantasie und das
willkürliche Wunder allmächtig und wirksam machen zu können. Was uns als
übernatürlich erscheint, ist tatsächlich entweder ein spontanes Eindringen von
Phänomenen einer anderen Natur in die physische, oder es ist im Wirken der
Okkultisten ein Besitz von Wissen und Macht der höheren Ordnungen und Grade des
Wesens und der Energie des Kosmos. Sie wollen deren Kräfte und Prozesse
verwenden, um Wirkungen in der physischen Welt dadurch hervorzurufen, daß sie
Möglichkeiten einer Zwischenverbindung und Mittel für eine materielle Wirkung
verwenden. Es gibt Fähigkeiten von Mental und Lebenskraft, die von der Natur
nicht in die jetzige systematische Ordnung von Mental und Leben in der Materie
einbezogen sind. Sie sind aber potentiell vorhanden und können zu einer
Einwirkung auf materielle Dinge oder Ereignisse herangezogen oder sogar in die
gegenwärtige Systematisierung hineingebracht und ihr hinzugefügt werden, um die
Kontrolle des Mentals über unser eigenes Leben und unseren Körper auszuweiten
oder um auf Mental, Leben und Körper anderer Menschen und auf die Bewegungen der
kosmischen Kräfte einzuwirken. Der in neuerer Zeit anerkannte Hypnotismus ist
ein Beispiel für solch eine Entdeckung und eine wenn auch noch begrenzte, durch
seine Methode und Formel eingeschränkte, systematische Anwendung okkulter
Fähigkeiten, die uns sonst nur durch zufällige
oder
verborgene Einwirkung berühren und deren Vorgänge uns unbekannt sind oder nur
von einigen wenigen begriffen werden. Sind wir doch allezeit einem Beschuß von
Suggestionen, anregenden Einwirkungen auf unser Denken, unsere Antriebskräfte,
unseren Willen, unser Gefühl und Empfinden ausgesetzt, von Gedanken- und
Lebens-Wellen, die von anderen Menschen oder aus der universalen Energie in uns
eindringen, aber auf uns einwirken und Wirkungen hervorbringen, ohne daß wir es
wissen. Es gehört wohl zum Bereich des Okkultismus, daß wir uns systematisch
darum bemühen, diese Bewegungen, ihr Gesetz und ihre Möglichkeiten zu erforschen
und das Vermögen der Naturkraft, die hinter ihnen steht, zu beherrschen und zu
verwenden oder uns vor ihnen zu schützen. Von diesem Bereich wäre das aber nur
ein kleiner Teil. Denn umfassend und vielfältig sind die möglichen Gebiete,
Verwendungsarten und Entwicklungsprozesse dieses unermeßlichen Bereiches eines
noch wenig erforschten Wissens.
Als in der neueren Zeit die Physik ihre Entdeckungen
ausweitete und die verborgenen materiellen Kräfte der Natur in eine vom
menschlichen Wissen zu menschlicher Verwendung gelenkte Aktivität freisetzte,
zog sich der Okkultismus zurück und wurde schließlich mit der Begründung
beiseite geschoben, das Physische allein sei wirklich, Mental und Leben seien
nur Teilfunktionen der Materie. Auf dieser Grundlage und überzeugt, die
materielle Energie sei der Schlüssel zum Verständnis aller Dinge, hat die
Naturwissenschaft versucht, zu einer Beherrschung der mentalen und vitalen
Prozesse durch die Kenntnis der materiellen Instrumentation zu gelangen und so
die Vorgänge in unseren normalen und abnormen Funktionen und Wirkweisen von
Mental und Leben zu verstehen. Das Spirituelle wird dabei ignoriert, da es nur
eine Form von Mentalität sei. Nebenbei ist zu bemerken, daß dieses Bemühen, wenn
es Erfolg haben sollte, nicht ohne Gefahr für die Menschheit bliebe, wie jetzt
auch gewisse andere wissenschaftliche Entdeckungen mißbraucht oder stümperhaft
verwendet werden von einer Menschheit, die mental oder moralisch unvorbereitet
ist, mit so gewaltigen und gefährlichen Kräften umzugehen; denn es wäre eine
künstliche Führung, die ohne jedes Wissen um die geheimen Kräfte eingesetzt
wird, die unserem Dasein zugrunde liegen und es erhalten. Im Westen konnte der
Okkultismus deshalb so leicht beiseitegeschoben werden, weil er hier nie mündig
geworden, nie Reife erlangt, keine philosophische oder andere gesunde
systematische Begründung gefunden hat. Er hatte
sich hier zu unbedenklich in romantische Spekulationen in Bezug auf das
Übernatürliche eingelassen, den Fehler begangen, seine Hauptanstrengung auf die
Entdeckung von Formeln und wirksamen Methoden zur Verwendung übernormaler Mächte
zu konzentrieren. Er glitt in weiße und schwarze Magie ab oder entartete in
Romantik und Wundertätigkeit eines okkulten Mystizismus und in der Übertreibung
dessen, was nach allem schließlich nur ein begrenztes dürftiges Wissen war.
Diese Tendenzen und diese Ungesichertheit seiner mentalen Grundlage machte es
dem Okkultismus schwer, sich zu verteidigen. So war es leicht, ihn zu
diskreditieren und zu einem verwundbaren Ziel zu machen. In Ägypten und im Osten
fand diese Richtung der Erkenntnis mehr und umfassenderes Bemühen. Im
erstaunlichen System des Tantra ist diese größere Ausgereiftheit noch
intakt. Das war nicht nur eine vielseitige Wissenschaft vom Übernormalen,
sondern lieferte auch die Grundlage für alle okkulten Elemente der Religion und
entfaltete sogar ein großes und mächtiges System spiritueller Disziplin und
Selbst-Verwirklichung. Der höchste Okkultismus ist jener, der die geheimen
Regungen und kraftgeladenen übernormalen Möglichkeiten von Mental, Leben und
Geist entdeckt und sie in ihrer ursprünglichen Kraft oder durch ein
entsprechendes Verfahren zu größerer Wirkungskraft unseres mentalen, vitalen und
spirituellen Wesens verwendet.
In der populären Vorstellung wird Okkultismus mit Magie
und magischen Formeln sowie einem vermuteten Mechanismus des Übernatürlichen in
Verbindung gebracht. Das ist aber nur die eine Seite. Er ist auch kein
Aberglaube, wie das törichterweise von denen angenommen wird, die nicht tief
genug oder überhaupt nicht in diese verhüllte Seite der geheimen Natur-Kraft
geblickt oder mit ihren Möglichkeiten experimentiert haben. In der okkulten
Verwendung der mentalen oder vitalen Macht können Formeln und ihre Anwendung
sowie ein mechanischer Gebrauch der latenten Kraft eine erstaunliche Wirkung
hervorrufen, wie das auch in der Physik der Fall ist. Das ist aber nur eine
untergeordnete Methode und begrenzte Verwendung dieser Kräfte. Denn die mentalen
und vitalen Kräfte sind gestaltungsfähig, subtil und in ihrem Wirken
veränderlich. Sie besitzen nicht die Starrheit der Materie. Wenn man sie
erkennen will, erfordern sie eine feine und formbare Intuition. Dasselbe gilt,
wenn man ihr Wirken, ihr Verfahren interpretieren und anwenden will, selbst bei
der Interpretation und Verwendung ihrer
feststehenden Formeln. Legt man zu großes Gewicht auf die mechanische Verwendung
und starre Formulierung, ergibt sich daraus wahrscheinlich etwas Unfruchtbares,
eine formale Einschränkung der Erkenntnis, und auf der pragmatischen Seite viel
Irrtum, starre konventionelle Unwissenheit, Mißbrauch und Versagen. Jetzt, da
wir dem Aberglauben an die alleinige Wahrheit der Materie entwachsen sind,
schwingt das Pendel rückwärts zum alten Okkultismus mit neuen Formulierungen,
aber auch zu einer wissenschaftlichen Erforschung der noch verborgenen
Geheimnisse und Mächte des Mentals. Dazu wird jetzt auch ein eingehenderes
Studium der seelischen, abnormen oder übernormalen psychischen Phänomene möglich
und teilweise schon erkennbar. Wenn das aber zu seiner Erfüllung kommen soll,
müssen wir die wahre Grundlage, das wirkliche Ziel und die wahre Richtung, die
notwendigen Einschränkungen und Vorsichtsmaßnahmen dieses Forschungsgebietes
wiederentdecken. Wichtigstes Ziel muß dabei sein, daß wir die verborgenen
Wahrheiten und Mächte der Mental-Kraft und der Lebens-Macht sowie die höheren
Kräfte des verborgenen Geistes neu auffinden. Im wesentlichen ist okkulte
Wissenschaft die Wissenschaft vom Subliminalen, vom Subliminalen in uns selbst
und in der Welt-Natur, von allem, was in Verbindung mit dem Subliminalen steht,
einschließlich des Unterbewußten und Überbewußten. Das alles sollen wir als Teil
unserer Selbst- und Welt-Erkenntnis verwenden, um die Kräfte richtig
einzusetzen.
Der intellektuelle Zugang zum höchsten Wissen und
dessen Besitz im Mental ist eine unentbehrliche Hilfe für die Bewegung der Natur
im menschlichen Wesen. In unserer vordergründigen Schicht ist gewöhnlich
Hauptinstrument des Menschen für Denken und Handeln die Vernunft, der
beobachtende, verstehende und ordnende Intellekt. Wenn der Geist vorwärtskommen
oder sich entwickeln soll, müssen nicht nur die Intuition, die Innenschau, das
innere Empfinden, des Herzens Hingabe, eine tiefe und unmittelbare
Lebenserfahrung in den Dingen des Geistes entwickelt werden, muß auch der
Intellekt erleuchtet und befriedigt werden. Wir müssen unserem denkenden und
reflektierenden Mental helfen, das Ziel zu verstehen, eine vernünftig begründete
und systematische Vorstellung zu bilden von ihm, von der Methode und den
Prinzipien dieser höchsten Entfaltung und Wirklichkeit unserer Natur und der
Wahrheit all dessen, was dahinterliegt. Gewiß sind die geeigneten Mittel für
diese Entwicklung spirituelle Erkenntnis und Erfahrung,
intuitive und unmittelbare Erkenntnis, das Wachsen des inneren Bewußtseins, der
Seele und der inneren Seelen-Wahrnehmung, des Schauens und Empfindens der Seele.
Unterstützung durch die reflektierende und kritische Vernunft ist aber ebenso
wichtig. Wenn viele auf sie verzichten können, so deswegen, weil sie einen
lebhaften und unmittelbaren Kontakt mit den inneren Wirklichkeiten haben und
sich mit Erfahrung und Einsicht begnügen. Für die ganze Bewegung ist aber die
Vernunft unentbehrlich. Wenn die höchste Wahrheit eine spirituelle Wirklichkeit
ist, muß der Intellekt des Menschen wissen, was die Natur dieser ursprünglichen
Wahrheit und das Prinzip ihrer Beziehungen zum übrigen Dasein, zu uns selbst und
zum Universum ist. Zwar ist der Intellekt nicht von sich aus fähig, uns in
Berührung mit der konkreten spirituellen Wirklichkeit zu bringen. Er kann aber
helfen durch mentales Ausdrücken der Wahrheit des Geistes das sie dem Mental
verdeutlicht, und kann sogar unmittelbar beim Suchen verwendet werden: Diese
Hiife ist von hervorragender Bedeutung.
Unser denkendes Mental befaßt sich in erster Linie mit
der Feststellung einer allgemeinen spirituellen Wahrheit, mit der Logik ihrer
Absolutheit und der Logik ihrer Relativitäten, wie sie sich zueinander
verhalten, wie sie zueinander hinführen und was die mentalen Konsequenzen der
spirituellen Lehre vom Sein sind. Der Intellekt versucht aber, neben diesem
Verstehen und der intellektuellen Feststellung, was sein wichtigstes Recht und
sein Beitrag ist, auch kritisch Kontrolle auszuüben. Er mag ekstatische und
andere konkrete spirituelle Erfahrungen zugeben. Sein Verlangen richtet sich
aber darauf, zu wissen, auf welche gesicherten und geordneten Wahrheiten des
Seienden sie gegründet sind. Sicherlich könnte unsere Vernunft, ohne daß solch
eine Wahrheit bekannt und beweisbar ist, diese Erfahrungen für ungesichert und
irrational halten, sich deshalb aus ihnen zurückziehen, weil sie möglicherweise
nicht auf Wahrheit gegründet sind. Oder sie mag ihrer Form, wenn auch nicht
ihrer Grundlage, mißtrauen, sie seien mit Irrtum behaftet, gar eine Verirrung
der Phantasie des vitalen Mentals, der Gefühle, der Nerven oder der Sinne. Denn
diese könnten bei ihrem Übergang oder bei der Übertragung aus dem Physischen und
sinnlich Wahrnehmbaren in das Unsichtbare irregeleitet sein, Irrlichtern
nachgehen, zumindest Dinge falsch auffassen, die an sich gültig, aber entstellt
seien durch unrichtige oder unvollkommene Deutung dessen, was erfahren wurde,
oder durch Verwirrung und Unordnung der wahren spirituellen Werte. Sieht sich die Vernunft gezwungen, das Kräftespiel des
Okkultismus zuzugeben, wird sie sich auch hier zumeist mit der Wahrheit, dem
richtigen System und der wirklichen Bedeutung der Kräfte befassen, deren Spiel
sie hier am Werk sieht. Sie muß erforschen, ob sie die Bedeutung haben, die der
Okkultismus ihnen beilegt, oder eine andere, vielleicht etwas Tieferes, das in
seinen wesentlichen Beziehungen und Werten falsch interpretiert ist und nicht
den richtigen Stellenwert im Ganzen der Erfahrung erhalten hat. Denn das Wirken
unseres Intellekts ist in erster Linie die Funktion des Verstehens, sodann aber
auch eine kritische und schließlich die, zu ordnen, zu prüfen und zu gestalten.
Das Mittel, durch das dies Bedürfnis befriedigt werden
kann und mit dem uns unsere mentale Natur versehen hat, ist die Philosophie. Auf
diesem Gebiet muß es eine spirituelle Philosophie sein. Zahlreiche solcher
Systeme sind im Osten entstanden. Denn fast bei jeder beachtenswerten
spirituellen Entwicklung entstand aus ihr eine Philosophie, die sie dem
Intellekt gegenüber rechtfertigte. Ihre Methode war zuerst intuitives Schauen
und dessen intuitiver Ausdruck, wie in dem unergründlichen Denken und der tiefen
Sprache der Upanishaden. Später wurde eine kritische Methode, ein festes
dialektisches System und eine logische Organisation entwickelt. Die späteren
Philosophien waren intellektuelle Darstellung (z. B. die Gita) oder
logische Rechtfertigung dessen, was durch innere Erkenntnis gefunden worden war.
Oder sie sorgten selbst für eine mentale Grundlage oder Systematik ihrer
Erkenntnis und Erfahrung (z. B. die Yoga-Philosophie des Patanjali). Im
Westen wurde die Tendenz des Bewußtseins zur Synthese durch diejenige zu Analyse
und Sonderung ersetzt. Spirituelles Streben und intellektuelle Vernunft trennten
sich hier fast von Anfang an voneinander. Die Philosophie richtete sich seit
Anbeginn auf eine rein intellektuelle und vernunftgemäße Erklärung der Dinge
aus. Indessen gab es auch Systeme wie die der Pythagoräer, Stoiker und
Epikuräer, die nicht nur auf das Denken, sondern auch auf die Lebensführung
gerichtet waren und eine Erziehung, ein Ringen um die innere Vervollkommnung des
Wesens entwickelten. Das erreichte in den späteren christlichen oder
neu-heidnischen Gedankengebäuden, in denen sich Ost und West trafen, eine höhere
spirituelle Erkenntnis-Ebene. Dann wurde jedoch die Intellektualisierung
vollständig. Die Verbindung der Philosophie mit dem Leben und seinen Energien
oder mit dem Geist und seiner Dynamik wurde
entweder zerschnitten oder auf das wenige beschränkt, was die metaphysische Idee
dem Leben und Handeln durch abstrakten und sekundären Einfluß aufprägen kann.
Die Religion stützte sich im Westen nicht auf die Philosophie, sondern auf eine
bekenntnisgebundene Theologie. Manchmal tauchte dank der Kraft eines
individuellen Genies eine spirituelle Philosophie auf. Sie war aber nicht, wie
im Osten, notwendiges Zubehör jeder bedeutungsvollen Richtung spiritueller
Erfahrung und Bemühung. Zwar trifft zu, eine philosophische Darstellung
spirituellen Denkens ist nicht völlig unentbehrlich. Denn man kann zu den
Wahrheiten des Geistes unmittelbarer und vollständiger durch Intuition und
konkrete innere Berührung gelangen. Man muß auch betonen, daß die vom Intellekt
ausgeübte kritische Kontrolle der spirituellen Erfahrung hinderlich und
unzuverlässig sein kann, denn hier wird schwächeres Licht auf das Feld höherer
Erleuchtung geworfen. Die wahre Kontrollmacht ist eine innere Unterscheidung,
das Empfinden und Feingefühl des Psychischen, das übergeordnete Eingreifen einer
Führung von oben oder eine erleuchtete Lenkung aus dem Innern. Trotzdem ist aber
auch diese Entwicklungslinie notwendig. Denn es muß eine Brücke zwischen dem
Geist und der intellektuellen Vernunft geben. Das Licht spiritueller, zumindest
spiritualisierter Intelligenz ist für die ganze Fülle unserer inneren
Entwicklung notwendig. Ohne es könnte bei Abwesenheit einer anderen tieferen
Führung die innere Bewegung exzentrisch und undiszipliniert werden, verworren
und mit unspirituellen Elementen vermischt, einseitig und intolerant. Für die
Transformation der Unwissenheit in das integrale Wissen ist die spiritualisierte
Intelligenz als vermittelnde Kraft notwendig und wichtig. Sie muß in uns wachsen
und bereit sein, ein höheres Licht zu empfangen und allen Seiten unserer Natur
zuzuleiten.
Aber keiner dieser drei Zugangswege kann für sich allein die höhere und endgültige Absicht der Natur erfüllen. Sie können im mentalen Menschen nicht das spirituelle Wesen erschaffen, solange sie nicht das Tor der spirituellen Erfahrung auftun. Das Geist-Wesen kann nur hervortreten, wenn wir innerlich erkennen, wohin diese Zugangswege führen; wenn wir eine oder viele überwältigende Erfahrungen machen, die eine innere Umwandlung bewirken; wenn das Bewußtsein umgeformt wird; wenn der Geist von seiner gegenwärtigen Verhüllung durch Mental, Leben und Körper befreit wird. Das ist die endgültige Richtung, in der die Seele zu dem vorwärtsgeht, auf das die anderen Wege hinweisen.
Wenn sie bereit ist,
die vorbereitenden Zugangswege völlig zu verlassen, hat die wirkliche Arbeit
begonnen; dann ist der Wendepunkt der Umwandlung nicht mehr fern. Bis dahin ist
das mentale Wesen des Menschen nur so weit gekommen, daß es mit der Vorstellung
von Dingen jenseits von ihm vertraut wurde; daß es die Möglichkeit der
Hinwendung zu einer anderen Welt einsieht; daß es das Ideal einer sittlichen
Vervollkommnung bejaht. Vielleicht ist der Mensch auch mit höheren Mächten oder
Wirklichkeiten in Berührung gekommen, die seinem Mental, Herz und Leben helfen.
Ein gewisser Wandel mag eingetreten sein, wenn auch noch nicht die Umwandlung
des mentalen in das spirituelle Wesen. Die Religion mit ihrem Denken und ihrer
Ethik sowie der okkulte Mystizismus antiker Zeiten brachte den Priester und
Magier hervor, den Menschen der Frömmigkeit, den gerechten Menschen, den
Menschen der Weisheit, viele Höhepunkte mentalen Menschseins. Aber erst nachdem
die spirituelle Erfahrung durch das Herz und das Mental einsetzte, sehen wir den
Heiligen, den Propheten, den Rishi, den Yogi, den Seher, den spirituellen Weisen
und Mystiker. Nur solche Religionen haben überdauert, in denen diese Arten
spirituellen Menschseins auftraten. Sie haben den Erdball eingenommen und der
Menschheit ihr ganzes spirituelles Streben und seine Kultur gegeben.
Wenn sich die Spiritualität im Bewußtsein selbständig
macht und ihren besonderen Charakter annimmt, ist das zunächst nur ein kleines
Samenkorn, eine wachsende Tendenz, ein außergewöhnliches Licht von Erfahrung
inmitten der großen Masse normaler unerleuchteter Mentalität, Vitalität und
Körperlichkeit des Menschen, die sein äußeres Ich bilden und das Interesse
unserer natürlichen Neigungen beanspruchen. Es gibt versuchsweise Anfänge, eine
langsame Entwicklung und ein zögerndes Hervortreten. Eine frühere, erste,
vorläufige Form erschafft eine gewisse Art von Religiosität, die noch nicht die
rein spirituelle Gemütsverfassung ist, vielmehr die Art eines Mentals oder
Lebens hat, die in sich eine spirituelle Unterstützung oder einen geistigen
Faktor suchen und finden. Auf dieser Stufe ist der Mensch hauptsächlich damit
beschäftigt, alle Kontakte, die er mit dem, was jenseits von ihm ist, bekommen
oder herstellen kann, seinen mentalen Ideen, moralischen Idealen, vitalen oder
körperlichen Interessen helfen oder dienen zu lassen. Die wahre Wendung zur
spirituellen Umwandlung ist noch nicht gekommen. Die ersten wahren Ansätze
erscheinen als Spiritualisierung unserer natürlichen Handlungen, als sich
verbreitender Einfluß oder als Lenkung. Es kommt
zu vorbereitendem Einfließen oder Einströmen in einen gewissen Teil oder eine
Tendenz unseres Mentals oder Lebens, zu einer spiritualisierten Wendung des
Denkens mit erhebenden Erleuchtungen, zu einer vergeistigten Richtung des
emotionalen oder ästhetischen Wesens, zu einer vom Geist bestimmten ethischen
Gestaltung im Charakter; zu spiritualisiertem Drängen in mancher
Lebensbetätigung oder anderen kraftvoll vitalen Bewegung der Natur. Vielleicht
gewahren wir ein inneres Licht, eine Lenkung durch oder eine Gemeinschaft mit
einer Führungs-Macht, die höher ist als unser Mental und unser Wille, der etwas
in uns gehorcht. Aber es ist noch nicht alles in die Prägeform dieser Erfahrung
umgegossen. Wenn aber diese Intuitionen und Erleuchtungen eindringlicher, wenn
sie selber zu Kanälen für den Geist werden, wenn sie eine ausgeprägte innere
Anordnung treffen und den Anspruch erheben, das ganze Leben zu beherrschen, wenn
sie unsere Natur in ihren Besitz nehmen, dann beginnt die spirituelle Gestaltung
unseres Wesens, dann tritt der Heilige, der Jünger, der spirituelle Weise
hervor, der Seher, der Prophet, der Diener Gottes, der Streiter des Geistes. Sie
alle nehmen Stellung in einem bestimmten Teil des natürlichen Wesens, der durch
spirituelle Erleuchtung, Macht oder Ekstase emporgehoben wird. Der Weise und der
Seher leben im spirituellen Mental; ihr Denken oder ihr Schauen werden durch ein
inneres oder höheres göttliches Licht der Erkenntnis gelenkt und geformt. Der
Jünger lebt im spirituellen Streben des Herzens, in seinem Selbst-Opfer und
seinem Suchen. Der Heilige wird bewegt durch das erwachende psychische Wesen im
inneren Herzen, das so machtvoll gewachsen ist, um das Gemüt und das vitale
Wesen zu regieren. Die anderen stehen in der vitalen beweglichen Natur. Sie
werden von einer höheren spirituellen Energie getrieben und durch sie hingelenkt
zu schöpferischem Handeln, einer von Gott gegebenen Arbeit oder Mission, zum
Dienst an einer göttlichen Macht, Idee oder einem Ideal. Das letzte und höchste
Hervortreten des Geistes ist der befreite Mensch. Er hat das Selbst und den
Geist in seinem Innern realisiert, ist in das kosmische Bewußtsein eingetreten,
zur Einung mit dem Ewigen gelangt. Soweit er noch Leben und Handeln annimmt,
wirkt er durch das Licht und die Energie der Macht in seinem Innern, die sich
der Instrumente seiner menschlichen Natur bedient. Umfassendster Ausdruck dieser
spirituellen Umwandlung und Vollendung ist die völlige Befreiung von Seele,
Mental, Herz und Handeln. Sie alle
werden so
umgeprägt, daß sie das kosmische Selbst und die Göttliche Wirklichkeit
empfinden.1 So hat die spirituelle
Entwicklung des Einzelnen ihren Weg gefunden. Ihr Bereich dehnt sich empor bis
zu den erhabenen Himalaya-Höhen und den Gipfeln höchster Natur. Jenseits von
dieser Höhe und Weite eröffnet sich nur noch der Aufstieg zum Supramental oder
zur unaussprechlichen Transzendenz.
Das also war bis jetzt der Lauf, den die Natur bei der
Entwicklung des spirituellen Menschen im mentalen Wesen genommen hat. Man mag
fragen, was denn genau das Ergebnis dieser Leistung und ihre wirkliche Bedeutung
sei. In der jüngsten Reaktion, da sich das Leben des Mentals wieder der Materie
zuwandte, brandmarkte man diese große Wendung und einzigartige Umwandlung, sie
seien keine wahre Evolution des Bewußtseins, eher eine verfeinerte Primitivform
von Unwissenheit, abweichend von der wahren menschlichen Evolution, die einzig
und allein eine Entwicklung der Lebens-Macht des praktischen physischen Mentals,
der das Denken und Verhalten regierenden Vernunft und der entdeckenden und
organisierenden Intelligenz sein sollte. In dieser Epoche wurde die Religion als
veralteter Aberglaube beiseite geschoben. Die spirituelle Erkenntnis und
Erfahrung wurden als düsterer Mystizismus diskreditiert. Nach dieser Anschauung
ist der Mystiker ein Mensch, der abseitige Wege ins Unwirkliche, in okkulte
Regionen eines selbst-konstruierten Landes der Hirngespinste geht und dort
seinen Weg verliere. Dieses Urteil ergibt sich aus einer Betrachtung der Dinge,
die selbst in Mißkredit geraten muß, da sie letztlich von der falschen
Auffassung abhängt, allein das Materielle sei das Wirkliche, und nur das äußere
Leben sei von Bedeutung. Aber abgesehen von dieser extremen materialistischen
Betrachtung der Dinge können Intellekt und physisches Mental wohl behaupten –
eifrig auf Erfüllung des menschlichen Lebens bedacht, tun sie das auch, und das
ist die überwiegende Mentalität, die vorherrschende moderne Tendenz –, die
spirituellen Bestrebungen hätten in der Menschheit doch nur wenig erreicht. Sie
hätten weder das Problem des Lebens noch irgendein anderes Problem gelöst, mit
dem die Menschheit zu ringen hat. Entweder kehre sich der Mystiker als der nur
an der anderen Welt interessierte Asket oder als der entrückte Visionär vom
Leben ab. Oder er bringe an Lösung oder Ergebnis
auch nichts Besseres zuwege als der praktische Mensch oder der Mensch des
Intellekts und der Vernunft. Durch sein Eingreifen verursache er eher Unordnung
unter den menschlichen Werten und entstelle sie durch sein für das menschliche
Verstehen dunkles, befremdendes und unbeweisbares Licht. Er verwirre die klaren
praktischen und vitalen Aufgaben, die das Leben vor uns hinstelle.
Man darf jedoch von diesem Standpunkt aus weder die wahre Bedeutung der spirituellen Evolution im Menschen noch den Wert der Spiritualität beurteilen oder einschätzen. Besteht doch ihr wahres Werk nicht darin, daß sie die menschlichen Probleme auf der vergangenen oder gegenwärtigen mentalen Grundlage löst. Vielmehr hat sie eine neue Grundlegung unseres Wesens, unseres Lebens und unserer Erkenntnis vorzunehmen. Die asketische oder auf eine andere Welt gerichtete Tendenz des Mystikers ist eine extrem positive Bejahung, die dessen Weigerung zugrundeliegt, die Beschränkungen anzuerkennen, die uns von der materiellen Natur aufgezwungen werden: Denn sein eigentlicher Wesens-Grund liegt darin, daß er über sie hinauskommen will. Wenn er sie nicht transformieren kann, muß er sie verlassen. Zugleich hat sich aber der spirituelle Mensch nie ganz außerhalb des Lebens der Menschheit gestellt. Denn im Mittelpunkt des kraftvollen Aufblühens seines Geistes steht das Empfinden der Einheit mit allen Wesen, sein Drängen auf universale Liebe und Mitleid, sein Wille, die Kräfte für das Gute der Menschheit einzusetzen.2 Darum hat er sich dem Helfen gewidmet. Er war ein Führer der Menschen, wie es die Rishis des Altertums oder die Propheten waren. Oder er hat sich selbst entäußert, um schöpferisch tätig zu sein. Wo er das mit der Macht des Geistes getan hat, waren seine Erfolge außerordentlich. Doch ist die Lösung des Problems, die die Spiritualität anbietet, keine solche durch äußere Mittel, auch wenn diese verwendet werden müssen, sondern sie kommt durch innere Umwandlung, durch Transformation des Bewußtseins und der Natur.
Wenn das allgemeine Ergebnis der Spiritualität kein
entscheidendes Resultat brachte, sondern nur einige Beiträge dazu, den Zuwachs
von einigen neuen feineren Elementen zur Summe
des Bewußtseins, aber noch keine Transformation des Lebens, so liegt das daran,
daß der Mensch im allgemeinen den spirituellen Impuls immer zurückgewiesen hat,
sich dem spirituellen Ideal widersetzte oder es nur als etwas Formelles auffaßte
und daß er die innere Umwandlung ablehnte. Man kann der Spiritualität nicht
zumuten, daß sie mit dem Leben auf eine nicht-spirituelle Art umgeht oder daß
sie dessen Übel durch die Allerwelts-Heilmittel der politischen, sozialen oder
anderen mechanischen Kuren zu überwinden sucht, die das Mental ständig
unternimmt, die immer fehlgeschlagen sind und weiter darin versagen werden,
irgendetwas zu lösen. Auch die drastischsten Veränderungen, die durch diese
Mittel bewirkt wurden, haben nichts gewandelt. Denn die alten Übel existieren in
neuer Form weiter. Nur der Aspekt der äußeren Umgebung hat sich verändert, der
Mensch bleibt aber, was er bisher war. Noch immer ist er ein unwissendes
mentales Wesen. Er mißbraucht seine Erkenntnis oder verwendet sie nicht wirksam
genug. Er wird von seinem Ich getrieben, vom vitalen Verlangen, den
Leidenschaften und Bedürfnissen seines Körpers beherrscht. In seinen
Anschauungen ist er ungeistig und oberflächlich. Er kennt weder sein eigenes
Selbst noch die Kräfte, die ihn antreiben und verwenden. Seine Lebensformen
haben Wert nur als Ausdrucksweisen seines individuellen und kollektiven Wesens
auf der Stufe, die sie bis jetzt erreicht haben, oder als Mechanismus für
Bequemlichkeit und Wohlergehen seiner vitalen und körperlichen Seiten und als
Feld und Mittel seines mentalen Wachstums. Sie können ihn aber nicht über sein
gegenwärtiges Ich hinausheben oder ihm als Mechanismus seiner Transformation
dienen. Seine und ihre Vervollkommnung kann nur durch seine weitere Evolution
kommen. Nur eine spirituelle Umwandlung, eine Entwicklung seines Wesens aus dem
oberflächlichen mentalen Bewußtsein zum tieferen spirituellen, kann einen
wirklichen und wirksamen Unterschied herbeiführen. Haupt-Anliegen des
spirituellen Menschen ist, das spirituelle Wesen in sich selbst zu entdecken.
Anderen Menschen zur selben Evolution zu verhelfen, ist sein wirklicher Dienst
an der Menschheit. Bis das geschehen ist, kann äußere Hilfe zwar Beistand und
Erleichterung bringen. Aber nichts oder nur wenig mehr ist dadurch möglich.
Es ist wahr, daß das spirituelle Streben mehr auf das Jenseits als auf dieses Leben gerichtet war. Wahr ist auch, daß die spirituelle Umwandlung etwas Individuelles und nichts Kollektives gewesen ist.
Ihr Ergebnis war nur im
einzelnen Menschen erfolgreich, jedoch nicht erfolgreich oder nur mittelbar
wirksam in der Masse der Menschen. Die spirituelle Evolution der Natur ist noch
im Gange und unvollständig, man könnte sagen, sie steht erst am Anfang, und ihr
hauptsächliches Anliegen war bisher, eine Basis für das spirituelle Bewußtsein
und die spirituelle Erkenntnis sicherzustellen und zu entwickeln, um so immer
mehr eine Grundlage oder Form für die Schau dessen zu erschaffen, was in der
Wahrheit des Geistes ewig ist. Erst wenn die Natur diese intensive Entwicklung
und Gestaltung durch das Individuum vollständig abgesichert hat, kann man etwas
Radikales von sich ausweitendem oder kraftvoll verströmendem Charakter erwarten,
oder daß ein Versuch zu einem kollektiven spirituellen Leben unternommen wird.
Man hat solche Versuche gemacht, meistens freilich, um ein Feld zum Schutz für
das Wachsen der Spiritualität des Einzelnen zu gewinnen. Bis das erfolgreich und
dauerhaft werden kann, muß sich der Einzelne mit seinem eigenen Problem
beschäftigen, sein Mental und Leben völlig umwandeln, in Übereinstimmung mit der
Wahrheit des Geistes, die er in seinem inneren Wesen und Wissen immer mehr
erlangt oder schon erlangt hat. Jeder voreilige Versuch, in großem Maßstab ein
kollektives spirituelles Leben zu schaffen, ist dem Mißerfolg ausgesetzt, auf
seiner dynamischen Seite durch Unvollkommenheit der spirituellen Erkenntnis,
durch die Unvollkommenheiten der einzelnen Suchenden und das Eindringen des
gewöhnlichen Mentals und des vitalen und physischen Bewußtseins, das sich der
Wahrheit bemächtigt, sie mechanisiert, verdunkelt oder verdirbt. Die mentale
Intelligenz und ihre Haupt-Macht, die Vernunft, können das Prinzip und den
beharrlichen Charakter des menschlichen Lebens nicht verändern. Sie können nur
verschiedene Mechanisierungen, Manipulationen, äußere Entwicklungen und
Formgebungen bewirken. Aber selbst wenn das Mental als Ganzes spiritualisiert
würde, könnte es diese Wandlung nicht bewirken. Die Spiritualität befreit und
erleuchtet das innere Wesen. Sie hilft dem Mental, mit dem in Verbindung zu
treten, was höher ist als es selbst, und sogar sich selbst zu entkommen. Sie
kann die äußere Natur von einzelnen menschlichen Wesen durch den inneren Einfluß
läutern und emporheben. Solange sie aber in der Masse der Menschen durch das
Mental als ihr Instrument wirken muß, kann sie zwar Einfluß auf das Erden-Leben
ausüben, aber keine Transformation dieses Lebens zustandebringen. Aus diesem
Grund kam es zu der
überwiegenden Tendenz im
spirituellen Mental, sich mit einem solchen Einfluß zufrieden zu geben und
Erfüllung in einem Leben in einer anderen Welt zu suchen. Oder man gab überhaupt
jedes nach außen gerichtete Bemühen auf und konzentrierte sich allein auf eine
individuelle spirituelle Erlösung oder Vervollkommnung. Um eine von der
Unwissenheit erschaffene Welt völlig umzuwandeln, ist eine höhere instrumentale
Dynamik als die des Mentals notwendig.
Ein anderer Einwand wird nicht etwa gegen den Mystiker
und seine Erkenntnis in dem Sinne erhoben, sie sei dem Leben gegenüber
wirkungslos, vielmehr gegen seine Methode, die Wahrheit zu entdecken, und gegen
die Wahrheit, die er entdeckt. Ein Einwand gegen die Methode lautet, sie sei
etwas rein Subjektives, nicht wirklich unabhängig vom personalen Bewußtsein und
seinen Konstruktionen, und auch nicht nachprüfbar. Diese kritiksüchtige
Begründung hat aber keinen großen Wert. Denn das Ziel des Mystikers ist die
Erkenntnis seines Selbsts und die Erkenntnis Gottes. Dazu kann er nur gelangen,
wenn sein Blick nach innen und nicht nach außen gerichtet ist. Oder er sucht
nach der höchsten Wahrheit der Dinge. Auch zu dieser kann er nicht durch
Forschen nach außen mit den Sinnen oder durch irgendein anderes Untersuchen oder
Erproben gelangen, das sich auf die äußeren und oberflächlichen Seiten bezieht,
auch nicht durch Spekulation, die sich auf die ungewissen Daten mittelbarer
Erkenntnismittel stützt. Die Erkenntnis der Wahrheit muß durch unmittelbare
Schau oder Berührung des Bewußtseins mit der Seele und dem Leib der Wahrheit
selbst geschehen oder durch Erkenntnis durch Identität, durch das Selbst, das
eins wird mit dem Selbst der Dinge und mit ihrer Wahrheit an Macht und
Wesenhaftem. Dagegen wird behauptet, das wirkliche Ergebnis dieser Methode sei
nicht eine einzige Wahrheit, die allen gemeinsam sei, es gebe da große
Verschiedenheiten. Der naheliegende Schluß sei, solches Wissen biete überhaupt
keine Wahrheit, sondern nur eine subjektive mentale Gestaltung. Dieser Einwand
gründet sich aber auf ein Mißverstehen der Art spiritueller Erkenntnis.
Spirituelle Wahrheit ist eine Wahrheit des Geistes, nicht eine Wahrheit des
Intellekts. Sie ist kein mathematischer Lehrsatz, ist keine logische Formel. Sie
ist eine Wahrheit des Unendlichen, eine einzige Wahrheit in unendlicher
Verschiedenheit. Sie kann die unendliche Verschiedenheit von Aspekten und
Gestaltungen annehmen. Unvermeidlich muß es in der spirituellen Entwicklung
einen vielseitigen Zugang und unterschiedliche Wege geben, die einzige Wahrheit zu erreichen; man kann sie von vielen Seiten her
ergreifen. Diese Vielseitigkeit ist das Zeichen dafür, daß sich die Seele einer
lebendigen Wirklichkeit naht, nicht einer Abstraktion oder einem konstruierten
Abbild der Dinge, das in einer toten Formel versteinern kann. Die harte,
logische und intellektuelle Auffassung der Wahrheit als der einzigen Idee, die
alle Menschen annehmen müssen, eines Gedankens oder Systems von Gedanken, die
alle anderen Gedanken oder Systeme unterdrücken, oder eine einzelne begrenzte
Tatsache oder einzelne Formel von Fakten, die alle anerkennen müssen, ist eine
illegitime Übertragung einer begrenzten Wahrheit des physischen Gebiets auf das
viel komplexere und formenreichere Gebiet von Leben, Mental und Geist.
Solche Übertragung ist für viel Schaden verantwortlich.
Sie bringt Enge und Beschränktheit in das Denken. Sie führt zur Unduldsamkeit
gegenüber der notwendigen Unterschiedlichkeit und Vielfalt von Gesichtspunkten,
ohne die es keine Vollständigkeit des Wahrheitsfindens geben kann. Durch diese
Enge und Begrenzung kam es häufig zum Festhalten am Irrtum. Das würdigt die
Philosophie zu einem endlosen Irrgarten unfruchtbarer Dispute herab. Auch in die
Religion ist diese falsche Auffassung eingedrungen und hat sie mit
rechtgläubigem Dogmatismus, mit Fanatismus und Intoleranz vergiftet. Die
Wahrheit des Geistes ist eine Wahrheit des Wesens und Bewußtseins, nicht aber
eine Wahrheit des Denkens. Mentale Ideen können nur eine Facette der Wahrheit
darstellen oder ausdrücken, ein ins Mentale übertragenes Prinzip oder eines
seiner Vermögen, oder sie können ihre Aspekte aufzählen. Wenn man sie aber
wirklich erkennen will, muß man in sie hineinwachsen und sie sein. Ohne dieses
Hineinwachsen und Sein kann es kein wahres spirituelles Wissen geben. Die
fundamentale Wahrheit spiritueller Erfahrung ist eine einzige. Ihr Bewußtsein
ist ein einziges. Überall folgt sie diesen allgemeinen Linien und Tendenzen beim
Erwecken und Wachsen des spirituellen Wesens. Denn diese sind die zwingenden
Gebote des spirituellen Bewußtseins. Auf der Grundlage dieser Gebote gibt es
aber auch zahllose Möglichkeiten der Variation in Erfahrung und Ausdruck: Die
Zentralisierung und Harmonisierung all dieser Möglichkeiten, aber auch das
intensive alleinige Befolgen eines einzelnen dieser Erfahrungswege, beides sind
die notwendigen Bewegungen der in uns hervortretenden spirituellen
Bewußtseins-Kraft. Außerdem muß die Anpassung von Mental und Leben an die
spirituelle Wahrheit und die Art, wie sie sich
durch diese ausdrückt, so lange von der Mentalität des Suchenden verschieden
sein, als er sich noch nicht über alle Notwendigkeit solcher Anpassung oder
solchen begrenzten Ausdruckes erhoben hat. Dieses mentale und vitale Element hat
die Gegensätze geschaffen, die die spirituell Suchenden noch voneinander trennen
oder sich in ihre unterschiedlichen Behauptungen der Wahrheit eindrängen, die
sie erfahren haben. Diese Verschiedenheit und Abwandlung ist für die Freiheit
des spirituellen Suchens und Wachsens notwendig. Über die Verschiedenheiten
hinauszukommen, ist wohl möglich, läßt sich aber am leichtesten in der reinen
Erfahrung tun. In der mentalen Formulierung muß die Unterscheidung bleiben, bis
man völlig über das Mental hinauskommen und die vielseitige Wahrheit des Geistes
in einem höchsten Bewußtsein integral zusammenfassen, vereinen und harmonisieren
kann.
In der Evolution des spirituellen Menschen muß es notwendigerweise viele Stufen und auf jeder Stufe eine große Verschiedenheit individueller Gestaltungen des Wesens, des Bewußtseins, des Lebens, des Temperaments, der Ideen, des Charakters geben. Die Natur des instrumentalen Mentals und die Notwendigkeit, mit dem Leben umzugehen, muß von selbst eine unendliche Abwandlung je nach Entwicklungsstufe und Individualität des Suchenden erzeugen. Aber davon abgesehen braucht gerade das Gebiet der reinen spirituellen Verwirklichung des Selbsts und dessen Ausdruck keine weiße Eintönigkeit zu sein. Es kann eine große Mannigfaltigkeit in der zugrundeliegenden Einheit geben. Das höchste Selbst ist eines, aber der Seelen des Selbsts gibt es viele. So wie der Seele Naturgestalt ist, so wird auch ihr spiritueller Selbst-Ausdruck sein. Mannigfaltigkeit im Einssein ist das Gesetz der Manifestation. Die supramentale Einung und Integration muß diese Verschiedenheiten harmonisieren. Sie zu beseitigen, ist nicht die Absicht des Geistes in der Natur.
1 Das ist das Wesentliche des spirituellen Ideals und der Verwirklichung, auf die uns die Gita hinweist.
2 So die Gita. Die buddhistische Hochschätzung des allumfassenden Mitleidens, karuna, und des Mitgefühls mit allen (“Die ganze Erde ist meine Familie.”), vasudhaiva kutumbakam, als des höchsten Grundsatzes für das Handeln, sowie die Betonung der Liebe durch das Christentum beweisen diese kraftvolle Seite spirituellen Wesens.