Sri Aurobindo
Das Göttliche Leben
Buch 1I
Kapitel XXVIII. Das Göttliche Leben
O sehende Flamme, du
trägst den Menschen der krummen Wege hinein in die bleibende Wahrheit und in das
Wissen.
Rig Veda, I.31.6.
Ich läutere Erde und Himmel durch die Wahrheit.
Rig Veda, I.133.1.
In dem, der sie festhält, setzt seine Ekstase die beiden Geburten in Bewegung, den Ausdruck des menschlichen und den des göttlichen Selbsts, und er bewegt sich zwischen ihnen.
Rig Veda, IX. 86.42.
Mögen die unüberwindlichen Strahlen seiner unmittelbaren Erkenntnis aufleuchten, nach der Unsterblichkeit suchen und beide Geburten durchdringen. Denn durch sie läßt er in einer einzigen Bewegung menschliche Kräfte und göttliche Dinge in Fluß geraten.
Rig Veda, IX. 70.3.
Laß sie alle deinen Willen annehmen, wenn du, ein lebender Gott, aus dem dürren Baum geboren wirst, damit sie Göttlichkeit erlangen und durch die Eile deiner Bewegung zum Besitz der Wahrheit und der Unsterblichkeit kommen.
Rig Veda, I.68.2.
Wir haben uns bemüht, zu entdecken, was Wirklichkeit
und Sinn unseres Daseins als bewußte Wesen im materiellen Universum ist und in
welcher Richtung und wie weit uns dieser Sinn, wenn wir ihn einmal entdeckt
haben, führt, zu welcher menschlichen oder göttlichen Zukunft. Gewiß könnte
unser Dasein hier eine bedeutungslose Laune der Materie selbst oder einer die
Materie aufbauenden Energie sein, es könnte einer unerklärlichen Laune des
Geistes entstammen. Andererseits könnte unser hiesiges Dasein der willkürlichen
Phantasie eines überkosmischen Schöpfers entstammen. In diesem Fall hätte es
keine wesenhafte Bedeutung. Es hätte überhaupt keine Bedeutung, wenn Materie
oder eine unbewußte Energie der phantasiereiche Baumeister wäre, denn dann würde
es bestenfalls die zufällige Darstellung einer wandernden
Spirale des Zufalls oder die starre Kurve blinder Notwendigkeit sein. Es könnte
nur illusorische Bedeutung haben, die sich, wenn sie einem Irrtum des Geistes
entstammt, in nichts auflöst. Ein bewußter Schöpfer mag sehr wohl unserem Dasein
einen Sinn zugrundegelegt haben, der aber durch eine Offenbarung seines Willens
entdeckt werden muß, da er nicht an sich in der Selbst-Natur der Dinge enthalten
und dort entdeckbar ist. Wenn es aber eine selbst-seiende Wirklichkeit gibt,
deren Ergebnis unser Dasein hier ist, dann muß es eine Wahrheit dieser
Wirklichkeit geben, die sich hier manifestiert, ausarbeitet und entwickelt;
diese wird der Sinn unseres Wesens und Lebens sein. Was jene Wirklichkeit auch
sein mag, sie ist etwas, das den Aspekt eines Werdens in der Zeit angenommen
hat, eines unteilbaren Werdens. Denn unsere Gegenwart und unsere Zukunft tragen,
umgewandelt und verändert, die Vergangenheit in sich, die sie erschuf. Und die
Vergangenheit und Zukunft enthielten bereits und enthalten jetzt für uns
unsichtbar, weil sie noch nicht manifestiert, noch nicht entwickelt ist, ihre
eigene Transformation in die noch unerschaffene Zukunft. Der Sinn unseres
hiesigen Daseins bestimmt unser Schicksal. Dieses Schicksal ist bereits in uns
als Notwendigkeit oder Möglichkeit vorhanden, als die Notwendigkeit der
verborgenen und hervortretenden Wirklichkeit unseres Wesens und als die Wahrheit
ihrer Möglichkeiten, die herausgearbeitet werden soll. Wenn beide auch noch
nicht verwirklicht wurden, sind sie doch schon jetzt in dem enthalten, was
bisher manifestiert worden ist. Wenn es ein Wesen gibt, das im Werden
hervortritt, eine Wirklichkeit des Seins, die sich in der Zeit entrollt, dann
ist das, was dieses Wesen, diese Wirklichkeit insgeheim sind, gerade das, was
wir werden sollen. So liegt der Sinn unseres Lebens im Werden.
Bewußtsein und Leben müssen die Schlüsselworte für das sein, was auf diese Weise in der Zeit herausgearbeitet wird. Denn ohne sie wären die Materie und die Welt der Materie ein sinnloses Phänomen, etwas, das sich eben durch Zufall oder durch eine unbewußte Notwendigkeit ereignet hat. Aber das Bewußtsein, wie es ist, und das Leben, wie es ist, können nicht das ganze Geheimnis sein. Denn beide sind ganz deutlich etwas Unvollendetes und befinden sich noch in einem Werde-Prozeß. Bewußtsein ist in uns das Mental. Unser Mental ist aber unwissend und unvollendet, eine vermittelnde Macht. Es ist zu etwas hingewachsen, das jenseits von ihm liegt. Es wächst noch weiter. Es gab niedrigere Bewußtseins-Stufen, die ihm vorausgingen, aus denen es sich erhob.
Ganz offensichtlich muß
es höhere Stufen geben, zu denen es sich erhebt. Vor unserem denkenden,
rationalen, reflektierenden Mental gab es ein noch nicht denkendes, jedoch
lebendiges und empfindendes Bewußtsein. Vor diesem war das Unterbewußte und das
Unbewußte. Wahrscheinlich wartet nach uns oder in unserem jetzt noch
unentwickelten Selbst ein höheres Bewußtsein, das aus sich selbst erhellt und
nicht vom konstruierenden Denken abhängig ist: Unser unvollkommenes und
unwissendes Denk-Mental ist gewiß nicht das letzte Wort des Bewußtseins, nicht
seine äußerste Möglichkeit. Denn das Wesentliche am Bewußtsein ist die Macht,
seines Selbsts und seiner Gegenstände innezusein. Ihrer wahren Art nach muß
diese Macht unmittelbar, selbsterfüllt und vollständig sein. Wenn das Bewußtsein
in uns mittelbar, unvollständig, in seinen Wirkweisen unerfüllt und von
konstruierten Werkzeugen abhängig ist, so deshalb, weil es hier aus einer
ursprünglichen verhüllenden Unbewußtheit hervortritt und noch mit der
anfänglichen Nichtbewußtheit belastet und von ihr umhüllt ist, die dem
Unbewußten angehört. Es muß aber die Macht haben, vollständig hervorzutreten.
Seine Bestimmung muß sein, daß es sich in seine eigene Vollkommenheit, die seine
wahre Natur ist, entwickelt. Völlig seiner Gegenstände bewußt zu sein, ist die
wahre Natur des Bewußtseins. Von diesen Gegenständen ist der erste das Selbst,
das Wesen, das hier sein Bewußtsein entfaltet. Alles übrige ist das, was wir als
das Nicht-Selbst ansehen. Wenn aber das Sein unteilbar ist, dann muß dieses
Nicht-Selbst in Wirklichkeit auch das Selbst sein. Es muß also Bestimmung des
sich entwickelnden Bewußtseins sein, in seiner Bewußtheit vollkommen zu werden,
seiner selbst völlig inne und all-bewußt. Dieser vollkommene und natürliche
Bewußtseins-Zustand ist für uns die Überbewußtheit; er liegt jenseits von uns.
Würde unser Mental plötzlich in ihn versetzt, es könnte zuerst nicht arbeiten.
Zu diesem Überbewußtsein hin muß sich aber unser bewußtes Wesen entwickeln.
Diese Evolution unseres Bewußtseins in die Überbewußtheit, in eine höchste Art
seiner selbst, ist aber nur möglich, wenn die Unbewußtheit, die hier unsere
Grundlage ist, In Wirklichkeit selbst eine involvierte Überbewußtheit ist. Denn
das, was im Werden der Wirklichkeit in uns sein soll, muß hier bereits in seinen
Anfängen involviert, also insgeheim vorhanden sein. Wir können sehr wohl das
Unbewußte als solch ein involviertes Wesen oder als solch eine Macht auffassen,
wenn wir die materielle Schöpfung der unbewußten Energie gründlich erforschen
und erkennen, wie sie mit erstaunlichem
Konstruieren
und unendlichem Planen das Werk einer unermeßlichen involvierten Intelligenz
auszugestalten sich bemüht; wenn wir ferner erkennen, daß wir selbst etwas von
dieser Intelligenz sind, die aus ihrer Involution die Entwicklung eines
Bewußtseins hervorbringt, dessen Hervortreten nicht unterwegs stillstehen kann,
bevor nicht das Involvierte entrollt ist und sich als höchste, völlig des
Selbsts und des Alls bewußte Intelligenz enthüllt. Dieser Intelligenz haben wir
den Namen Supramental oder Gnosis gegeben. Denn es muß offensichtlich das
Bewußtsein der Wirklichkeit, das Wesen, der Geist sein, der verborgen in uns da
ist und sich hier langsam manifestiert. Wir sind die Werdenden dieses Wesens und
müssen in seine Natur emporwachsen.
Wenn Bewußtsein das zentrale Geheimnis ist, dann ist Leben der äußere Hinweis auf es, die effektive Macht des Seienden in der Materie. Denn das Leben befreit das Bewußtsein. Es gibt ihm seine Form oder die Verkörperung seiner Kraft und macht es im materiellen Akt wirksam. Wenn es das höchste Ziel des sich entwickelnden Wesens bei seiner Geburt ist, daß es etwas von sich in der Materie offenbart oder bewirkt, dann ist Leben das äußere und kraftvolle Zeichen dafür; es weist auf die Offenbarung und das Bewirkte hin. Aber auch das Leben ist so, wie es jetzt ist, unvollkommen und in Entwicklung begriffen. Es entwickelt sich durch ein Wachsen von Bewußtsein, wie sich Bewußtsein durch eine höhere Organisation und Vervollkommnung des Lebens entwickelt: Ein höheres Bewußtsein bedeutet ein höheres Leben. Der Mensch, das mentale Wesen, hat deshalb unvollkommenes Leben, weil das Mental nicht die erste und höchste Macht des Bewußtseins des Wesens ist. Selbst wenn das Mental vollendet wäre, gäbe es immer noch etwas, das noch verwirklicht werden muß, noch nicht manifestiert ist. Denn was involviert ist und hervortritt, ist nicht ein Mental, sondern Geist. Und das Mental ist nicht die ursprüngliche Bewußtseins-Dynamik des Geistes. Seine ursprüngliche Dynamik ist das Supramental, das Licht der Gnosis. Wenn also Leben zu einer Manifestation des Geistes werden soll, muß es die schwere Aufgabe und Absicht der evolutionären Natur sein, in uns ein spirituelles Wesen und das göttliche Leben eines vollendeten Bewußtseins in der supramentalen oder gnostischen Macht des spirituellen Wesens zu manifestieren.
Seinem Prinzip nach ist alles spirituelle Leben ein
Hineinwachsen in eine göttliche Lebensweise. Es ist schwierig, die Grenze
festzulegen, wo das mentale Leben aufhört und
das göttliche beginnt; denn beide projizieren sich ineinander, und während eines
langen Zeitraums existieren beide miteinander vermischt. Man kann einen großen
Teil dieses Zwischenbereichs – falls sich das Drängen des Geistes nicht völlig
von der Erde oder der Welt abwendet – als den Prozeß ansehen, in dem ein höheres
Leben ausgestaltet wird. In dem Maß, wie Mental und Leben mit dem Licht des
Geistes erleuchtet werden, ziehen sie etwas an von der Göttlichkeit, der
verborgenen größeren Wirklichkeit, oder reflektieren sie. Das muß zunehmen, bis
dieser ganze Zwischenbereich durchquert und alles Dasein im vollen Licht und in
der Macht des spirituellen Prinzips geeint ist. Damit aber das Drängen der
Evolution gänzlich zur Erfüllung kommen kann, müssen diese Erleuchtung und
Umwandlung das ganze Wesen, Mental, Leben und Körper, empornehmen und neu
schaffen. Es darf nicht nur zu einer inneren Erfahrung des Göttlichen Wesens
kommen, vielmehr sollen beide, das innere und das äußere Dasein, durch seine
Macht neu geprägt werden. Es soll nicht nur im individuellen Leben Form
annehmen, es soll auch ein kollektives Leben gnostischer Individuen als höchste
Macht und Form des Werdens des Geistes in der Erd-Natur begründet werden. Um
dies zu ermöglichen, soll die spirituelle Wesenheit in uns ihre integral
gewordene Vollkommenheit nicht nur des äußeren Zustandes des Wesens, sondern
auch der nach außen wirkenden Macht des Wesens entwickelt haben. Zusammen mit
dieser Vervollkommnung und als eine Notwendigkeit ihres vollständigen Handelns
soll sie ihre eigene Dynamik und den Werkzeugcharakter des äußeren Daseins
entfaltet haben.
Zweifellos kann es ein inneres spirituelles Leben, ein
Himmelreich in unserem Innern, geben, das nicht abhängig ist von irgendeiner
Manifestierung oder Instrumentierung äußerer Art oder von einer Formel des
äußeren Wesens. Das innere Leben ist von höchster spiritueller Bedeutung, das
äußere besitzt seinen Wert nur in dem Maße, wie es den inneren Zustand zum
Ausdruck bringt. Der Mensch der spirituellen Verwirklichung lebt, handelt und
verhält sich bei allen Äußerungen seines Wesens und Handelns so, wie es in der
Gita heißt: “Er lebt und bewegt sich in Mir.” Er ist im Göttlichen Wesen daheim;
er hat das spirituelle Sein realisiert. Lebt der spirituelle Mensch in dem
Empfinden des spirituellen Selbsts, in der Verwirklichung des Göttlichen Wesens
in sich und überall, dann lebt er innerlich ein göttliches Leben. Dessen
Widerschein fällt auf die äußeren Handlungen seines Daseins, selbst wenn diese nicht – oder scheinbar nicht – über die gewöhnliche
Werkzeugverwendung menschlichen Denkens und Handelns in dieser Welt, der
Erden-Natur, hinausgehen. Das ist die erste Wahrheit und das Wesentliche der
Sache. Doch wäre es, vom Gesichtspunkt einer spirituellen Evolution her gesehen,
nur eine individuelle Befreiung und Vervollkommnung innerhalb einer
unveränderten Umgebung im Dasein. In unserer Vorstellung von Gipfelhöhe, vom
göttlichen Ziel, müssen wir eine stärkere Umwandlung in der Erden-Natur selbst
ins Auge fassen, eine spirituelle Umwandlung des ganzen Prinzips und
Werkzeugcharakters von Leben und Handeln, sowie das Hervortreten einer neu
geordneten Gemeinschaft von Menschen und eines neuen Erden-Lebens. Hier wird die
gnostische Umwandlung primär bedeutsam. Man kann alles, was vorausgeht, als
Aufbau und Vorbereitung für diese Umwandlung der gesamten Natur ansehen, was
eine neue Mutation bedeutet. Denn das zur Erfüllung gekommene göttliche Leben
auf Erden muß eine gnostische Art dynamischer Lebensweise sein. Es soll eine
Lebens-Methode werden, die höhere Werkzeuge für die Welt-Erkenntnis und das
Wirken in der Welt zur Dynamisierung des Bewußtseins im physischen Dasein
entwickelt und die Werte einer Welt materieller Natur zu sich empornimmt und
umwandelt.
Immer jedoch muß, ihrer Natur gemäß, die ganze
Grundlegung des gnostischen Lebens etwas Innerliches, nichts Äußerliches sein.
Im Leben des Geistes ist es der Geist, die innere Wirklichkeit, die das Mental,
das vitale Wesen und den Körper zu ihrer Werkzeugverwendung aufgebaut hat und
einsetzt. Denken, Fühlen und Handeln existieren nicht für sich selbst; sie sind
nicht Zweck, sondern Mittel. Sie dienen dazu, die in unserem Innern
manifestierte göttliche Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen. Andernfalls, ohne
diese Innerlichkeit, ohne diese spirituelle Urheberschaft, ist ein höheres oder
göttliches Leben in einem allzu veräußerlichten Bewußtsein oder allein durch
äußere Mittel unmöglich. In unserem gegenwärtigen Leben in der Natur, in unserem
veräußerlichten vordergründigen Dasein, scheint es so, als ob die Welt uns
erschaffe. In der Umkehrung zum spirituellen Leben sind aber wir es, die wir uns
selbst und unsere Welt erschaffen müssen. In dieser neuen Schöpfungs-Formel ist
das innere Leben primär bedeutsam; alles übrige kann nur Ausdruck und Ergebnis
sein. Gerade das wird durch unser Ringen um Vollkommenheit ausgedrückt, um
Vollkommenheit unserer eigenen Seele, unseres Mentals und Lebens und um
Vollkommenheit des Lebens der Menschheit. Denn
wir sind in eine Welt versetzt worden, die dunkel, unwissend, materiell,
unvollkommen ist. Unser äußeres bewußtes Wesen wird geschaffen durch die Kräfte,
den Druck und die prägenden Einwirkungen dieser unermeßlichen stummen
Finsternis, durch die physische Geburt und unsere Umgebung, sowie durch die
Erziehung, die wir durch die Einflüsse und Erschütterungen des Lebens erhalten.
Dennoch sind wir uns in unbestimmter Weise dessen bewußt, daß etwas in uns ist,
oder zu sein sucht, das anders ist als das, was so geschaffen wurde: Geist, der
aus sich selbst existiert, sich selbst bestimmt und unser Wesen drängt, ein
Ebenbild seiner verborgenen Vollkommenheit oder eine Idee von Vollkommenheit zu
erschaffen. Es gibt etwas in uns, das auf dieses Verlangen antwortet und immer
stärker wird. Es ringt danach, das Ebenbild des göttlichen Etwas zu werden. Es
wird auch getrieben, auf die Außenwelt, die ihm gegeben ist, einzuwirken und
auch sie in ein höheres Ebenbild umzuformen, in ein Abbild des eigenen
spirituellen, mentalen und vitalen Wachstums. Es will unsere Welt zu etwas
umwandeln, das nach unserem Mental und unserem das Selbst begreifenden Geist
erschaffen ist, zu etwas Neuem, Harmonischem, Vollkommenem.
Aber unser Mental ist verdunkelt, in seinen
Erkenntnissen partiell, irregeleitet durch gegensätzliche, vordergründige
Erscheinungen und aufgeteilt auf verschiedene Möglichkeiten. Es wird nach drei
verschiedenen Richtungen hin angezogen und kann jede von ihnen bevorzugen. In
seinem Suchen nach dem, was sein soll, konzentriert sich unser Mental auf unser
inneres spirituelles Wachsen, auf unsere Vervollkommnung, auf unser eigenes
individuelles Wesen und inneres Leben. Oder es konzentriert sich ausschließlich
auf die individuelle Entwicklung unserer vordergründigen Natur, auf die
Vervollkommnung unseres Denkens und unserer äußeren dynamischen oder praktischen
Einwirkung auf die Welt, auf irgendeinen Idealismus unserer persönlichen
Beziehung zu unserer Umwelt. Oder das Mental konzentriert sich ganz auf die
äußere Welt: Es will sie besser und geeigneter machen für unsere Ideen und unser
Temperament oder für unsere Auffassung von dem, was sein sollte. Auf der einen
Seite fühlen wir den Ruf unseres spirituellen Wesens. Das ist unser wahres
Selbst, eine transzendente Wirklichkeit, ein Wesen des Göttlichen Wesens, das
nicht von der Welt erschaffen ist, das in sich selbst leben und sich aus der
Welt zur Transzendenz erheben kann. Auf der anderen Seite gibt es die Forderung unserer Umwelt an uns. Sie ist eine kosmische Gestaltung, ein Ausdruck
des Göttlichen Wesens, eine Macht der Wirklichkeit in Verkleidung. Dazu kommt
die zerteilte oder zweifache Forderung unseres der Natur angehörenden Wesens an
uns, das zwischen diesen beiden Begriffen steht, von ihnen abhängt und sie
verbindet. Denn dem äußeren Anschein nach ist es von der Welt erschaffen. Und
doch ist es -da sein wahrer Schöpfer in uns lebt und die Werkzeugausstattung der
Welt, die es zu bilden scheint, nur das zuerst verwendete Mittel ist -in
Wirklichkeit eine Form, eine verkleidete Manifestation eines größeren
spirituellen Wesens in unserem Innern. Diese Forderung vermittelt zwischen jener
Haltung, mit der wir ganz auf unsere innere Vollkommenheit oder unsere
spirituelle Befreiung drängen, und unserem ausschließlichen Interesse an der
äußeren Welt und ihrer Gestaltung. Sie drängt darauf, daß wir eine glücklichere
Beziehung zwischen den beiden Tendenzen finden, und sie erschafft das Ideal
eines besseren Menschen in einer besseren Welt. Jedoch müssen Wirklichkeit,
Ursprung und Grundlage eines vollendeten Lebens in uns selbst gefunden werden.
Keine äußere Gestaltung kann sie ersetzen: Wenn es zu dem wahren Leben kommen
soll, das in der Welt und in der Natur verwirklicht ist, muß das wahre Selbst in
uns selbst realisiert sein.
Bei unserem Hineinwachsen in ein göttliches Leben
müssen wir zuerst nach dem Geist trachten. Es ist offensichtlich, daß nur dann
eine göttliche Lebensweise nach außen hin möglich ist, wenn wir den Geist aus
seinen mentalen, vitalen und physischen Verhüllungen und Verkleidungen heraus
geoffenbart und in uns selbst entwickelt haben; wenn wir ihn mit Geduld, wie es
die Upanishad ausdrückt, aus unserem Körper herausgezogen haben; wenn wir
in uns selbst ein inneres Leben des Geistes erbauen. Zunächst ist es in der Tat
mentale oder vitale Göttlichkeit, die wir wahrnehmen und sein möchten. Aber
gerade dann muß das individuelle mentale Wesen oder das Wesen von Macht, vitaler
Kraft und Begehren in uns zu einer Gestalt dieser Göttlichkeit heranwachsen,
bevor unser Leben in jenem minderen Sinn göttlich sein kann wie das Leben des
infra-spirituellen Übermenschen, des mentalen Halbgottes oder des vitalen
Titanen, des Deva oder des Asura. Ist dieses innere Leben einmal erschaffen, muß
es unser weiteres Anliegen sein, unser gesamtes äußeres Wesen, unser Denken,
Fühlen, Handeln in der Welt, in eine vollkommene Macht dieses inneren Lebens
umzuwandeln. Nur wenn wir auf jene tiefere und höhere Art in unseren dynamischen Wesensseiten leben, kann dort eine Kraft wirken, die höheres Leben
erschafft. Nur so kann die Welt umgebildet werden, entweder in eine gewisse
Macht oder Vollkommenheit von Mental und Leben oder in die Macht und
Vollkommenheit des Geistes. Eine vollendete menschliche Welt kann nicht von
Menschen erschaffen werden oder aus Menschen zusammengesetzt sein, die selbst
unvollkommen sind. Auch wenn alle unsere Handlungen bis ins einzelne durch
Erziehung, Gesetz oder ein soziales oder politisches System geregelt sind, kommt
dabei nur eine schematische Regelung für mentale Wesen, ein modellartiges
Machwerk für Leben, ein künstlich geschaffenes Verhaltensmuster heraus. Eine
erzwungene Übereinstimmung dieser Art kann aber nicht den Menschen umwandeln.
Sie kann ihn nicht im Innern neu erschaffen, keine vollkommene Seele, keinen
vollkommenen denkenden Menschen, kein vollkommenes oder zur Vollkommenheit
heranwachsendes Wesen herausmeißeln oder modellieren. Denn Seele, Mental und
Leben sind Mächte des Wesens; sie können wachsen, aber sie können nicht
modelliert oder künstlich hergestellt werden. Ein äußerer Prozeß oder eine
äußere Gestaltung können zwar Seele, Mental und Leben helfen und sie zum
Ausdruck bringen, sie können sie aber nicht erschaffen oder entwickeln. Gewiß
kann man das Wachstum des Wesens unterstützen, doch nicht durch den Versuch, es
künstlich herzustellen, sondern dadurch, daß man es anregt und beeinflußt oder
ihm die eigenen Kräfte von Seele, Mental und Leben zur Verfügung stellt.
Trotzdem muß es aus seinem Innern wachsen. Es muß von dort und nicht von außen
her entscheiden, was aus diesen Kräften und Einflüssen gemacht werden soll. Das
ist die erste Wahrheit, die wir im schöpferischen Eifer und Streben zu lernen
haben. Sonst ist all unser Bemühen von vornherein dazu verurteilt, sich in einem
erfolglosen Kreislauf zu bewegen, und das Ergebnis, in dem es endet, ein
spektakuläres Versagen.
Die ganze Arbeit der Naturkraft ist darauf gerichtet,
daß wir etwas sind oder etwas werden, daß wir etwas ins Wesen bringen. Erkennen,
Fühlen, Handeln sind untergeordnete Energien, die ihren Wert besitzen, da sie
dem Wesen bei seiner partiellen Selbst-Verwirklichung helfen, das auszudrücken,
was es ist. Und sie unterstützen es auch in seinem Drang, darüber hinaus das
noch nicht Realisierte auszudrücken, nämlich das, was sein soll. Es kann aber
nicht das Wesentliche oder der Zweck des Lebens sein, zu erkennen, zu leben, zu
denken, zu handeln, sei es religiös, ethisch, politisch, sozial, ökonomisch,
utilitaristisch oder genießerisch, ob in
mentaler, vitaler oder physischer Form der Daseinskonstruktion. Denn das sind
nur Aktivitäten der Mächte des Wesens. Oder es sind die Mächte seines Werdens,
krafterfüllte Symbole seiner selbst, Schöpfungen des verkörperten Geistes,
dessen Mittel, das zu entdecken oder zu formulieren, was er zu sein sich bemüht.
Das physische Mental des Menschen ist geneigt, auf eine andere Art zu sehen und
die wahre Methode der Dinge auf den Kopf zu stellen. Nimmt es doch die
oberflächlichen Kräfte oder Erscheinungen der Natur als das Wesentliche und
Grundlegende. Was sie durch sichtbaren oder äußerlichen Prozeß schaffen, hält es
für das Wesentliche ihres Wirkens. Es erkennt nicht, daß das nur eine sekundäre
Erscheinung ist, die einen größeren geheimen Vorgang verdeckt. Denn der
verborgene Prozeß der Natur besteht darin, daß sie das Wesen offenbart, indem
sie dessen Mächte und Formen hervorbringt. Ihr äußerer Druck ist nur ein Mittel,
um das involvierte Wesen aufzuwecken, damit es die Notwendigkeit der Evolution,
der Gestaltung aus dem Selbst, erkennt. Sobald die Natur die spirituelle Stufe
ihrer Evolution erreicht hat, muß der bisher verborgene Vorgang den ganzen
Prozeß bestimmen. Nun wird es grundlegend wichtig, daß wir durch die Verhüllung
der Kräfte bis zu ihrem geheimen Ursprung durchbrechen, der der Geist selbst
ist. Das einzige, das getan werden muß, ist, daß wir wir selbst werden. Unser
wahres Selbst ist aber das, was in unserem Innern ist. Ober unser äußeres Selbst
des Körpers, Lebens und Mentals hinauszukommen, ist die Voraussetzung dafür, daß
wir dieses höchste Wesen werden, das unser wahres und göttliches Wesen ist,
damit wir als dieses offenbare Selbst handeln. Nur wenn wir im Innern wachsen
und im Inneren leben, können wir es finden. Das endgültige Ziel, das diese Kraft
der Natur uns gewiesen hat, ist, daß wir, sobald dies geschehen ist, von dorther
das spirituelle oder göttliche Mental, das entsprechende Leben und den
entsprechenden Körper bilden; daß wir mit diesen Werkzeugen eine Welt schaffen,
die die wahre Umgebung für eine göttliche Lebensweise ist. Dies also ist die
erste Notwendigkeit für uns, daß das Individuum, jeder Einzelne, den Geist, die
göttliche Wirklichkeit in seinem Innern, entdeckt und in seinem ganzen Wesen und
Leben zum Ausdruck bringt. Ein göttliches Leben muß zuerst und vor allem ein
inneres Leben sein. Denn da das Äußere der Ausdruck dessen sein muß, was im
Innern ist, kann es im äußeren Dasein keine Göttlichkeit geben, wenn es keine
Vergöttlichung des inneren Wesens gibt. Das
Göttliche
Wesen im Menschen wohnt verhüllt in seinem spirituellen Zentrum. Für den
Menschen kann es gar nicht möglich sein, über sich selbst hinauszukommen oder
ein höheres Ziel seines Daseins zu verwirklichen, wenn es nicht in seinem Innern
die Wirklichkeit eines ewigen Selbsts und des Geistes gibt.
Zu sein und in vollem Maße zu sein, ist die Absicht der
Natur in uns. Um aber in vollem Maße zu sein, muß man seines eigenen Wesens
völlig bewußt sein: Unbewußtheit, Halb-Bewußtheit oder eine mangelhafte
Bewußtheit ist ein Wesenszustand, in dem wir nicht im Besitz unseres Selbsts
sind. Es ist zwar Dasein, aber nicht die Fülle des Wesens. Im ganzen und
vollständig unseres Selbsts und der ganzen Wahrheit unseres Wesens innezusein,
ist die notwendige Voraussetzung dafür, daß wir unser Dasein wahrhaft besitzen.
Dieses Selbst-Innesein ist es, was man unter spirituellem Wissen versteht. Die
Essenz spirituellen Wissens ist ein inneres, aus dem Selbst seiendes Bewußtsein.
Seine ganze Ausübung von Wissen, eigentlich seine Aktivität jeglicher Art muß
dieses Bewußtsein sein, das sich jeweils formuliert. Alles andere Wissen ist ein
Bewußtsein, das sein Selbst vergessen hat und nun danach strebt, wieder zum
Bewußtsein seines Selbsts und dessen Inhalts zurückzukehren. Es ist eine
Unwissenheit des Selbsts, die sich bemüht, sich wieder zurückzuverwandeln in das
Wissen des Selbsts. Da aber Bewußtsein in sich die Kraft des Seins birgt, müssen
wir, um in vollem Maße zu sein, die innere und integrale Kraft unseres Wesens
haben. Das bedeutet, daß wir in den Besitz der vollen Kraft unseres Selbsts und
all ihrer Verwendung kommen sollen. Es wäre ein nur verstümmeltes oder
vermindertes Dasein, wenn wir bloß da sein würden, ohne daß wir die Kraft
unseres Wesens besitzen, oder nur eine halbe oder mangelhafte Kraft von ihm
hätten. Es wäre bloßes Existieren, aber nicht die Fülle unseres Wesens. Es ist
sicher möglich, nur statisch zu existieren, wobei die Kraft des Wesens in sich
selbst gesammelt und unbeweglich ist. Integrales Sein verlangt dagegen, daß wir
sowohl in der Dynamik wie in der Statik des Wesens sind: Macht des Selbsts ist
das Zeichen für die Göttlichkeit des Selbsts. Geist ohne Macht ist kein Geist.
Wie das spirituelle Bewußtsein etwas Inneres und Selbst-Seiendes ist, muß aber
auch diese Kraft unseres spirituellen Wesens etwas Innerstes sein, automatisch
in ihrem Wirken, aus dem Selbst seiend, das Selbst zur Erfüllung bringend. Jede
Werkzeugausrüstung, die es verwendet, muß ein Teil seiner selbst sein. Ja, jede
äußere Instrumentation, deren sich das
spirituelle Bewußtsein bedient, muß zu einem Teil seiner selbst und zu einer
Ausdrucksform seines Wesens gemacht werden. Die Kraft des Wesens in einer
bewußten Handlung ist Wille, Alles, was der bewußte Wille des Geistes ist, sein
Wille des Wesens und des Werdens, all das muß das ganze Dasein harmonisch zur
Erfüllung bringen können. Jedes Wirken, jede Energie des Wirkens, die diese
Souveränität nicht besitzt oder nicht Meister des Mechanismus ihres Wirkens ist,
trägt durch diesen Mangel das Zeichen der Unvollkommenheit der Wesenskraft, der
Zerteilung oder behindernden Aufspaltung des Bewußtseins, der Unvollständigkeit
in der Manifestation des Wesens an sich.
Letztlich soll das Bewußtsein, um vollständig zu sein, die volle Seins-Seligkeit besitzen. Wesen ohne Seins-Seligkeit, ohne volle innige Freude am eigenen Selbst und an allen Dingen ist etwas Neutrales und Herabgemindertes. Auch es ist ein Seiendes, aber nicht die Fülle des Seins. Auch diese Seligkeit soll eine innere, aus dem Selbst seiende, automatische sein. Sie darf nicht von Dingen außerhalb des Selbsts abhängen. Woran sie ihre tiefe Freude hat, das macht sie zu einem Teil ihrer selbst, sie hat ihre Lust daran als an einem Teil ihrer eigenen Universalität. Alle Un-Seligkeit, aller Schmerz und alles Leiden sind Zeichen von Unvollkommenheit, von Unvollständigkeit. Sie entstehen aus einer Zerteilung des Wesens, aus einer Unvollständigkeit des Bewußtseins des Wesens. Die göttliche Lebensweise besteht darin, daß wir vollkommen werden im Wesen, im Bewußtsein des Wesens, in der Kraft des Wesens, in der Seligkeit des Wesens und daß wir in dieser integrierten Vollständigkeit leben.
In vollem Maße zu sein, bedeutet aber weiter, daß wir
allumfassend sind. Wenn wir innerhalb der Begrenzungen des kleinen beschränkten
Ichs leben, existieren wir zwar auch; es ist aber eine unvollkommene Existenz.
Seiner wirklichen Natur nach bedeutet es ein Leben in einem unvollständigen
Bewußtsein und den Besitz einer unvollständigen Kraft und Seins-Seligkeit. Wir
sind dadurch weniger, als wir selbst eigentlich sind. Das bringt unvermeidlich
mit sich, der Unwissenheit, Schwäche und dem Leiden unterworfen zu sein. Selbst
wenn unsere Natur durch göttliche Zusammensetzung ihrer Art diese Dinge
ausschließen könnte, würden wir doch nur in einem beschränkten Horizont des
Daseins, in einem eingeengten Bewußtsein und in einer begrenzten Macht und
Freude am Sein leben. Alles Wesen ist ein einziges Wesen. In der Fülle leben heißt, in vollem Maße all das zu sein, was ist. So ist
notwendige Voraussetzung für eine integrale göttliche Lebensweise: im Wesen
aller zu sein und alle in unser eigenes Wesen einzubeziehen; des Bewußtseins
aller bewußt zu sein; mit unserer Kraft in die allumfassende Kraft integriert zu
sein; alles Handeln und alle Erfahrung in unserem Innern mitzutragen und als das
eigene Handeln und die eigene Erfahrung zu fühlen; alle Selbste als unser
eigenes Selbst zu erleben; alle Seins-Seligkeit als eigene Seins-Seligkeit zu
empfinden.
Um aber so in Fülle und Freiheit unserer Universalität
allumfassend sein zu können, müssen wir auch übernatürlich sein. Die spirituelle
Fülle des Wesens ist Ewigkeit. Wir besitzen nicht die Wirklichkeit des Selbsts
und nicht die Fülle unseres spirituellen Seins, wenn wir nicht das Bewußtsein
des zeitlos ewigen Wesens haben; wenn wir vom Körper, vom verkörperten Mental
oder vom verkörperten Leben abhängig sind; wenn wir abhängig sind von dieser
oder jener Welt, von dieser oder jener Bedingung des Wesens. Wir sind nur ein
Eintags-Geschöpf, wenn wir nur als ein Selbst des Körpers leben oder nur unser
Körper sind. Dann sind wir dem Tod, dem Begehren, Schmerz und Leiden, Verfall
und Dekadenz ausgeliefert. Es ist also erste Bedingung für eine göttliche
Lebensweise, daß wir das Körper-Bewußtsein transzendieren, über es hinauskommen;
daß wir nicht im Körper oder durch den Körper festgehalten werden; daß wir
vielmehr den Körper als Werkzeug behandeln, als eine mindere äußere Gestaltung
aus dem Selbst. Eine zweite Bedingung ist, daß wir nicht ein der Unwissenheit
und Bewußtseins-Beschränkung unterworfenes Mental bleiben; daß wir das Mental
transzendieren und als Werkzeug behandeln; daß wir es als eine äußere Gestaltung
des Selbsts beherrschen. Eine dritte Bedingung ist, daß wir durch das Selbst und
durch den Geist sind; daß wir nicht vom Leben abhängig sind und uns mit ihm
identifizieren; daß wir das Leben transzendieren, beherrschen und als Ausdruck
und Instrumentation des Selbsts verwenden. Auch das körperliche Leben besitzt
nicht sein Wesen vollständig, seiner Art gemäß, wenn das Bewußtsein nicht
umfassender ist als der Körper und wenn es nicht sein physisches Einssein mit
allem materiellen Dasein fühlt. Auch das vitale Leben besitzt nicht seine
Lebensfülle in ihrer Eigenart, wenn das Bewußtsein nicht über das begrenzte
Spiel individueller Vitalität hinauskommt und das universale Leben als das ihm
eigene ebenso fühlt wie sein Einssein mit allem Leben. Auch die Mentalität ist
kein vollbewußtes Dasein, keine Aktivität ihrer
Art, wenn man nicht über die individuellen mentalen Begrenzungen hinauskommt und
das Einssein mit dem allumfassenden Mental und mit dem Mental aller Menschen
fühlt und nicht seine Freude an der eigenen Bewußtseins-Vollständigkeit deshalb
hat, weil sie in reicher Mannigfaltigkeit zur Erfüllung kommt. Wir sollen aber
nicht nur die Formel des Geistes im Individuum, sondern auch die Formel des
Universums transzendieren. Nur so können beide, das individuelle und das
universale Dasein, ihr wahres Wesen und vollkommene Einstimmung finden. In ihrer
äußeren Formulierung sind beides unvollständige Begriffe der Transzendenz, doch
in ihrer Essenz sind sie vollständig. Nur indem das individuelle und das
universale Bewußtsein dieses Wesenhaften bewußt werden, können sie zu ihrer
eigenen Fülle und zur Freiheit der Wirklichkeit kommen. Sonst bleibt der
Einzelne der kosmischen Bewegung und deren Reaktionen und Begrenzungen
unterworfen und verfehlt dadurch seine vollkommene spirituelle Freiheit. Er muß
in die höchste göttliche Wirklichkeit eingehen, er soll sein Einssein mit ihr
fühlen, er soll in ihr leben, er soll ihr Geschöpf aus dem Selbst sein. Sein
Mental, sein Leben und seine Körperlichkeit sollen in Begriffe ihrer Übernatur
umgewandelt werden. Sein ganzes Denken, alle seine Gefühle und Handlungen sollen
durch die Übernatur bestimmt werden, als deren Selbst-Gestaltung existieren. Das
alles kann in ihm nur vollkommen werden, wenn er sich aus der Unwissenheit in
das Wissen und durch das Wissen in das höchste Bewußtsein mit seiner Dynamik und
Seins-Seligkeit entwickelt hat. Doch kann einiges Wesentliche dieser Dinge und
ihre ausreichende Versorgung mit Werkzeugen schon bei der ersten spirituellen
Umwandlung geschehen, was dann im Leben der gnostischen Übernatur seine höchste
Entfaltung findet.
Diese Dinge sind ohne ein nach innen gerichtetes Leben
unmöglich. Man kann sie nicht erlangen, wenn man im äußeren Bewußtsein
verbleibt, das stets nach draußen gerichtet ist und nur oder hauptsächlich im
Vordergründigen oder von dorther aktiv ist. Der individuelle Mensch muß sein
Selbst, sein wahres Sein finden. Das kann er nur, wenn er nach innen geht, wenn
er in seinem Innern und von dorther lebt. Denn das vordergründige, äußere
Bewußtsein oder Leben, das vom inneren Geist losgetrennt ist, wird zum Feld der
Unwissenheit. Es kann nur über sich selbst hinauskommen und die Unwissenheit
überwinden, indem es sich für die umfassende Weite des inneren Selbsts und
Lebens öffnet. Gibt es überhaupt ein Wesen der
Transzendenz in uns, dann muß es dort, in unserem geheimen Selbst sein. An
unserer Außenseite gibt es nur das Eintags-Wesen unserer Natur, das durch
Begrenzung und Umstände gebildet wird. Wenn sich in uns ein Selbst findet, fähig
zu umfassender Weite und Universalität, fähig, in ein kosmisches Bewußtsein
einzutreten, muß dieses auch in unserem inneren Wesen sein. Das äußere
Bewußtsein ist ein physisches Bewußtsein, das dreifach durch Mental, Leben und
Körper an seine individuellen Begrenzungen gebunden ist. Jeder vom äußeren
Bewußtsein her unternommene Versuch, zur Universalität zu kommen, kann nur zu
einer Aufblähung des Ichs oder zu einer Selbst-Entäußerung der Persönlichkeit
führen, indem diese in der Masse ausgelöscht oder der Masse unterjocht wird. Nur
wenn der Einzelne innerlich wächst, von innen her bewegt wird und handelt, kann
er sein Wesen frei und wirksam, allumfassend und übernatürlich machen. Für eine
göttliche Lebensweise muß es zu einer Verlegung des Zentrums und unmittelbaren
Ursprungs der dynamischen Wirkweisen des Wesens von außen nach innen kommen.
Denn dort ist der Sitz der Seele. Jetzt ist sie ganz oder halb verhüllt, darum
befindet sich unser unmittelbares Wesen und der Ursprung unseres Handelns an
unserer Außenseite. Die Upanishad sagt, der Selbst-Seiende habe in den
Menschen die Tore des Bewußtseins nach außen aufgestoßen. Einige wenige jedoch
wendeten das Auge nach innen. Und diese seien es, die den Geist sehen und
erkennen, die das spirituelle Wesen entfalten. So ist es für die Umwandlung
unserer Natur und für das göttliche Leben zuerst notwendig, daß wir in unser
Inneres schauen, unser Selbst sehen, in unser Inneres eingehen und in ihm leben.
Es ist eine schwierige Aufgabe, dem normalen Bewußtsein
des menschlichen Wesens diese Bewegung nahezulegen, nach innen zu gehen und im
Innern zu leben. Doch gibt es keinen anderen Weg, unser Selbst zu finden. Der
materialistische Denker stellt einen Gegensatz auf zwischen dem Extrovertierten
und dem Introvertierten. Er meint, man müsse die extrovertierte Haltung als die
einzige Sicherheit akzeptieren. Nach innen gehen bedeute, man trete in eine
Finsternis, eine Leere ein, oder man verliere das Gleichgewicht des Bewußtseins
und werde krank. Nur von außen her werde solch inneres Leben, soweit man es
konstruieren könne, entstehen. Unsere Gesundheit sei nur dadurch gesichert, daß
wir uns strikt auf ihre heilenden und nährenden äußeren
Quellen verlassen. Das Gleichgewicht des persönlichen Mentals und Lebens könne
nur dadurch gesichert sein, daß wir uns auf die äußere Wirklichkeit stützen;
denn die materielle Welt sei die einzige fundamentale Wirklichkeit. Das mag für
den physischen Menschen, für den geborenen Extrovertierten zutreffen, der sich
als Geschöpf der äußeren Natur fühlt. Durch sie gebildet, von ihr abhängig,
würde er sich selbst verlieren, wenn er nach innen ginge. Für ihn gibt es kein
inneres Wesen, kein inneres Leben. Aber auch der – nach dieser Unterscheidung –
introvertierte Mensch besitzt nicht das innere Leben. Er ist kein Seher, der das
wahre innere Selbst und die inneren Dinge schaut. Er ist vielmehr der kleine
mentale Mensch, der nur oberflächlich in sich hineinschaut. Dort nimmt er nicht
sein spirituelles Selbst, sondern sein Lebens-Ich, sein Mental-Ich wahr. Nun
beschäftigt er sich in heilloser Weise mit den Regungen dieser kleinen,
armseligen Zwerg-Schöpfung. Die Vorstellung oder Erfahrung innerer Finsternis
ist, wenn er nach innen schaut, die erste Reaktion seiner Mentalität, die immer
nur an der Oberfläche gelebt und das innere Sein nie wirklich erfahren hat. Er
verfügt nur über eine konstruierte innere Erfahrung, die für die Materialien
ihres Wesens von der Außenwelt abhängt. Den Menschen jedoch, in deren Wesen die
Macht eines mehr verinnerlichten Lebens eingedrungen ist, bringt dieser Weg nach
innen und das Leben in der Innerlichkeit nicht Finsternis oder dumpfe Leere,
sondern umfassende Ausweitung. Eine neue Erfahrung bricht in ihnen auf. Es kommt
zu einer größeren Schau und mehr Fähigkeit. Das geweitete Leben wird unendlich
viel wahrer und vielseitiger als jenes erste kleinliche Leben, das nur um seiner
selbst willen von unserem normalen physischen Menschsein konstruiert war. Die
Freude des Wesens ist umfassender und reicher als jede Daseins-Lust, die der
äußere vitale Mensch oder der vordergründige mentale Mensch durch ihre
dynamische Vital-Kraft bzw. die Aktivität oder Subtilität und Ausweitung des
mentalen Daseins erwerben kann. Das Schweigen, das Eintreten in eine weite, ja
ungeheuere oder unendliche Leere ist ein Teil der inneren spirituellen
Erfahrung. Vor diesem Schweigen, vor dieser Öde hat das physische Mental eine
gewisse Angst. Das kleine oberflächlich aktiv denkende oder vitale Mental
schreckt davor zurück oder hat eine Abneigung dagegen, denn es verwechselt das
Schweigen mit mentaler oder vitaler Unfähigkeit und die Leere mit Stillstand
oder Nicht-Sein. Dieses Schweigen ist aber das Schweigen des Geistes. Es ist die
Voraussetzung
für höheres Wissen, für mehr Macht
und tiefere Freude. Durch diese Leere wird der Becher unseres natürlichen Wesens
ausgeleert. Er wird von seinen trüben Inhalten befreit, so daß er mit dem Wein
Gottes gefüllt werden kann. Das ist Übergang, aber nicht in das Nicht-Sein,
sondern in ein höheres Sein. Selbst wenn sich das Wesen dem Stillstand zuwendet,
ist das kein Ende in einem Nicht-Sein, sondern in einem unendlich weiten,
unaussprechlichen Sein des spirituellen Wesens: Wir versinken in die nicht
mitteilbare Überbewußtheit des Absoluten.
Tatsächlich bedeutet aber diese Hinwendung und Bewegung
nach innen nicht, daß wir in unser personales Selbst eingesperrt werden. Sie ist
vielmehr der erste Schritt zur Universalität. Sie vermittelt uns die Wahrheit
sowohl über unser äußeres Dasein als auch über unser inneres Sein. Denn dieses
innere Leben kann sich ausweiten und das universale Leben umfassen. Es kann viel
realer und dynamischer mit dem Leben aller in Berührung kommen, dort eindringen
und es umfassen, weit mehr als das in unserem vordergründigen Bewußtsein
überhaupt möglich ist. Auch wenn wir uns an unserer Außenseite weitmöglichst
allumfassend machen, ist das nur ein armseliges und hinkendes Bemühen, eine
Konstruktion, ein Vorwand, nicht die wirkliche Sache: Denn in unserem
vordergründigen Bewußtsein müssen wir vom Bewußtsein der anderen Menschen
getrennt sein und die Fesseln des Ichs tragen. Gerade hier wird unsere
Ich-Losigkeit zumeist zu einer subtilen Form von Ich-Haftigkeit und geeignet zu
einer noch stärkeren Durchsetzung unseres Ichs. Selbstzufrieden mit unserer Pose
von Altruismus, sehen wir nicht, daß das eine Verschleierung dessen ist, daß wir
anderen Menschen, die wir in unseren ausgeweiteten Umkreis einbeziehen, unser
individuelles Ich, unsere Ideen, unsere mentale und vitale Persönlichkeit und
unser Bedürfnis nach Ausweitung unseres Ichs aufnötigen. Insoweit wir wahrhaft
erfolgreich für andere Menschen leben, wird das durch die innere spirituelle
Kraft von Liebe und Mitempfinden getan. Doch sind das Vermögen und der
Wirkungsbereich dieser Kraft in uns unbedeutend. Die psychische Bewegung, die
das fördert, ist unvollkommen. Ihr Wirken vollzieht sich oft unwissend, weil es
hier zwar eine Berührung von Mental und Herz gibt, unser Wesen jedoch nicht das
Wesen der anderen Menschen in gleicher Weise umfaßt wie unser eigenes. Äußere
Einung mit anderen Menschen muß immer dazu führen, daß das Vordergründige des
Lebens der einen mit dem der anderen von außen
her miteinander verbunden wird. Das innere Ergebnis ist entsprechend gering.
Zwar binden sich unser Mental und Herz mit ihren Regungen an das gemeinsame
Leben und an die Menschen, mit denen wir hier zusammentreffen. Als Fundament
bleibt aber dieses gemeinsame äußerliche Leben bestehen. Die im Innern
konstruierte Einheit, oder was immer von ihr trotz gegenseitiger Unwissenheit,
disharmonischem Egoismus, dem Konflikt der Mentalitäten, Herzen, vitalen
Temperamente und Interessen überhaupt dauerhaft werden kann, ist nur ein
partieller und ungesicherter Überbau. Das spirituelle Bewußtsein, das
spirituelle Leben kehrt dieses Aufbau-Prinzip um. Es gründet sein Wirken im
kollektiven Leben auf innere Erfahrung; die anderen Menschen werden in unser
Wesen einbezogen. Es kommt zum inneren Empfinden und einer Wirklichkeit von
Einssein. Aus diesem Empfinden von Einssein handelt der individuelle spirituelle
Mensch. Das verschafft ihm die unmittelbare Erfahrung des Anspruchs, den das
eine Selbst an das andere stellt. Er kennt das Bedürfnis des Lebens, was gut
ist, das Werk von Liebe und Sympathie, das in Wahrheit geleistet werden kann.
Nur die Verwirklichung der spirituellen Einheit, eine Kraftaufladung des innigen
Bewußtseins, daß wir eins sind, daß in allen Menschen nur ein Selbst ist, kann
das göttliche Leben begründen und sein Wirken durch diese Wahrheit regieren.
Im gnostischen oder göttlichen Wesen, im gnostischen
Leben haben wir ein inniges und vollständiges Bewußtsein vom Selbst der anderen,
ein Bewußtsein ihres Mentals, Lebens, physischen Wesens; wir fühlen sie, als ob
sie unsere eigenen wären. Der gnostische Mensch handelt nicht aus einem
oberflächlichen Gefühl von Liebe und Sympathie oder einem ähnlichen Empfinden,
sondern aus diesem Bewußtsein enger Verbundenheit, aus diesem innigen Einssein.
All sein Wirken in der Welt wird durch eine Wahrheit erleuchtet, in der er
schaut, was getan werden soll. Er fühlt in sich den Willen der Göttlichen
Wirklichkeit, die auch die Göttliche Wirklichkeit in den anderen Menschen ist.
Er vollzieht diesen Willen für das Göttliche Wesen in den anderen Menschen und
für das Göttliche Wesen in allem. So erfüllt er den wahren Zweck des Alls, wie
er ihn im Licht des höchsten Bewußtseins, durch die Art und Weise und die
Schritte erkennt, durch die er in der Macht der Übernatur verwirklicht werden
muß. Der gnostische Mensch findet sein Selbst nicht nur in der eigenen
Erfüllung, die die Erfüllung des Göttlichen Wesens und Willens in ihm darstellt,
sondern auch in der Erfüllung der anderen
Menschen. Seine allumfassende Individualität wirkt sich in der Bewegung aus,
durch die das All in allen Menschen auf ein höheres Werden drängt. Er schaut
überall ein göttliches Wirken. Sein Handeln ist alles, was von ihm zur Summe
dieses göttlichen Wirkens beigetragen wird, von dem inneren Licht, dem Willen
und der Kraft, die in ihm wirken. Es gibt in ihm kein sich absonderndes Ich, das
selbst Urheber von irgendetwas sein will. Vielmehr bedient sich das
Transzendente, das Universale seiner allumfassend gewordenen Individualität, um
nach außen in die Aktion des Universums hineinzuwirken. So wie er nicht für sein
separates Ich lebt, so lebt er auch nicht für die Zwecke irgendeines kollektiven
Ichs. Er lebt im Göttlichen Wesen und lebt für das Göttliche Wesen, das in ihm
selbst, im Kollektiv und in allen Menschen ist. Diese Universalität in Aktion,
die von dem aussehenden Willen im Sinne verwirklichten Einsseins in allen
organisiert wird, ist das Gesetz seiner göttlichen Lebensweise.
Wenn wir vom göttlichen Leben sprechen, meinen wir
zuerst, daß dieser Drang nach individueller Vollkommenheit und nach innerer
Vollendung des Wesens spirituell zur Erfüllung kommen soll. Das ist die erste
wesentliche Voraussetzung für ein vollendetes Leben auf Erden. Wir tun deshalb
recht daran, wenn wir die äußerstmögliche individuelle Vollkommenheit zu unserem
ersten und höchsten Anliegen machen. Unser zweites wichtiges Anliegen ist die
Vollkommenheit der spirituellen und pragmatischen Beziehung des Einzelnen zu
allen Menschen seiner Umgebung. Die Lösung dieses zweiten Erfordernisses liegt
in der vollständigen Universalität und im Einssein mit allem Leben auf Erden.
Das ist das andere, damit zusammenhängende Ergebnis der Entwicklung zum
gnostischen Bewußtsein und zur gnostischen Natur. Doch bleibt als drittes
Erfordernis eine neue Welt, eine Umwandlung im Leben der ganzen Menschheit,
zumindest ein neues vervollkommnetes kollektives Leben in der Erden-Natur. Das
erfordert, daß nicht nur isoliert entwickelte Einzelwesen erscheinen, die in der
unentwickelten Masse wirken, sondern viele gnostische Einzelne eine neue Art
Mensch und ein neues Gemeinschaftsleben gestalten, das dem gegenwärtigen
individuellen und gemeinschaftlichen Dasein überlegen ist. Ein kollektives Leben
dieser Art muß sich offensichtlich nach demselben Prinzip aufbauen wie das Leben
des gnostischen Einzelnen. Es gibt in unserem gegenwärtigen menschlichen Dasein
eine physische Vergesellschaftung, die durch die gemeinsame physische
Lebens-Tatsache und durch all das
zusammengehalten wird, was aus ihr hervorgeht: eine Gemeinschaft der Interessen,
eine gemeinschaftliche Zivilisation und Kultur, ein gemeinsames Sozial-Gesetz,
gleichgeschaltete Mentalität, ökonomischer Zusammenschluß; und es sind die
Ideale, Gefühle und Bemühungen des kollektiven Ichs, die zusammen mit den
individuellen Bindungen und Verbindungen durch das ganze Gewebe hindurchgehen
und helfen, es zusammenzuhalten. Andererseits wird dort, wo es in diesen Dingen
Differenz, Opposition und Konflikt gibt, die praktische gegenseitige Anpassung
oder ein organisierter Kompromiß durch die Notwendigkeiten des Zusammenlebens
erzwungen. Eine natürliche oder eine künstliche Ordnung wird errichtet. Das ist
aber nicht die gnostische, göttliche Methode des kollektiven Zusammenlebens.
Denn das, was dort alle aneinander bindet und zusammenhält, ist nicht die
Tatsache, daß das Leben ein einigermaßen geeintes soziales Bewußtsein schaffen
soll. Vielmehr konsolidiert ein gemeinsames Bewußtsein das gemeinsame Leben. Die
Menschen werden durch die Entwicklung des Wahrheits-Bewußtseins in ihnen geeint.
In der veränderten Seins-Weise, die dieses Bewußtsein in ihnen zustandebringt,
fühlen sie sich als die Verkörperung eines einzigen Selbsts, als die Seelen
einer einzigen Wirklichkeit. Durch die grundlegende Einheit des Wissens
erleuchtet und bewegt, durch ein grundlegend geeintes Wollen und Fühlen
angetrieben, findet durch all das ein Leben, das die spirituelle Wahrheit
ausdrückt, seine natürlichen Werdeformen. Dort ist Recht und Ordnung vorhanden,
denn die Wahrheit des Einsseins erschafft ihre eigene Ordnung. Es mag ein oder
mehrere Gesetze des Zusammenlebens geben, sie sind aber vom Selbst bestimmt. Sie
sind Ausdruck der Wahrheit des spirituell geeinten Wesens und spirituell
geeinten Lebens. Die ganze Gestaltung des gemeinsamen Daseins kommt dadurch
zustande, daß die spirituellen Kräfte, die sich in solch einem Leben spontan
ausarbeiten müssen, sich selbst aufbauen. Diese Kräfte werden vom inneren Wesen
im Innern empfangen und in ursprünglicher Übereinstimmung von Idee, Aktion und
Zweck ausgedrückt oder selbstverwirklicht.
Die mentale Methode, um Übereinstimmung
sicherzustellen, besteht darin, daß die Mechanisierung vermehrt, für alles eine
gemeinsame Norm aufgestellt und alles nach einem gemeinsamen Modell festgelegt
wird. Das ist aber nicht das Gesetz der gnostischen Art zu leben. In ihr gibt es
beachtlich freie Mannigfaltigkeiten der verschiedenen gnostischen Gemeinschaften. Jede muß auf ihre Weise das spirituelle Leben
verkörpern. So bringen dann auch die Individuen einer einzelnen Gemeinschaft ihr
Selbst in beachtlicher Mannigfaltigkeit zum Ausdruck. Diese freie
Mannigfaltigkeit ist aber kein Chaos und schafft keinen Zwist. Denn die
Mannigfaltigkeit der einen Wahrheit des Wissens und der einen Wahrheit des
Lebens gründet sich auf Entsprechung und nicht auf Gegensatz. In einem
gnostischen Bewußtsein ist es unmöglich, daß das Ich auf seiner persönlichen
Idee beharrt, seinen persönlichen Willen und sein Eigeninteresse durchdrückt
oder lautstark erzwingt. Statt dessen gibt es das vereinende Gefühl für eine
gemeinsame Wahrheit in vielen Ausdrucksformen, für ein gemeinsames Selbst in
Bewußtsein und Körper vieler Menschen. Dort herrscht Universalität und
Formbarkeit, die den Einen schaute und in vielen Abbildungen seiner selbst
ausdrückt, die das Einssein in der Mannigfaltigkeit ausarbeitet als das
innewohnende Gesetz des Wahrheits-Bewußtseins und der Wahrheit seiner Natur.
Eine einzige Bewußtseins-Kraft, deren alle bewußt sind und als deren Werkzeuge
sie sich sehen, wirkt durch alle hindurch und bringt ihr Wirken in Einklang. Der
gnostische Mensch fühlt eine einzige harmonische Kraft der Übernatur, die in
allen wirkt. Er empfängt ihre Ausformung in sich selbst. Er gehorcht dem Wissen
und der Macht, die sie ihm für das göttliche Werk gibt. In ihm ist aber kein
Drang oder Zwang, die eigene Macht und Erkenntnis seines Innern der Macht oder
Erkenntnis anderer entgegenzusetzen oder sich selbst als ein Ich im Kampf gegen
das Ich anderer zu behaupten. Denn das spirituelle Selbst hat die eigene
unveränderliche Freude und Fülle, die in allen Lebensumständen unverletzlich
ist. Es hat die Unendlichkeit der Wahrheit seines Wesens: Stets fühlt es deren
Fülle, in welcher Formulierung sie auch hervortritt. Die Wahrheit des Geistes im
Innern hängt nicht von ihrer besonderen Ausdrucksform ab. Sie braucht darum auch
nicht um irgendeine besondere äußere Formulierung und Selbst-Bestätigung zu
kämpfen. Die Formen entstehen hier aus sich selbst gestaltet in der rechten
Beziehung zu anderen Formgebungen, und zwar jede an ihrem Ort in der
Gesamtgestaltung. Wenn sich die Wahrheit des gnostischen Bewußtseins und Wesens
irgendwo fest durchsetzt, kann sie die Harmonie mit jeder anderen Wahrheit des
Wesens in ihrer Umgebung finden. Ein spiritueller oder gnostischer Mensch fühlt
seinen Einklang mit allem gnostischen Leben ringsum, welche Stellung in dem
Ganzen er auch einnimmt. Je nach seinem Platz darin weiß er, wie
er zu lenken oder zu regieren, aber auch, wie er sich unterzuordnen
hat. In beiden findet er gleichmäßige Freude: Kann man doch die Freiheit des
Geistes, weil er ewig, selbst-seiend und unveränderlich ist, ebenso im Dienen,
in williger Unterordnung und Anpassung an das Selbst anderer finden, wie in
Macht und Lenkung. Innere spirituelle Freiheit kann ihren Platz ebenso in der
Wahrheit einer inneren spirituellen Hierarchie annehmen, wie in der mit ihr
nicht unvereinbaren Wahrheit von grundsätzlich spiritueller Gleichberechtigung.
In einem gemeinsamen Leben von verschiedenen Graden und Stufen des sich
entwickelnden gnostischen Wesens ordnet sich die Wahrheit auf diese Weise selbst
und existiert hier als eine natürliche Ordnung des Geistes. Einheit ist die
Grundlage des gnostischen Bewußtseins, gegenseitige Hilfe ist das natürliche
Ergebnis seines unmittelbaren Bewußtseins der Einheit in der Mannigfaltigkeit.
Harmonie ist die unvermeidliche Macht, in der ihre Kraft wirkt. Einheit,
Gegenseitigkeit und Harmonie müssen also das unausweichliche Gesetz eines
gemeinsamen oder kollektiven gnostischen Lebens sein. Welche Formen dieses
annimmt, hängt vom Willen der evolutionären Offenbarung der Übernatur ab; doch
dies ist sein allgemeiner Charakter und sein Prinzip.
Dies ist der ganze Sinn, das innewohnende Gesetz und
das Erforderliche beim Übergang vom rein mentalen und materiellen Wesen und
Leben zum spirituellen und supramentalen Wesen und Leben, daß der Mensch die
Befreiung, Vollkommenheit und Selbst-Erfüllung, nach der er in der Unwissenheit
strebt, nur erlangen kann, wenn er aus seiner jetzigen Natur der Unwissenheit
weitergeht in eine Natur spiritueller Selbst- und Welt-Erkenntnis. Diese höhere
Natur nennen wir Übernatur, weil sie jenseits der jetzt erreichten
Bewußtseins-Stufe und Begabung liegt. In Wirklichkeit ist es aber seine eigene
wahre Natur. Es ist ihre Höhe und Vollkommenheit, zu der er gelangen muß, wenn
er sein wahres Selbst und jede mögliche Entfaltung seines Wesens finden will.
Alles was sich in der Natur ereignet, muß das Ergebnis der Natur selbst sein,
die Auswirkung von etwas, was in sie einbezogen oder ihr eigen ist, als dessen
unvermeidliche Frucht und Konsequenz. Ist unsere Natur nur grundlegende
Unbewußtheit und Unwissenheit, die nur mit Mühe zu unvollkommener Erkenntnis, zu
unvollkommener Formgebung durch Bewußtsein und Wesen gelangt, dann müssen die
Ergebnisse in unserem Wesen, Leben, Handeln und Erschaffen das sein, was sie
jetzt sind: eine ständige Unvollkommenheit, ein ungesichertes halbes Resultat, eine unvollkommene Mentalität, ein unvollkommenes Leben, ein
unvollkommenes physisches Dasein. Wir versuchen, Systeme der Erkenntnis und
Systeme des Lebens zu errichten, um dadurch zu einer gewissen Vervollkommnung
unseres Daseins zu gelangen, zu einer gewissen Ordnung der rechten Beziehungen,
zur rechten Verwendung des Mentals, zum rechten Gebrauch, zu Glück und Schönheit
unseres Lebens, zur rechten Verwendung unseres Körpers. Was wir aber dadurch
erlangen können, ist nur etwas Konstruiertes und Halb-Richtiges, vermischt mit
viel Falschem, das nicht liebenswert ist und unglücklich macht. Weil in unseren
immer neuen Konstruktionen der tückische Fehler steckt, weil Mental und Leben
nirgendwo bei ihrem Suchen dauernde Ruhe finden können, sind sie der Zerstörung,
der Dekadenz und der Auflösung ihrer Ordnung ausgesetzt. Dann gehen wir von
ihnen zu anderen Konstruktionen weiter, die letztlich auch nicht erfolgreicher
und dauerhafter sind, selbst wenn sie nach der einen oder anderen Seite hin
reicher, erfüllter oder rational einleuchtender sein sollten. Das kann nicht
anders sein, da wir nichts konstruieren können, was über unsere Natur
hinausgeht. Wir sind unvollkommen, darum können wir keine Vollkommenheit
konstruieren, wie wundervoll uns auch der Mechanismus, den unsere mentale
Genialität erfindet, und wie erfolgreich nach außen er auch erscheinen mag. Da
wir unwissend sind, können wir kein System einer völlig wahren und
fruchtbringenden Erkenntnis des Selbsts und der Welt konstruieren. Unsere
Wissenschaft ist selbst eine Konstruktion, eine Masse von Formeln und
Erfindungen. In der Erkenntnis der Prozesse und im Erschaffen von geeigneten
Maschinen ist sie meisterhaft. Sie weiß aber nichts über die Grundlagen unseres
Wesens und des Wesens der Welt. Sie kann unsere Natur nicht vervollkommnen.
Darum kann sie auch nicht unser Leben zu etwas Vollkommenem machen.
Unsere Natur, unser Bewußtsein gehören Menschen, die
nichts voneinander wissen, die voneinander getrennt, in ihrem zerteilten Ich
verwurzelt sind. Sie müssen darum ringen, eine Art von Beziehung zwischen ihren
Verkörperungen der Unwissenheit herzustellen. Denn es herrschen in der Natur der
Drang zur Einung und die Kräfte, die auf Einung hinwirken. So werden für
Individuen und Gruppen Übereinstimmungen von relativer und bedingter
Vollkommenheit geschaffen, gesellschaftlicher Zusammenschluß wird erreicht. Im
allgemeinen sind aber die so gebildeten Beziehungen ständig beeinträchtigt durch
unvollkommenes Mitempfinden, unvollkommenes
gegenseitiges Verstehen, grobe Mißverständnisse, Streit, Zwietracht und
Unglücksfälle. Das kann nicht anders sein, solange es keine wahre Einung des
Bewußtseins gibt, die sich auf das Wesen der Selbst-Erkenntnis, des inneren
gegenseitigen Erkennens, auf die innere Verwirklichung der Einheit, auf die
Eintracht unserer inneren Wesens- und Lebens-Kräfte gründet. In unserem
gesellschaftlichen Aufbau mühen wir uns darum, eine gewisse Annäherung an
Einheit, Gegenseitigkeit und Gleichklang herzustellen, weil es ohne diese Dinge
kein vollkommenes gesellschaftliches Zusammenleben geben kann. Was wir hier
aufbauen, ist aber eine konstruierte Einheit, ein Zusammenschluß von Interessen
und Egos, der durch Gesetz und Sitte erzwungen wird und allen eine konstruierte
Ordnung aufnötigt, in der die Interessen der einen die der anderen überwiegen.
Das gesellschaftliche Ganze hält nur eine halbakzeptierte, halb-erzwungene,
halb-natürliche, halb-künstliche gegenseitige Angleichung in Gang. Von
Gemeinschaft zu Gemeinschaft gibt es noch viel weniger Anpassung. Ständig kehrt
der Kampf des einen kollektiven Ichs gegen das andere wieder. Das ist das Beste,
was wir zustandebringen. All unsere hartnäckigen Neu-Anpassungen in der
gesellschaftlichen Ordnung können uns nichts Besseres eintragen als eine
unvollkommene Lebensstruktur.
Nur wenn sich unsere Natur über sich selbst hinaus
entwickelt, wenn sie zu einer Natur von Selbst-Erkenntnis, gegenseitigem
Verstehen, von Einheit, wahrem Wesen und wahrem Leben wird, kann es zu einer
Vervollkommnung unserer selbst und unseres Daseins kommen, zu einem Leben wahren
Wesens, zu einem Leben von Einheit, Gegenseitigkeit und Gleichklang, zu einem
Leben wahren Glücks, zu einem harmonischen und schönen Leben. Bleibt aber unsere
Natur auf das festgelegt, was sie ist und was sie bisher geworden ist, dann ist
keine Vollkommenheit, kein wirkliches und dauerndes Glück im irdischen Leben
möglich. Dann brauchen wir überhaupt nicht danach zu suchen und müssen das
Bestmögliche aus unseren Unvollkommenheiten machen. Oder wir müssen die
Vollkommenheit anderswo, in einem überirdischen Jenseits suchen. Oder wir müssen
über all solches Suchen hinausgehen und das Leben überschreiten, indem wir
unsere Natur und unser Ich in einem Absoluten auslöschen, aus dem dieses unser
befremdendes und unbefriedigendes Wesen einst ins Dasein trat. Gibt es aber in
uns ein spirituelles Wesen, das bereit ist, hervorzutreten, während unser
gegenwärtiger Zustand nur ein unvollkommenes
oder halbes Hervortreten bedeutet, und ist das Unbewußte ein Ausgangspunkt, der
in sich die Machtfülle von Überbewußtheit und Übernatur enthält, die in der
Entwicklung offenbar werden muß, und ist er nur eine Verschleierung durch die
sichtbare Natur, in der jenes höhere Bewußtsein verborgen ist und aus der es
sich selbst zu entfalten hat, und ist die Evolution des Wesens das eigentliche
Gesetz, dann ist das, wonach wir suchen, nicht nur möglich, sondern ein Teil
dessen, was schließlich in der Notwendigkeit der Dinge liegt. Es ist unsere
spirituelle Bestimmung, daß wir jene Übernatur offenbaren und selbst zu ihr
werden, denn sie ist die Natur unseres wahren Selbsts, unser noch verborgenes,
weil unentwickeltes ganzes Wesen. Dann wird die Natur der Einheit unausweichlich
als Lebens-Ergebnis Einheit, Gegenseitigkeit und Harmonie erbringen. Ein inneres
Leben, das zum vollen Bewußtsein und zur umfassenden Macht des Bewußtseins
erwacht ist, wird dann unvermeidlich Frucht tragen in allen Menschen, die es
besitzen: Selbst-Erkenntnis, ein vollendetes Dasein, die Freude eines
zufriedenen Wesens, das Glück einer erfüllten Natur.
Ursprünglich eigen ist dem gnostischen Bewußtsein und
dem Werkzeugcharakter der Übernatur die Vollständigkeit von Betrachten und
Handeln; die Einheit von Wissen zu Wissen; die Aussöhnung zwischen allem, was in
unserer mentalen Betrachtung und Erkenntnis gegensätzlich zu sein scheint; die
Identität von Wissen und Wollen, die als eine einzige Macht in vollkommenem
Einklang mit der Wahrheit der Dinge wirken. Dieser angeborene Charakter der
Übernatur ist die Grundlage für die vollkommene Einheit, Gegenseitigkeit und
Harmonie ihres Wirkens. Im mentalen Wesen besteht ein Zwiespalt zwischen seiner
konstruierten Erkenntnis und der wirklichen oder der ganzen Wahrheit der Dinge,
so daß selbst das, was in ihr wahr ist, oft oder zuletzt, wirkungslos oder nur
zum Teil wirkungsvoll wird. Alles, was wir hier von der Wahrheit entdecken, wird
wieder umgestürzt, was wir mit Leidenschaft an Wahrheit verwirklicht haben, wird
zunichte gemacht. Oft wird das Ergebnis unseres Handelns zum Teil eines Plans,
der nicht in unserer Absicht lag. Oder es geschieht zu einem Zweck, dessen
Rechtmäßigkeit wir nicht anerkennen können. Oder die Wahrheit der Idee wird
durch das wirkliche Ergebnis ihres pragmatischen Erfolgs verfälscht. Und selbst
wenn die Idee erfolgreich verwirklicht worden ist, muß ihr Erfolg früher oder
später in Enttäuschung und neuem Bemühen enden, weil die Idee etwas Unvollständiges, eine isolierte Konstruktion des Mentals und losgelöst
ist von der einen und ganzen Wahrheit der Dinge. Weil eine Disharmonie besteht
zwischen unserer Anschauung und unseren Begriffen einerseits und der wirklichen
Wahrheit und der ganzen Wahrheit der Dinge andererseits und weil unser Mental in
seiner Parteilichkeit und Oberflächlichkeit täuschende Konstruktionen herstellt,
werden wir so tief enttäuscht. Es herrscht aber nicht nur ein Zwiespalt zwischen
der einen und der anderen Erkenntnis, sondern auch zwischen dem einen und dem
anderen Willen und zwischen der Erkenntnis und dem Willen im gleichen Menschen,
eine Zerteilung und Disharmonie in ihm, so daß dort, wo die Erkenntnis reif und
ausreichend ist, ein gewisses Wollen im Menschen ihr Widerstand leistet oder der
Wille ihr gegenüber versagt. Wo aber der Wille mächtig, stürmisch oder fest und
kraftvoll wirkt, fehlt es an der Erkenntnis, die ihn zu seiner rechten
Verwendung lenkt. Alle Arten von Unausgeglichenheit, falscher Anpassung,
Unvollständigkeit unserer Erkenntnis, unseres Wollens oder Vermögens, unserer
ausführenden Kraft oder deren Handhabung greifen ständig in unser Handeln, in
seine Auswirkung in unserem Leben ein. Sie sind eine überreiche Quelle von
Unvollkommenheit oder Untüchtigkeit. Diese Unordnungen, Mängel, Disharmonien
sind normal für Zustand und Energie der Unwissenheit. Sie können nur durch ein
Licht beseitigt werden, das größer ist als das der Mental-Natur oder das der
Lebens-Natur. Der ursprüngliche Charakter alles gnostischen Betrachtens und
Wirkens sind Identität, authentische Einheit und Harmonie von Wahrheit zu
Wahrheit. Sobald das Mental in die Gnosis emporwächst, sobald unser mentales
Betrachten und Handeln in das gnostische Licht emporgehoben oder von ihm besucht
und beherrscht wird, beginnt es, an diesem Charakter teilzuhaben. Selbst wenn es
noch beschränkt und begrenzt ist, muß es viel vollkommener und innerhalb dieser
Grenzen leistungsfähiger werden: Immer mehr vermindern sich die Ursachen unserer
Unfähigkeit und unseres Versagens; schließlich verschwinden sie. Es wird aber
auch ein umfassenderes Dasein mit seinen Machtvollkommenheiten aus einem höheren
Bewußtsein und einer größeren Kraft in unser Mental eindringen; sie werden neue
Mächte des Wesens zum Vorschein bringen. Wissen ist eine Macht und ein Akt des
Bewußtseins. Wille ist bewußte Macht und bewußter Akt der Kraft des Wesens. Im
gnostischen Menschen erlangen beide eine Größenordnung höherer Art, als wir
jetzt irgendwie an ihnen kennen, einen höheren Grad ihrer
selbst und eine reichere Versorgung mit Werkzeugen. Denn überall, wo
es einen Zuwachs an Bewußtsein gibt, vermehrt sich auch die potentielle und die
aktuelle Macht des Daseins.
In der irdischen Formulierung von Wissen und Macht wird
diese Entsprechung nicht voll ersichtlich, weil hier das Bewußtsein selbst in
der ursprünglichen Unbewußtheit verborgen ist. Darum sind seine natürliche
Stärke und der Rhythmus seiner Mächte bei ihrem Erscheinen herabgemindert und
durch die Disharmonien und Verhüllungen der Unwissenheit verwirrt. Das Unbewußte
ist hier die ursprüngliche, machtvolle und automatisch wirksame Kraft. Das
bewußte Mental ist nur ein kleiner, mühevoll arbeitender Agent. Der Grund dafür
ist, daß das bewußte Mental in uns nur einen begrenzten Aktionsradius hat, das
Unbewußte hingegen die ungeheuer starke Aktion eines universalen verborgenen
Bewußtseins ist: Die kosmische Kraft, als materielle Energie verkleidet,
verbirgt durch die aufdringliche Materialität ihres Verfahrens vor uns die
geheime Tatsache, daß das Wirken des Unbewußten in Wirklichkeit der Ausdruck
eines unermeßlichen, allumfassenden Lebens ist, ein verhülltes universales
Mental, eine getarnte Gnosis. Besäße sie nicht diese ihre ursprünglichen Mächte,
sie könnte keine Macht zum Handeln, keinen sie ordnenden Zusammenhang haben. Es
hat auch den Anschein, als ob die Lebens-Kraft in der materiellen Welt
dynamischer und wirksamer sei als das Mental. Unser Mental ist nur in seiner
Idee und Erkenntnis frei und uneingeschränkt mächtig: Seine Aktionskraft, seine
Macht, außerhalb des mentalen Gebiets effektiv zu wirken, ist gezwungen, mit dem
Leben und mit der Materie als ihren Werkzeugen zu arbeiten. Unter den unserem
Mental durch das Leben und die Materie aufgezwungenen Bedingungen wird sie
behindert und nur halb wirksam. Dabei sehen wir aber auch, daß die Natur-Kraft
im mentalen Menschen viel machtvoller bei seinem Umgang mit sich selbst, mit dem
Leben und der Materie ist, als die Natur-Kraft im Tier. Die größere Kraft von
Bewußtsein und Wissen, die hervorgetretene höhere Kraft von Wesen und Willen
begründen diese Überlegenheit. Im menschlichen Leben selbst scheint der vitale
Mensch wegen der Überlegenheit an kinetischer Lebens-Kraft eine stärkere Dynamik
in seinem Handeln zu haben als der mentale Mensch: Der intellektuelle Mensch
neigt dazu, im Denken tüchtig zu sein, aber untüchtig in seiner Macht über die
Welt, während der bewegliche vitale Aktions-Mensch das Leben beherrscht. Aber
gerade seine Verwendung des Mentals befähigt ihn, zu einer vollen Ausnutzung dieser Überlegenheit zu gelangen. Schließlich wird der mentale Mensch
durch seine Macht der Erkenntnis, durch seine Wissenschaft befähigt, die
Bemeisterung seines Daseins weit über das hinaus auszudehnen, was das Leben in
der Materie durch seine Funktionen oder was der vitale Mensch mit seiner
Lebens-Kraft und seinem Lebens-Instinkt ohne diesen Zuwachs an effektivem Wissen
fertigbringen kann. Eine unermeßlich größere Macht über das Dasein und über die
Natur muß kommen, wenn ein noch höheres Bewußtsein hervortritt und die
behinderten Maßnahmen der mentalen Energie in unserer zu stark
individualisierten und begrenzten Daseins-Kraft ersetzt.
Auch inmitten unserer höchsten mentalen Meisterschaft
gegenüber dem Selbst und den Dingen verbleibt doch eine gewisse grundsätzliche
Abhängigkeit des Mentals vom Leben und von der Materie. Das Mental erkennt seine
Unterlegenheit an. Es weiß sich unfähig, das mentale Gesetz unmittelbar
durchzusetzen und durch mentale Mächte die verständnislosen Gesetze und
Funktionen dieser untergeordneten Kräfte des Wesens umzuwandeln. Diese
Begrenzung ist aber nicht unüberwindlich. Die Vertiefung in die geheimen
Erkenntnisse zeigt uns – und eine dynamische Kraft spirituellen Wissens erbringt
uns dasselbe Zeugnis –, daß diese Unterwerfung des Mentals unter die Materie,
des Geistes unter ein minderes Gesetz des Lebens, nicht das ist, was es zuerst
zu sein scheint: Es ist kein grundlegender Zustand in den Dingen, kein
unverletzliches und unveränderliches Gesetz der Natur. Die größte,
bedeutungsvollste natürliche Entdeckung, die der Mensch machen kann, ist, daß
das Mental und noch mehr die Kraft des Geistes über Leben und Materie siegreich
bleiben und sie beherrschen können. Das ist durch viele erprobte und noch nicht
erprobte Wege nach allen Richtungen hin bewiesen, – und zwar durch ihre eigene
Natur und unmittelbare Macht, nicht nur durch Erfindungen und Apparaturen, wie
die von den Naturwissenschaften entdeckten überlegenen materiellen Werkzeuge. In
der Evolution der gnostischen Übernatur kommt diese unmittelbare Macht des
Bewußtseins, diese direkte Einwirkung der Kraft des Wesens, seine freie
Meisterschaft und Kontrolle über Leben und Materie zu ihrer höchsten Entfaltung
und erreicht ihren Gipfel. Denn das höhere Wissen des gnostischen Menschen ist
in der Hauptsache nicht von außen erworbenes und erlerntes Wissen, sondern das
Ergebnis einer Entwicklung des Bewußtseins und der Kraft des Bewußtseins. Es ist
eine neue Dynamisierung des Menschen. Als Folge davon wird er wach für viele Dinge, die jenseits von dem liegen, was er bisher erlangt hatte, und
besitzt sie nun: eine klare und vollständige Erkenntnis seines Selbsts,
unmittelbare Kenntnis der anderen, unmittelbares Wissen von verborgenen Kräften,
unmittelbare Einsicht in den geheimen Mechanismus von Mental, Leben und Materie.
Dieses neue Wissen und das Handeln aus diesem Wissen gründet in einem
unmittelbaren intuitiven Bewußtsein der Dinge und einer unmittelbaren intuitiven
Macht über sie. Eine aktiv wirksame Innenschau, die für uns jetzt etwas
Übernormales ist, wird zum normalen Arbeitsstil dieses Bewußtseins. Ein
integraler gesicherter Erfolg sowohl im Ganzen des Handelns wie in seinen
Einzelheiten ist das Ergebnis dieser Umwandlung. Denn der gnostische Mensch
steht im Einklang und in Übereinstimmung mit der Bewußtseins-Kraft, die allem
zugrundeliegt: Die supramentale Real-Idee, die sich selbst durchsetzende
Wahrheits-Kraft, verwendet sein Schauen und seinen Willen als ihren Kanal. So
wird sein Handeln zu einer freien Offenbarung der Macht und der Wirkweisen der
Ursprungs-Kraft des Seins, der Kraft eines alles bestimmenden bewußten Geistes,
dessen Formulierungen von Bewußtsein sich unfehlbar in Mental, Leben und Materie
auswirken. Wenn so der gnostische Mensch in seiner Entwicklung im Licht und in
der Macht des supramentalen Wissens handelt, wird er immer mehr zum Meister über
sich selbst, zum Herrn über die Kräfte des Bewußtseins, zum Beherrscher der
Energien der Natur und verfügt nun souverän über alle seine Instrumente von
Leben und Materie. In seinem niedrigeren Zustand, auf den Zwischenstufen oder in
den Mittelformen der sich entwickelnden gnostischen Natur, ist diese Macht noch
nicht in ihrer Fülle gegenwärtig, wenn auch in einem gewissen Grad ihrer
Wirkungen schon aktiv vorhanden. Sie ist in ihren Anfängen da und wächst mit dem
Aufstieg auf ihrer Stufenleiter. Sie ist die natürliche Begleiterin des
Wachstums von Bewußtsein und Wissen.
Eine neue Macht und neue Mächte des Bewußtseins werden
also unvermeidlich die Folge einer Entwicklung der Bewußtseins-Kraft sein, die
über das Mental hinaus zu einem höheren Prinzip der Erkenntnis und Dynamik
ansteigt. Ihrer wesenhaften Natur nach müssen diese neuen Mächte charakterisiert
sein durch die Herrschaft des Mentals über Leben und Materie, des bewußten
Lebens-Willens und der Lebens-Kraft über die Materie, des Geistes über Mental,
Leben und Materie. Bezeichnend für sie ist aber auch, daß sie die Schranken
zwischen Seele und Seele, Mental und Mental, Leben und Leben niederbrechen. Eine
solche Umwandlung ist für den Werkzeugcharakter
des gnostischen Lebens unerläßlich. Denn eine vollständige gnostische oder
göttliche Lebensweise umfaßt nicht nur das individuelle Leben des Menschen,
sondern auch das Leben anderer, die mit diesem Einzelnen in einem gemeinsamen,
sie vereinenden Bewußtsein eins geworden sind. Solch ein Leben muß als die
hauptsächliche, es bildende Macht unwillkürliche und angeborene Einheit und
Übereinstimmung besitzen, die nicht künstlich gemacht sind. Das kann nur
Zustandekommen, wenn in den Einzelnen eine größere Identität von Wesen und
Bewußtsein da ist. Sie sind geeint in ihrer spirituellen Substanz. Sie fühlen
sich als Selbste eines einzigen Selbst-Seins. Sie handeln in einer mehr einenden
Kraft von Wissen, in einer höheren Macht des Wesens. Es muß zu einer inneren,
unmittelbaren gegenseitigen Kenntnis kommen, die sich auf ein Bewußtsein von
Einssein und Identität gründet. Man wird sich des beiderseitigen Wissens,
Denkens und Fühlens, der inneren und äußeren Bewegungen bewußt. Es kommt zur
bewußten Kommunikation von Mental und Mental, zwischen den Herzen. So wirkt
bewußt das eine Leben auf das andere ein. Bewußter Austausch zwischen den
Kräften des einen Menschen und denen des anderen wird möglich. Fehlen aber
einige dieser Mächte und ihr intensives Leuchten oder sind sie mangelhaft, kann
es nicht zu einer wirklichen, vollständigen Einung kommen, scheidet aus, daß
sich Wesen, Denken, Fühlen sowie die inneren und äußeren Bewegungen jedes
Einzelnen genau in die der Individuen seiner Umgebung wirklich und ganz
einpassen. So wird das sich weiter entwickelnde Leben dadurch geprägt sein, daß
das Fundament und der Aufbau bewußter Einmütigkeit der Seelen – wie man das
nennen könnte -wachsen.
Die natürliche Ordnung des Geistes ist Harmonie. Sie
ist das innewohnenden Gesetz und die spontane Folge der Einheit in Vielfalt, der
Einheit in Verschiedenheit, einer Manifestation in vielen Variationen des
Einsseins. In einer reinen und leeren Einheit kann es gewiß keinen Raum für
Harmonie geben; denn hier gibt es nichts, was in Einklang zu bringen wäre. In
völliger oder überwiegender Mannigfaltigkeit muß es entweder Gegensätze geben,
oder man schaltet die Unterschiede in einer künstlich hergestellten
Übereinstimmung einander gleich. In der gnostischen Einheit in Vielfalt ist
jedoch die Harmonie als spontaner Ausdruck der Einheit da. Dieser spontane
Ausdruck setzt Gegenseitigkeit des Bewußtseins voraus: Man ist des anderen
Bewußtseins durch unmittelbaren inneren Kontakt
und Austausch inne. Im Leben unterhalb der Vernunft wird die Harmonie durch
instinktives Einssein von Natur aus durch Einheit im Zusammenwirken der Naturen
hergestellt. Es besteht eine instinktive Kommunikation, eine instinktive oder
unmittelbare Verständigung durch vital-intuitive Sinne, durch die die Einzelnen
einer Tier- oder Insekten-Gemeinschaft miteinander verkehren können. Im
menschlichen Leben wird das durch Verständigung mittels der Sinnen-Erkenntnis,
der mentalen Wahrnehmung, der Mitteilung von Ideen durch die Rede ersetzt. Doch
sind die verwendbaren Mittel unvollkommen, Harmonie und Zusammenarbeit
unvollständig. Im gnostischen Leben, einem Leben der Übervernunft und Übernatur,
ist die tief und weit reichende Wurzel des gegenseitigen Verstehens eine des
Selbsts bewußte spirituelle Einheit des Wesens, eine spirituell bewußte
Gemeinschaft und ein Austausch zwischen den Naturen. Dieses höhere Leben hat
neue und überlegene Mittel und Mächte entwickelt, die im Innern das eine
Bewußtsein mit dem anderen Bewußtsein einen. Der natürliche grundlegende
Werkzeugcharakter dieses höheren Lebens liegt in der unmittelbaren Innigkeit,
mit der ein Bewußtsein mit einem anderen Bewußtsein, Gedanke mit Gedanke, Vision
mit Vision, Sinne mit Sinnen, Leben mit Leben, Körper-Bewußtsein mit
Körper-Bewußtsein zuinnerst und unmittelbar kommunizieren. Alle diese neuen
Mächte nehmen die alten äußeren Werkzeuge zu sich empor und verwenden sie – als
untergeordnete Mittel – mit weit größerer Macht und zu umfassenderem Zweck. Sie
stellen sie in den Dienst des Geistes, der sich selbst in einer tiefen Einheit
von Wesen und Leben ausdrückt.
Nun erkennt das moderne Mental eine Entwicklung
angeborener und latenter und dennoch nicht entfalteter Mächte des Bewußtseins
nicht als vertretbar an, weil diese über unsere gegenwärtige Darstellung der
Natur hinausgehen. Unseren unwissenden, voreingenommenen Auffassungen, deren
Grundlage eine begrenzte Erfahrung ist, scheinen sie zum Übernatürlichen,
Wundersamen, Geheimen zu gehören. Gehen sie doch über das bekannte Wirken der
materiellen Energie hinaus, das man bisher gewöhnlich für die einzige Ursache
und Eigenschaft der Dinge und für die einzige Werkzeugausrüstung der Welt-Kraft
gehalten hat. Man akzeptiert jedoch als natürliche Tatsache, daß der bewußte
Mensch Wunder wirken kann, der eine Apparatur von materiellen Kräften entdeckt
und entwickelt, die über all das hinausgehen, was die Natur selbst organisiert
hat, und dadurch unserem Dasein fast unbegrenzte Zukunftsaussichten
eröffnet. Trotzdem wird behauptet, es sei unmöglich, daß der Mensch
Bewußtseins-Mächte und spirituelle, mentale und vitale Kräfte erwecken,
entdecken und als Werkzeuge verwenden könne, die über all das hinausgehen, was
die Natur oder der Mensch bisher organisiert hat. In solch einer Entwicklung
liegt aber nichts Übernatürliches oder Wundersames, es sei denn, insofern sie
ebenso für uns eine Übernatur oder eine höhere Natur ist wie die menschliche
Natur gegenüber der des Tiers, der Pflanze oder materieller Gegenstände. Unser
Mental und seine Mächte, unsere Verwendung der Vernunft, unsere mentale
Eingebung und Einsicht, die Sprache, die Möglichkeiten der philosophischen,
wissenschaftlichen und ästhetischen Entdeckung der Wahrheiten und
Entfaltungsmöglichkeiten des Wesens und die Herrschaft über seine Kräfte, – das
alles ist eine Entwicklung, die stattgefunden hat. Sie würde aber als ganz
unmöglich erscheinen, wenn wir uns auf den Standpunkt des begrenzten
Tier-Bewußtseins und seiner Fähigkeiten stellen würden. Denn dort ist nichts,
was einen so großartigen Fortschritt garantieren könnte. Dennoch gibt es auch im
Tier vage anfängliche Manifestationen, rudimentäre Elemente oder
steckengebliebene Möglichkeiten, zu denen sich unsere Vernunft und Intelligenz
mit ihren außerordentlichen Entwicklungen verhalten wie eine unvorstellbar
erfolgreiche Reise, die man von einem armen und verheißungslosen Ausgangspunkt
aus begann. Die Rudimente der spirituellen Mächte, die zur gnostischen Übernatur
gehören, sind in ähnlicher Weise gerade hier in unserer gewöhnlichen
Kräfte-Zusammensetzung aktiv, doch erscheinen sie nur gelegentlich und selten.
So ist die Annahme nicht unvernünftig, daß auf dieser viel höheren Stufe der
Evolution ein ähnlicher, doch größerer Fortschritt, von diesen rudimentären
Anfängen ausgehend, zu einer weiteren unermeßlichen Entfaltung und einem neuen
Weg in die Zukunft führen kann.
In der Erfahrung der Mystiker weiß man, daß sich neue
Mächte des Bewußtseins entwickeln, sei es sobald sich die inneren Zentren
öffnen, sei es auf andere Weise, spontan oder durch eigenes Wollen und Bemühen
oder entsprechend dem Verlauf des spirituellen Wachstums. Sie treten hervor, als
seien sie das automatische Ergebnis einer inneren Öffnung, oder sie kommen als
Antwort auf einen Anruf im Wesen. Aus diesem Grund hat man es für nötig
gehalten, dem Suchenden zu empfehlen, diesen Mächten nicht nachzujagen, sie gar
nicht anzunehmen und zu verwenden. Solche
Zurückweisung ist für Menschen folgerichtig, die sich aus dem Leben zurückziehen
wollen. Denn jede Annahme größerer Macht bindet sie an das Leben und ist eine
Belastung ihres bloßen und reinen Dranges nach Befreiung. Für den Gott-Liebenden
ist es natürlich, daß er allen anderen Zwecken und Zielen gleichgültig
gegenübersteht, da er ja Gott um Seiner Selbst willen sucht. Er will weder Macht
gewinnen noch anderen niederen Attraktionen folgen. Diesen verführerischen, oft
gefährlichen Kräften nachzustreben, ist ein Abweichen von seinem Ziel. Eine
ähnliche Zurückweisung ist für den unreifen Suchenden notwendige
Selbst-Beschränkung und spirituelle Selbstzucht, da solche Mächte eine große, ja
eine tödliche Gefahr sein können. Denn ihre übernormale Art mag leicht in ihm
eine abnorme Vergrößerung seiner Ichhaftigkeit nähren. Ein nach der
Vollkommenheit strebender Mensch mag sich vor der Macht an sich hüten, weil
Macht ebenso erniedrigen wie erhöhen kann; nichts kann mehr mißbraucht werden
als sie. Diese Einschränkung wird aber ungültig, wenn neue Fähigkeiten als ein
unvermeidliches Ergebnis unseres Hineinwachsens in ein höheres Bewußtsein und in
ein größeres Leben auftreten und wenn dieses Wachsen Teil des wahren Ziels des
spirituellen Wesens in uns ist. Denn ohne eine höhere Bewußtseins-Macht, eine
größere Macht für das Leben und die spontane Entwicklung der nötigen Werkzeuge,
die für die Erkenntnis und Kraft jener Übernatur normal sind, kann das Wesen
nicht in die Übernatur emporwachsen, kann sein Leben nicht in der Übernatur
verlaufen und in ihr vollkommen werden. In dieser zukünftigen Entwicklung des
Wesens gibt es nichts, was man als unvernünftig oder unglaublich ansehen könnte.
Das ist der notwendige Verlauf der Evolution des Bewußtseins und seiner Kräfte
beim Übergang von der mentalen zur gnostischen oder supramentalen Formgebung
unseres Daseins. Diese Wirkweise der Kräfte der Übernatur sind nur ein
natürliches, normales und spontan einfaches Betätigen des neuen höheren oder
größeren Bewußtseins, in das der Mensch im Laufe seiner Selbst-Entwicklung
weitergeht. Der gnostische Mensch, der das gnostische Leben annimmt, entwickelt
und verwendet die Mächte dieses größeren Bewußtseins ebenso, wie der Mensch die
Mächte seiner mentalen Natur entwickelt und verwendet.
Offenkundig ist eine solche Vermehrung der Macht oder
der Mächte des Bewußtseins nicht nur normal, sondern auch für ein höheres und
vollkommeneres Leben unentbehrlich. Soweit im menschlichen Leben eine teilweise Harmonie nicht nur durch ein festgelegtes Gesetz oder
eine Ordnung aufrechterhalten wird, die den Individuen, die die Gemeinschaft
bilden, teils zur freien Annahme überlassen, zum Teil aufgedrängt, zum Teil
aufgezwungen oder unausweichlich aufgenötigt wird, beruht diese Harmonie auf der
Zustimmung der erleuchteten oder interessierten Elemente in ihrem Mental, Herz
und Lebens-Empfinden. Es ist die Zustimmung zu einer aus gemeinsamen Ideen,
Wünschen, vitalen Befriedigungen, Daseinszielen zusammengesetzten mentalen
Verkörperung. Doch ist in der Masse derer, die die Gemeinschaft bilden, nur ein
unvollständiges Verstehen und Wissen von den Ideen, Lebenszielen, Lebensmotiven,
die sie angenommen haben. Unvollkommen ist auch ihre Macht, sie auszuführen, und
unvollkommen ihr Wille, sie stets uneingeschränkt aufrechtzuerhalten, sie voll
auszuführen oder das Leben zu einer höheren Vollkommenheit zu bringen. Darum
herrscht hier ein Element von Kampf und Zwietracht, vieles an unterdrückten oder
enttäuschten Wünschen und frustriertem Wollen; ein brodelndes verdrängtes
Unbehagen oder eine erwachte explosive Unzufriedenheit über ungleich erfüllte
Interessen. Neue Ideen und Lebens-Motive drängen heran und können nicht ohne
Aufruhr und Unruhe eingeordnet werden. In den menschlichen Wesen und ihrer
Umgebung wirken Lebens-Kräfte, die im Gegensatz stehen zu der Harmonie, die
konstruiert worden war. Noch ist nicht die volle Macht da, den Zwist und die
Veränderungen der Verhältnisse zu überwinden, die durch den Zusammenprall der
mannigfaltigen Kräfte in Mental und Leben und durch den Angriff der zersetzenden
Kräfte in der allumfassenden Natur geschaffen werden. Es fehlt an spirituellem
Wissen und an spiritueller Macht, einer Macht aus dem Selbst, einer aus der
inneren Einung mit den anderen Menschen geborenen Macht, einer Macht über die
uns umgebenden und in uns eindringenden Welt-Kräfte, und einer aus umfassender
Schau kommenden und voll ausgerüsteten Macht, das Wissen wirksam zu machen.
Diese Fähigkeiten, die zur eigentlichen Substanz des gnostischen Wesens gehören,
fehlen in uns oder sind nur mangelhaft, doch sind sie ursprünglich im Licht und
in der Dynamik der gnostischen Natur enthalten.
Neben der unvollkommenen gegenseitigen Anpassung von Mental, Herz und Leben jener Individuen, die eine menschliche Gemeinschaft bilden, werden aber auch Mental und Leben des einzelnen Menschen selbst von Kräften angetrieben, die miteinander nicht in Einklang stehen.
Unsere Versuche, sie in
Übereinstimmung zu bringen, sind unvollkommen. Noch unvollkommener ist unsere
Kraft, irgendeine von ihnen zu einer integralen, befriedigenden Betätigung im
Leben einzusetzen. So ist das Gesetz von Liebe und Sympathie für unser
Bewußtsein etwas Natürliches. Wenn wir geistig wachsen, nimmt auch seine
Forderung an uns zu. Da ist aber in uns auch das Verlangen des Intellekts, der
Druck der vitalen Kraft mit ihren Antrieben, der Anspruch und das Drängen von
vielen anderen Elementen, die nicht mit dem Gesetz von Liebe und Sympathie
übereinstimmen. Wir wissen nicht, wie wir sie alle in das Gesetz unseres Daseins
einpassen oder eine von ihnen oder alle richtig und voll wirksam oder zwingend
machen sollen. Damit wir sie im ganzen Wesen und im ganzen Leben übereinstimmend
und aktiv fruchtbar machen können, müssen wir selbst in eine vollständigere
spirituelle Natur emporwachsen. Durch dieses Wachsen sollen wir im Licht und in
der Kraft eines höheren, umfassenderen und vollständigeren Bewußtseins leben, in
dem Wissen und Macht, Liebe und Sympathie sowie das Spiel des Lebens-Willens die
natürlichen und immer gegenwärtigen anerkannten Elemente sind. Wir sollen uns
bewegen und handeln im Licht der Wahrheit, das intuitiv und spontan die Sache,
die getan werden soll, zugleich mit der Art ihrer Ausführung sieht und sich
intuitiv und spontan im Handeln und in der Kraft zur Erfüllung bringt, – indem
es die Fülle unserer Wesens-Kräfte in diese intuitive Spontaneität seiner
Wahrheit und in deren einfache und normale höchste Art empornimmt und alle
Schritte der Natur mit ihren in Einklang gebrachten Wirklichkeiten durchdringt.
Es dürfte klar sein, daß diese Fülle nicht dadurch in
Einklang oder Übereinstimmung gebracht werden kann, daß man die Teile rational
zusammenfügt oder mentale Konstruktionen erfindet. Es kann das nur Eingebung und
Selbst-Erkenntnis des erwachten Geistes tun. Von solcher Art ist die Natur des
entwickelten supramentalen Menschen und sein Dasein. Sein spirituelles Schauen
und seine Sinne nehmen in sein einendes Bewußtsein alle Kräfte des Wesens empor
und erheben sie in die Normalität eines einträchtigen Zusammenwirkens. Denn
dieser Einklang und diese Eintracht sind die wahre Richtschnur des Geistes.
Zwietracht und Disharmonie unseres Lebens und unserer Natur sind für diesen
abnorm, wenn auch für das Leben der Unwissenheit das Normale. Gerade weil sie
für den Geist nicht normal sind, bleibt ein Wissen in unserem Innern
unbefriedigt und ringt um eine höhere Harmonie in
unserem Dasein. Dieser Zusammenklang und diese Eintracht des ganzen Wesens, die
für den gnostischen Einzelnen natürlich ist, soll in gleicher Weise auch etwas
Natürliches für eine Gemeinschaft gnostischer Menschen sein. Denn sie ruht auf
einer Einung von Selbst mit Selbst im Licht einer gemeinsamen und gegenseitigen
Bewußtheit des Selbsts. Es ist richtig, daß innerhalb des totalen irdischen
Daseins, von dem das gnostische Leben ein Teil ist, immer noch ein Leben
weitergeht, das einer weniger entwickelten Ordnung angehört. Das intuitive und
gnostische Leben muß sich in dieses totale Dasein einpassen und in es soviel wie
möglich von seinem Gesetz der Einheit und Harmonie hineinbringen. Es könnte so
aussehen, als ob hier das Gesetz einer spontanen Harmonie unanwendbar sei, weil
die Beziehung des gnostischen Lebens zu dem unwissenden Leben seiner Umgebung
nicht auf die Gegenseitigkeit der Erkenntnis des Selbsts und auf das Empfinden
des einen Wesens und des gemeinsamen Bewußtseins gegründet ist. Das wäre mithin
die Beziehung eines Wirkens aus dem Wissen zu einem Wirken aus der Unwissenheit.
Diese Schwierigkeit braucht aber nicht so groß zu sein, wie sie uns jetzt
erscheint. Denn zum gnostischen Wissen gehört, daß es in sich ein vollkommenes
Verständnis für das Bewußtsein der Unwissenheit besitzt. Darum ist es für ein
gesichertes gnostisches Leben nicht unmöglich, sein Dasein mit dem jedes weniger
entwickelten Lebens in Einklang zu bringen, das mit ihm zusammen in der
Erden-Natur existiert.
Wenn das unsere Bestimmung in der Evolution ist, bleibt
uns zu erkennen, wo wir in dieser kritischen Wende des evolutionären
Fortschritts stehen – eines Fortschritts, der eher in Kreisen und Spiralen als
in einer geraden Linie verlief, der sich zumindest in einer Zickzack-Kurve
vorwärtsbewegte – und ob in naher oder absehbarer Zukunft Aussicht auf eine
Wendung zu einem entscheidenden Schritt besteht. In unserem menschlichen
Verlangen nach personaler Vollkommenheit und nach der Vollkommenheit des Lebens
der Menschheit werfen die Elemente der künftigen Evolution ihren Schatten
voraus. Wir ringen danach, tun das aber in der Verwirrung einer nur
halb-erleuchteten Erkenntnis. Es gibt eine Disharmonie zwischen den notwendigen
Elementen, eine Betonung des Gegensätzlichen, einen Überfluß an rudimentären,
unbefriedigenden und schlecht einander angepaßten Lösungen. Diese schwanken hin
und her zwischen den drei bevorzugten Lösungen unseres Idealismus: vollständige
und einzige Entfaltung des Wesens des Menschen
für sich selbst, die Vervollkommnung des Individuums; volle Entfaltung des
kollektiven Wesens, Vervollkommnung der Gesellschaft; schließlich, pragmatisch
mehr begrenzt, die vollkommenen oder bestmöglichen Beziehungen des Einzelnen zum
Einzelnen und zur Gesellschaft und von Gemeinschaft zu Gemeinschaft. Manchmal
wird ausschließlich oder vorherrschend Gewicht auf das Individuum gelegt,
manchmal auf das Kollektiv oder die Gesellschaft, manchmal auf die richtige und
ausgewogene Beziehung zwischen Individuum und kollektivem Ganzen der Menschheit.
Die eine Idee hält das Wachsen von Leben, Freiheit und Vollkommenheit des
menschlichen Individuums für das wahre Ziel unseres Daseins. Das Ideal kann
entweder nur freier Selbst-Ausdruck des persönlichen Wesens sein oder ein vom
Selbst beherrschtes Ganzes des völlig entfalteten Mentals, des verfeinerten
reichen Lebens und des vollkommenen Körpers oder die spirituelle Vollkommenheit
und Befreiung. Unter diesem Gesichtspunkt existiert die Gesellschaft nur als
Feld für Handeln und Wachsen des individuellen Menschen. Sie erfüllt ihre
Funktion am besten, wenn sie ihm möglichst weiten Raum, reiche Mittel, genügend
Freiheit oder Führung zur Entwicklung seines Denkens, Handelns, Wachsens und
seiner Möglichkeit zur vollen Entfaltung seines Wesens gewährt. Eine
entgegengesetzte Idee legt das meiste oder ausschließliche Gewicht auf das
kollektive Leben: Die Existenz und das Wachsen der Menschheit ist hier alles.
Der Einzelne soll für die Gesellschaft oder für die Menschheit leben. Oder er
gilt sogar nur als eine Zelle der Gesellschaft, das ist sein einziger Nutzen,
der Zweck seiner Geburt. Sein Dasein in der Natur hat keine andere Bedeutung,
keine andere Funktion. Oder man hält die Nation, die Gesellschaft, die
Gemeinschaft für ein kollektives Wesen, das seine Seele in seiner Kultur, in
seiner Lebens-Macht, seinen Idealen und Institutionen, in allen Weisen
offenbart, in denen es sein Selbst zum Ausdruck bringt. Das einzelne Leben soll
von dieser Kulturform geprägt sein, dieser Lebens-Macht dienen und dem
zustimmen, daß es nur als Werkzeug existiert, um das kollektive Dasein
aufrechtzuerhalten und wirksam zu machen. Einer anderen Vorstellung nach liegt
die Vollkommenheit des Menschen in seinen ethischen und sozialen Beziehungen zu
anderen Menschen. Er ist ein gesellschaftliches Wesen und soll für die
Gesellschaft, für die anderen, für seinen Nutzen zugunsten der Menschheit leben.
Auch die Gesellschaft ist dazu da, allen zu dienen, ihnen ihre rechte Beziehung
zueinander, ihre
Erziehung und Ausbildung, ihre
Chancen in der Wirtschaft und einen gerechten Rahmen für ihr Leben zu gewähren.
In den Kulturen des Altertums legte man das größte Gewicht auf die Gemeinschaft
und auf die Eingliederung des Einzelnen in die Gemeinschaft. Immer stärker wurde
aber die Idee einer Vervollkommnung des Einzelnen. Im alten Indien wurde die
Idee vom spirituellen Individuum vorherrschend. Die Gesellschaft war dabei
äußerst wichtig, weil der Einzelne in ihr und unter ihrem prägenden Einfluß
zuerst durch den sozialen Status des physischen, vitalen und mentalen Menschen
hindurchgehen mußte, der sein Interesse und Begehren befriedigt, sowie nach
Wissen und rechtem Leben strebt, bevor er die Stufe erreichen konnte, auf der er
für eine wahre Selbst-Verwirklichung und ein freieres spirituelles Dasein
geeignet war. In neueren Zeiten legt man alles Gewicht auf das Leben der
Gesellschaft. Man sucht nach der vollkommenen Gesellschaft. Zuletzt
konzentrierte man sich auch auf die richtige Organisation und die
wissenschaftliche Mechanisierung des Lebens der Menschheit als eines Ganzen. Man
neigt neuerdings dazu, den einzelnen Menschen nur als Mitglied des Kollektivs,
als eine Einheit innerhalb der menschlichen Rasse anzusehen, dessen Dasein den
gemeinsamen Zielen und dem totalen Interesse der organisierten Gesellschaft
untergeordnet werden muß. Man sieht in ihm viel weniger – oder gar nicht – ein
mentales oder spirituelles Wesen mit eigenem Anrecht auf Dasein und eigener
Verfügungsmacht darüber. Diese Tendenz hat noch nicht überall ihren Höhepunkt
erreicht. Sie wächst aber überall rapide und strebt nach Alleinherrschaft.
So wird in den Wandlungen des menschlichen Denkens der
Einzelne einerseits dazu gedrängt oder dazu eingeladen, die Bejahung seines
eigenen Selbsts, die Entfaltung des eigenen Mentals, Lebens und Körpers, seine
spirituelle Vollkommenheit zu entdecken und zu verfolgen. Andererseits fordert
man von ihm, er solle sich aufgeben und unterordnen; er solle die Ideen, Ideale,
den Willen, die Triebkräfte und Interessen der Gemeinschaft als die seinen
akzeptieren. Von der Natur wird er angetrieben, er solle für sich selbst leben;
von etwas, das tief in seinem Innern ist, wird er dazu gedrängt, seine
Individualität durchzusetzen. Die Gesellschaft und ein gewisser mentaler
Idealismus verlangen von ihm, er solle für die Menschheit oder für das höhere
Wohl der Gemeinschaft leben. Dem Prinzip des Ichs und seinem Interesse begegnet
das Prinzip des Altruismus und stellt sich entgegen. Der Staat errichtet seine Gottheit und verlangt vom Menschen Gehorsam,
Unterwerfung, Unterordnung, Selbst-Aufopferung. Der Einzelne muß gegen diesen
maßlosen Anspruch die Rechte seiner Ideale, seine Ideen, seine Persönlichkeit,
sein Gewissen behaupten. Offensichtlich ist dieser ganze Streit zwischen den
Normen ein unsicheres Tasten der mentalen Unwissenheit des Menschen, die ihren
Weg zu finden sucht und dabei verschiedene Seiten der Wahrheit anpackt, aber aus
Mangel an integraler Ganzheit in ihrer Erkenntnis unfähig ist, sie miteinander
in Einklang zu bringen. Nur Wissen, das vereinen und zur Übereinstimmung bringen
kann, findet den Ausweg. Diese Erkenntnis gehört aber einem tieferen Prinzip
unseres Wesens an, dem Einssein und Vollständigkeit ursprünglich eignen. Nur
wenn wir dieses Prinzip in uns selbst finden, können wir das Problem unseres
Daseins und damit auch das Problem der rechten Art individueller und
gemeinschaftlicher Lebensweise lösen.
Es gibt eine Wirklichkeit, eine Wahrheit alles Seins,
die größer und bleibender ist als alle ihre Gestaltungen und Offenbarungen. Es
muß das Geheimnis der Vollkommenheit sowohl des individuellen wie des
gemeinschaftlichen Menschen sein, daß er diese Wahrheit und Wirklichkeit findet,
in ihr lebt und ihre möglichst vollkommene Manifestation und Gestaltung erlangt.
Diese Wirklichkeit findet sich zuinnerst in jeder Sache; sie verleiht jeder
ihrer Ausgestaltungen ihre Wesens-Macht und ihren Wesens-Wert. Das Universum ist
eine Manifestation der Wirklichkeit. Es gibt eine Wahrheit des universalen
Seins, eine Macht des kosmischen Wesens, ein All-Selbst oder einen Welt-Geist.
Die Menschheit ist eine Gestaltung oder Manifestation der Wirklichkeit innerhalb
des Universums. Es gibt eine Wahrheit und ein Selbst der Menschheit, einen
menschlichen Geist, eine Bestimmung des menschlichen Lebens. Die Gemeinschaft
ist eine Gestaltung der Wirklichkeit, eine Manifestation des Geistes des
Menschen. Es gibt eine Wahrheit, ein Selbst, eine Macht des kollektiven Wesens.
Das Individuum ist eine Gestaltung der Wirklichkeit. Es gibt eine Wahrheit des
Individuums, ein Selbst, eine Seele oder einen Geist des Individuums, der sich
durch Mental, Leben und Körper des Einzelnen zum Ausdruck bringt. Er kann sich
aber auch in etwas ausdrücken, das über Mental, Leben und Körper hinausgeht, ja
durch etwas, das jenseits der Menschheit existiert. Denn unser Menschsein ist
nicht das Ganze der Wirklichkeit, auch nicht ihre bestmögliche Gestaltung und
der Ausdruck ihres Selbsts. Bevor der Mensch existierte,
hatte die Wirklichkeit eine unter-menschliche Gestaltung und Selbst-Schöpfung
angenommen. Sie kann auch nach ihm oder in ihm eine über-menschliche Gestaltung
und Selbst-Schöpfung annehmen. Der Einzelne ist als Geist oder als Wesen nicht
an die Grenzen seines Menschseins gebunden. Er ist weniger als das Menschliche
gewesen, er kann mehr werden als das Menschliche. Das Universum findet sein
Selbst durch ihn ebenso, wie er sein Selbst im Universum findet. Er ist aber
dazu fähig, mehr zu werden als das Universum, da er über es hinauskommen und in
ein Etwas jenseits von diesem in sich und in jenem eintreten kann, das absolut
ist. Er ist auch nicht innerhalb der Gemeinschaft eingegrenzt. Wenn auch sein
Mental und sein Leben in gewisser Weise Teile des gemeinschaftlichen Mentals und
Lebens sind, gibt es doch in ihm etwas, das über diese hinausgehen kann. Die
Gemeinschaft existiert durch das Individuum. Denn ihr Mental, Leben und Körper
werden durch Mental, Leben und Körper der Einzelnen gebildet, die sie
zusammensetzen. Würde sie vernichtet oder aufgelöst, dann würde zwar ihre eigene
Existenz vernichtet und aufgelöst. Doch würden sich Geist oder Macht von ihr
wieder in anderen Individuen neu gestalten. Der individuelle Mensch ist aber
nicht nur eine Zelle des kollektiven Daseins. Er würde nicht aufhören zu
existieren, wenn er von der kollektiven Masse getrennt oder von ihr ausgestoßen
würde. Denn das Kollektiv, die Gemeinschaft ist eben nicht das Ganze der
Menschheit, ist nicht die Welt. Der Einzelne kann auch anderswo in der
Menschheit existieren und sich selbst finden, und er kann für sich selbst in der
Welt leben. Auch wenn die Gemeinschaft ein Leben hat, mit dem sie das der
Einzelnen, die sie bilden, beherrscht, so macht sie doch nicht deren ganzes
Leben aus. Wie die Gesellschaft ihr Wesen besitzt, das sie durch das Leben der
Individuen durchzusetzen sucht, so hat auch der Einzelne sein eigenes Wesen, das
er im Leben der Gemeinschaft zu behaupten sucht. Er selbst ist aber nicht an sie
gebunden. Er kann sich auch in einem anderen gemeinschaftlichen Leben
bestätigen. Wenn er dazu nicht stark genug ist, kann er das Dasein eines Nomaden
führen oder sich in die Einsamkeit des Eremiten zurückziehen. Dort kann er auch,
wenn er nicht ein vollständiges materielles Leben führen oder erreichen kann,
doch spirituell existieren und die eigene Wirklichkeit und das innewohnende
Selbst seines Wesens finden.
Gewiß ist der Einzelne der Schlüssel, mit dem wir das
Geheimnis der evolutionären Bewegung erschließen. Denn es ist der Einzelne, der sein Selbst findet und der Wirklichkeit bewußt wird. Die Bewegung des
Kollektivs ist weithin eine unterbewußte Massenbewegung. Um bewußt zu werden,
muß es sich durch die Individuen Form geben und zum Ausdruck bringen. Sein
allgemeines Massen-Bewußtsein ist immer weniger entwickelt als das Bewußtsein
seiner am höchsten entwickelten Individuen. Es macht nur insofern Fortschritte,
als es ihre Einwirkung annimmt oder weiter entfaltet, was sie entwickeln. Der
Einzelne schuldet seine höchste Loyalität weder dem Staat, der ein Mechanismus
ist, noch der Gemeinschaft, die nur ein Teil des Lebens, nicht aber das Ganze
des Lebens ist. Seine Treue muß der Wahrheit gehören, dem Selbst, dem Geist, dem
Göttlichen Wesen, das in ihm und in allen gegenwärtig ist. Das wahre Ziel seines
Daseins muß für ihn sein, sich nicht der Masse zu unterwerfen, sich nicht in ihr
zu verlieren. Vielmehr soll er jene Wahrheit seines Wesens in sich selbst finden
und zum Ausdruck bringen. Und er soll der Gemeinschaft und der Menschheit bei
ihrem Suchen nach ihrer Wahrheit und nach der Fülle des Wesens helfen. Inwieweit
aber die Macht des individuellen Lebens oder der spirituellen Wirklichkeit im
Innern sich nach außen auswirkt, hängt von der eigenen Entwicklung ab: Solange
der Mensch noch unentwickelt ist, muß er in vielen Beziehungen sein
unentwickeltes Selbst allem unterordnen, was größer ist als dieses. Sobald er
sich entwickelt, nähert er sich der spirituellen Freiheit. Diese Freiheit ist
aber durchaus nichts völlig von dem All-Sein Gesondertes. Sie ist mit diesem
solidarisch verbunden, weil auch dieses das Selbst, der gleiche Geist ist.
Sobald er sich zur spirituellen Freiheit hinbewegt, nähert er sich auch dem
spirituellen Einssein. Der Mensch, der den Geist verwirklicht, der befreite
Mensch, ist, wie die Gita sagt, hauptsächlich mit dem beschäftigt, was
für alle Menschen das Gute ist. Buddha muß, nachdem er den Weg zum
nirvana entdeckt hat, wieder zurückkehren, um denen den Weg dorthin zu
öffnen, die noch unter der Täuschung ihres konstruierten Wesens, statt in ihrem
wahren Wesen-oder im Nicht-Wesen -leben. Vivekananda, vom Absoluten
angezogen, fühlt den Ruf der in das Menschsein verkleideten Göttlichkeit, vor
allem den Aufschrei der Gefallenen und der Leidenden, den Ruf des Selbsts an das
Selbst im dunklen Leib des Universums. Ist der Einzelne einmal zur
Verwirklichung der Wahrheit seines Wesens, zur inneren Befreiung und
Vollkommenheit erwacht, muß das sein primäres Suchen sein, – zunächst weil das
der Ruf des Geistes in seinem Innern ist; aber auch, weil der
Mensch nur dadurch, daß er die Wahrheit seines Wesens freisetzt,
vervollkommnet und verwirklicht, zur Wahrheit des Lebens gelangen kann. Auch
eine vollendete Gemeinschaft kann nur durch die Vollkommenheit ihrer Individuen
existieren. Und die Vollkommenheit kann nur dann kommen, wenn jeder im Leben
sein spirituelles Wesen entdeckt und behauptet und wenn alle ihre spirituelle
Einheit und die daraus folgende Einheit ihres Lebens entdecken. Für uns kann es
nur dann wirkliche Vollkommenheit geben, wenn unser inneres Selbst und die
Wahrheit des spirituellen Seins jegliche Wahrheit des instrumentalen Daseins in
sich empornehmen und ihm Einheit, Verbundenheit und Harmonie verleihen. Wie
unsere einzig wirkliche Freiheit darin besteht, daß wir in unserem Innern die
spirituelle Wirklichkeit entdecken und aus allen Bindungen befreien, so ist auch
unser alleiniges Mittel zur wahren Vollkommenheit, daß wir die spirituelle
Wirklichkeit in allen Elementen unserer Natur souverän und aus dem Selbst
wirksam machen.
Unsere Natur ist vielseitig. Wir müssen einen Schlüssel
zu ihrer völligen Einung und zu ihrer Fülle und Vielfalt finden. Ihre erste
Basis in der Evolution ist das materielle Leben. Mit ihm hat die Natur
angefangen. Auch der Mensch muß mit ihm beginnen. Er muß zuerst sein materielles
und vitales Dasein sichern. Würde er aber hier anhalten, könnte es für ihn keine
Evolution geben. Sein nächstes und höheres Streben muß darauf gerichtet sein,
sich als ein mentales Wesen innerhalb eines materiellen – sowohl individuellen
wie gesellschaftlichen -Lebens zu finden, das möglichst vollkommen ist. Die Idee
der Griechen wies die Zivilisation Europas in diese Richtung. Die Römer haben
sie verstärkt – oder geschwächt – durch das Ideal der organisierten Macht. Der
Kultus der Vernunft, die Interpretation des Lebens durch kritisches,
utilitaristisches, organisierendes und konstruierendes Denken und die
Beherrschung des Lebens durch die Wissenschaft sind das letzte Ergebnis dieser
Inspiration. In alten Zeiten bestand aber das höhere schöpferische dynamische
Element darin, daß man nach einer idealen Wahrheit, nach dem Guten und Schönen
strebte. Man prägte Mental, Leben und Körper durch dieses Ideal eine
Vollkommenheit auf. Sobald aber das Mental im Menschen ausreichend entwickelt
ist, erwacht in ihm, jenseits und oberhalb von diesem, sein wichtigstes
spirituelles Anliegen, das Selbst und die innerste Wahrheit des Seienden zu
entdecken. Er will Mental und Leben zur Wahrheit des Geistes befreien und durch die Macht des Geistes Solidarität, Einheit und
Gegenseitigkeit aller Menschen im Geist vervollkommnen. Das war das Ideal des
Ostens, das durch den Buddhismus und andere alte Disziplinen zu den Küsten
Asiens und Ägyptens getragen wurde und von dort durch das Christentum nach
Europa einströmte. Aber diese Antriebskräfte, die eine Zeitlang wie das Licht
schwach-leuchtender Fackeln Verwirrung und Finsternis erhellten, mit der die
alten Zivilisationen in der Barbaren-Flut untergingen, wurden vom modernen Geist
aufgegeben. Er hatte ein anderes Licht entdeckt, das Licht der Wissenschaft. Man
suchte jetzt nach der höchsten Vollkommenheit der ökonomischen Gesellschaft,
nach einer idealen materiellen Organisation von Zivilisation und Bequemlichkeit,
nach der Verwendung der Vernunft, Wissenschaft und Erziehung zur allgemeinen
Verbreitung einer utilitaristischen Rationalität, die das Individuum zu einem
vollkommen gewordenen sozialen Wesen in einer vollkommenen ökonomischen
Gesellschaft macht. Was vom spirituellen Ideal übrigblieb, war – eine Zeitlang –
die mentalisierte und moralisierte humanitäre Haltung, die alle religiöse
Färbung und soziale Ethik abgelegt hatte. Man hielt das für völlig ausreichend,
um die religiöse und individuelle Ethik zu ersetzen. So weit war die Menschheit
gekommen, als sie fand, daß sie sich durch die Schnelligkeit ihrer eigenen
Bewegung in ein subjektives Chaos und in ein Chaos ihres Lebens gestürzt hatte,
in dem alle überkommenen Werte vernichtet waren und jeder gesicherte Boden unter
ihrer sozialen Organisation, ihrem Verhalten und ihrer Kultur zu schwinden
schien.
Denn dieses Ideal, das Gewicht bewußt auf das
materielle und ökonomische Leben zu legen, war in Wirklichkeit ein Rückfall der
Zivilisation in jenen ersten Zustand des Menschen, in seine frühere Barbarei,
als er sich hauptsächlich mit dem Leben und der Materie befaßte. Es ist ein
spiritueller Rückschritt, bei dem ihm die Hilfsmittel des Mentals einer
entwickelten Menschheit und eine voll entfaltete Wissenschaft zur Verfügung
stehen. Die Betonung eines vollendeten ökonomischen und materiellen Daseins hat
als Element in der ganzen Fülle menschlichen Lebens gewiß seinen Platz im
Ganzen. Wird aber das Hauptgewicht allein oder vorherrschend hierauf gelegt,
dann wird es für die Menschheit und für die Evolution an sich sehr gefährlich.
Die erste Gefahr ist, daß die alte vitale und materielle Barbarei in
zivilisierter Form wiederersteht. Die Mittel, die die Wissenschaft uns zur
Verfügung stellt, schalten zwar die Gefahr aus, daß eine kraftlos und senil gewordene Zivilisation von stärkeren primitiven Völkern unterhöhlt und
zerstört wird. Die Gefahr liegt aber darin, daß die Barbarei wieder in uns
selbst, im zivilisierten Menschen ersteht. Das ist es, was wir überall rings um
uns sehen. Denn das muß notwendig eintreten, wenn es kein hohes und strenges
mentales oder moralisches Ideal gibt, das den vitalen und physischen Menschen in
uns emporhebt, wenn ihn kein spirituelles Ideal von seinem Ich befreit und in
sein inneres Wesen führt. Vermeidet man einen solchen Rückfall, besteht noch
eine andere Gefahr. Denn eine andere mögliche Konsequenz ist, daß der Drang zur
Entwicklung nachläßt und das gesellschaftliche Leben sich in einem stabilen,
bequemen Mechanismus ohne Ideal oder höheren Ausblick auskristallisiert. Die
Vernunft an sich kann die Menschheit nicht lange in ihrem Fortschritt erhalten.
Sie kann das nur, solange sie eine Mittlerin zwischen Leben und Körper
einerseits und etwas Höherem und Größerem im Innern des Menschen andererseits
ist. Denn allein diese innere spirituelle Not, das Drängen aus Jenem her, das in
ihm noch unverwirklicht ist, hält im Menschen, wenn er einmal die Stufe des
Mentals erreicht hat, den evolutionären Druck, das Streben zum Geist lebendig.
Weist er das zurück, muß er entweder zurückfallen und alles von neuem beginnen.
Oder er muß, wie andere Formen des Lebens vor ihm, als ein Versager der
Evolution verschwinden, weil er unfähig ist, das Drängen der Entwicklung
durchzuhalten oder ihm zu dienen. Bestenfalls wird er dann irgendwie als Typus
mittelmäßiger Vollkommenheit steckenbleiben, wie das bei anderen Tierformen der
Fall ist, während die Natur ihren Weg über ihn hinaus zu einer höheren Schöpfung
fortsetzt.
Im Augenblick macht die Menschheit eine Krisis ihrer
Evolution durch, in der sich eine Entscheidung über ihr Schicksal verbirgt. Denn
sie hat eine Stufe erreicht, auf der das menschliche Mental in gewissen
Richtungen eine enorme Entwicklung vollzogen hat. In anderen bleibt sie verwirrt
stehen und kann ihren Weg nicht mehr finden. Des Menschen immer aktives Mental
und sein Lebens-Wille haben ein Gebäude des äußeren Lebens errichtet, eine
Konstruktion von nicht mehr zu bewältigender ungeheurer Größe und
Kompliziertheit. Diese soll seinen mentalen, vitalen und körperlichen Ansprüchen
und Forderungen dienen. Er hat einen komplizierten politischen,
gesellschaftlichen, administrativen, ökonomischen und kulturellen Apparat als
organisiertes kollektives Mittel, um seine intellektuellen, sinnlichen,
ästhetischen und materiellen Bedürfnisse zu
befriedigen. So hat der Mensch ein System der Zivilisation errichtet, das zu
groß geworden ist, als daß er es mit seinem beschränkten mentalen Vermögen und
Verständnis und seinen noch mehr begrenzten spirituellen und moralischen
Fähigkeiten verwenden und handhaben könnte. Er ist ein allzu gefährlicher Knecht
seines stümperhaften Ichs und seiner Gelüste geworden. Denn in seinem Bewußtsein
ist noch kein höheres schauendes Mental und keine intuitive Seele des Wissens
hervorgetreten, die aus einer solchen Lebensfülle an der Basis die Voraussetzung
schaffen könnte für das freie Wachsen von etwas, das mehr ist als das Mental.
Diese neue Fülle der Mittel des Lebens könnte für ihn durch ihre Macht, ihn von
dem unaufhörlichen, nie befriedigten Druck seiner ökonomischen und physischen
Bedürfnisse zu befreien, zu einer großen Hilfe werden, andere, höhere Ziele zu
verfolgen, die über das materielle Dasein hinausgehen. So könnte er eine höhere
Wahrheit, das Gute und die Schönheit entdecken. Er könnte einen höheren
göttlichen Geist neu gewahren, der eingreift und das Leben zur höheren
Vollendung des Wesens führt. Statt dessen wird aber die neue Fülle dazu
verwendet, neue Bedürfnisse zu wecken und das kollektive Ich in aggressiver
Weise auszudehnen. Zugleich hat ihm die Wissenschaft viele Möglichkeiten der
universalen Kraft zur Verfügung gestellt und das Leben der Menschheit materiell
zu einem einzigen gemacht. Der Träger aber, der diese universale Kraft
verwendet, ist ein kleines menschliches Individuum oder ein gesellschaftliches
Ich, das im Licht seiner Erkenntnis oder in seinen Bewegungen nichts
Allumfassendes besitzt. Dieser Mensch hat kein inneres Empfinden und keine
Macht, die in diesem physischen Schrumpfen der menschlichen Welt die wahre
Lebens-Einheit, mentale oder spirituelle Einheit bewerkstelligen könnte. Alles,
was sich hier abspielt, ist das Chaos zusammenprallender mentaler Ideen. Es ist
der vielfache Druck von individuellem und kollektivem physischen Mangel und
Bedürfen. Es sind vitale Ansprüche und Wünsche, die Triebe eines unwissenden
Lebens-Dranges, des Hungers und der Forderungen nach Lebens-Befriedigung für die
Einzelnen, die Klassen und Nationen. Das ist ein reicher Nährboden für
politische, soziale und ökonomische Quacksalbereien und Ideologien, ein
Durcheinander von Schlagwörtern und Allheilmitteln. Dafür sind die Menschen
bereit, zu unterdrücken und unterdrückt zu werden, zu töten und getötet zu
werden. Irgendwie wollen sie das durch die ungeheuren, schrecklichen Mittel,
die ihnen zur Verfügung stehen, anderen in dem Glauben aufzwingen,
dies sei der Ausweg zu etwas Idealem. Die Entwicklung des Mentals und des Lebens
der Menschen muß mit Notwendigkeit zu einer wachsenden Universalität führen.
Bleibt aber die Basis des Ichs und eines teilenden und zerschneidenden Mentals
bestehen, dann kann die Offenheit für das Allumfassende nur dazu führen, daß
unvereinbare Ideen und Impulse weiterwuchern und ungeheure Mächte und Wünsche
sich erheben. Eine chaotische Masse von unangeglichenem, vermischtem mentalen,
vitalen und physischen Material eines umfassenderen Daseins wallt auf, die sich,
da nicht von einem schöpferischen, harmonisierenden Licht des Geistes
emporgehoben, in einer allumfassend werdenden Verwirrung und einem Widerstreit
dahinwälzen muß, aus dem man unmöglich ein höheres harmonisches Leben aufbauen
kann. In der Vergangenheit hat der Mensch das Leben dadurch harmonisiert, daß er
es durch die Bildung von Ideen und die Festsetzung von Grenzen organisierte. Er
hat Gesellschaften geschaffen, die sich auf feste Vorstellungen und Gebräuche
gründeten, auf ein bestimmtes kulturelles System oder auf ein organisches
Lebens-System, von denen jedes seine eigene Ordnung besaß. All das wurde dann in
den Schmelzkessel eines sich immer mehr vermischenden Lebens geworfen. Immer
neue Ideen strömen ein. Motive, Tatsachen und Möglichkeiten verlangen ein neues
höheres Bewußtsein, um dieser potentiellen Seins-Kräfte Herr zu werden, sie in
Einklang zu bringen. Vernunft und Wissenschaft können nur dadurch helfen, daß
sie allgemeine Normen aufstellen, daß sie alles in einer künstlich arrangierten
und mechanisierten Einheit des materiellen Lebens festlegen. Ein größeres
Ganzheits-Wesen, Ganzheits-Wissen, mehr Ganzheits-Macht ist notwendig, um alles
in die größere Einheit eines Ganzheits-Lebens zusammenzuschweißen.
Die einzige Wahrheit des Lebens, die erfolgreich diese
unvollkommenen mentalen Konstruktionen der Vergangenheit ersetzen kann, ist ein
Leben von Einheit, Gegenseitigkeit und Harmonie, das aus der tieferen und
umfassenderen Wahrheit unseres Wesens geboren ist. Jene Konstruktionen waren
eine Kombination von Zusammenschluß und gelenktem Konflikt; eine Anpassung der
Egoitäten und der Interessen, die als Gruppen zusammengefaßt oder ineinander
verflochten wurden, um eine Gesellschaft zu bilden, die durch gemeinsame
allgemeine Lebens-Motive gefestigt wurde. Es war eine Einung durch innere Not
und den Druck des Kampfes mit den äußeren Kräften. Nach einer Umwandlung und Neugestaltung des Lebens beginnt die Menschheit in ihrer Blindheit
jetzt immer mehr zu suchen aus dem Gefühl, ihre ganze Existenz hänge davon ab,
daß sie den Weg dazu findet. Entwicklung des Mentals in seiner Einwirkung auf
das Leben hat eine Organisation mentaler Aktivität und Verwendung der Materie in
einem Ausmaß entfaltet, wie sie ohne innere Umwandlung mit den Fähigkeiten des
Menschen nicht länger durchgehalten werden kann. Es ist zwingend geworden, daß
die ego-zentrische menschliche Individualität, die auch in ihren
Zusammenschlüssen getrennt bleibt, einem Lebens-System angepaßt wird, das
Einheit, volle Gegenseitigkeit und Harmonie verlangt. Die Bürde aber, die damit
der Menschheit auferlegt wird, ist für die gegenwärtige dürftige menschliche
Persönlichkeit, für ihr beschränktes Mental und ihre schwachen Lebenstriebe zu
groß. Sie kann die notwendige Umwandlung nicht zuwege bringen. Sie verwendet
diesen neuen Apparat und diese Organisation zum Dienst am alten
unter-spirituellen und unter-rationalen Lebens-Ich der Menschheit. Aus diesen
Gründen scheint es, als rase das Schicksal des Menschengeschlechts in
gefährlicher Weise in eine sich lange hinziehende Verwirrung, in die gefährliche
Krise und Finsternis einer gewalterfüllten umwälzenden Unsicherheit hinein, als
ob es, ungeduldig und im Gegensatz zu sich selbst, unter dem Druck des vitalen
Ichs stünde, das von gewaltigen Kräften gepackt ist, die ebenso stark sind wie
die von ihm entwickelte gewaltige mechanische Organisation von Leben und
Wissenschaft, deren Übermacht durch Vernunft und Willen der menschlichen
Persönlichkeit nicht mehr bemeistert werden kann. Selbst wenn sich herausstellt,
daß das nur eine vorübergehende Phase oder Erscheinung ist, eine erträgliche
strukturelle Anpassung gefunden werden könnte, die es dem Menschen erlaubt, auf
seinem ungewissen Weg durch weniger schwere Katastrophen weiterzugehen, so kann
es doch nur eine Atempause sein. Denn das Problem ist fundamental. Wenn die
evolutionäre Natur das Problem im Menschen sich vergegenwärtigt, konfrontiert
sie sich einer kritischen Entscheidung, die eines Tages dem wahren Sinn der
Evolution entsprechend getroffen werden muß, wenn die Menschheit zum Ziel kommen
oder auch nur überleben will. Die Tendenz der Evolution drängt auf eine
Entfaltung der kosmischen Kraft im irdischen Leben, die zu ihrem Träger ein
stärkeres mentales und umfassenderes vitales Wesen benötigt, ein weniger
begrenztes Mental, eine höhere, weitere, bewußtere, einmütiger gewordene
Lebens-Seele, anima. Das
wiederum
erfordert, daß die sie tragende und fördernde Seele und das spirituelle Selbst
im Innern enthüllt werden, um jene zu unterstützen. Alles, was das moderne
Mental uns in dieser Krisis als Licht zu ihrer Lösung anbieten kann, ist eine
rationale und wissenschaftliche Formel des vitalistischen und materialistischen
menschlichen Wesens und seines Lebens, das Suchen nach einer vollendeten
ökonomischen Gesellschaft und den demokratischen Kultus des
Durchschnittsmenschen. Wenn diese Ideen auch eine Wahrheit stützt, so genügt sie
offensichtlich nicht, um das Bedürfnis einer Menschheit zu befriedigen, deren
Mission es ist, sich über sich selbst hinaus zu entwickeln, die jedenfalls, wenn
sie überhaupt am Leben bleiben will, in ihrer Entwicklung weit über das
hinausgehen muß, was sie jetzt ist. Ein Lebens-Instinkt hat im
Menschengeschlecht, und selbst im Durchschnitts-Menschen, die Unzulänglichkeit
gefühlt und drängt auf eine Umwertung der bisherigen Werte, auf die Entdeckung
neuer Werte und will das Leben auf eine neue Grundlage stellen. Das hat die Form
eines Versuches angenommen, eine einfache, fertige Grundlage für Einheit,
Gegenseitigkeit und Harmonie im Gemeinschaftsleben zu finden. Man will das
dadurch erzwingen, daß man den Zusammenstoß der ichhaften Kräfte im
Konkurrenzkampf unterdrückt und so für die Gemeinschaft zu einem Leben der
Übereinstimmung anstelle eines Lebens der Gegensätze gelangt. Um diese an sich
wünschenswerten Ziele zu verwirklichen, werden Mittel wie diese angewandt: Unter
Zwang setzt man mit Erfolg einige wenige beschränkte Ideen oder Schlagwörter
unter Ausschluß alles andern Denkens auf den Thron. Das Mental des Einzelnen
wird unterdrückt, und die Elemente des Lebens werden mechanisch zusammengepreßt.
Einheit und Triebkräfte der Lebens-Kraft werden mechanisiert. Der Mensch wird
durch den Staat vergewaltigt, und das individuelle Ich wird durch das
gesellschaftliche ersetzt. Man idealisiert dieses Gemeinschafts-Ich als die
Seele der Nation, der Rasse, der Gemeinschaft. Das ist aber ein gewaltiger
Irrtum, der sich als verhängnisvoll herausstellen kann. Die hier entdeckte
Formel ist eine erzwungene und aufgenötigte Einmütigkeit von Mental, Leben und
Handeln. Sie wird unter dem Druck von etwas, das man für das Größere hält, von
der kollektiven Seele und dem kollektiven Leben, zu ihrer höchsten
Kraft-Anspannung gesteigert. Dieses obskure kollektive Wesen ist aber nicht die
Seele oder das Selbst der Gemeinschaft. Es ist eine Vital-Kraft, die aus dem
Unterbewußten aufsteigt. Entzieht man ihr das Licht der Führung
durch die Vernunft, kann sie nur von finsteren massiven Kräften
getrieben werden, die mächtig, aber für die Menschheit verderblich sind, weil
sie der bewußten Evolution entgegenstehen, deren Sachwalter und Träger der
Mensch ist. Die evolutionäre Natur hat die Menschheit absolut nicht in diese
Richtung gewiesen. Das ist eine Rückkehr zu dem, was sie hinter sich gelassen
hat.
Eine andere Lösung, die man versucht, gründet sich noch
auf die materialistische Vernunft und die kollektive Organisation des
ökonomischen Lebens der Menschheit. Die angewandte Methode ist aber dieselbe:
Zwangs-Einengung des Lebens und aufgenötigte Einmütigkeit des Mentals, sowie
mechanische Organisation des gesellschaftlichen Daseins. Einmütigkeit dieser Art
kann nur durch Unterdrückung jeglicher Freiheit von Denken und Leben
aufrechterhalten werden. Das muß entweder zu der leistungstüchtigen Stabilität
einer Termiten-Zivilisation führen, oder es trocknen die Quellen des Lebens aus
und rasche oder langsame Dekadenz setzt ein. Durch das Wachsen von Bewußtsein
können die kollektive Seele und ihr Leben ihrer selbst innewerden und sich
entfalten. Das freie Spiel von Mental und Leben ist wesentlich für das Wachsen
von Bewußtsein. Denn Mental und Leben sind die einzige Werkzeugausrüstung der
Seele, bis sich höhere Instrumente herausgebildet haben. Diese dürfen in ihrer
Betätigung nicht behindert oder unbeweglich, starr und repressiv gemacht werden.
Die durch das Wachsen des individuellen Mentals und Lebens bewirkten
Schwierigkeiten oder Unordnungen können nicht durch Unterdrückung des
Individuums heilsam beseitigt werden. Zur wahren Heilung kann der Mensch nur
kommen, wenn er zu einem größeren Bewußtsein vorwärtsgeht und in diesem zu
seiner Erfüllung und Vollkommenheit kommt. Eine alternative Lösung ist die
Entwicklung einer erleuchteten Vernunft und eines erleuchteten Willens des
normalen Menschen, der einem neuen sozialisierten Leben zustimmt, in dem er sein
Ich zugunsten der rechten Gestaltung des Lebens der Gemeinschaft unterordnen
will. Forschen wir nach, wie diese radikale Umwandlung zustandegebracht wird, so
finden wir den Vorschlag von zwei Trägern für die Verwirklichung. Die eine
Institution soll ein umfassenderes und besseres mentales Wissen durch die
rechten Gedanken, richtige Information, rechte Erziehung des gesellschaftlichen
und bürgerlichen Individuums bewirken. Die andere Organisation will die
Schaffung eines neuen gesellschaftlichen Mechanismus, der alles durch das
Zaubermittel eines sozialen Mechanismus löst,
der die Menschheit in ein besseres Modell umprägt. In der Erfahrung findet man
aber nicht, was man einst erhofft hatte, daß Erziehung und intellektuelles
Training an sich schon den Menschen umwandeln können. Sie stellt dem
menschlichen Individuum und dem Kollektiv nur eine bessere Information und einen
wirkungsvolleren Apparat zur Verfügung, mit dem sie sich durchsetzen können. Sie
läßt aber in beiden das gleiche unveränderte menschliche Ich zurück. Auch lassen
sich Mental und Leben nicht mit Hilfe irgendeines sozialen Mechanismus in die
Vollkommenheit zurechtstanzen, nicht einmal in das, was man für Vollkommenheit
hielt, in ihren konstruierten Ersatz. Materie kann man auf diese Weise
zurechtschneiden; auch das Denken kann so gleichgeschaltet werden. In unserem
menschlichen Dasein sind aber Materie und Denken nur Werkzeuge der Seele und der
Lebens-Kraft. Mechanische Maßnahmen können die Seele und die Lebens-Kraft nicht
in genormte Formen zwingen. Sie können diese höchstens vergewaltigen, die Seele
und das Mental stumpf und statisch machen und allein die äußeren
Lebensbetätigungen regulieren. Wenn man das aber erfolgreich tun will, kann man
auf Zwang und Unterdrückung von Mental und Leben nicht verzichten. Das bedeutet
aber wieder fortschrittsfeindliche Statik und Verfall. Das rationalistische
Mental mit seinem Sinn für das Logische und Praktische hat keinen anderen Weg,
um aus den vieldeutigen und komplexen Bewegungen der Natur das Bestmögliche
herauszuholen, als daß es Mental und Leben reglementiert und mechanisiert.
Geschieht das, muß die Seele der Menschheit entweder dadurch ihre Freiheit
gewinnen und sich ihr Wachsen sichern, daß sie revoltiert und die Maschine
zerstört, in deren eiserne Räder sie gerissen wurde. Oder sie muß entkommen,
indem sie sich in sich selbst zurückzieht und das Leben ablehnt. Der wahre
Ausweg für den Menschen liegt darin, daß er seine Seele, die Kraft des Selbsts
und ihre Werkzeuge entdeckt und durch diese sowohl die Mechanisierung des
Mentals wie die Unwissenheit und Unordnung der Lebens-Natur ersetzt. Für eine
solche Bewegung, das Selbst zu entdecken und wirkungsvoll zu machen, ist aber in
einer eng reglementierten und mechanisierten Existenz wenig Raum und Freiheit.
Es besteht die Möglichkeit, daß das menschliche Mental
bei der Abkehr von der mechanistischen Auffassung von Leben und Gesellschaft
seine Zuflucht in der Rückkehr zur religiösen Idee und in einer von der Religion
regierten oder sanktionierten Gesellschaft sucht. Zwar kann die organisierte Religion Mittel liefern, den Einzelnen innerlich
emporzuheben. Sie kann in sich oder in dem, was hinter ihr wirkt, für ihn einen
Weg bewahren, durch den er sich für die spirituelle Erfahrung öffnet. Sie hat
jedoch das Leben und die Gesellschaft der Menschheit nicht verändert. Sie konnte
das nicht tun, weil sie, wenn sie die Gesellschaft leitete, mit den niederen
Seiten des Lebens Kompromisse eingehen mußte. Sie konnte darum nicht auf die
innere Wandlung des ganzen Wesens drängen. Sie konnte nur darauf bestehen, daß
ihre Glaubenslehren anerkannt werden, daß man formell ihre ethischen Maßstäbe
befolgt und der Institution, dem Zeremoniell und dem Ritual zustimmt. Eine so
aufgefaßte Religion kann eine religiös-ethische Färbung oder einen
oberflächlichen Firnis liefern. Manchmal kann sie auch, wenn sie einen starken
Kern innerer Erfahrung bewahrt, bis zu einem gewissen Grad eine unvollständige
spirituelle Tendenz allgemein verbreiten. Sie transformiert aber dadurch nicht
die Menschheit; sie kann kein neues Prinzip für das Dasein der Menschheit
schaffen. Nur eine allumfassende spirituelle Lenkung, die dem ganzen Leben und
der ganzen Natur zuteil wird, kann die Menschheit über sich selbst emporheben.
Eine andere, der religiösen Lösung verwandte Auffassung besteht darin: Menschen
von spiritueller Vollkommenheit, eine Bruderschaft oder Einheit Aller im Glauben
oder in einer spirituellen Disziplin lenken die Gesellschaft. Diese
Spiritualisierung von Leben und Gesellschaft hebt den alten Mechanismus des
Lebens in solch eine Vereinigung empor, oder man erfindet für sie einen neuen
Mechanismus. Auch diesen Versuch hat man früher ohne Erfolg unternommen. Das war
die ursprüngliche Idee bei der Gründung von mehr als nur einer Religion. Doch
waren das menschliche Ich und die vitale Natur zu stark, als daß die religiöse
Idee durch ihre Einwirkung auf das Mental oder durch dieses nach außen ihren
Widerstand überwinden konnte. Nur wenn die Seele völlig hervortritt, wenn das
ursprüngliche Licht und die Macht des Geistes voll herniederkommen und sie
dadurch unsere unzulängliche mentale und vitale Natur durch eine spirituelle und
supramentale Übernatur ersetzen oder transformieren und emporheben kann, wird
dieses Wunder der Evolution bewirkt.
Auf den ersten Blick könnte es so aussehen, als ob das
Drängen auf radikale Umwandlung unserer Natur alle Hoffnung der Menschheit in
eine ferne Zukunft der Evolution hinausschiebt. Scheint doch das Bemühen, unsere
normale menschliche Natur zu überschreiten, in ein Jenseits unseres mentalen, vitalen und physischen Wesens emporzukommen, für den
Menschen, wie er jetzt ist, zu hoch, zu schwer und unmöglich zu sein. Selbst
wenn das so wäre, bliebe es die alleinige Möglichkeit einer neuen Mutation des
Lebens. Ist es doch unvernünftig und unspirituell, auf eine wahre Umwandlung des
menschlichen Lebens zu hoffen, ohne daß die menschliche Natur umgewandelt wird.
Wir würden damit etwas Unnatürliches und Unwirkliches, ein unmögliches Wunder
verlangen. Was aber durch diese Umwandlung bewirkt werden soll, ist nicht etwas
völlig Fernliegendes, nichts, was unserem Sein fremd und für es radikal
unmöglich ist. Denn was so entwickelt werden soll, ist bereits in unserem Wesen
vorhanden; es ist nicht außerhalb von ihm. Worauf die evolutionäre Natur drängt,
ist, daß wir wach werden für die Erkenntnis unseres Selbsts, für die Entdeckung
des Selbsts, für die Offenbarung des Selbsts und des Geistes in unserem Innern,
und daß wir dessen Selbst-Wissen, Selbst-Macht und seine ihm innewohnende
Selbst-Instrumentierung sich frei entfalten lassen. Außerdem ist das ein
Schritt, auf den hin das Ganze der Evolution eine Vorbereitung ist. Bei jeder
Krisis im Schicksal der Menschheit kommt ihr Verlauf seinem Ziel näher, wenn die
mentale und vitale Evolution des Wesens zu einem Punkt führt, an dem Intellekt
und Vitalkraft einen gewissen Höhepunkt der Spannung erreichen und entweder
zusammenbrechen, in Stumpfsinn und Versagen zurücksinken oder zum Stillstand
kommen in einer Ruhe ohne weiteren Fortschritt oder sich ihren Weg erzwingen,
indem sie die Verhüllung zerreißen, gegen die sie ankämpfen. Notwendig dazu ist,
daß von einigen oder vielen in der Menschheit eine Umkehr zur Schau dieser
Umwandlung gefühlt wird; daß sie ihre zwingende Notwendigkeit empfinden; daß sie
auch der Möglichkeit dazu bewußt sind und den Willen haben, die Wandlung in sich
selbst zu ermöglichen und den Weg zu finden. Diese Tendenz fehlt nicht. Mit der
wachsenden Krisis im menschlichen Welt-Geschick muß sie zunehmen. Die
Notwendigkeit, entweder dem Problem zu entfliehen oder es zu lösen, und das
Gefühl, daß es keine andere als die spirituelle Lösung gibt, muß unter dem
Drängen der kritischen Umstände noch wachsen und immer zwingender werden. Wenn
dieses Verlangen im Wesen der Menschen aufsteigt, muß darauf stets eine Antwort
in der Göttlichen Wirklichkeit und in der Natur erfolgen.
In der Tat könnte die Antwort eine nur individuelle
sein. Das könnte zu einer Vermehrung der spiritualisierten Individuen führen
oder auch, was vorstellbar, wenn auch nicht
wahrscheinlich ist, dazu, daß eines oder mehrere gnostische Individuen isoliert
in der nicht spiritualisierten Masse der Menschheit leben. Solche isolierten
verwirklichten Wesen müssen sich entweder in ihr verborgenes göttliches Reich
zurückziehen und sich in spiritueller Einsamkeit sichern. Oder sie müssen mit
ihrem inneren Licht auf die Menschheit einwirken, um auf das Wenige hinzuwirken,
das unter solchen Verhältnissen um einer glücklicheren Zukunft willen
vorbereitet werden kann. Die innere Umwandlung kann erst dann in kollektiver
Form Gestalt annehmen, wenn der gnostische Einzelne andere Menschen findet, die
dieselbe Art eines inneren Lebens führen wie er selbst, und wenn er mit diesen
eine Gruppe bilden kann, die ihr autonomes Dasein führt. Oder es muß sich eine
besondere Gemeinschaft, ein Orden von Menschen aufgrund eigenen Lebensgesetzes
bilden. Dieser innere Drang nach einem abgesonderten Leben mit eigener
Lebensregel, die der inneren Macht oder Motiv-Kraft spirituellen Seins
entspricht und eine eigene Atmosphäre entstehen läßt, hat sich in der
Vergangenheit in der Bildung des Klosterlebens oder in Versuchen verschiedener
Art ausgedrückt, ein neues getrenntes, selbst-regiertes kollektives
Zusammenleben zu gestalten, das in seinem spirituellen Prinzip anders war als
das gewöhnliche Leben. Das Klosterleben ist seiner Natur nach eine Vereinigung
von Suchenden nach einer anderen Welt, von Menschen, deren ganzes Streben darauf
gerichtet ist, die spirituelle Wirklichkeit zu finden, sie in sich zu
verwirklichen und das gemeinsame Dasein durch Lebensregeln zu formen, die bei
diesem Bemühen helfen. Gewöhnlich herrscht hier nicht das Bemühen, eine neue
Lebensgestaltung zu bilden, die über die gewöhnliche menschliche Gesellschaft
hinausgeht, und eine neue Welt-Ordnung zu schaffen. Es kann sein, daß eine
Religion ein solches Zukunftsziel aufstellt oder einen ersten Versuch macht, ihm
näher zu kommen. Es kann auch ein mentaler Idealismus einen solchen Versuch
unternehmen. Alle diese Bemühungen sind aber stets an der Unbewußtheit und
Unwissenheit unserer jetzigen menschlichen vitalen Natur gescheitert. Denn diese
Natur ist ein Hindernis, dessen gewaltige Widersetzlichkeit kein bloßer
Idealismus, kein unvollkommenes spirituelles Streben auf die Dauer beherrschen
kann. Entweder versagt ein solches Bemühen infolge seiner eigenen
Unvollkommenheit, oder die Unvollkommenheit der umgebenden Welt dringt in es
ein. Dann sinkt es von der leuchtenden Höhe seines Strebens auf die gewöhnliche
menschliche Stufe herab und wird
zu etwas
Vermischtem und Minderwertigem. Wenn ein gemeinsames spirituelles Leben das
spirituelle Wesen, und nicht nur das mentale, vitale und physische, ausdrücken
soll, muß es sich auf Werte gründen und diese durchhalten, die höher sind als
die mentalen, vitalen und physischen der gewöhnlichen menschlichen Gesellschaft.
Steht das Streben nicht auf solchem Fundament, so wird daraus nur die übliche
menschliche Gesellschaft in einer gewissen Abwandlung. Damit das neue Leben
sichtbar hervortreten kann, ist ein völlig neues Bewußtsein in vielen Einzelnen
nötig, das ihr ganzes Wesen transformiert und ihr mentales, vitales und
physisches Natur-Selbst umwandelt. Nur eine solche Umwandlung der allgemeinen
Natur von Mental, Leben und Körper kann ein neues kollektives Dasein
hervorbringen, das lebenswert ist. Die Tendenz der Entwicklung darf nicht nur
darauf gerichtet sein, einen neuen Typus mentaler Wesen hervorzubringen.
Vielmehr soll es eine Art von Menschen sein, die ihr ganzes Dasein aus unserer
gegenwärtigen mentalisierten Tierhaftigkeit auf eine umfassendere Ebene der
Erden-Natur emporgehoben haben.
Jede solche vollständige Transformation des
Erden-Lebens kann sich nicht auf einmal in einer nennenswerten Zahl von Menschen
durchsetzen. Selbst wenn der Wendepunkt erreicht und die entscheidende Linie
überschritten ist, muß das neue Leben in seinen Anfängen noch durch eine Periode
von Bedrängnis und mühevoller Entwicklung hindurchgehen. Der notwendige erste
Schritt ist eine allgemeine Umwandlung aus dem alten Bewußtsein heraus. Durch
diesen Schritt nehmen wir alles Leben in das spirituelle Prinzip empor. Die
Vorbereitung dazu mag lange dauern. Die einmal begonnene Transformation selbst
mag nur stufenweise vorwärtskommen. An einem gewissen Punkt mag sie im Einzelnen
auch rasch erfolgen und sich sogar durch einen Sprung, einen Aufschwung der
Entwicklung vollziehen. Eine individuelle Transformation bedeutet aber noch
nicht, daß ein neuer Menschen-Typus oder ein neues kollektives Leben erschaffen
wurde. Man kann sich eine Anzahl einzelner Menschen vorstellen, die sich
getrennt voneinander, inmitten des alten Lebens, entwickeln und später
miteinander vereinigen, um den Kern des neuen Daseins zu bilden. Es ist aber
nicht wahrscheinlich, daß die Natur auf diese Weise vorgeht. Es wäre auch für
den einzelnen Menschen schwierig, eine vollständige Umwandlung zu erlangen,
solange er noch in das Leben der niederen Natur eingeschlossen ist. Auf einer
gewissen Stufe der Entwicklung mag es nötig sein, die
uralte Methode zu befolgen und sich in einer gesonderten Gemeinschaft
zusammenzuschließen in der doppelten Absicht: nur zuerst für sich eine
gesicherte Atmosphäre zu schaffen, einen Ort und ein Leben, in dem sich das
Bewußtsein des Einzelnen auf seine Entwicklung in einer Umgebung konzentrieren
kann, in der alles auf dieses einzige Bemühen eingestellt und in ihm zentriert
ist. Ferner, wenn diese Dinge dazu reif sind, um das neue Leben in dieser
Umgebung und in dieser vorbereiteten spirituellen Atmosphäre auszudrücken und zu
entfalten. Es mag sein, daß sich bei einer solchen Konzentration des Bemühens
alle Schwierigkeiten der Umwandlung mit gesammelter Kraft einstellen. Denn jeder
Suchende trägt in sich die Möglichkeiten, aber auch die Unvollkommenheiten einer
Welt, die transformiert werden soll. Somit bringt er nicht nur seine positiven
Fähigkeiten mit, sondern auch seine Schwierigkeiten und die Widerstände seiner
alten Natur. Vermischt in dem begrenzten Kreis eines kleinen engen
Gemeinschaftslebens können diese an Zerstörungskraft beträchtlich zunehmen, was
der gesteigerten Macht und Konzentration der Kräfte, die auf die Evolution
hinwirken, entgegenarbeitet. Das ist eine Schwierigkeit, die in der
Vergangenheit alle Bemühungen des mentalen Menschen vereitelt hat, etwas
Besseres, Wahreres und Harmonischeres als das gewöhnliche mentale und vitale
Leben zu entfalten. Wenn aber die Natur bereit ist, wenn sie die Entscheidung
für die Evolution getroffen hat, wenn die aus den höheren Ebenen
herniederkommende Macht des Geistes stark genug ist, wird diese Schwierigkeit
überwunden und eine erste Gestaltung – oder Gestaltungen – dieser Evolution
möglich.
Wenn wir uns darauf verlassen dürfen, daß das Gesetz
der Evolution durch das führende Licht, den Willen und einen leuchtenden
Ausdruck der Wahrheit des Geistes im Leben bestimmt wird, setzen wir eine
gnostische Welt voraus, eine Welt, in der das Bewußtsein aller Wesen auf diese
Basis gegründet ist. Man darf annehmen, daß dort der Lebens-Austausch der
gnostischen Individuen in einer gnostischen Gemeinschaft oder in Gemeinschaften
seiner Natur nach in gegenseitigem Verstehen und Harmonie vor sich geht. Jetzt
und hier verläuft aber tatsächlich ein Leben gnostischer Menschen noch innerhalb
des Lebens von Menschen in der Unwissenheit oder Seite an Seite mit diesen. Es
versucht, in ihm oder aus ihm hervorzutreten. Es scheint, als seien die Gesetze
dieser zwei Lebensformen konträr und einander widerstreitend. Es könnte also
naheliegend sein, daß sich das Leben einer spirituellen Gemeinschaft gänzlich aus dem Leben der Unwissenheit zurückzieht und
von ihm trennt. Sonst wäre ein Kompromiß zwischen beiden Lebensformen notwendig.
Mit dem Kompromiß entsteht aber die Gefahr, daß das höhere Dasein verdorben oder
unvollkommen wird. Da kommen zwei verschiedenartige und miteinander
unverträgliche Daseins-Prinzipien miteinander in Berührung. Obwohl das höhere
Prinzip das niedere Dasein beeinflußt, wirkt das niedere auch auf das höhere
ein, da eine solche wechselseitige Einwirkung das Gesetz aller gegenseitiger
Berührung und jeden Austausches ist. Man kann sogar die Frage erheben, ob nicht
Konflikt und Zusammenstoß ihre Beziehung in erster Linie regelt, da sich im
Leben der Unwissenheit stets der schreckliche Einfluß der Kräfte jener
Finsternis, die das Böse und die Gewalttätigkeit unterstützen, vorfindet und
aktiv ist. Ihr Interesse ist darauf gerichtet, alles höhere Licht, das in das
Dasein der Menschen eindringt, zu verdunkeln und zu zerstören. Es war in der
Vergangenheit häufig so, daß sich gegen alles, was neu ist oder sich über die
geltende Ordnung der menschlichen Unwissenheit zu erheben oder aus ihr
auszubrechen sucht, Opposition und Intoleranz, sogar Verfolgung erhebt. Ist das
Neue siegreich, drängen sich die niederen Kräfte in es ein. Wenn die Welt das
Neue akzeptiert, ist es gefährlicher, als wenn sie sich ihm widersetzt. Am Ende
wird dann das neue Prinzip des Lebens ausgelöscht, entwertet oder verdorben.
Diese Opposition kann noch viel gewalttätiger werden. Ein enttäuschender Ausgang
ist dann noch wahrscheinlicher, wenn ein neues Licht oder eine neue Macht die
Erde grundsätzlich als ihr angestammtes Erbe beanspruchen. Wir dürfen aber davon
ausgehen, daß das neue und vollkommenere Licht auch eine neue und vollkommenere
Macht mit sich bringt. Es mag gar nicht notwendig sein, daß es sich völlig
absondert. Es kann sich in so vielen Inseln festsetzen und von dort aus seine
Einflüsse und Infiltrationen in alles alte Leben hineingießen, um es zu
durchstrahlen. Dadurch gewinnt es die Überhand und bringt Hilfe und Erleuchtung.
Ein neues emporstrebendes Bemühen in der Menschheit versteht diese mit der Zeit
immer besser und heißt sie willkommen.
Das sind aber offensichtlich Probleme des Übergangs in
der Evolution, bevor die volle und siegreiche Umwandlung durch die sich
offenbarende Kraft stattgefunden hat und bevor das Leben des gnostischen
Menschen ebenso zu einem festgegründeten Teil der irdischen Welt-Ordnung
geworden ist wie das des mentalen Menschen. Gehen wir davon
aus, daß das gnostische Bewußtsein im Erden-Bewußtsein auf sichere Fundamente
gestellt werden soll, müssen auch die ihm zur Verfügung stehende Macht und sein
Wissen viel größer sein als Macht und Wissen des mentalen Menschen. Dann ist das
Leben einer Gemeinschaft gnostischer Menschen, angenommen es verläuft getrennt
für sich, gegen einen Angriff ebenso gesichert, wie es das organisierte Leben
gegen einen Angriff einer niederen Gattung gewesen ist. Genauso aber, wie dieses
Wissen und das eigentliche Prinzip der gnostischen Natur eine erleuchtete
Einheit im gemeinsamen Leben gnostischer Menschen sicherstellt, reicht es auch
dazu aus, eine überlegene Harmonie und aussöhnende Verständigung zwischen den
beiden Typen des Lebens sicherzustellen. Der Einfluß des supramentalen Prinzips
auf die Erde wirkt sich auf das Leben der Unwissenheit aus und legt ihm
innerhalb seiner Grenzen Harmonie auf. Es ist vorstellbar, daß dabei das
gnostische Leben noch für sich gesondert bleibt. Es wird aber sicherlich all das
vom menschlichen Leben außerhalb in seinen Bereich aufnehmen, was der
Spiritualität zugewandt ist und zu ihren Höhen vorwärtsgeht. Der Rest mag sich
vor allem aufgrund des mentalen Prinzips auf seinen alten Fundamenten
organisieren. Da ihm aber nun vonseiten eines erkennbaren höheren Wissens Hilfe
und Einfluß zuströmt, tut es das voraussichtlich in den Grundzügen einer
vollkommeneren Harmonisierung, deren das menschliche Kollektiv bis jetzt nicht
fähig ist. Auch hier kann indessen das Mental nur Wahrscheinlichkeiten und
Möglichkeiten voraussagen. Das Supramental-Prinzip in der Übernatur wird selbst
im Einklang mit der Wahrheit der Dinge über das Gleichgewicht einer neuen
Welt-Ordnung entscheiden.
Eine gnostische Übernatur transzendiert alle Werte
unserer normalen unwissenden Natur. Unsere Maßstäbe und Werte sind von der
Unwissenheit erschaffen und können deshalb nicht das Leben der Übernatur
bestimmen. Zugleich ist aber unsere gegenwärtige Natur aus der Übernatur
abgeleitet. Sie ist keine reine Unwissenheit, sondern ein Halbwissen. Darum darf
man vernünftigerweise annehmen, daß jedwede spirituelle Wahrheit, die in oder
hinter ihren Normen und Werten existiert, in dem höheren Leben wieder erscheinen
wird. Nur treten sie hier nicht als Maßstäbe auf, sondern als umgewandelte
Elemente, die aus der Unwissenheit emporgehoben und in die wahre Harmonie eines
erleuchteteren Daseins versetzt sind. Wie der universal gewordene spirituelle
Einzelmensch die begrenzte Personalität des Ichs abwirft, sobald er sich über das Mental zum vollkommenen Wissen in der Übernatur
erhebt, so müssen die widersprüchlichen Ideale des Mentals von ihm abfallen. Was
aber hinter ihnen wahr ist, bleibt im Leben der Übernatur erhalten. Das
gnostische Bewußtsein ist ein Bewußtsein, in dem alle Widersprüche aufgehoben
oder ineinander verschmolzen werden in einem höheren Licht des Betrachtens und
Seins und in einer vereinten Erkenntnis des Selbsts und der Welt. Der gnostische
Mensch erkennt die Ideale und Normen des Mentals nicht an. Seine Beweggründe
sind nicht, für sich, für sein Ich, für die Menschheit, für andere Menschen, für
die Gemeinschaft oder für den Staat zu leben. Denn er ist einer höheren Wahrheit
als dieser Halb-Wahrheiten inne: der Göttlichen Wirklichkeit. Für sie lebt er
nun, für das, was sie in ihm und in allen will, im Geist der Universalität, im
Lichte dessen, was die Transzendenz will. Aus demselben Grunde kann es im
gnostischen Leben keinen Widerstreit zwischen Ich-Behauptung und Altruismus
geben. Denn das Selbst des gnostischen Menschen ist eins mit dem Selbst aller.
Es gibt keinen Konflikt zwischen dem Ideal des Individualismus und dem
kollektiven Ideal, denn beide Ideale sind Begriffe einer höheren Wirklichkeit.
Für den Geist des gnostischen Menschen können sie nur insofern von Wert sein,
als beide die Wirklichkeit zum Ausdruck bringen oder ihre Erfüllung dem Willen
der Wirklichkeit dient. Zugleich wird aber in seinem Dasein all das erfüllt, was
in den mentalen Idealen wahr und in ihnen schattenhaft vorgebildet ist. Denn
während einerseits sein Bewußtsein so weit über die menschlichen Werte
hinausgeht, daß er Gott nicht ersetzen kann durch die Menschheit, die
Gemeinschaft, den Staat, die anderen Menschen oder durch sich selbst, ist es
doch andererseits Teil seines Handelns im Leben, daß er das Göttliche Wesen in
sich selbst anerkennt, ein Empfinden hat für das Göttliche Wesen in den anderen
Menschen, ein Gefühl des Einsseins mit der Menschheit, mit allen anderen Wesen,
mit der ganzen Welt, weil das Göttliche Wesen in ihnen ist. Das führt ihn zu
einer stärkeren und besseren Bejahung der immer stärker erkannten Wirklichkeit
in ihnen. Denn alles, was er tun soll, wird von der Wahrheit des Wissens und des
Willens in ihm, von einer ganzen und unendlichen Wahrheit entschieden. Sie wird
nicht durch ein einzelnes mentales Gesetz oder eine Norm festgelegt. Vielmehr
handelt er in Freiheit innerhalb der ganzen Wirklichkeit, mit Achtung vor jeder
Wahrheit an ihrem Ort, in klarer Erkenntnis der Kräfte, die am Werk sind, und
der Absicht des sich offenbarenden Göttlichen
Schöpferwillens
bei jedem Schritt der kosmischen Evolution und in jedem Ereignis und Umstand.
Für das vollkommen gewordene spirituelle oder
gnostische Bewußtsein muß alles Leben die Offenbarung der verwirklichten
Wahrheit des Geistes sein: Nur dem, der sich umwandeln, in jener größeren
Wahrheit sein spirituelles Selbst finden kann und in ihre Harmonie einschmelzen
läßt, kann die Aufnahme in jenes Leben gewährt werden. Was überleben wird, kann
das Mental nicht entscheiden. Denn die supramentale Gnosis will selbst ihre
Wahrheit zu uns herabbringen. Diese Wahrheit nimmt alles, was vorher von ihr in
unsere Ideale und Verwirklichungen des Mentals, Lebens und Körpers hineingegeben
worden ist, zu sich empor. Die Formen, die sie hier angenommen hat, können nicht
überleben. Denn sie sind wahrscheinlich für das neue Dasein nicht geeignet, ohne
gewandelt oder ersetzt zu werden. Was aber in ihnen oder auch in ihren Formen
wirklich und bleibend ist, wird sich der zum Überleben notwendigen
Transformation unterziehen. Dabei wird vieles, was für das menschliche Leben
normal ist, verschwinden. Die vielen mentalen Idole, Prinzipien und Systeme,
einander widerstreitenden Ideale, die der Mensch in allen Bereichen seines
Mentals und Lebens geschaffen hat, können im Licht der Gnosis keine Anerkennung
und Verehrung verlangen. Aussicht, als Element einer auf viel umfassenderer
Grundlage gegründeten Harmonie Eingang zu finden, kann – falls sie existiert –
nur die Wahrheit haben, die verborgen hinter diesen vieldeutigen Bildern steht.
Krieg könnte offensichtlich in einem Leben, das vom gnostischen Bewußtseins
regiert wird, keine Seins-Grundlage haben mit seinem Geist der Gegensätzlichkeit
und Feindschaft, seiner Brutalität, Zerstörung und ignoranten Gewalttätigkeit,
dem politischen Kampf mit seinem ständigen Konflikt, seiner häufigen
Unterdrückung, den Unehrlichkeiten, schimpflichen Handlungen, egoistischen
Interessen, mit Unwissenheit, Unfähigkeit und Chaos. Die Künste und Handwerke
bestehen weiter, aber nicht für minderwertiges mentales oder vitales Vergnügen,
zur Freizeit-Unterhaltung und Lusterregung, sondern als Ausdrucksformen und
Mittel der Wahrheit des Geistes, um der Schönheit und Freude am Sein willen.
Leben und Körper sind nicht mehr die tyrannischen Herren, die neun Zehntel
unseres Daseins zu ihrer Befriedigung verlangen. Vielmehr sind sie Mittel und
Mächte, den Geist auszudrücken. Da Materie und Körper voll anerkannt sind, ist
zugleich auch die Beherrschung und rechte Verwendung der physischen Dinge ein Teil des verwirklichten Lebens des Geistes in seiner Manifestation
in der Erden-Natur.
Man nimmt fast allgemein an, spirituelles Leben müsse notwendig ein Leben in asketischer Dürftigkeit sein, man müsse alles verwerfen, was nicht für die bloße Erhaltung des Körpers notwendig sei. Das ist zwar gültig für ein spirituelles Leben, das seiner Natur und Absicht nach ein Leben der Abkehr vom Leben ist. Und auch abgesehen von diesem Ideal könnte man denken, die Hinwendung zum Geist erfordere immer äußerste Einfachheit, da alles übrige ein Leben des vitalen Verlangens und der Selbst-Befriedigung in körperlicher Lust sei. Von einem umfassenderen Gesichtspunkt her gesehen ist das aber ein mentaler Maßstab, der sich auf das Gesetz der Unwissenheit gründet, deren Motiv das Begehren ist. So kann als gültiges Prinzip der Grundsatz auftreten, man müsse, um die Unwissenheit zu überwinden und das Ich auszulöschen, nicht nur das Begehren selbst vollständig zurückweisen, sondern auch alle Dinge, die das Begehren befriedigen können. Eine solche Norm ist aber wie jeder mentale Maßstab keineswegs absolut und ebensowenig als Gesetz für jenes Bewußtsein bindend, das sich über das Begehren erhoben hat. Zum Wesenskern einer solchen Natur gehört völlige Reinheit und Meisterschaft aus dem Selbst. Sie bleibt dieselbe in Armut und in Reichtum. Wäre sie doch nicht wirklich oder vollständig, wenn sie durch beides erschüttert oder befleckt werden könnte. Die einzige Regel für unser gnostisches Wesen ist, daß wir durch unser Selbst den Geist, den Willen des Göttlichen Wesens zum Ausdruck bringen. Dieser Wille, dieser Selbst-Ausdruck kann sich ebenso durch äußerste Einfachheit wie durch äußerste Vielfalt und Üppigkeit des Lebens oder durch natürliche Ausgewogenheit offenbaren – denn Schönheit und Fülle, die verborgene Süße und das Lächeln in den Dingen, der Sonnenschein und die Freude am Leben sind ebenfalls Mächte und Ausdrucksformen des Geistes. Nach allen Richtungen hin bestimmt der Geist, der im Innern das Gesetz unserer Natur lenkt, auch den Rahmen des Lebens, seine Einzelheiten und seine Umstände. In allem herrscht dasselbe formbare Prinzip. So notwendig die Geltung strenger Normen für eine Ordnung der Dinge durch das Mental ist, so kann dies doch nicht das Gesetz spirituellen Lebens sein. Hier wird sich vielmehr eine große Mannigfaltigkeit und Freiheit des Ausdrucks des Selbsts zeigen, die ihre Basis in der zugrundeliegenden Einheit hat. Und doch gibt es dabei überall Harmonie und eine Ordnung aus der Wahrheit.
Ein Leben gnostischer
Menschen, das die Evolution zu einem höheren, supramentalen Zustand emporträgt,
mag man zutreffend als ein göttliches Leben charakterisieren. Denn es ist ein
Leben im göttlichen Wesen, des Hervorbrechens eines spirituellen göttlichen
Lichtes mit seiner in der materiellen Natur geoffenbarten Macht und Freude. Man
könnte es auch als das Leben eines spirituellen und supramentalen
Über-Menschentums beschreiben, da es über die mentale menschliche Ebene
hinausgeht. Man darf das aber nicht mit vergangenen oder gegenwärtigen
Vorstellungen von Übermenschentum verwechseln. Denn in der mentalen Vorstellung
besteht das Übermenschentum darin, daß ein Mensch über die normale menschliche
Stufe hinauskommt, und zwar nicht durch eine höhere Art, sondern nur durch einen
höheren Grad derselben Art: durch ausgeweitete Persönlichkeit, ein vergrößertes
und übertriebenes Ich, vermehrte Macht des Mentals, erhöhte Vital-Kraft und
verfeinerte oder verdichtete und massive Übertreibung der Kräfte der
menschlichen Unwissenheit. Sie enthält auch, und das wird allgemein dabei
vorausgesetzt, die Idee einer gewalttätigen Beherrschung der Menschheit durch
den Übermenschen. Das wäre ein Übermenschentum vom Typus Nietzsches. Im
schlimmsten Fall ist es die Herrschaft der “blonden” oder der dunklen oder
irgendeiner und jeder “Bestie”, eine Rückkehr zu brutaler Gewalt, Rohheit und
Kraft. Es wäre keine Evolution, sondern ein Rückfall in die alte
verbissen-gewalttätige Barbarei. Oder es könnte bedeuten, daß der Rakshasa oder
Asura aus dem eifrigen, aber in der verkehrten Richtung angelegten Bemühen der
Menschheit hervorgeht, über sich selbst hinauszukommen und sich zu
transzendieren. Ein gewalttätiges und turbulentes übertriebenes vitales Ich, das
sich durch eine höchst tyrannische oder anarchische Kraft der
Selbst-Durchsetzung befriedigt, ist der Typus eines übermenschlichen Rakshasa.
Aber der Riese, das Ungeheuer, das die Menschen und die Welt verschlingt, dieser
Rakshasa gehört, auch wenn er noch überlebt, zum Geist der Vergangenheit. Würde
dieser Typus wieder in größerer Zahl hervortreten, so wäre auch das eine
rückwärts gerichtete Entwicklung. Der Typus des Asura stellt seine
überwältigende Kraft zur Schau. Er ist selbstbeherrscht, verhalten, unter
Umständen gar von asketisch gebändigter Mentalität und Lebens-Macht. Er kann
stark, ruhig, kalt, in seiner gesammelten Vehemenz furchtbar, dabei subtil,
herrschsüchtig und zugleich eine Sublimierung des mentalen und vitalen Ichs
sein. Die Erde hat aber in ihrer Vergangenheit genug von dieser Art. Wenn
sie sich wiederholt, verlängert sie nur die alten Entwicklungslinien.
Für ihre Zukunft kann die Erde vom Titan, vom Asura keinen wahren Nutzen haben
und nicht die Möglichkeit gewinnen, über sich selbst hinauszukommen. Selbst wenn
diese Typen in sich eine große oder übernormale Macht besäßen, würde das die
Erde nur auf weiteren Kreisen ihres alten Umlaufs forttragen. Was jetzt
hervortreten muß, ist etwas viel Schwierigeres und zugleich etwas viel
Einfacheres. Es ist ein Wesen, das sein Selbst verwirklicht; es baut auf das
spirituelle Selbst auf; die Seele wird stärker, und es wächst ihr Drängen; ihr
Licht, ihre Macht und ihre Schönheit werden entbunden und gewinnen an
Souveränität. Das ist kein ichhaftes Übermenschentum, das sich durch mentale und
vitale Herrschaft über die Menschheit durchsetzt, sondern die Souveränität des
Geistes gegenüber seinen eigenen Werkzeugen. Dieses Übermenschentum besitzt sein
Selbst und sein Leben in der Macht des Geistes. In einem neuen Bewußtsein findet
die Menschheit den Weg, über sich hinauszukommen und sich selbst zu erfüllen
durch die Enthüllung des Göttlichen, das in ihr auf seine Geburt drängt. Das ist
die einzige wahre Art Übermenschentum. Das ist die einzig wahre Möglichkeit für
einen Schritt nach vorn in der evolutionären Natur.
Dieser neue Zustand ist in der Tat eine Umkehrung des
gegenwärtigen Gesetzes des menschlichen Bewußtseins und Lebens. Es kehrt das
Prinzip des Lebens in der Unwissenheit um. Von der Seele kann man sagen, sie ist
in die Unbewußtheit herabgekommen, um die Unwissenheit, ihre Überraschung und
ihr Abenteuer zu genießen. Sie hat die Verkleidung der Materie angenommen, um
das Abenteuer und die Freude am Erschaffen und Entdecken zu genießen, ein
Abenteuer des Geistes, ein Abenteuer von Mental und Leben und die gefährlichen
Überraschungen ihres Wirkens in der Materie. Sie sucht das Neue und Unbekannte
zu entdecken und zu erobern. Aus all diesem besteht das Abenteuer des Lebens. Es
scheint nun, dies alles könnte aufhören, wenn die Unwissenheit aufhört. Das
Leben des Menschen besteht aus Licht und Finsternis, aus Gewinnen und Verlusten,
Schwierigkeiten und Gefahren, den Freuden und Leiden der Unwissenheit. Das ist
das Spiel von Farben, das sich auf dem Boden einer allgemeinen Neutralität der
Materie vollzieht, die das Nicht-Bewußte und die Empfindungslosigkeit des
Unbewußten zur Grundlage hat. Für das normale Lebens-Wesen mag ein Dasein ohne
die Reaktionen von Erfolg und Enttäuschung, ohne vitale Freude und Traurigkeit,
Gefahr und Leidenschaft, Lust und Schmerz, ohne
die Wechselfälle und Ungewißheiten des Schicksals, ohne den Kampf, die Schlacht
und die Anstrengung, ohne Freude an der Neuerung und Überraschung und ohne
schöpferisches Tun, das sich ins Unbekannte projiziert, als öde, ohne
Abwechslungen und darum auch ohne vitale Würze erscheinen. Darum hält der
normale Mensch jedes Leben, das über diese Dinge hinausgeht, für etwas
Gestaltloses, Ödes oder unveränderlich Eintöniges. Die Vorstellung des
menschlichen Mentals vom Himmel ist eine unablässige Wiederholung ewiger
Monotonie. Das ist aber eine falsche Auffassung. Denn wenn wir ins gnostische
Bewußtsein eintreten, gehen wir ins Unendliche ein. Das ist eine Schöpfung des
Selbsts, die das Unendliche auf unendliche Weise in die Formen des Seienden
einbringt. Der Reiz des Unendlichen ist viel größer und vielseitiger, auch in
unvergänglicher Weise freudvoller, als der Reiz des Endlichen. Die Evolution im
Wissen ist eine schönere und herrlichere Manifestation mit viel weiteren
Ausblicken, die sich immer neu entfalten und in jeder Weise stärker sind als
jede Entwicklung in der Unwissenheit. Die Wonne des Geistes ist immer neu. Die
von ihm gewählten Formen der Schönheit sind unzählig. Seine Göttlichkeit ist
immer jung. Der Geschmack der Seligkeit, rasa, des Unendlichen ist ewig
und unerschöpflich. Die gnostische Manifestation des Lebens ist erfüllter und
trägt reichere Frucht. Ihr Reiz ist intensiver als der schöpferische Reiz der
Unwissenheit. Sie ist ein größeres, froheres ständiges Wunder.
Gibt es eine Evolution in der materiellen Natur und ist
sie eine Evolution des Wesens, deren zwei Schlüssel-Begriffe und Mächte
Bewußtsein und Leben heißen, dann muß diese Fülle des Wesens, diese Fülle des
Bewußtseins, diese Fülle des Lebens das Ziel der Entwicklung sein, dem wir
zustreben und das sich auf einer früheren oder späteren Stufe unserer Bestimmung
manifestieren wird. Das Selbst, der Geist, die aus der ersten Unbewußtheit von
Leben und Materie sich enthüllende Wirklichkeit wird ihre vollständige Wahrheit
von Wesen und Bewußtsein in diesem Leben hier und in dieser Materie entfalten.
Die Wahrheit wird zu sich selbst zurückkehren – sollte es ihre Absicht sein, daß
das Individuum ins Absolute heimkehrt, kann sie auch diese Rückkehr vollziehen –
nicht durch eine Enttäuschung am Leben, sondern durch ihre spirituelle
Vollkommenheit im Leben. Unsere Entwicklung in der Unwissenheit mit ihrer bunten
Mischung von Freude und Schmerz bei unserer Entdeckung des Selbsts und der Welt,
mit ihren halben Erfüllungen, ihrem ständigen
Finden und Verlieren, ist nur ein erster Zustand. Sie muß unausweichlich zu
einer Entwicklung im Wissen führen: Der Geist findet sich selbst und entfaltet
sich selbst. Das Göttliche Wesen offenbart sich selbst in den Dingen in jener
wahren Macht seiner selbst in einer Natur, die für uns jetzt noch die Übernatur
ist.
ENDE
BUCH 2