Satprem
Mutter
Der göttliche Materialismus
Band 1
Inhaltsverzeichnis
3. Kapitel: Die Schwingen und Flüge der Shakti
4. Kapitel: Von der Musik und den Farben
5. Kapitel: Andere Welten und andere Körper
6. Kapitel: Von der Kunst zur Materie
7. Kapitel: Die Wahre Wirklichkeit
10. Kapitel: Der Drang zu Sein
Die Zerstörung des Goldfischglases
11. Kapitel: Vom Unendlichen zum Unendlich Kleinen
12. Kapitel: Die Zwischenherrschaft des Mentals
15. Kapitel: Ein umgedrehter Vulkan
16. Kapitel: Eine einzige kleine reine Zelle
18. Kapitel: Der Sprung ins Physische
19. Kapitel: Die erste Etappe 1926 – 1950
Erster Teil. Die Suche nach der wahren Materie
Die Mutter1 und ich sind eins, in zwei Körpern2.
Sri Aurobindo
17. November 1973, 19 Uhr 25. Sie ist gegangen.
Die Ärzte haben sie für tot erklärt – sie waren zu dritt.
Kein Irrtum.
Sie ist gegangen.
Und dennoch…
Ihr Gesicht war so schmal, so weiß – oh, keine Seligkeit, kein “Friede der Toten”: eine ungestüme Konzentration lag auf ihrem Gesicht. Sie, die alle Wonnen und alle Befreiungen der Seele besaß. Eine ungeheure Konzentration, als richtete sie ihre Augen auf… was? Das Große Rätsel – unerbittlich, ohne Schwanken, ohne ein Zittern, direkt, wie ein Schwert ins Herz der Lüge dringt. Der Tod ist eine Lüge, sagte sie, wir haben es uns in den Kopf gesetzt und unseren Willen darauf gerichtet, über diesen Unfall zu siegen3.
Was ist geschehen? Oder vielleicht: was geschieht?
Was betrachtete sie mit ihren geschlossenen Augen, sie, die gesagt hatte: Mit geschlossenen Augen sehe ich besser als mit offenen.
Sie werden mich für tot halten, weil ich mich nicht mehr bewegen und sprechen kann… Aber du, du weißt es, du wirst es ihnen sagen…
Du wirst es ihnen sagen…
Das älteste Rätsel, seit es den Menschen gibt, das mächtigste Geheimnis seit dem alten Ägypten und davor, in dunkler Vorzeit, seit der Mensch stirbt. Im Grunde, solange es den Tod gibt, sagte sie einfach, enden die Dinge immer schlecht4. Immer schlecht. Man mag singen, malen, dichten oder Religionen gründen (und dort liegt der tiefere Grund, warum wir Religionen gründen) und philosophieren (auch der Grund, warum wir Philosophien aufstellen), es wird immer mit dieser radikalen Infragestellung enden, die alle unsere Anstrengungen und schönsten Lieder mit Nichtigkeit schlägt. Schon seit einigen Millionen Jahren überlassen wir kommenden Geschlechtern die Sorge und Hoffnung, diese Lorbeeren zu pflücken. Ach, später! – und in Erwartung der Stunde, da auch wir unsere zwei Augen vor diesem Rätsel öffnen, verbleiben wir bei unseren eitlen Liedern. Beseitigen wir diesen Unfall, dann wird sich alles ändern: die Religionen, die Philosophien, die Lieder, das Leben. Es ist das einzige radikale Ereignis der Welt. Es ändert alles und bestimmt alles. Es ist geradezu, als sei es die Frage, die zu lösen mir aufgegeben wurde, sagte sie.
Du wirst es ihnen sagen…
Das außergewöhnlichste Geheimnis, all dessen Fäden wir noch nicht einmal zu entwirren verstehen – und doch sind alle Fäden vorhanden, alles ist vorhanden in diesem erstaunlichen Epos, in Mutters geheimer Agenda, in der Schritt für Schritt die Erfahrungen eines neuen Übergangs auf der Erde notiert sind. Aber es genügt nicht, die Geheimnisse auszusprechen, genauso wenig wie tantrische Mantras: wir müssen sie unserer Substanz einflößen, es bedarf des kleinen Auslösers, der sie lebendig, kraftvoll und wirksam macht – wir müssen in Mutters Erfahrung eintreten. Wir müssen auf sie zugehen, wie auf der Suche nach der Revolution des Lebens. Solange wir nicht die Revolution des Todes in Angriff genommen haben, revolutionieren wir kein Iota der Welt, selbst wenn wir alle unsere Bomben und kilometerlangen Bibliotheken und mathematischen Gleichungen aneinanderreihen. Wir könnten unseren Planeten in die Luft jagen, und nichts, rein gar nichts wäre verändert – wir würden unsere Subtraktionen und Divisionen anderswo, auf anderen Erden kritzeln, und alles finge wieder von vorne an, von Molekülen über Aminosäuren bis zu einigen weiteren Friedensnobelpreisen gar keines Friedens. Denn nichts ändert sich, solange das nicht verändert wird. Diese Änderung wollen wir bewirken, sagte sie.
Und sie ist gegangen…
Oder? Was ist das Geheimnis von Mutters “Tod”?
Sri Aurobindo ist gegangen, ohne uns sein Geheimnis zu verraten, sagte sie eines Tages. Aber vielleicht hat sie ihr Geheimnis hinterlassen, das uns erlaubt, Sri Aurobindos Geheimnis zu entdecken, denn es ist dasselbe. Wissen wir, was einer von beiden tat, wissen wir es auch vom anderen: keine Philosophie, trotz der vierunddreißig Bände, die er uns hinterlassen hat, sondern eine lebendige Evolution oder vielmehr eine lebendige Revolution. Eine Revolution, die noch in vollem Gange ist. Sie kamen beide, um diese Revolution, diesen neuen Schritt der Evolution oder diesen neuen Zustand zu erreichen – einen Zustand ohne Tod –, aber dennoch etwas anderes als physische Unsterblichkeit, denn Unsterblichkeit ist lediglich die Kehrseite unserer Sterblichkeit oder vielmehr ihre verherrlichte Fortsetzung ohne Grab – eine so umfassende Revolution des Lebens, daß des Todes eigentliche Wurzel darin nicht mehr wachsen kann und sowohl das Leben als auch der Tod sich verwandeln in… etwas anderes.
Ziehen wir Bilanz!
Können wir hoffen, daß dieser Körper, der jetzt unser irdisches Ausdrucksmittel ist, sich nach und nach in etwas verwandeln wird, das ein höheres Leben auszudrücken vermag, oder werden wir gezwungen sein, diese Form ganz aufzugeben und eine andere anzunehmen, die noch nicht auf der Erde existiert…? Wird es eine kontinuierliche Weiterentwicklung geben oder ein plötzliches Aufkommen von etwas Neuem? Führt ein fortschreitender Übergang von unserem jetzigen Sein zu dem, was unser innerer Geist anstrebt, oder wird es zum Bruch kommen, müssen wir die gegenwärtige menschliche Form aufgeben und die Erscheinung einer neuen Form abwarten – eine Form, deren Entstehungsprozeß wir nicht vorhersehen und die in keiner Beziehung zu unserem jetzigen Sein steht5?
Das war Ende 1957, gerade ein Jahr, bevor sie sich in die große Erfahrung zurückzog – in das gefährliche Unbekannte, wie sie es nannte – fünfzehn Jahre vor diesem schicksalhaften 17. November 1973. Was ist in diesen fünfzehn Jahren geschehen? Hat sie den “Prozeß” entdeckt?
Wieder diese Frage: Wird es der Spezies Mensch so ergehen wie gewissen anderen Gattungen, die von der Erde verschwanden6?
Sie brachten sie von ihrem Zimmer nach unten und betteten sie auf eine mit weißer Atlasseide überzogene Chaiselongue. Endlose Menschenschlangen zogen an ihr vorbei, begleitet vom Surren der Ventilatoren unter der goldglänzenden, brennendheißen Zinkdecke der Halle – alles Nötige, um einen Körper in Geschwindeseile zu zersetzen. Alles war sorgfältig angeordnet, damit der Tod sein Werk so schnell wie möglich vollziehen könne, an ihr, die gesagt hatte: Dieser Körper muß in Frieden gelassen werden… sie sollen sich bloß nicht beeilen, ihn in die Grube zu stecken… denn selbst nachdem die Ärzte ihn für “tot” erklärt haben, wird er bewußt sein – die Zellen sind bewußt –, er wird es wissen, er wird es fühlen, und dies wird zu allem Leid, das er bereits ertragen hat, ein weiteres hinzufügen. Dann nahm sie sich zurück: So viel Aufhebens wirkt nur albern – besser nichts sagen.
Sie steckten sie in die Grube, in einem Sarg aus Rosenholz, nahe bei Sri Aurobindo. Sie saß halb in ihrem Sarg, weil ihr Rücken so gekrümmt war – vielleicht von zu viel Leid. Ich war der ganze Schmerz der Welt,… auf einmal empfunden. Langsam senkte sich der Sargdeckel über ihrem Haupt; gerade noch ein Lichtstrahl fiel auf ihren Nacken. Sie schaute, ganz allein, ihr Gesicht über ihre Brust gebeugt. Schaute wohin?
Dann schloß sich der Deckel – Nacht. Nacht oder was? Fünfundzwanzig Schrauben wurden in ihren Sarg gedreht.
Sie ist fünfundneunzig. Sie kämpfte wie eine Löwin, bis zum Ende. Aber wo ist das Ende?
Draußen wütet der zweite israelische Krieg. November 1973. Soeben wurde zum ersten Mal der Erdölhahn zugedreht – ein winziger Hahn. Die palästinensischen Kommandos schießen in Karthum, in Athen, in Fiumicino. Staatsstreich in Afghanistan, Staatsstreich in Chile, Terrorismus in Irland. Studentendemonstrationen in Barcelona, Bangkok, Griechenland. Kulturrevolution in Libyen, Kulturrevolution in China. Dürre im Sahel, Dollarentwertung, Watergate. Fünfzehnte chinesische Atombombe, fünfte französische Explosion. Dort stehen wir, im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts. Auch Picassos Tod. Vermutlich der Tod einer Welt. Oder der Anfang von etwas anderem.
Sogar ihre Nächsten begannen zu murren. Sie war so allein.
Es waren dreiundzwanzig Jahre seit Sri Aurobindos Abschied.
Wir hören noch seine prophetischen Worte:
Ein Tag mag kommen, an dem sie ohne Hilfe stehen muß,
Auf einem gefährlichen Grad des Schicksals der Welt und ihrer selbst.
Sie trägt die Zukunft der Welt in ihrer einsamen Brust
Und des Menschen Hoffnung in ihrem verlassenen Herzen,
Um an einer letzten verzweifelten Grenze zu siegen oder zu versagen.
Allein mit dem Tod und nahe dem Abgrund der Vernichtung,
Ihre einzige Größe in diesem letzten schrecklichen Akt,
Muß sie allein die gefährliche Brücke der Zeit überqueren
Und einen Knoten des Welt-Schicksals erreichen,
An dem alles gewonnen oder verloren wird für den Menschen7.
Sie murrten. Aber es war das Murren der gesamten Welt – als wäre etwas hineingeworfen worden, das überall ein Aufkochen von Wut verursacht. Doch lassen wir uns nicht täuschen, es geht nicht um eine menschliche Revolte für ein besseres Leben, ein besseres Dasein – selbst dieses Bessere ist wertlos, sagte sie –, nicht um ein bißchen mehr Sozialismus hier, Demokratie da, um Gerechtigkeit oder Brüderlichkeit – auch die beste dieser Brüderlichkeiten bleibt eine Brüderlichkeit des Todes –, nicht darum, das Gefüge auszubessern oder den Erdölhahn zu reparieren – morgen wird er anderswo lecken. Das große Leck überall. Es ist der rote Abend des Westens8, den Sri Aurobindo bereits vor dreiundfünfzig Jahren vorhersah, als wir noch auf der Höhe unserer wissenschaftlichen Triumphe und Entdeckungen stolzierten. Es gibt nichts zu entdecken als uns selbst! Es gibt keine Supermacht außer in uns selbst, keine andere Quelle neuer Energie als die innere! Genau das wird der Erde jetzt in den Kopf gehämmert – dieses Etwas, das “hineingeworfen” wurde, diese “supramentale Kraft”, die uns drängt und weiterdrängt, damit wir das wirkliche Geheimnis der Materie finden, die wirkliche Macht, das wirkliche Leben ohne Tod, die wirkliche Brüderlichkeit ohne Hinrichtungskommando, die Gerechtigkeit ohne Fallbeil, und Menschen, die Meister ihres Geschicks sind – oder andere Menschen. Während gewaltiger Zeitabschnitte werden die Dinge vorbereitet, die Vergangenheit erschöpft sich, die Zukunft bereitet sich vor. In diesen ausgedehnten, neutralen, eintönigen Perioden wiederholen sich die Dinge unablässig und geben den Anschein, für immer gleich bleiben zu müssen. Dann, zwischen zwei solchen Abschnitten, geschieht plötzlich die Änderung. Wie jener Zeitpunkt, als der Mensch auf der Erde erschien. Jetzt kommt etwas anderes, ein anderes Wesen.
Ist sie gescheitert oder hat sie den “Prozeß”, den Durchbruch zum anderen Wesen gefunden?
Hinter diesem “Tod” verbergen sich mehr Geheimnisse, als es scheint.
Das Geheimnis der Zukunft.
Ein schwieriges Geheimnis, dem wir uns mit einem Gebet auf den Lippen und einem Beben im Herzen nähern. So war es vielleicht, als der erste Mensch in seiner Waldlichtung dem ersten furchterregenden Gedanken nahetrat. Aber das Geheimnis der kommenden Welt steckt in keinem Gedanken, es ist supra-mental, es vollzieht sich in der Tiefe des Körpers, in jenem Leben-und-Tod-Knoten, wo das erste Stammeln des Lebens in der Materie entstand – in den Körperzellen, an der Grenze zwischen Biologie und Gebet. Da gibt es kein Geheimnis zu “verstehen”, sondern eine Feuerprobe zu bestehen, denn für die Materie bedeutet Verstehen nicht Wissen, sondern Können. Diese Kraft liegt genau an dem engen Berührungspunkt von Leben und Tod, wo die Zellen den alten genetischen Kode verlassen und in das Gesetz des kommenden Zeitalters eintreten. Es ist eine neue Umwandlung, schwieriger als die der Raupe. Die Umwandlung zum nächsten Zeitalter. Das Geheimnis finden, bedeutet zu können. Es bedeutet, standzuhalten vor dem Tod, standzuhalten vor dem Leben, dort, wo dieser Tod erlischt und dieses Leben erlischt – oder in einem anderen physischen Leben aufbrennt, das nicht mehr Leben oder Tod ist, sondern etwas anderes. Vielleicht das göttliche Leben. Eine andere Lichtung. Ein gefahrvoller Durchgang.
Du wirst es ihnen sagen…
Diesen Durchgang wollen wir zusammen suchen, uns in Mutters großem Urwald vorantasten. Und vielleicht entdecken wir am Ende, in der Lichtung der nächsten Welt, mit den Augen des nächsten Wesens, das, was sie suchte: Ich bin auf dem Weg, die Illusion aufzudecken, die zerstört werden muß, damit das physische Leben ununterbrochen sein kann.
Und täuschen wir uns nicht: Die Entdeckung ist noch nicht getan – sie bleibt zu vollenden.
Vielleicht müssen sogar viele sie machen, damit sie wirklich stattfinden kann.
Vielleicht finden wir Mutter dann wieder, als sei sie nie gestorben.
Und des Todes tiefe Falschheit9 wird verschwinden.
Nandanam, Deer House
6. Januar 1975
Mutters großer Urwald hatte schon sehr früh begonnen. Voller überraschender Umwege ist er, voller Wasserfälle, tiefer Dickichte. Man weiß nicht, soll man sich nach rechts oder links wenden, und vielleicht muß man überall und in alle Richtungen gehen – vielleicht gibt es keinen Weg in Mutters weitem Wald, oder alles ist der Weg. Er beginnt überall, er endet überall, weil jeder Grashalm womöglich alles enthält. Man wandert, es macht Spaß, sagte sie.
Ich durchwanderte gerade alle die menschlichen Strukturen, erzählte sie nach einer ihrer Visionen – denn sie sah gar viele Dinge, diese Mutter, überall, in allem. Mit ihr leben hieß, die Welt mit überraschten Augen zu sehen, als hätte man sie nie zuvor erblickt und wie kein Picasso oder Super-Picasso sie sich je hätte vorstellen können – Picasso war nebenbei bemerkt drei Jahre jünger als sie. Ich durchwanderte alle menschlichen Konstruktionen, aber nicht die gewohnten, sondern Konstruktionen philosophischer, religiöser, spiritueller Art… sie wurden durch gigantische Gebäude symbolisiert – riesig, so hoch, daß die Menschen nicht größer als dieser Fußschemel zu sein schienen, winzig im Vergleich zu diesen riesigen Dingen. Und während ich darin umherstreifte, kam jeder und behauptete: “Ich habe den wahren Weg.” So ging ich mit ihm auf ein offenes Tor zu, das dem Blick eine unermeßlich weite Landschaft bot; aber genau in dem Augenblick, da wir das Tor erreichten, schloß es sich…. Ich fand das höchst belustigend und sagte mir: “Wirklich amüsant!” So sah man also, während jeder redete, durch ein Tor diese Unermeßlichkeit vor sich liegen, eine Fülle von Licht, großartig! Aber sobald ich mich mit der Person dem Tor näherte, schloß es sich.
Da waren viele, viele Menschen, eine ganze Menge! Ständig erschienen neue: bald Männer, bald Frauen, mal Junge, mal Alte, und aus allen möglichen Ländern – es dauerte sehr lange.
Ich erinnere mich, wie ich zu einem von ihnen sagte: “Das ist alles schön und gut, aber eine richtige Nahrung ist das nicht, es läßt einen hungrig.” Nun war da einer, der kam… ich weiß nicht, aus welchem Land: er trug ein dunkles Gewand, hatte schwarze Haare, ein rundliches Gesicht (vielleicht war er Chinese, ich weiß es nicht), er sagte zu mir: “Ah, nicht bei mir! Hier, probiere mal das!” Und er gab mir etwas zu essen, das wirklich vorzüglich war. Oh, es war köstlich! Kräftig biß ich hinein! Daraufhin schaute ich ihn an und sagte ihm: “Ah, du bist geschickt… Zeige mir deinen Weg!” Er erklärte mir: “Ich habe keinen Weg.”
Wir werden also versuchen, ebenso weise zu sein wie dieser Chinese, und werden Mutter nicht in kleine akademische Stücke zerlegen: Wir verspüren immer das Bedürfnis, eine Schachtel in die andere zu stecken, eine Schachtel in die andere! Und sie lachte, denn sie lachte immer – ausgenommen vielleicht in jenen letzten Jahren, und selbst dann noch – und sie fand uns schrecklich ernst. Immer, schon von ganz klein auf, war etwas in mir, das lachte, etwas, das alle Katastrophen, alles Leid sieht – es sieht, und kann sich das Lachen nicht verwehren, so wie man über etwas lacht, das vorgibt zu sein und doch nicht ist. Ja, sie war bereits auf der Jagd nach einer gewissen Illusion, die zerstört werden muß, um das wahre Leben zu leben – und vielleicht ist die hartnäckigste und liebste aller Illusionen unsere Liebe zum Leid und zum Drama. Wir mögen protestieren, es ist dennoch wahr.
Wir werden uns deshalb aufs “Geratewohl” in Mutters großen Wald begeben, ohne irgendeine Richtung oder auch nur den geringsten Umweg außer Acht zu lassen, da möglicherweise die Richtung überall ist und wir nicht genau wissen, was und was nicht zum weglosen Weg gehört und ob nicht das Ende am Anfang liegt wie in einem Kindermärchen.
Haben wir den mächtigen Wald einmal durchstreift, werden wir vielleicht Seen, Gebirge und Höhenlinien sich abzeichnen sehen, aber offen gestanden, das Interessante ist das Gehen.
Vorerst wird sie aber noch nicht Mutter genannt, diese kleine Pariserin, die vierzig Jahre ihres Lebens in Paris verbringen wird (achtunddreißig genauer) – sie heißt einfach Mirra (mit zwei r) und lebt inmitten einer seltsamen kosmopolitischen Sippe.
Eigentlich könnten wir bei der Großmutter beginnen, denn in ihr steckt etwas Sprühendes und sehr Amüsiertes, das direkt an eine bestimmte Seite Mutters erinnert. Sie hieß Mira Ismalun (mit nur einem r) und war 1830 in Kairo geboren. Vermutlich ist es kein Zufall, daß Mutters Wurzeln bis in diese alte Erde Ägyptens zurückreichen – aber Mutter hat viele Wurzeln, uralte Wurzeln, vielleicht überall. Ich bin Millionen Jahre alt und warte…, sagte sie in jenen letzten Jahren mit einem Blick, der die Welt und den gesamten Widerstand ihrer irdischen Kinder zu tragen schien. Wir erinnern uns der ergreifenden Worte von Walter Pater über die Mona Lisa, mit der Mutter eine seltsame Ähnlichkeit und ein gewisses Lächeln gemeinsam hatte: “Sie ist älter als die Felsen, die sie umgeben… Sie ist viele Male gestorben und hat das Geheimnis des Grabes erfahren10.” Die Ismaluns stammen auch aus dem alten Ungarn, und Mira Ismaluns Vater, Saïd Pinto, obwohl Ägypter, streckte seine Wurzeln weit zurück nach Spanien. Verschiedenartigste Winde wehten über diese Wiege, und jene vom Ural vermischten sich mit den Geheimnissen des Tals der Könige und dem ungestümen iberischen Feuer. In der Tat wachten nicht die Männer sondern die Frauen über Mutters Wiege: ein Geschlecht mächtiger Frauen.
Wir befinden uns in der Zeit Mehmed Alis: der Suezkanal war noch nicht gegraben, die Armeen des Paschas lehnen sich gegen die Gewaltherrschaft des türkischen Reichs auf; ein feudales Ägypten, das der modernen Welt trotzt und sich noch an Bonaparte erinnert. Bonapartes Sturm hatte vielleicht etwas in der Luft zurückgelassen, denn auch Mira Ismalun schüttelte kurzerhand die Zwangsjacke ab. Dem damaligen Brauch gemäß wurde sie mit dreizehn Jahren verheiratet, klugerweise mit einem Bankier, nachdem sie ihrem Bräutigam während einer Schiffsreise auf dem Nil begegnet war. “Er schenkte mir ein sehr wertvolles Diadem und ein Körbchen Erdbeeren”, erzählte sie in ihren “Memoiren”, denn sie hinterließ Memoiren, so bezaubernd und drollig wie kurz, die sie im Alter von 76 Jahren ihrem Enkel, dem Gouverneur Alfassa, auf französisch diktierte. Mit zwanzig schiffte sie sich nach Italien ein, und zwar nicht ohne eine gewisse Kühnheit, wenn man sich die erniedrigende Situation der Frau im mittleren Osten vor mehr als einem Jahrhundert vergegenwärtigt. “Ich sprach nur arabisch, war ägyptisch gekleidet und reiste allein mit meinen zwei Kindern und einer Gouvernante, während mein Mann in Ägypten zurückblieb [ihr Gatte stand immer in Klammern]… Ich war die erste Ägypterin, die es wagte, Ägypten auf diese Weise zu verlassen.” Und sie vergaß nicht zu bemerken: “In meinem himmelblauen ägyptischen Kostüm, das mit Gold und echten Perlen bestickt war, wurde ich als hinreißend empfunden.” Dazu trug sie einen “keck in die Stirn gezogenen kleinen Tarbusch mit Goldquaste… aber ich kannte die Sprache nicht, deshalb nahm ich mir vor, sie schnell zu lernen.” Was sie auch schnell tat, ebenso wie Französisch, denn Mira Ismalun war entschieden eine ungewöhnliche Persönlichkeit. Bald machte sie die Bekanntschaft des Großherzogs, “der mir täglich Blumen sandte, wie auch der Komponist Rossini,” und unbefangen fügte sie mit einer Mischung von Koketterie und Humor hinzu: “Obschon ich wohlerzogen und eher streng war, nahm ich all diese Huldigungen gern entgegen.”
Ich weiß nicht, ob sie tatsächlich so streng war, jedenfalls verstand sie das Leben ausgezeichnet, liebte es ganz einfach, und war bereits mit einem universellen Geist ausgestattet, der die kleinen patriotischen Grenzen als überflüssige und lästige Erfindungen empfand. Sie steckte ihren ältesten Sohn in ein Wiener Internat, pendelte zwischen Kairo und Europa hin und her, wurde einen zweiten, dann einen dritten Sohn im Collège Chaptal in Paris los: “Ich war begeistert von Paris, und in meinem ungezwungenen Temperament und Charakter fand ich es durchaus statthaft, mit Elvire [ihrer ältesten Tochter, mit einem typisch ägyptischen Namen, wie man sieht] überall hinzugehen. Da aber meine Kleidung eher elegant und ziemlich auffällig war, erweckte ich allgemein große Bewunderung.” Aber lassen wir uns nicht täuschen, Mira Ismalun war ganz und gar nicht leichtfertig, sie las Renan, Taine, Nietzsche, Darwin, sie war, wie Mutter, bemerkenswert ausgeglichen und verstand es, Gegensätze in Einklang zu bringen. “Eine meiner beständigsten Lebensregeln war, Herz und Kopf stets in gegenseitigem Gleichgewicht zu halten, um zu vermeiden, mich von den Exzessen des einen oder anderen hinreißen zu lassen… Was meine Finanzen betrifft, achtete ich immer sehr darauf, Einnahmen und Ausgaben im Gleichgewicht zu halten.” So kam ihr die glänzende Idee, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, als sie entdeckte, wie sehr die bedauernswerten ägyptischen Prinzessinnen in ihren Harems danach schmachteten, Paris kennenzulernen; so versorgte sie diese mit der letzten Mode aus dem Hause Worth, mit Schmuck aus der rue de la Paix, sowie mit Parfums und illustrierten Zeitschriften und deckte auf diese Weise sämtliche Kosten ihrer eigenen Extravaganzen. “Überall, wo ich erschien, wurde ich wie eine Königin empfangen und gefeiert, meine imponierende Erscheinung, mein tadelloses Auftreten, meine auffallende Garderobe und mein verschwenderischer Lebensstil machten mich zum Mittelpunkt allgemeiner Bewunderung.” Sie brachte ihnen außerdem Porträts mit, denn die kleinen Prinzessinnen hatten großes Verlangen, ihre eigenen Köpfe schmuckbeladen in Öl gemalt zu sehen, und zwar von den besten Pariser Malern – naturgetreue Reproduktionen ihrer Photographien. Und so geschah es, daß Mira Ismalun mit der Pariser Künstlerwelt in Berührung kam, mit dem Atelier von Vienot und Édouard Morisset, dem Vater des zukünftigen Ehemanns der jungen Mirra.
Mira Ismaluns liberale Gesinnung machte nicht nur vor Landesgrenzen halt; auch mit Religionen, die sie vermutlich ebenso eng fand wie Patriotismus, belastete sie sich nicht, sondern überließ jeden seinem ihm genehmen Weg. Als sie merkte, daß ihre älteste Tochter Elvire von einem sehr überzeugten Zimmermädchen zum Katholizismus konvertiert worden war, machte sie ihr nicht nur keine Vorwürfe, sondern ging sofort daran, einen passenden Ehemann derselben Religion ausfindig zu machen, einfach weil es sie freute: “Ich war die erste in Ägypten,” notierte sie, “die es ihrer Tochter erlaubte, einen Katholiken zu heiraten” (und, nebenbeibemerkt, noch dazu einen Italiener), “das wurde in unseren Kreisen sehr mißbilligt und setzte mich der Kritik aus; gewisse Familienangehörige nahmen es mir sogar eine Zeitlang übel.” Und da sie die liebliche Seite einer Sache nie außer Acht ließ, fügte sie hinzu: “Die Ziviltrauung fand auf dem italienischen Konsulat statt. Es war eine ausgesprochen schöne und intime Feier, und ich trug ein herrliches perlgraues Kleid mit durchbrochener Stickerei… Nach dieser Zeremonie gingen Elvire und ihr Gatte mit den Trauzeugen zur Kirche, während ich tat, als ob ich nichts merkte. Sehr liberal in meinen Ansichten fühlte ich mich immer am wohlsten.”
Sie blieb gerade lange genug in Ägypten, um der Eröffnung des Suezkanals beizuwohnen – “Monsieur Lesseps holte mich mit einer Kavallerieeskorte ab” (wir wissen nicht, wen diese erstaunliche Großmutter nicht kannte) – und ließ ihre zweite Tochter, Mathilde, die Mutters Mutter sein wird, in Alexandria ihrer eigenen Wahl gemäß trauen. Das war im Jahr 1874. “Die Hochzeit wurde in großem Stil im Regierungspalast gefeiert; der Vizekönig war mit sämtlichen Ministern zugegen. Ich trug ein herrliches Kleid, und man fand mich schöner als meine Tochter.” Schließlich zog sich diese kleine Araberin, die mit ihrem himmelblauen Wams und niedrig gezogenem Tarbusch Paris erstürmt, Vom Ursprung der Arten gelesen und das Grand Hotel völlig durcheinander gebracht hatte, nach Nizza zurück, wo sie ihre letzten Jahre zwischen dem Mittelmeer und “den ruhigen Gestaden des Genfer Sees” verbringen wird. “Nachdem ich Festlichkeiten und Theater reichlich besucht, sämtliche Großstädte und Kurorte bereist, in enger Bekanntschaft berühmter Persönlichkeiten gelebt…, dieses großzügige Leben geführt hatte, in dem keine weitere Sorge zu tragen war, als meine Angelegenheiten zu verwalten und, wenn nicht gerade meine Launen, so doch meine berechtigten Wünsche für la belle vie zu befriedigen, war ich weise genug, mich in ein etwas bescheideneres und ruhigeres Leben zu fügen…” Ihr Gatte begleitete sie “im allgemeinen”, notierte sie lakonisch. “Er betete mich an” – was uns nicht überrascht.
Doch das Erstaunlichste an diesem ungestümen, unwiderstehlichen, allen Grenzen gegenüber ungeduldigen Leben, das dennoch dem Niltal entstammte, war ein plötzlicher Schrei, der sich ihr am Ende dieser ganzen abwechslungsreichen Reise entrang, als schienen ihr alle Schranken inakzeptabel, einschließlich der des Todes: “Mit sechsundsiebzig Jahren liebe ich offengestanden das hohe Alter kaum, ich finde das Leben noch schön und rufe mit Goethe aus: «Über die Gräber, vorwärts!»”
Hier lag bereits ein Samenkorn.
Bei Mutter fließt ein anderer Rhythmus: tief, weit, still – aber furchtlos. Es bedurfte wahrhaftig der Unerschrockenheit, um sich dorthin zu wagen, wo sie vordrang.
Eine Statue der Leidenschaft und unbesiegbaren Kraft,
Ein Absolutes an gebieterischem und sanftem Willen,
Eine Ruhe und Gewalt der Götter,
Unzähmbar und unveränderlich11.
Sie wurde am 21. Februar 1878 in Paris geboren. Die Zeit der Lichtexplosion bei den Impressionisten. Monet, Degas, Renoir, sie wird sie alle kennenlernen: Ich war das Nesthäkchen. César Franck komponierte gerade “Les Béatitudes”, Rodin vollendete “Das eherne Zeitalter”. Auch Anatole France mit seiner sanften Ironie wird sie begegnen. Jules Verne hatte bereits seine Reise um die Welt in achtzig Tagen vollendet. Sri Aurobindo, zehntausend Kilometer entfernt, war sechs Jahre alt. Ein Jahr später, 1879, wird er sich nach England einschiffen und dort vierzehn Jahre seines Lebens verbringen.
Sie wohnte am Boulevard Haussmann Nr. 62, in einem heute nicht mehr existierenden Gebäude neben dem alten Kaufhaus Le Printemps. Hier sollte sie bis zum achten Lebensjahr verweilen. Es war kaum die richtige Umgebung für Mutter; in der Tat wird es lange Zeit keinen passenden Rahmen für sie geben, falls sie überhaupt je einen hatte. Mathilde, ihre Mutter, war in Alexandria geboren, wo sie vor nunmehr vier Jahren im Alter von siebzehn einen jungen, nicht sehr vermögenden, türkischen Bankier geheiratet hatte – mit großem Pomp, wie wir sahen –, Maurice Alfassa, geboren 1843 in Adrianopel. Das starke und herrschende Element der Familie aber war Mathilde, sehr verschieden vom heiteren Temperament der Großmutter: eine Eisenstange, sagte Mutter schlicht.
Der Schein trügt. Wir neigen dazu, die eine für wild bewegt, die andere für unbeugsam und autoritär zu halten wie entgegengesetzte Pole, aber es ist ein und derselbe Strom, der durch beide fließt und sich in unterschiedlichen Farbtönen entfaltet – wichtig ist nur, daß der Strom fließt. Und er floß! In Indien nennt man ihn Shakti, die schöpferische Energie. Mathilde war wie Mira Ismalun eine erstklassige Shakti, aber ganz auf den menschlichen Fortschritt und Willen zur Perfektion ausgerichtet: “Meine Kinder sollen die Besten der Welt sein!” Das war kein Ehrgeiz, ich weiß nicht, was es war, erzählte Mutter. Und einen Willen hatte sie! Meine Mutter besaß einen ungeheuren Willen, wie eine Eisenstange! Hatte sie etwas entschieden, so war es endgültig; selbst wenn jemand im Sterben läge, hätte sie nicht nachgegeben. So hatte sie entschieden: “Meine Kinder sollen die Besten der Welt sein!”… Und das genügte. In dieser Art Halbschatten, in dem die menschlichen Wesen sich bewegen, entzündete dieser Wille zur Vollkommenheit einen kleinen Funken wie einen aufleuchtenden Diamanten, und das genügte, um Mutters Gegenwart anzuziehen – denn Wesen bewegen sich gemäß anderen Gesetzen, als uns scheinen mag, und während wir uns äußerlich wie Marionetten regen, sehen dahinter andere Augen und bewegen sich unfehlbar wie das Glühwürmchen, angezogen von einem gleichen Licht. Aber Mathilde hatte nichts mit Glühwürmchen zu tun, auch Mutter nicht.
Von Anfang an war Mathilde der Pomp des ägyptischen Hofes ebenso unerträglich gewesen wie der soziale Zwang, dem die Frauen damals unterlagen, aber anstatt zu lächeln und nach der Art Mira Ismaluns wie eine Königin darüber hinwegzuschreiten und Nutzen daraus zu ziehen, überwarf sie sich mit allen. Eines schönen Tages weigerte sich die junge Mathilde zum großen Skandal der feinen Leute, dem Khedive ihre Reverenz zu erweisen, zweifellos weil sie das als unvereinbar mit ihrer Menschenwürde betrachtete. So mußte sie ihre Koffer packen. Sie war zwanzig und hatte ein Baby, Matteo (ein italienischer Name in Alexandria… man wundert sich), Mutters älterer Bruder und intimer Freund. Achtzehn Monate trennten die beiden: er wurde am 13. Juli 1876 in Alexandria geboren. So kam Mathilde 1877 in Paris an. Zweifellos war es vorherbestimmt, daß Mutter auf französischem Boden zur Welt kommen sollte.
Mathilde war auch Kommunistin, zu einer Zeit, als junge, wohlerzogene Mädchen ihre Aussteuer stickten. Und sie blieb Kommunistin, weil sie es sich nun mal in den Kopf gesetzt hatte, bis sie im Alter von achtundachtzig Jahren aus dem Leben schied. Allerdings gibt es da auch eine gegenteilige Geschichte: Mathilde besaß einen Hühnerstall und verkaufte die Eier ihrer Hühner, um das Haushaltsgeld aufzubessern, bis sich eines Tages ein unverschämter Finanzbeamter in den Kopf setzte – auch er –, ihr Steuern abzuverlangen, und zwar nicht nur für die vorhandenen Eier, sondern für sämtliche Eier, die sie je verkauft hatte… Das konnte sie nie verstehen. “Aber schließlich sind das doch meine Hühner!” Wir wissen nicht, was wohl Karl Marx dazu gesagt hätte, noch ob Mathildes Kommunismus sehr orthodox war – sie verabscheute jegliche Orthodoxie, oder liebte jedenfalls nur die erste Silbe des Wortes: gerade, geradeausgehen und keine Fisimatenten.
Es ging nicht gerade sanft zu am Boulevard Haussmann. Nicht, daß es Mathilde an Bildung gefehlt hätte, im Gegenteil, die junge Alexandrinerin war sehr kultiviert, wenigstens ebenso wie die Goethe lesende Großmutter; Mathilde war sogar weitaus intellektueller, doch sie faßte das Leben wie ein mathematisches Theorem auf, das ununterbrochen und rigoros unter Beweis zu stellen war: Das Leben mußte exakt sein und unermüdlich eine ideale Asymptote anstreben, die nicht Gott war – denn selbstverständlich war sie eine überzeugte Atheistin – sondern eher der Triumph der Vollkommenheit des Homo sapiens. Mirra wird sich ein Beispiel daran nehmen und darüber hinausgehen. Der Mathematiker im Hause war allerdings nicht Mathilde, sondern der Vater, Maurice Alfassa. Mein Vater war ein erstklassiger Mathematiker, erzählte Mutter, vermutlich war er als Bankier weniger geschickt (der Arme – bestimmt war das kein Vergnügen für ihn), denn die Finanzen des Hauses standen nicht immer glänzend. Die Alfassas waren aber nicht arm, weit davon entfernt, außerdem hätte man sich an die reiche Großmutter wenden können (die übrigens mit vier Söhnen gesegnet – “der eine verschwenderischer als der andere” – nicht mehr ganz so reich war), aber das hätte Mathildes spartanischer Würde widersprochen. Man marschierte also im Takt am Boulevard Haussmann; auch Matteo, der Sohn, wird das Polytechnikum12 absolvieren. Mutter erhält somit eine solide und rigorose Grundlage, in der Phantasien als Zeitverschwendung verbannt, Religionen als “Schwäche und Aberglaube” verpönt waren und Phänomene des Unsichtbaren kategorisch abgelehnt wurden: “All das sind Geisteskrankheiten”, entschied Mathilde. Und keine Widerworte! Das war allerdings ein versteckter Segen, denn ohne dieses unerbittlich materialistische Rüstzeug hätte die kleine Mirra weniger gut der Lawine seltsamer Erlebnisse standgehalten, die seit ihrer frühesten Kindheit auf sie einstürmte. So aber riß sie nur ihre großen Augen weit auf, betrachtete all das behutsam, so wie man ein Insekt unter die Lupe nimmt – und ließ kein Wort davon zu irgend jemandem verlauten, am wenigsten zu ihrer Mutter, die sie sofort zum nächsten Arzt gebracht hätte.
Ein verschlossenes Milieu, sagte Mutter. Eine asketische und stoische Mutter. Es ist erstaunlich, wie rein relativ die menschlichen Vorstellungen und Phantasien sind, denn diese gleiche Energie oder Shakti, die Mathilde animierte, hätte an anderen Orten oder unter anderen Himmeln aus ihr ebensogut einen Yogin in einer Höhle machen können, einen Revolutionär à la Danton, einen besessenen Physiker in seinem Labor oder sogar eine Dame von Welt, die alle Großstädte ideologisch im Sturm erobert, wie Mira Ismalun, nur mit einem anderen Tarbusch. Aber sie hatte diese Grenzen gewählt (wenn sie nicht für sie gewählt wurden). Das beweist, was auch immer wir darüber denken oder sagen mögen, sei es zur Rechten oder zur Linken, daß solche Grenzen lediglich bequeme und zeitweilige kleine Dämme sind in einem gewaltigen Strom, der fließt und sich um keine unserer Erklärungen schert.
Dennoch fehlte in diesem strengen Hause nicht gänzlich ein Funken Phantasie, und erstaunlicherweise versteckte er sich ausgerechnet beim armen Bankier. Wir hegen sogar den leisen Verdacht, daß er insgeheim recht charmant war, dieser große, mitten in Mathildes Gepäck irgendwie vernachlässigte Türke. Er besaß außerdem eine stattliche Reihe verborgener Talente, hatte etwas Russisches oder Kaukasisches an sich, was ihm den Namen “Barin” eintrug. Stark wie ein Türke, der er war, konnte er ein Pferd durch den bloßen Druck seiner Knie zu Boden zwingen, denn er war ein vortrefflicher Reiter (ein Luxus, der von Mathilde untersagt wurde). Er hatte seine Studien in Österreich absolviert, wo er die besten Reitschulen kennenlernte. Er sprach fließend Deutsch, Englisch, Italienisch und Türkisch (bald wurde er als Franzose naturalisiert – durch eine Verordnung vom 28. August 1890, unterschrieben von Präsident Carnot und Staatsanwalt Fallières!). Eines steht fest, man war solide am Boulevard Haussmann: Ein außergewöhnliches physisches Gleichgewicht, sagte Mutter. Und auch davon wird sie ihren Teil erben. Nicht nur kannte er all diese Sprachen, auch was Arithmetik betraf, habe ich nie so einen Kopf gesehen… Und er liebte Vögel! In unserer Wohnung hatte er sein eigenes Zimmer (weil meine Mutter ihn nicht sonderlich ausstehen konnte), und dort hatte er einen riesigen Käfig – voller Kanarienvögel! Tagsüber schloß er die Fenster… und ließ alle Vögel frei herumfliegen.
Das war vermutlich der einzige Ausdruck von Poesie in diesem Haus.
Und dann liebte er noch den Zirkus.
Dies waren die soliden Wurzeln der kleinen Mirra. Es wäre allerdings ein Irrtum, hierin die “Erklärung” für Mutters Wesen zu suchen. Sie ist ziemlich unerklärlich, diese Mutter. Aber dort, wo wir nicht mehr erklären können, beginnt die Poesie und vielleicht die wahre Welt – wir erinnern uns an Sri Aurobindo:
Das Universum ist eine endlose Maskerade:
Nichts hier ist gänzlich das, als was es uns erscheint,
Denn es ist das Traumgesicht einer Wahrheit,
Die ohne den Traum nicht völlig wahr wäre13.
Es sei denn, wir gestehen zu, daß Mirra noch andere Wurzeln hatte, viele Wurzeln, die nicht in Europa allein zu suchen sind, ginge man auch vom Ural über das Tal der Könige bis zur spanischen Halbinsel, und ebensowenig in den Vererbungsgesetzen des Herrn Mendel – der übrigens soeben seine Arbeiten in Brünn abgeschlossen hatte –, und selbst wenn wir darauf bestünden, sie, und damit uns alle, in irgendeinen kryptogenetischen Kode einzusperren, der unsere letzte Krypta zu sein scheint, so war gerade sie dazu geboren, diesen Kode zu brechen, dieses äußerste Joch abzuschütteln – wie Mira Ismalun die Fesseln der Konvention und Mathilde den Hof des Khedivs –, um uns aus diesem atavistischen Sumpfloch an die frische Luft zu ziehen, auf eine neue Stufe des Menschen oder in eine neue Art: Wir wollen nicht den herrschenden Gesetzen der Natur gehorchen, selbst wenn hinter diesen Gesetzen Milliarden Jahre der Gewohnheit stehen14!
Ein Kind ist die ursprüngliche Klarheit dessen, was unsere Kultur uns später verschleiert. Man muß viel lernen, um wieder verlernen zu können und zu sich selbst zurückzufinden. Und manchmal findet man sich nie; es bleibt nur die Kultur wie eine Maske über einer großen Leere. Leider haben wir nicht immer das Glück, einem Kind zu begegnen, das uns seine Erfahrung mitteilen kann – und alle Kinder machen die Erfahrung in ungleicher Weise, doch es ist stets dieselbe, im Ausmaß eines Stecknadelkopfes oder eines Ozeans, je nachdem… je nach was? Könnten wir diese Ungleichheit besser erklären, kämen wir der Wahrheit über die Geburten vielleicht näher als alle Mendelschen Gesetze, zumindest, was die Spezies Mensch betrifft – aber es gibt auch Rosen und Rosen. Offengestanden wissen wir nicht, ob es auch nur zwei gleiche Dinge im Universum gibt, selbst zwei gleiche kleine Blätter am selben Baum, und wir fragen uns, wie man Gesetze aufstellen kann, es sei denn die Gesetze unseres Verstandes: Wir alle sind blind für eine bestimmte Farbe, die wir nicht kennen. Wenn wir nur die Farbe und das Gesetz finden könnten, dann fänden wir vielleicht das, was alle Formen prägt, den Stecknadelkopf oder den Ozean oder das zarte Blättchen im Wind und das, was alles in seiner unzähligen Einheit verbindet. Einstein fehlte nur ein winziges Faktum, um seine Theorie des einheitlichen Feldes zu vollenden. Vielleicht wird ein Kind es finden.
Folglich geht es nicht um außergewöhnliche Visionen im fragwürdigen Stil der Hellseher, nein, obgleich der kleinen Mirra derartige Visionen nicht fremd waren – je außergewöhnlicher etwas ist, desto einfacher ist es, und schließlich ist es so einfach, daß man gar nicht mehr sieht, wie außergewöhnlich es ist.
Wir müssen festhalten, daß die kleine Mirra in diesem strengen Haus ziemlich grob angefaßt wurde. Wenn es dann etwas zu rauh wurde, setzte sie sich in ihren kleinen Kinderstuhl und betrachtete all das mit ihren großen, sich ständig verändernden Augen – manchmal waren sie haselnußgolden unter der großen Haarschleife, die ihr bereits langes, kastanienbraunes oder vielleicht dunkelblondes Haar zusammenhielt (später wurde es seltsam bernsteinfarben) mit tief in die Stirn geschnittenen Ponys wie die Haartracht der Königin Tiy. Sie schaute. Mutter hat immer viel beobachtet. Sie schaute weder nach rechts noch nach links, nicht einmal nach innen, denn innen war wieder überall außen, auch weinte sie nicht, denn das gehörte nicht zum Programm – schließlich war sie nicht umsonst Mathildes Tochter. Verständnislos betrachtete sie diese rauhe, absonderliche und unklare Welt, die von den hohen Gardinen nach Mottenpulver roch und unter den ersten, von vier Pferden gezogenen Trambahnen erzitterte. Und aus der Heftigkeit ihres Unverständnisses entstand geradezu ein Verständnis des Nicht-Verstehens, eine Art dichte Masse, die “etwas” enthielt – wie die “Erklärung” ohne Worte (sie war fünf Jahre alt) –, das vielleicht Mirra selbst war: eine stumme Verdichtung. Das lebte, das antwortete, das war. Und das vertrieb all die Gespenster. “Das”: das Bewußtsein. Ich empfand es wie ein Licht und eine Kraft, ich fühlte es hier über dem Kopf… Ein sehr angenehmes Gefühl: ich setzte mich in einen kleinen, eigens für mich angefertigten Lehnstuhl, ganz allein in meinem Zimmer, und… (ich wußte nicht, was es war, nicht im geringsten, in meinem Kopf war alles leer) eine sehr angenehme Empfindung von etwas äußerst Starkem und sehr Leuchtendem oberhalb des Kopfes: Bewußtsein. Es gab mir den Eindruck: das muß ich leben, das muß ich sein (natürlich ohne so viele Worte), und das zog ich herab, weil es wirklich der Sinn meines Lebens war… Die übrige Zeit verbrachte ich in einem Zustand sprachloser Verwunderung. Ununterbrochen trafen mich Schläge. Alles traf mich wie Dolchstöße – wie Faust- oder Keulenschläge –, und ich fragte mich: “Wie? Wie ist das möglich?” All diese Niederträchtigkeiten, Lügen, Heucheleien… Und ich sah es in meinen Eltern, in den Ereignissen, bei Freunden, in allem – bestürzend. Dies äußerte sich nicht intellektuell, sondern kam in dieser Bestürzung zum Ausdruck. Bis zu meinem zwanzigsten oder einundzwanzigsten Lebensjahr, als ich dann dem Wissen begegnete und jemanden traf, der mir die Dinge erklärte, lebte ich ständig in dieser Bestürzung: “Was, das ist das Leben? Was, das sind die Menschen? Was…?” Und ich war wie gemartert von Schlägen… Doch ich hütete mich, irgend etwas von meinem Kummer meinem Vater oder meiner Mutter gegenüber zu erwähnen, denn meinem Vater war es völlig gleichgültig und meine Mutter schimpfte mich aus (das war immer das erste, was sie tat) – ich ging in mein Zimmer, setzte mich in meinen kleinen Lehnstuhl, und dort konzentrierte ich mich und versuchte zu verstehen – auf meine Art.
Und die Erfahrung kam automatisch: Es genügte, daß ich mich für einen Augenblick hinsetzte, um das zu fühlen: diese Kraft, die kam.
Dies ist Mutters erste Erfahrung und der Schlüssel zu allem.
Ja, eine Kraft wie ein Bewußtsein, denn “das” verstand, es war das Verständnis selbst, rein, unverhüllt, und dennoch war es eine Kraft, weil es zuerst von den Sinnen wahrgenommen wurde – ein Kind tastet, fühlt –, wie eine Dichte, die sie herabzog und die sie mit Wohlbefinden erfüllte. Wenn das herabkommt, hat man tatsächlich das Gefühl, mit Frische und Licht erfüllt zu sein, wie eine Pflanze, die atmet. Es ist sogar, als atmete man zum ersten Mal. Sri Aurobindo nennt sie “Bewußtseinskraft”. Es ist die Shakti, der Antrieb der Welten. Doch allzubald verstehen und fühlen wir sie nicht mehr, weil wir sie in Worte, Gedanken, Farben, religiöse oder politische Philosophien oder in Musik kleiden und dann triumphierend behaupten: “Es ist mein Gedanke, meine Musik, mein Evangelium” – mehr oder weniger lautstark, je nach der Intensität des durchfließenden Stromes, aber es ist der Strom, der hier fließt und überall fließt: im Atom, in den Pflanzen oder Galaxien. Wenn wir das hier berühren, berühren wir das auch dort, Tausende von Kilometern entfernt oder in den fremdesten Menschen, den unzugänglichsten Dingen – und nichts ist mehr fremd, nichts mehr unzugänglich, fern oder “außen”, weil alles in und durch das fließt: es ist das Bindeglied, die Verbindungsbrücke von allem, das “unmittelbar-Gegenwärtige”, die eigentliche Substanz der Welt. Bewußtseinskraft – Shakti. Die Grundlage der Einheit der Welt, genau jene, die wir vergeblich durch Gleichungen, Brüderlichkeit oder Maschinen auszudrücken (oder wiederherzustellen) versuchen – alle unsere Teleskope, Periskope, Fernsprecher und Fernseher sind lediglich unsere unbeholfenen Mittel, jenes “Ferne” wieder zu erfassen, das so nahe liegt, direkt unter unseren Fingern, vor unseren Augen, und in unseren Fingern, in unseren Augen – egal wo, denn es läßt sich unmittelbar erfassen, ohne Augen und ohne Finger, wie ein kleiner Atemzug, welcher der Atem von allem, der Schlüssel zu allem, das Verständnis von allem ist. Und solange wir diese ursprüngliche Substanz der Welt nicht wiedergefunden haben, werden wir vergeblich versuchen, das nahezubringen, was wir künstlich von uns entfernt, abgeschnitten, aus uns hinausprojiziert haben, und vergeblich versuchen, Brüder zu einen, die sich nur dort wiederfinden können, Grenzen zu durchbrechen (oder gewaltsam zu überrollen, was auf das gleiche hinauskommt), die nur dort schmelzen können; und wir mögen noch so oft zum Mond und zu allen Monden fliegen, ohne jemals die Leere unserer Herzen und unseres Geistes zu erfüllen, die sich nur dort erfüllen kann, denn dort liegt die Fülle der Welt, das Leben des Lebens, der Atem, der unsere eitlen Worte, unsere Musik und alle unsere Monde trägt, der die Gedanken hervorbringt, die Musik hervorbringt und alles hervorbringt. Wir sind die überheblichen Werkzeuge einer uns unbekannten Kraft, die uns aber sehr gut kennt und uns vielleicht etwas mehr Lächeln wünschte, ließen wir sie nur in ihrer Arbeit gewähren, anstatt ständig mit “unseren” albernen Ideen, “unseren” albernen Philosophien, “unseren” albernen Religionen und all unseren Albernheiten einzugreifen, die, wie wir langsam merken, nichts retten, nichts wissen und nichts können.
Alle unsere Yoga-Übungen, Meditationen und Konzentrationen sind letztlich nur Mittel, um diese unbedeutende äußerliche Arroganz zum Schweigen zu bringen, diesen Gedankenapparat, der alles verschleiert, alles versperrt, alles trennt – wenn er still ist, ist alles da. Ein Kind weiß das sehr wohl, wie Mirra, aber mit der Fähigkeit, sich mitzuteilen, verliert es bereits den Kontakt, und alles muß wieder aufgebaut oder vielmehr aufgelöst werden. Oh, wir bilden uns ein, wir hätten so viel zu vollbringen auf dieser Welt, während wir in Wirklichkeit alles erst auflösen müssen, bevor wir das allererste Wort der Erkenntnis, der Organisation und der Kraft erreichen! Aber auflösen tut weh, das geht bis hinab in die Körperzellen. Dort muß etwas sehr Radikales aufgelöst werden, bevor wir den großen Strom in seiner unsterblichen und grenzenlosen Reinheit aufnehmen können:
Allmächtige Kräfte liegen verschlossen
in den Zellen der Natur15
Darauf beruht Mutters ganzes Leben, ihre gesamte Arbeit während fünfundneunzig Jahren – neunzig genauer gesagt, sie hat ja mit fünf Jahren begonnen: Ich dachte an nichts anderes, wollte nichts anderes, fand kein anderes Interesse im Leben und vergaß keine Minute lang, daß es das war, was ich wollte. Es gab keine Perioden des Erinnerns und andere des Vergessens, es war andauernd, ununterbrochen, Tag und Nacht… und ich bin schon über achtzig, erklärte sie uns damals. Wieder und wieder ermahnte sie später die Kinder im Ashram: Ihr müßt aus eurem kleinen Panzer herauskommen, in dem ihr so fest eingeschlossen seid und gegen alles anstoßt – wißt ihr, wie die Nachtfalter gegen das Licht stoßen?… Das Bewußtsein eines jeden gleicht einem Nachtfalter, es stößt sich hier, stößt sich dort, weil die Dinge ihm fremd sind. Wenn ihr aber, anstatt gegen die Dinge zu stoßen, in sie hineingeht, beginnen sie Teil eurer selbst zu werden. Dann werdet ihr weit, habt Luft zum atmen, Platz euch zu bewegen, ihr stoßt euch an nichts mehr, ihr geht in die Dinge ein, durchdringt sie, versteht sie. Und ihr lebt an vielen Orten gleichzeitig16.
Mirra lebte in der Tat an vielen Orten, nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich, denn vielleicht ist das, was wir Vergangenheit oder Zukunft nennen, nicht weiter entfernt, getrennt oder außerhalb der Gegenwart als der Nachbar in seinem Zimmer, der Vater und die Mutter in ihren Grübeleien oder die Katze, die über die Mauer huscht. Wir müssen alles verlernen, was wir über die Welt wissen, um die wahre Welt und die wahre Zeit zu erlernen, in der es weder Uhren noch Särge gibt, und den Raum, in dem man überall sofort zu Hause ist. Aber dazu muß man das Transportmittel kennen, die große Shakti, und wissen, wie sie arbeitet, wie sie vorgeht. Wir müssen eine andere Seinsart erlernen. Ein Kind kann sie uns sehr gut zeigen, weil sie ihm ganz natürlich ist, bevor es von seiner guten Erziehung verdorben wird. Mit Mirra reisen wir ausgezeichnet. Ihr großer Wald birgt die verschiedensten Geheimnisse und mehr als eine Dimension. Nur müssen wir selbst die Erfahrung machen wollen und nicht nur Bücher lesen, die einen genauso staubig und sterblich lassen wie zuvor, zur falschen Stunde einer Uhr, die nichts als unsere Qualen und ungelebten Leben mißt. Wir müssen mit Mirra vorangehen, wir müssen mit Mirra sein. Und es ist erstaunlich, oder vielleicht auch nicht, daß ihr allererster überlieferter Schulaufsatz aus der Zeit vor dem Ende des letzten Jahrhunderts mit den Worten endet: Schlafe nicht in der Gegenwart ein, komm mit in die Zukunft!
Eine Zukunft, die wir sehr wohl aus der Gegenwart erwachsen lassen können.
Ähnlich wie Mira Ismalun war auch die kleine Mirra vor Grenzen ungeduldig, doch ihre tiefe Entrüstung galt nicht den künstlichen Grenzen aus Stacheldraht, mit denen wir unsere Mutter Erde zerstückelt haben, sie stieß sich überall an den viel realeren Bastionen, hinter denen die Menschen sich verschanzen: bei ihrer Mutter, ihrem Vater, ihren kleinen Freundinnen, in allem, was einem auf Schritt und Tritt begegnet: Man kann materiell keinen Schritt außerhalb seines Körpers tun, ohne auf schmerzliche Dinge zu stoßen, sagte sie. Manchmal berührt man eine Substanz, die angenehm, harmonisch und warm ist und in einem höheren Licht vibriert. Doch das ist selten. Die Blumen, manchmal bei den Blumen – auch da nicht immer. Aber diese materielle Welt, oh,… überall wird man gestoßen, gekratzt, zerrissen – gestoßen durch alle möglichen Dinge, die sich nicht entfalten; wie wenig entfaltet das menschliche Leben doch ist! So zusammengeschrumpft, hart, ohne Licht, ohne Wärme, von Freude ganz zu schweigen. Sie schaute, beobachtete alles, verbrachte ihre Zeit in der Betrachtung dieses menschlichen Rätsels. Tastend erlernte sie die Funktionsweise der großen Shakti.
Sie hatten den Boulevard Haussmann verlassen, um in das Square du Roule Nr. 3 zu ziehen, wo Mirra bis zu ihrer Heirat im Alter von neunzehn Jahren wohnen sollte; es änderte nichts: alles blieb gleich, nur mit neuen Gardinen und anderen Wänden. Und jener die Wesen und Dinge durchdringende Blick intensivierte sich, zog mehr von dieser Kraft in sie und ihre Umgebung: das floß, bewegte sich – konnte gehandhabt werden. Auch sah sie, daß es bei den anderen genauso war, nur mit unterschiedlichen Intensitäten – es bewegte sich ebenfalls, ging ein und aus – alles bewegte sich in dieser Kraft oder wurde durch sie bewegt. Wie konnte es da Mauern geben, wieso Mauern? Sie beobachtete, und das war viel faszinierender als der Zirkus, zu dem ihr Vater sie mitnehmen wollte, viel faszinierender als das Geschwätz ihrer kleinen Freundinnen. Und ausgerechnet Mathilde empörte sich eines Tages: “Du bist ein gefühlloses Monster!” Aber sie fand gerade diese “Gefühle” genauso schneidend und hart wie die Mauern, nur eine andere Variante, einen in den Mauern zu verschlucken. Sie schwieg und beobachtete: “Mirra die Schweigsame” – und das fanden die Leute unerträglich, denn nichts ist ihnen unerträglicher als das, was anders ist: das gibt ihnen keine Möglichkeit, dich zu verschlingen, also kratzen und stoßen sie, um mit Gewalt zu nehmen, was ihnen entgeht, und dann zeigt sich genau das Gegenteil der lobenswerten “warmen Gefühle”, deren Mangel sie dir vorwerfen: Selbst guter Wille ist aggressiv, selbst Zuneigung, Zärtlichkeit, Anhänglichkeit – all das ist so aggressiv wie nur möglich. Wie Rutenschläge. Und das sind sie. Unermüdlich betrachtete Mirra all das, um es “auf ihre Weise” zu verstehen. Dann stellte sie fest, daß das, was von den Menschen ausging – manchmal sogar von Gegenständen –, verschiedene Ebenen in ihr berührte, auf denen “etwas” die Bewegung empfing (den Gedanken, das Gefühl, die Worte anderer oder auch ohne jegliche Worte, in der “Stille” menschlicher Anwesenheit), etwas reagierte, antwortete. Hier wurde eine kleine Note berührt: es vibrierte. Und nicht nur berührte es verschiedene Ebenen in ihr, auch war das, was da vibrierte, von sehr unterschiedlicher Beschaffenheit. Mirra entdeckte die Schwingungen, die sie ebenso leidenschaftlich, ebenso gründlich studierte, wie ein Chemiker seine spezifischen Valenzen und Reaktionen mißt. Ohne es zu wissen, entdeckte sie die berühmten “Bewußtseinszentren” oder Chakras, die eine so bedeutende Rolle in der indischen Literatur spielen. Doch all das war eine einzige Bewegung, der auch diese “Kraft” angehörte, die sie manchmal über sich, manchmal in sich, in den Wesen und Dingen, hier und dort fühlte. Dieser ganze Kreislauf erfüllte sie mit Staunen und Interesse – und mittendrin diese kleinen seltsamen Mauern… Man nahm sie mit, einer soeben verstorbenen Verwandten einen letzten Besuch abzustatten (zweifellos wollte Mathilde sie auf ihren eigenen Stoizismus drillen), ihre “erste Tote” also, für die sie sich in keiner Weise interessierte und mit der sie keine besonderen Gefühle verbanden, doch plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen, ihre Kehle schnürte sich zusammen, und wie von großem Kummer ergriffen kam sie dem Weinen nahe – sie beobachtete all das gelassen, mit einem gewissen Erstaunen über diese Invasion, und auf einmal verstand ich: ach so, der Kummer der anderen ist in mich eingedrungen! Es fließt, bewegt sich, geht hinein, geht hinaus, geht vom einen zum anderen, und alles steht miteinander in Verbindung – wir sind wie ein Marktplatz, sagte sie… Die Schwingungen bewegen sich in einem einzigen einheitlichen Feld. Lediglich die Kompliziertheit oder Obstruktion der Schwingungen erweckt den Eindruck von etwas Unabhängigem und Getrenntem. Aber in Wirklichkeit ist nichts getrennt oder unabhängig: es ist eine einzige Substanz, eine einzige Kraft, ein einziges Bewußtsein, ein einziger Wille, der sich in zahllosen Seinsarten bewegt17.
Es paßte Mirra absolut nicht, wie ein öffentlicher Marktplatz zu sein und sich vom Kummer der anderen oder von den Wutausbrüchen ihres Bruders Matteo überfallen zu lassen: Ein furchtbar ernster Junge und schrecklich lerneifrig – oh, es war fürchterlich! Aber auch ein sehr starker Charakter, ein starker Wille… Er hatte etwas Interessantes (als er sich auf das Polytechnikum vorbereitete, studierte ich mit ihm, weil es mich interessierte). Wir standen einander sehr nah (nur achtzehn Monate lagen zwischen uns). Er war sehr brutal, aber zugleich von außergewöhnlicher Charakterstärke. Nachdem er mich dreimal fast umgebracht hätte und meine Mutter ihn nach dem dritten Mal warnte: “Beim nächsten Mal wirst du sie umbringen”, beschloß er, daß es nicht wieder vorkommen sollte – und es geschah nie wieder. Entschieden eine energische Familie! Bei Matteos Wutanfällen spürte sie deutlich, wie etwas in einem Zentrum im Unterleib zu vibrieren begann: diese Zentren waren wie schwingende Knotenpunkte, die entsprechend der jeweiligen Ebene, mehr oder weniger verkrampft, bebend empfingen und aussandten; manchmal war es auch sehr sanft, eine leichte Wellenbewegung (aber das lag sehr viel höher im System). Sie beobachtete all das sehr genau – und anstatt sich von der Schwingung anstecken zu lassen und ihrerseits in Wut zu geraten, sah sie, daß es genügte, einfach den Strom zu unterbrechen. Dazu brauchte man nicht wie Matteo seinen Willen anzustrengen oder Selbstbeherrschung auszuüben: man unterbricht den Strom, und es ist vorbei! Nichts kommt mehr durch. Sie entdeckte die außerordentliche Ansteckungskraft der Schwingungen: Alle Schwingungen sind ansteckend, und es gibt deren eine Unmenge! Ein Tanz von Schwingungen. Aber sie war keineswegs darauf erpicht, die sympathische (oder antipathische) Krankheit des Nachbarn aufzuschnappen; Mirra wollte Meister im eigenen Haus sein, kein treibender Korken auf dem Meer. Wissenschaftlich genau alle Schwingungswerte kennen – wenn man in diesen Studien wissenschaftlich wird, dann ist man nicht mehr wie ein Korken: eine Welle wirft dich hierhin, die nächste dorthin. Eine Naturbewegung zieht vorbei… (oh, die Natur! Wie sie sich über die Menschen lustig macht! Mein Gott, wenn man das sieht! Wirklich Grund, sich zu empören! Ich verstehe nicht, warum sie sich nicht auflehnen!), die Natur läßt eine Welle der Begierde durchziehen, und schon rennen sie alle wie die Hammel ihren Begierden nach; die Natur läßt eine Woge der Gewalt vorbeiziehen, und erneut leben sie wie ein Rudel von Schafen ihre Brutalität aus, und so geht es weiter, bei allem. Nehmen wir den Zorn: die Natur schnalzt mit den Fingern, und alle werden wütend. Sie braucht nur eine Geste zu machen – eine Geste ihrer Laune –, und die Menschenmassen folgen18.
Mirra begnügte sich nicht damit, den Strom zu unterbrechen. Sie entdeckte, daß man ihn lenken kann. Anstatt ihn im Kopf aufzustauen und eine mentale Gärung zu verursachen, wie sie es nannte, sah sie, daß man ihn auf andere Ebenen lenken kann, auf jede beliebige Ebene, ihn sogar nach außen auf die anderen und die Umstände projizieren kann, und daß dies eine Wirkung hat. Und wenn man ihn auf die Herzebene und noch tiefer nach innen zog, begann es sehr sanft und weit zu werden und einen Rhythmus anzunehmen wie ausgebreitete Schwingen. Das war der “reine” Strom, die reine Shakti ohne große Geschichten. Ihr mißfielen all die menschlichen Geschichten, die sich dem Strom beimischten; zunächst einmal verwirrt das alles, und man versteht überhaupt nichts mehr: wie ein Kieselstein das klare Spiegelbild des Tümpels trübt. Man mußte sehr ruhig und klar sein, damit es unverzerrt hindurchfließen konnte. Sie suchte den reinen Strom, aus dem einfachen Grund, daß es so viel angenehmer war: man tanzte, war federleicht. Sie erkannte den Kreislauf der Shakti sehr deutlich und sah, wie er sich unterwegs den Ebenen entsprechend in Gefühle, Wünsche und sogar Gedanken kleidete – er wurde schwerfällig, schlammig und nahm alle möglichen Farben an, doch es war nicht mehr die Farbe, und die ganze Welt schien sich zu entfärben. Er wurde grau und schwer – opak. Er begann, viel zu denken. Er wurde hart und kompliziert. Und dann pfft! blies sie darauf, machte sich spiegelklar, und schon war alles wieder hell, offensichtlich, einfach. Die außerordentliche Einfachheit in allem. In dieser Klarheit ordnete sich alles wie durch ein Wunder. War es nötig, etwas zu wissen, so sagte der Strom es einem sehr deutlich, er ließ kleine Tropfen von Worten herabfließen: Ein kleiner Regen weißen Lichts, und nach kurzer Zeit war es, als ließe dieser kleine Regen Worte sprießen, als besprühe er die Worte – und die Worte kamen. Und daraus entstand alsbald eine Art Tanz, eine Quadrille, und wenn die Quadrille gut geformt ist, wird der Satz deutlich. Das ist wirklich lustig. Es ist so lustig und verspielt wie kleine Irrlichter, die hier und dort auftauchen, einen Tanz vollführen, sich gruppieren – wirklich amüsant. Auch wenn man etwas zu tun hat, bringt es einen durchaus dazu, ohne daß man darüber nachzudenken braucht: Es zieht hier, drückt dort, weist Leute ab, die man nicht zu sehen braucht, oder zieht wiederum andere an – es führt sogar Umstände herbei. Alles ordnet sich auf eine andere Weise, einem anderen Modus oder Rhythmus entsprechend, fast wie ein Wunder. Und wir wissen nicht, warum wir “fast” sagen: es ist ein Wunder. Aber es ist ein so natürliches Wunder, daß man nicht darüber redet, es nicht einmal wahrnimmt (außer Mirra vielleicht, die immer alles mit ihren großen haselnußfarbenen Augen beobachtete – manchmal waren sie auch smaragdgrün oder schwarz oder himmelblau; seltsame Augen, die sich ständig veränderten… vielleicht je nach dem Lichtregen und der Ebene, auf der sie gerade schaute). Unkomplizierte Wunder. Im Grunde genommen bringt nur der Verstand die Komplikationen und braucht “Wunder”, weil er das schlichte Wunder, in dem er ständig lebt, völlig verbarrikadiert hat. Und er erfindet Maschinen als Ersatz für die Luft, die er atmet. Besonders gut atmet er ja auch nicht, er erstickt sogar, aber das Ersticken scheint ihm das Gefühl des Lebendigseins zu geben. Seltsame Welt. So viel war Mirra klar.
Mirras scharfe Beobachtung beschränkte sich nicht nur auf sich selbst und die anderen, auch nicht auf diese Art fühlende Sicht der Schwingungen, wie sie es später nennen wird (denn es ist fast ein Berühren – es ist eine Berührung – eine Sicht, die nicht in den Augen stattfindet, sondern überall im Körper, als blinzelten in den Zellen Tausende von kleinen Augen; tatsächlich vermuten wir, daß unsere runden Augen außen einfach eine entwicklungsgeschichtliche Konvention sind, daß man in Wirklichkeit aber überall sehen kann, auf allen vielfarbigen Ebenen, wie Mutters weiter, sich ständig verändernder Blick; nur aus Faulheit haben wir uns hier festgelegt, weil wir die Gewohnheit haben, alles zu fixieren und dann feierlich zu erklären: “Es ist das Gesetz!” – ja, das Gesetz unserer eigenen Trägheit). Ihre Beobachtung umfaßte alles, und kein einziger Gegenstand war leblos für sie. Sie wanderte durch die Tuileries, den Bois de Boulogne, den Jardin des Plantes, artig, still, ihre kleine Hand an die Faust des großen Türken geklammert, und sah diesen gleichen Strom in allem fließen und eine Art Brücke zwischen ihr und den Dingen bilden. Weilte ihr Blick lange genug auf einer Blume, einem Baum oder dem großen Python im Jardin des Plantes – schweigend, denn der geringste Gedanke brachte alles durcheinander –, so spürte sie in ihrem Innersten eine mehr oder weniger prompte Antwort, einen Kontakt, einen Austausch, etwas, das in ihr auf der einen oder anderen Ebene vibrierte, wie eine Sprache ohne Worte vielleicht, vor allem aber eine Art Duft, der seinen eigenen Sinn übertrug, als sei auch der Duft eine Sprache – eigentlich ist alles eine Sprache: Formen, Bewegungen, Farben, alles spricht, wir sind die einzigen, die diese Sprache nicht mehr verstehen! Eine universelle Sprache, denn in Wirklichkeit gibt es nur eine Sprache: die Sprache des Bewußtseins. Im Vergessen dieser einen Sprache erheben sich alle unsere Babeltürme. Und auch hier offenbarte sich eine ganze Skala und erweckte ihr Interesse: In den Schwingungen gibt es Unterschiede, die den Unterschieden im Geschmack ähnlich sind. Das sind Schwingungen, nichts als Schwingungen, aber es bestehen unter ihnen so etwas wie Geschmacks-, Farb- oder Intensitätsunterschiede, vielleicht auch Unterschiede in der Kraft – hauptsächlich natürlich Unterschiede der Beschaffenheit… Ich kenne nicht den wissenschaftlichen Begriff, mit dem man Schwingungen voneinander unterscheidet, aber so ist es. Es sind fast nur Empfindungen, aber Empfindungen… manche Schwingungen haben abgerundete Winkel. Einige kommen horizontal, andere vertikal. Und dann gibt es solche, die sind… ja, als sähe man sie durch ein stark vergrößerndes Mikroskop: einige sind abgerundet, andere spitz, einige sind dunkler, andere heller; einige stören den Körper ganz besonders, manche werden sogar als gefährlich empfunden. Eine ganze Chemie der Schwingungen sollte sie es bald nennen.
Ganz besonders interessierte sie sich für die Blumen (auch Katzen, aber in einem anderen Zusammenhang). In den Blumen spürte sie das Fließen der Kraft auf besonders reine Weise, einen besonderen Klang der Schwingung, einen sprechenden Duft könnte man es nennen, der sie in ihrem eigenen Körper mit seinem Sinn und seiner Wirkung auf die Zellen erfüllte: Diese hier hat einen reinigenden Duft, sagte sie von einer winzigen gelben Blume mit gerundeten Blütenblättern, die einem Gänseblümchen glich, mit ihr habe ich mich einmal von einer beginnenden Erkältung geheilt. So kam es, daß sie später Hunderten von Blumen einen Namen gab, einfach entsprechend der Qualität der Schwingung, die sie in ihr wachriefen: Ah, Hingabe! rief sie eines Tages auf indischem Boden aus, als sie einen kleinen Zweig Basilikum in der Hand hielt… Es vibriert, sagt etwas aus – alles sagt etwas aus. Da gibt es die “Zärtlichkeit” und die “Aspiration”, die “Neue Schöpfung”, den “Ruf der Freude”, die “Supramentale Sonne”, “Flamme”, “Licht in den Zellen”, “Transformation”, das “Göttliche Bewußtsein in der Materie”, “Gnade”, “Transparenz” und Hunderte anderer. Und die kleine gelbe Blume, die wie ein Gänseblümchen aussieht, nannte sie “Einfachheit”. Das sind bewußte Schwingungen in der Natur. Duft, Farbe und Form sind einfach der spontane Ausdruck einer wahren Bewegung. Mutters großer Wald ist voller überraschender Düfte. Es gibt Düfte, die euch erleichtern, als öffneten sie Horizonte – sie machen euch leichter, fröhlicher; andere Düfte erregen euch (die gehören zu der Kategorie, die ich meiden lernte); und was die Gerüche, die einen abstoßen, betrifft, die rieche ich nur, wenn ich will: wenn ich wissen möchte, rieche ich sie; will ich es nicht, dann nehme ich ihren Geruch nicht wahr. Unglücklicherweise haben auch Menschen einen Geruch, einen “psychologischen Geruch”, wie Mutter sagte. Ich rieche den psychologischen Zustand der Leute, wenn ich in ihre Nähe komme, ich rieche ihn, er hat einen Geruch – es gibt sehr spezielle Gerüche, eine ganze Skala. Menschen gehören wahrscheinlich nicht zu den Wesen, die am angenehmsten riechen, aber vielleicht nur, weil sie vergessen haben, was den Duft eines Wesens ausmacht, seine wahre Farbe, seine reine Schwingung: ein gewisser Klang im Inneren, wie unsere eigene Musik mit den Grillen und Mangusten – oder überhaupt keine Musik. Unser wahrer, natürlicher Name. Als ein Kind Mutter eines Tages fragte, wie es käme, daß eine Blume gewisse Farben des Spektrums absorbiere und alle anderen reflektiere und uns deshalb rot, gelb oder weiß erscheine, antwortete sie in ihrer überraschenden Art: Die Wissenschaftler sagen, daß es auf der Zusammensetzung ihrer Atome beruht, ich sage, es hängt von der Art ihrer Aspiration ab. Das ist die wahre Bewegung der Welt. Ihr Rhythmus der Wahrheit, ihr Atem. Das reine Strömen der großen Shakti, der Duft aller Düfte, die wahre Farbe der Dinge, der Sinn, der allem Sinn gibt.
Es ist die große Muttersprache der Welt.
Der Eindruck mag entstehen, die Erfahrungen der kleinen Mirra seien einmalig und außergewöhnlich – und diese scharfsinnige Wahrnehmung der Schwingungen nahm tatsächlich mit den Jahren erstaunliche Proportionen an, wie eine Geschichte zeigt, die uns Mutter sehr viel später an einem Novembertag 1964 erzählte: Seit meiner frühesten Kindheit bin ich äußerst empfindlich gegen die Zusammensetzung der Luft: die “Lüfte” haben sozusagen jede ihren eigenen Geschmack, ihre Farbe und Beschaffenheit, und ich war imstande, sie so genau zu unterscheiden, daß ich manchmal ausrief (ich war noch Kind): “Oh, die Luft dieses Landes oder jenes Ortes ist hierher gekommen!” Dieser Sinn war sehr hoch entwickelt: wenn ich den Ort wechselte, konnte ich zum Beispiel dank der Luftveränderung plötzlich von einer Krankheit geheilt werden… Vor einigen Tagen stellte ich nun fest: “Es liegt etwas Neues in der Luft.” Und zwar etwas sehr Unangenehmes, sehr Bösartiges, und ich spürte, daß dieses “Etwas” (natürlich sprach ich mit niemandem darüber) einen ganz besonderen Geruch hatte, äußerst subtil, nicht physisch, mit der Kraft, die vitalen Schwingungen von den physischen zu trennen, also eine ausgesprochen schädliche Substanz… Sofort begann ich daran zu arbeiten (es dauerte Stunden), die ganze Nacht verbrachte ich damit, dem entgegenzuwirken. Ich versuchte herauszufinden, welche höhere Schwingung dem entgegenwirken könnte, bis es mir endlich gelang, die Atmosphäre zu klären. Aber die Erinnerung blieb sehr deutlich. Wenige Tage später berichtete man mir, die Chinesen hätten im Norden Indiens ein Gebiet zum Testen eines gewissen Typs von Atombomben ausgesucht und die Bombe dort zur Explosion gebracht. Als ich das erfuhr, erinnerte ich mich plötzlich des “Geruchs”. Diese geradezu mikroskopische Präzision ist aber nicht außergewöhnlich, sie ist in Wirklichkeit die natürlichste und die am weitesten verbreitete Erfahrung überhaupt… außer für die menschliche Spezies.
Sie las im großen Buch des Universums, mit den Pflanzen, den Eichhörnchen und dem riesigen Python – den sie völlig ruhig betrachtete oder vielmehr erlebte, denn sie fürchtete sich vor nichts (und vielleicht wurden ihre Augen dann smaragdgrün, wie ich sie manchmal sah); sie bewegte sich gemäß einem rhythmischen Gesetz, das sie unmittelbar zu dem führte, was sie brauchte, zur gewollten Begegnung, zur notwendigen Erfahrung, auf tausend direkten Umwegen des gewaltigen Stroms, und das sie aus drei Meter Höhe sanft auf die Flintfelsen in Fontainebleau fallen ließ – kennst du die Flintfelsen in Frankreich? – ohne auch nur eine Schramme zu hinterlassen. Sie lebte mit der großen Shakti, strömte in ihrer unteilbaren Einheit. “Instinkt” mögen wir sagen, denn wir haben die Gewohnheit, alles, was wir nicht verstehen, mit Silben zu versehen (griechisch-lateinischen, wenn möglich), wie der Zauberer, um den Bann dieser kleinen lästigen Dinge zu beschwören, die sich nicht in unsere unrhythmischen Gesetze einordnen lassen. Aber haben wir erst einmal den Instinkt zur Verantwortung gezogen und uns auf den Vater des Vaters berufen, der den Sohn des Sohnes zeugte, werden wir zu guter Letzt auf die große ursprüngliche Gesamtheit stoßen, wo Wesen, die noch keine Menschen waren, also noch nicht mit einer neokortikalen Blende ausgestattet waren, sich inmitten hoher Farne und wandernder Sterne frei bewegten, unmittelbar auf ihr Ziel zu, als bildeten sie einen einzigen Körper. Bleibt nur eine Frage, und das ist die einzige relevante Frage: Warum ließ die Natur, die immer genau weiß, was sie tut, und keine einzige Abzweigung verfehlt, um ihr Königreich zu bereichern, diese kleinen Blenden sich aufs mannigfaltigste vermehren – zuerst ein Hirn, dann ein zweites Hirn, dann ein drittes, eine wahre Explosion, immer verfeinerter, immer dichter, immer mehr gewunden und ineinander verschachtelt, um unsere Reptilienwahrnehmung zu überdecken (mesenzephal, da wir das Griechisch-Lateinische nun mal bevorzugen), dann das “limbische System” oder jenes mit Lappen und Läppchen und Protuberanzen und verpackte das ganze schließlich in dieser fast krebsartigen Wucherung, die aus uns den Homo sapiens macht – abgeschnitten von allem, “sapiens” nur, was unser winziges Elend im Käfig betrifft, ausgestattet mit zahllosen Werkzeugen, um das zu ersetzen, was wir nicht mehr zu sehen, zu fühlen, zu hören oder “instinktiv” zu wissen fähig sind? Wir kennen die Welt nicht, wir kennen nur eine Übertragung der Welt in die Sprache unseres Gehirns. Nein, hier handelt es sich nicht um eine Dichotomie sondern um eine vollständige Abtrennung vom großen Erdenkörper – darin besteht unsere ganze Qual und unser ganzes Elend. Diese einzige Frage zu lösen, ist vielleicht der Grund, warum die Natur die Frage aufwarf, als errichte sie alle notwendigen Hindernisse, um eine größere Perfektion zu erreichen. Vielleicht war ihre Welt zu weit für die Büffelherden und Protozoen, die alle miteinander vermischt in ihrem trüben Weltenkörper umhertrieben und blind ihrem Gesetz folgten, gemäß einem viel älteren und radikaleren Kommunismus als dem unsrigen; vielleicht war es notwendig zu trennen, abzugrenzen, in kleine Bogenabschnitte zu zerlegen, um diese allzugroße Immensität, diese zu weite Sicht zu verschleiern, dieses vielleicht unerträgliche Licht zu dämpfen und kleine Individuen zu schaffen, die sich selbst als Einheit wahrnehmen und dank ihrer Begrenztheit sich selbst verstehen können. Wenn aber erst einmal die ganze Kurve durchlaufen ist, mit ihren tausend direkten Umwegen und Windungen, die Fragen und Probleme aufwarfen – viele Fragen und viele Probleme – und immer angestrengter denkende, getrenntere und ängstlichere Individuen hervorbrachten, wenn wir gründlich gelernt haben, daß wir nichts wissen und nichts können, daß wir aber ein Individuum sind, viel reicher dank all seinem Elend und all seinen Fragen, die schließlich ein seltsames Feuer innen entzünden, das keiner Lampe entstammt, ein Feuer, das sich tastend sogar durch die alten Mauern hindurch mitzuteilen scheint und das, ohne es zu sehen, ein größeres, ähnliches Licht berührt, ohne Worte versteht und sich sehnt – oh, sich nach mehr Raum, mehr Wahrheit, mehr Licht und Sicht sehnt! – dann ist vielleicht im langsamen Gang der Evolution der Augenblick gekommen, den großen Strom durch andere, weniger begrenzte Zentren fließen zu lassen, die Blenden zu durchbrechen und dem Kokon des Verstandes zu entschlüpfen, in dem uns Mutter Natur vor einer verfrühten Geburt in die Welt schützte, und es ist Zeit, zum großen Körper zurückzukehren, ohne aber diesen Punkt der Individualität zu verlieren, sei es auf mystische, kosmische oder egalitäre Weise, den die Natur mit so großer Sorgfalt aufgebaut hat. Denn vielleicht liegt darin die große evolutionäre Bestimmung, die kommende supra-mentale “Menschheit”, die Sri Aurobindo und Mutter ankündigten, das neue Wesen, das fähig sein wird, gleichzeitig das Bewußtsein des Punktes und des Ganzen zu haben.
Und zwar physisch, in den Zellen.
Ein individuelles Wesen, des Ganzen bewußt.
Jedes individuelle Wesen des Ganzen bewußt.
Es gibt etwas, das mehr ist als das bloße Aufbrechen des illusorischen Panzers der Individualität in die Unendlichkeit, schrieb Sri Aurobindo19. Zu sein und völlig zu sein, ist das Ziel der Natur in uns… und völlig zu sein bedeutet, alles zu sein, was ist20.
Dann werden alle unsere Leiden getilgt, alle unsere Qualen mit einem weiten Lächeln abgegolten sein, und unsere blinden Augen werden in tausend sichtbaren und unsichtbaren Farben entflammen, die wir verbannt hatten, jedes in seiner unverwechselbaren Farbe; wir werden das rhythmische Gesetz lernen, das alles rhythmisiert, die kleine Musik tief im Inneren, die überall ihre Musik wiedererkennt, die unverwechselbare Schwingung, die wir sind und die überall direkt zugegen ist, durch alle Zeiten, alle Räume, alle Orte, durch die Meere und Wälder der großen Shakti, auf dem Weg zu ihrem Ziel der Freude in jedem Augenblick.
3. Kapitel: Die Schwingen und Flüge der Shakti
Mirras strenge Familie war in der Tat ein idealer natürlicher Boden: Da gab es nichts, was nachzuahmende Erfahrungen suggeriert oder ausgelöst hätte, ausgenommen einen Hang zur Materie mit allem, was der Wind da hineinzusäen vermag, es sei denn, es war bereits vorhanden – aber heruntergefallen von wo? Ein geheimnisvoller Wind jedenfalls, er blies von weiter her als vom Ural, von Chromosomen ganz zu schweigen – und warum ausgerechnet dieses kleine Feld zwischen den Kanarienvögeln des großen Türken und Mathildes Grundsätzen? Obendrein liebte sie Mathematik sehr, diese kleine, inzwischen heranwachsende Mirra, und wie! Noch dazu verstand ich’s, es hatte Sinn.
Dennoch ereigneten sich Dinge auf diesem schroffen Boden, die wenig mathematisch waren und wohl kaum mit Newtons Gesetzen übereinstimmten – Mutter konnte Gesetze nie leiden, weder “moralische” noch newtonische oder sonst welche, was man ihr mehr als einmal zum Vorwurf machte: Aber natürlich verstößt es gegen die Regeln! rief sie eines Tages in Gegenwart einer gewissen schockierten Person aus, die ungehalten (oder vielmehr auf Schicklichkeit bedacht) war. Alles, was ich tue, verstößt gegen die Regeln, das ist meine Gewohnheit. Wozu sonst bin ich da? Die Regeln gingen auch von allein weiter. Wir haben den Vorfall bereits erwähnt, der sich im Wald von Fontainebleau ereignete, wo sie eines Tages, von ihren Freundinnen verfolgt, losrannte, ohne auf den Weg zu achten, und sich plötzlich auf der Böschung über einer frisch mit Flintsteinen beschotterten Straße befand – vom eigenen Elan getragen, fiel sie hinunter: Ploff! da flog ich durch die Luft. Ich war zehn oder höchstens elf Jahre alt, und es kam mir nicht der leiseste Gedanke, daß es etwas Besonderes sei, ein Wunder oder sonstwas – ich war einfach in die Luft geworfen und fühlte mich von etwas getragen, einfach so; etwas trug mich und setzte mich buchstäblich auf den Boden, auf die Steine. Aber interessant an diesem Vorfall, den man durch alles mögliche erklären kann, ist Mirras eigener Kommentar: Es schien mir ganz natürlich, verstehst du? Kein Kratzer, kein Stäubchen, nichts, ich war völlig unversehrt. Ich bin einfach sehr langsam gefallen. Als schließlich alle herbeistürzten, um nach mir zu sehen, sagte ich: “Aber es ist nichts! Ich habe nichts!” Ja, es ist “nichts”, auch nicht der leiseste Gedanke – vor allem kein Gedanke, denn hätte sie auch nur eine Sekunde lang gedacht, wäre sie ganz schön auf die Nase gefallen oder noch schlimmer. Aber wo liegt das “Schlimme”? Man denkt nicht daran, dann kommt es auch nicht, klar! Man findet das ganz natürlich, und so wird man natürlich getragen. So einfach ist das. Die Einfachheit selbst. Vielleicht haben wir in unserem Kopf eine nichtvorhandene Schwerkraft erfunden? Oder gibt es vielleicht eine andere Art von Schwerkraft?
In ihrer erfrischenden Unbefangenheit sagte mir Mutter eines Tages: Ich kannte keine Regeln, also brauchte ich auch nicht dagegen anzukämpfen.
Ein anderer Vorfall (aber deren gibt es viele) spielte sich im großen Salon im Square du Roule ab. Ein weiträumiger Salon, dekorativ und eher langweilig, aber nicht für Mirra – obwohl sie kein Wort sagte; sie sagte nie etwas, diese eigenwillige Schweigsame, sie handelte: Nun sollt ihr sehen, wie man tanzt!… Die kleinen Freundinnen bildeten einen Kreis, die kleinen runden Tische im Stil Ludwig des XV. (oder XVIII. – wer auch immer) wurden aus dem Weg geschoben, und ich stellte mich in die Ecke des Salons, wo ich den längsten Weg von einer Ecke zur anderen vor mir liegen hatte. Ich sagte ihnen: “Mit nur einem Schritt in der Mitte…” (der Salon war mehr als zehn Meter lang), und ich tat es. Ich schwang mich hoch (wobei ich nicht einmal das Gefühl hatte, zu springen sondern eher zu tanzen, wie ein Spitzentanz), landete auf den Zehenspitzen, schnellte sofort wieder hoch und erreichte die andere Ecke – das bringt keiner allein fertig, nicht einmal ein Weltmeister… Ohne Anlauf, ich stand in der Ecke und hoppla! einfach so (ich sagte im Stillen “hoppla”), frrt! landete ich auf den Zehenspitzen, schnellte wieder hoch und erreichte die andere Seite des Salons – ich wurde ganz offensichtlich getragen. Und Mirra fügte hinzu: Viele solche Dinge geschahen, und immer erschienen sie mir völlig natürlich; nie hatte ich den Eindruck, etwas Wunderbares zu tun – alles war natürlich. Wenn sie den Eindruck von etwas Wunderbarem gehabt hätte, hätte das “Wunder” überhaupt nicht stattgefunden, sie wäre mitten im Salon auf dem Bauch gelandet. Vielleicht erfanden wir das Wunderbare als eine Art unwahrscheinliche Lüge über unsere einzig wahre Maschine – oder aber die Maschine ist absolut “wunderbar” in einem unkomplizierten Universum, frei sogar von Newtons Schwerfälligkeit? Und Mutter bemerkte: Die Seele war sehr lebendig in diesem Augenblick (wahrscheinlich hatte sie keinen Namen für diese völlig natürliche Angelegenheit, und hätte sie diese benannt, hätte die Seele sich vermutlich ebenso schnell wieder verflüchtigt wie die Rehe im Wald von Fontainebleau – die in aller Ruhe nah an sie herankamen), die Seele widersetzte sich mit aller Kraft dem Eindringen der materiellen Logik der Welt – alles schien mir völlig natürlich. Ich sagte mir einfach: nein, mir kann nichts zustoßen. Und manchmal fragt man sich, ob der Unfall der Welt nicht in unseren Gedanken passiert. Änderten wir unser Denken, passierte vermutlich überhaupt nichts – oder auf eine andere, vielleicht charmante Art – wer weiß? Dieser “anderen Art” wollen wir auf die Spur kommen. Denn das wirklich Interessante sind schließlich nicht diese banalen Vorfälle, sondern der Keim, den sie enthalten. Viele Jahre später – etwa 75 Jahre später – während Mutter die Erinnerung an dieses tanzende Schweben in der Luft wachrief, erkannte sie plötzlich die seltsame Verbindung zwischen dieser ungewöhnlichen Schwerelosigkeit und einem gewissen inneren Zentrum, das sie schon damals ganz deutlich in der Nähe des Herzens fühlte: eine Art harmonische Wellenbewegung ging davon aus… wie eine weite Bewegung von Flügeln. Das gleiche Zentrum übrigens, in das sie die Shakti hineinzuziehen pflegte, um sich Matteos Wutausbrüchen oder Mathildes Abfuhren zu entziehen: dieselbe Schwingung. Vielleicht gibt es eine Schwingungsweise, die sich Newtons und allen unseren Gesetzen entzieht.
Wir müssen das Gesetz der “weiten Flügel” erlernen.
Aber sagen wir es lieber gleich, es geht nicht so sehr darum, sich in die Lüfte zu erheben, als vielmehr aus der erstickenden Maschine herauszukommen, die hinter ihrer Maske ein realeres Leben für uns verbirgt. Wo ist die Realität – wo? Wo ist das wirkliche Leben, das wahre Leben? Wie sieht es aus? Das war genau die Frage, die schlagartig wie eine Revolution über Mirra hereinbrach, als sie zwölf Jahre alt war. Ich war noch ein Kind, als man mir sagte, daß alles aus Atomen besteht (so drückte man sich damals aus). Man sagte mir: “Siehst du diesen Tisch? Du glaubst, es sei ein Tisch, solide und aus Holz, es sind aber nur Atome in Bewegung.” Ich erinnere mich, beim ersten Mal, als man mir das sagte, löste es eine Art Revolution in meinem Kopf aus, gefolgt von einem Gefühl der völligen Irrealität aller Erscheinungen. Plötzlich sagte ich: “Aber wenn es so ist, dann ist nichts wahr!”
Das war Mutters erste entscheidende Erfahrung.
Hier beginnt der erste bedeutende Abschnitt ihres Lebens und ihre Jagd auf die trügerischen Erscheinungen, die mehr als achtzig Jahre dauern sollte. Eine grundsätzliche Infragestellung von allem – aber weder in metaphysischer noch mystischer Weise, sondern völlig handfest und materiell. Was ist die materielle Realität der Erde? Die wahre Erde?
Was ist wahr? Die Atome, der Tisch oder Ali Babas fliegender Teppich…? Oder vielleicht ist alles wahr, die Atome, der Tisch und der fliegende Teppich – und dazu noch etwas anderes, was all das in einer totalen Sicht zusammenfaßt, vielleicht unsere nächste Sicht, wenn wir das zerebrale Zerlegen satt haben. Wir müssen die “neue Art” finden. Wir müssen mit Mirra genau “schauen”. Aber was ist das für eine andere Art? Das wissen wir noch nicht. Vielleicht werden wir es im Vorangehen entdecken, und wer weiß, vielleicht wird sich die ganze Welt verändern: ein Wunder weit größer als Newtons Apfel, der noch die ärgerliche Gewohnheit hatte zu fallen. Vielleicht müssen wir nur eine Gewohnheit ändern, eine alte Gewohnheit, die auf eine gewisse Großhirnrinde zurückgeht. Vorausgesetzt, wir gehen bis zu den Zellen und löschen dort ihre Erinnerung – eine böswillige und falsche Erinnerung, die uns ins Grab stolpern läßt. Und warum das Grab, da wir doch wissen, daß unsere Mutter Natur uns zu keinem unnötigen Umweg, keinem Abgrund führt, der nicht seine geheime, noch unvollendete Vollkommenheit in sich birgt?
Aber wir greifen vor.
Nicht nur der Raum, auch die Zeit verhielt sich Mirra gegenüber mit Leichtigkeit. Oh, alles ist so leicht und transparent, wenn man nur selbst leicht ist. Warum die Welt zu verbessern suchen, wo diese ursprüngliche Welt hier erst einmal geklärt werden müßte! Wie Hampelmänner wenden wir uns nach außen, während doch innen die gewaltige Geschichte der Welt fließt, der einzige Faden, der alle unsere Geschichten webt. Der Faden ist da, aber wir beachten ihn nicht, so sehr sind wir in unsere schwerwiegenden Probleme vertieft, die nur die Probleme unserer falschen Vorstellung sind. Sie steckten die kleine Mirra in eine Privatschule – meine Mutter fand den Besuch des Gymnasiums unschicklich für ein junges Mädchen! – “Le Cours des Feuillantines”, wenn ich mich recht erinnere, und da wurde ihr, wie uns allen, sorgfältig die verkehrte Welt beigebracht, diejenige, die auf Landkarten verzeichnet, in Atome und “goldene Zeitalter” zerlegt ist – wobei wir letztlich feststellen, daß so golden jene gar nicht waren. Und was unsere Atome betrifft, so müssen wir erst herausfinden, ob sie nicht eine weitere Maske von etwas anderem sind, das wieder etwas anderes verbirgt, das noch etwas anderes verbirgt – wo aber ist das Ding? Ja, wir verfügen über eine ganze Reihe von Wahrheiten, und solange sie bestehen, sind sie so unfehlbar wie der Papst oder die heiligen Lehrstühle, und wir gehen über zur nächsten, genauso unwiderlegbaren Wahrheit, bis auch sie vergeht; unterdessen sind wir festgefahren und verkrustet von der Nasenspitze bis ins Rückenmark, solange es nur wissenschaftlich und historisch ist – aber nicht Mirra. Sie ließ sich nicht so leicht täuschen. Als sie Geschichte studierte, enthüllte diese sich ihr durch unschuldige kleine Illustrationen: Ich las, und plötzlich war es, als ob das Buch durchsichtig wurde oder die geschriebenen Worte durchsichtig wurden, und ich sah darin andere Worte oder Bilder. Die Geschichte begann aus den Büchern zu tanzen, wurde lebendig und war nicht immer so, wie es die schwarz auf weiß gedruckten Worte erzählten. Aber daß wir jetzt nicht auf die Idee verfallen, Mirra hätte einem “Phänomen” beigewohnt (wirklich, wir wissen weder, wo die Phänomene anfangen, noch wer die Phänomene sind), sie fand das genauso natürlich, wie mit den Tieren zu verstehen, mit Blumen zu fühlen und über die Straße zu schweben: Ich wußte gar nicht, wie mir geschah, es schien mir so natürlich, daß ich dachte, es ginge jedem so. Da ich mit meinem Bruder sehr vertraut war, sagte ich ihm: “Siehst du, in den Geschichtsbüchern erzählt man dir Unsinn; sie behaupten: so ist es. Aber es ist nicht so, sondern so!” Und mehrere Male erhielt ich sehr präzise Korrekturen.
Nicht nur Bücher, Wesen und Tiere waren für sie transparent: auch die Orte fingen an, sich anders zu bewegen, als enthielten sie ihre Vergangenheit gleichzeitig mit ihrer Gegenwart – und vielleicht spielt sich alles gleichzeitig ab, auch die Zukunft: wäre unser Blick auf sie gerichtet, würde sie schneller wachsen, und wer weiß, vielleicht durchbräche sie diese kleine Gegenwartskruste, nicht dicker als eine Seite der Geschichte, und ließe ihre goldenen Strahlen hindurchschlüpfen. Eines Nachts besuchte sie mit ihren Freundinnen Versailles, und auf einmal war der Park mit Lichtern erfüllt (das heißt, die elektrische Beleuchtung war verschwunden), mit Lichtern aller Art: Fackeln, Laternen… und einer Menge Leute, die in Gewändern im Stil Ludwigs XIV. einhergingen! Mit weit offenen Augen betrachtete ich all das, während ich mich an der Brüstung festhielt, um sicher zu sein, daß ich nicht umfiel; denn ich war “meiner selbst” nicht mehr ganz sicher. Ich betrachtete all das, und plötzlich sah ich mich dort unter den Leuten mitten im Gespräch, ich war also jemand (ich erinnere mich nicht mehr, wer), auch diese beiden Bildhauer Brüder waren da… [Mutter versuchte vergebens, sich an ihre Namen zu erinnern], jedenfalls waren alle möglichen Leute zugegen, und ich sah mich selbst dort mitten im Gespräch, sagte Dinge.
Wer also war dieses “Ich”…? Sogar für Mirra war das ein wenig verwirrend – aber nicht weiter erstaunlich, eher etwas, das es “zu studieren” galt, bis sich weitere Einzelheiten ergaben. Die Welt war für sie keine feststehende Größe in einem ewig linearen Ablauf, da gab es allemal Hügel und Mulden, Tiefen und überraschend aufschießende Höhen – “es ist amüsant”. Übrigens rieselten sie wie Regen herab, diese bizarren “Ichs”, und trugen alle möglichen Kostüme. Auch die Gegenstände waren seltsam, sie blieben nicht brav eingeschlossen in ihrem Stein oder ihrer Ornamentik, sondern fingen an, ihre Geschichte zu erzählen – nicht mit Worten zu “erzählen”, denn Worte sind den Gelehrten vorbehalten (die die Welt so genau kennen, daß sie sie ganz in Wörterbücher gesteckt haben) – nein, so wie Murmeltiere erzählen oder wie Pythonschlangen oder Chrysanthemen, in der Sprache der Steine, die sich sehr gut bewegen (aus den Aussagen der Gelehrten zu schließen), aber nicht nur in ihren Atomen sondern durch ihr Bewußtsein, einem allesumfaßenden Bewußtsein, denn es gibt nur ein einziges Bewußtsein und nicht zwei. Und diese kleinen Finger, die heute über einen Amethysten oder ein altägyptisches Schmuckkästchen streichen, erinnern sich in ihren Zellen, so wie jenes sich in seinen Atomen erinnert, diesem alten Freund schon einmal begegnet zu sein (denn auch Gegenstände haben ein “Gedächtnis”, ebenso Orte und Häuser). Wir haben viele alte Freunde, vielleicht ist in unseren Zellen die ganze Welt unser Freund, nur haben wir die Sprache vergessen, in der man sich begegnet. Sie besuchte den Louvre, und das Guimet Museum, dort fand ich Dinge wieder, die ich in früheren Zeiten benutzt hatte. Auf diese Weise konnte ich später den Hergang rekonstruieren. Oder es war die Mumie im Guimet Museum, die ihr plötzlich ihre Geschichte erzählte. Ich hatte meinen ersten Kontakt mit dieser Mumie im Guimet Museum als neun- oder zehnjähriges Kind… Im Guimet Museum sind zwei Mumien: in der einen ist nichts mehr lebendig geblieben, in der anderen jedoch ist der “Geist der Form” noch sehr bewußt – so bewußt, daß man einen Kontakt mit diesem Bewußtsein aufnehmen kann21. Und in ihrer Unbefangenheit fügt Mutter hinzu: Es ist klar, wenn eine Bande von Idioten kommt und dich mit großen Augen verständnislos anstarrt und außerdem Bemerkungen fallen wie: “Ah! Er sieht so oder so aus”, dann ist das bestimmt kein Vergnügen.
Das stimmt. Manchmal begegnet sogar eine Mumie jemandem, der sie versteht.
Hätte man Mirra etwas von “Wiedergeburt” erzählt, hätte sie vermutlich selber verwundert die Augen aufgerissen; immerhin befinden wir uns im Zeitalter von Taine und Renan, zwischen Mathilde und ihrem Bankier. Aber in Mirras Alter findet man das völlig natürlich, es ist einfach eine andere Verhaltensweise der Natur, nicht viel absonderlicher als die Damen, die am Sonntag unter ihren Sonnenschirmen reihenweise zur Kirche des St. Philippe de Roule strömten. Auf jeden Fall war sie keineswegs geneigt, mit irgend jemandem ihrer Umgebung darüber zu sprechen, Gott bewahre! Für meine Mutter war all das absolut tabu: solche Themen wurden vermieden – sie machten einen wahnsinnig. So konnte sich ihre Erfahrung ohne jede Einmischung oder Kritik von außen spontan und voll entfalten, wie eine etwas eigenwillige Petunie inmitten all dieser vernünftigen und positivistischen Blumenbeete unseres guten Jahrhunderts. Man könnte wie Mathilde behaupten, das alles sei eine Art Geisteskrankheit oder krankhafte Einbildung – worauf Mutters Antwort lauten würde: Was soll’s, habt die Einbildungen, die euch Fortschritte machen lassen! Nie hatte sie darauf bestanden, daß man an irgend etwas “glaube”, nicht mehr an “Gott” als an den Teufel, sondern daß jeder einfach seine Erfahrung mache – sie wird stets nur sagen: “So ist meine Erfahrung”. Das Ziel ist eins und führt jenseits der Gipfel – aber jeder kann auf seinem eigenen Weg diesen Gipfel erreichen, seinen eigenen Berg erklimmen, nicht den eines anderen22.
Wohlgemerkt, sie sagte “jenseits der Gipfel”, sie, die eine wissenschaftliche Ausbildung genossen hatte, und hier ist etwas, das seltsam nachklingt, wie jenes “über die Gräber, vorwärts” von Mira Ismalun. Vielleicht weil das eine nur die Kehrseite des anderen ist… oder seine unvermeidliche Ergänzung.
Doch es lohnt sich, den Berg der kleinen Mirra näher zu betrachten, denn er mag etwas Licht auf die absonderlichen Windungen unserer Maulwurfshügel werfen, die hier und dort auftauchen, in einem 19. oder 20. Jahrhundert, auf einem Feld Frankreichs oder Patagoniens, plötzlich, ohne daß man wüßte warum, wie eine unvorhergesehene kleine Luke mit Ausblick auf ulkige Kostüme und ein ganzes Repertoire von Neigungen und Impulsen, die von anderswo, von weither aufzusteigen scheinen – wo anderswo? wie anderswo? Wir stehen draußen, wie ein Reisender ohne Gedächtnis mit tausend verlorenen Spuren und einer Geschichte, die vielleicht hier weder beginnt noch endet.
Verfolgt von einem Selbst, dessen wir uns nicht entsinnen,
Getrieben von einem Geist, den wir noch werden müssen…
Tragen wir den Schmerz von Brüsten, die nicht mehr atmen23
Aber die Erfahrung geht weiter – chaotisch und völlig unerwartet, irgendwo, bei jedem beliebigen Anlaß, sei es vor einem Porträt von Clouet im Schloß von Blois oder zwischen den Seiten eines Wörterbuchs: Es war in Blois. Wir besuchten gerade ein Museum, als ich plötzlich wie angewurzelt vor einem Gemälde stehen blieb… warte, wer war es nur? Coué… nein, Clouet! Die Prinzessin von Clouet… eine der Prinzessinnen. Und ich fing an, laut zu denken: “Seht doch, seht! Schaut nur, was dieser Mensch aus mir gemacht hat! Wie er mich zurechtgemacht hat! Seht, er hat es so dargestellt, aber in Wirklichkeit war es anders, und zwar so!” Einzelheiten. Plötzlich merkte ich, daß die Leute mir zuhörten (physisch war ich nicht sehr bewußt). Also beherrschte ich mich. Aber eines stand fest, das war ich! Das war mein Porträt, das warich! Sie hatte viele Spuren, diese Mutter, das muß man schon sagen. Glücklicherweise wurde sie nicht in China geboren, sonst hätten wir weit zu laufen. Und wer weiß? Hier jedenfalls ist nur von diesem Planeten die Rede, von unserer gegenwärtigen kleinen Luke mit Ausblick auf diese menschliche Reise; aber wie viele andere Planeten haben diese Reise hier vorbereitet? Planeten, die wir nie kennen werden, die verschwunden sind oder sich endlos fortbewegen wie kleine beflügelte Distelblüten, hier und da verstreut über große Sternenfelder. Und wir erinnern uns an Sri Aurobindo: Die Erfahrung des menschlichen Lebens auf einer Erde spielt sich nicht zum ersten Mal ab. Sie fand schon Millionen Male statt, und das langwierige Drama wird sich noch Millionen Male wiederholen. In allem, was wir jetzt tun, in allen unseren Träumen, unseren Entdeckungen, unseren schnellen oder schwierigen Errungenschaften ziehen wir unbewußt Nutzen aus der Erfahrung unzähliger Vorläufer, und unsere Arbeit wird uns unbekannte Planeten und noch unerschaffene Welten befruchten24.
Aber wir würden gerne die gegenwärtige Welt ein wenig fruchtbarer gestalten, durch ein besseres Verständnis ihres Wirkens, das heißt, indem wir besser leben; denn letzten Endes zählt nur das – Theorien… mein Gott, mögen sie in Bibliotheken vermodern! Hier können wir eine weitere Erfahrung Mirras als Beispiel wählen, eine aus hundert anderen. Diesmal war es in Italien, das sie im Alter von fünfzehn Jahren mit ihrer Mutter besuchte: Es frappierte mich wirklich! Es war aber auch beeindruckend: plötzlich die Erinnerung, im Gefängnis des Dogenpalastes erdrosselt worden zu sein!… Ich besuchte mit meiner Mutter und einer Gruppe von Reisenden den Dogenpalast in Begleitung eines Fremdenführers. Er führte uns durch unterirdische Gewölbe zu den Gefängnissen. Dort begann er eine Geschichte zu erzählen (die mich nicht sonderlich interessierte), als ich plötzlich von einer Art Kraft ergriffen wurde – einfach so –, die in mich drang, und ohne zu wissen, wie mir geschah, befand ich mich in einer Ecke und sah ein geschriebenes Wort. Genau in diesem Augenblick erwachte in mir die Erinnerung, daß ich es war, die es geschrieben hatte. Die ganze Szene erschien wieder vor mir: Ich hatte es auf die Mauer geschrieben (ich sah es, ich sah es mit meinen physischen Augen vor mir; die Schrift war erhalten geblieben, und der Fremdenführer erklärte, man habe all die Mauern unberührt gelassen, auf denen Gefangene in der Zeit der Dogen etwas geschrieben hatten). Und die Erinnerung ging weiter: ich sah, ich spürte wie Leute hereinkamen, mich packten… (ich war mit einem anderen Gefangenen zusammen) ich stand da, Wachen kamen herein, packten mich am Nacken, fesselten mich, und dann (ich stand mitten unter den Dutzend Leuten, die dem Fremdenführer zuhörten, nahe einem kleinen Fenster, das direkt über dem Kanal lag) das Gefühl, plötzlich emporgehoben und durch dieses Fenster geworfen zu werden… Du verstehst natürlich, mit fünfzehn Jahren! Ich sagte zu meiner Mutter: “Komm, laß uns hier rausgehen!” Und sie lachte. Oh, dieses unbeschreibliche Lachen von Mutter! Wie sie lachte, wie sie sich über alles amüsierte mit einer leisen Schalkhaftigkeit, die so sehr Sri Aurobindos Humor ähnelte.
Jedenfalls liegt die Frage nicht darin, welcher Wind diesen kleinen beflügelten Samen auf jenes Feld trieb oder in so ungleiche Chromosome – obwohl man sich das fragen könnte –, nicht einmal im Versuch irgendeiner “Ahnenforschung im Unsichtbaren” über Mutter, worüber sie noch mehr gelacht hätte als über die Pinguine der ersten Stummfilme. Welche Bedeutung hat es schon, ob sie die Tochter eines Dogen war (und obendrein erdrosselt wurde) oder die Prinzessin von Navarra und Kaiserin von Rußland oder China? Als bestünde der Sinn dieser schwierigen menschlichen Reise darin, immer aufgeblasenere, immer mehr betitelte und gebieterische Persönlichkeiten zu kultivieren; eine Welt, in der es am Ende nur noch Pharaone und Sultane gäbe, als wären wir nicht bereits genug von Tyrannen belastet! Auch nicht darin, immer intelligentere Genies und Super-Goethes oder Super-Beethovens hervorzubringen; eine Welt schließlich, in der es solche Fluten von Literatur und Musik gäbe, daß wir uns vielleicht zu Tode langweilen oder uns übersättigen würden. Als diene dieser großartige menschliche Aufstieg aus Schmerz, Chaos und Konflikt nur dazu, das gleiche alte Lied bis in alle Ewigkeit zu wiederholen, nur grandioser, lautstärker. Und wenn alles zu “Bestsellern” geworden ist, was nützt uns das, solange wir nicht unsere kleine Melodie innen gefunden haben, die alles bezaubert? Ja, wo bleibt das, wofür die fahrenden Sänger sangen, das, wofür die Bildhauer meißelten oder die Barden dichteten und die Helden eroberten – all diese Wanderer in der großen menschlichen Invasion – wo steckt es? Wo? Dieses einzige, nie eroberte Königreich, diese Note, die alles erfüllt, diese kleine Farbe keiner Leinwand und keiner Kunstgalerie? Morgen, morgen sagen sie, aber morgen kommt nie! Die wahre Person hinter all diesen Gestalten, wo ist sie? So traben wir dahin, kostümiert und immer zahlreicher auf der menschlichen Landstraße, als wäre niemand da im Inneren.
Nein, was wir uns richtiger fragen sollten angesichts der Fluten von “Ichs”, die unter den ruhigen Augen der kleinen Mirra aus allen Ecken hervorzuquellen schienen, ist nicht, wer sie waren – wir haben alle tausendmal gelebt –, sondern warum diese tausend Male, diese Namen und Nöte, die wir in weißer oder schwarzer Haut erlebten, nicht mitsamt allen anderen im selben Schwall des Vergessens verschlungen wurden?
Was bewirkt, daß es bleibt – daß es für Mirra oder einige andere Privilegierte blieb? Was bewirkt, daß es noch lebt und vielleicht für immer lebt? Was ist es, das den Gesten eines Augenblicks, einem Kiesel in unseren Händen, einem banalen Winkel oder jenem Park eines schönen Abends und der tausendmal gelebten Sinnlosigkeit diese unzerstörbare kleine Schwingung verleiht? Das Leben ist so vergeblich. Wir glaubten es groß und golden in unseren Geschichtsbüchern, wie am Hofe des Großmoguls, doch das Leben besteht aus tausend Schritten und kleinen Treppen im Kopf und Gehsteigen unter den Füßen, die nirgendwo wirklich hinführen oder zu einem Irgendwo so ähnlich hier wie da. Hier oder da finden wir uns wieder oder verlieren uns, als hätten wir all diese Schritte nie getan, all diese Mauern nie gesehen, all diese Minuten nie erlebt. Was ist? Was lebt? Wenn es ist, dann ist es immer – oder gar nicht. Wenn es lebt, dann lebt es immer, oder es ist kein Leben, sondern eine kleine, gut aufgezogene Mechanik, die sich in nichts auflöst mitsamt dem Rest. Nein, das Leben ist nicht grandios – aber sind wir überhaupt darin?
Eine kleine Geschichte hat mich mehr frappiert als alle anderen unter den tausend Erinnerungen der kleinen Mirra, gerade wegen ihrer bis ins einzelne gehenden Banalität, wenn man so sagen darf. Mittlerweile war es nicht mehr Mirra sondern bereits Mutter, die eines Morgens einem Kleinkind begegnete, nicht älter als ein oder zwei Jahre. Ohne daß sie wüßte warum, kam es ihr sehr vertraut vor – vertraut durch seine Augen, durch “etwas”, das da in der Tiefe mit einer gewissen stummen Dankbarkeit leuchtete. Daraufhin hatte sie im Laufe des Nachmittags eine Vision: Ich befand mich in einem prächtigen Gebäude, einem Monument – immens, palastartig! – aber es war vollkommen nackt, da war nichts, außer einem Ort mit wunderschönen Malereien; dort erkannte ich, daß es Malereien aus dem alten Ägypten waren. Ich verließ meine Gemächer, betrat einen großen, hallenähnlichen Saal, wo auf dem Boden eine Art Rinne an den Wänden entlang lief, um das Wasser zu sammeln. Da sah ich den Kleinen (der halbnackt war) darin spielen. Ich war sehr schockiert und sagte: “Das ist widerlich! Dieses Kind ist unausstehlich, es tut immer genau das, was es nicht tun soll!” Ich ließ den Erzieher rufen, und als er kam, tadelte ich ihn: “Was! Sie lassen das Kind darin spielen?” (Ich hörte die Töne, die ich von mir gab, und wußte, was sie besagten, die Übersetzung war auf Französisch – aber an die Töne selbst erinnere ich mich nicht mehr). Daraufhin eilte der Erzieher sofort auf mich zu und sagte (bei seiner Antwort erwachte ich): “So wünscht es Amenhotep.”… Auf diese Weise erfuhr ich seinen Namen.
Was bedeutet uns Amenhotep? Doch diese Rinne gibt zu denken! Eine Rinne, die nach 3500 Jahren noch besteht (die XVIII. Dynastie), mit einem Baby darin. Was läßt selbst eine Rinne fortdauern?
Man könnte vielleicht ganz naiv sagen: um sich zu erinnern, muß es jemanden geben, der sich erinnert. Und wer erinnert sich, wer schaut? – Eine uralte Gewohnheit des alltäglichen Schauens: wie das unserer Bücher, unserer Väter, unserer Mütter oder unserer Kinos für Millionen; ein vorgefertigter Blick, der nur seinen kleinen Wunsch sieht, seine kleine Idee im Kopf, seine Sympathie oder Antipathie, Staffagen und Szenen für nichts, was sich wirklich abspielt, höchstens eine Geschichte so ähnlich Millionen anderen, daß es egal ist, wer da zuschaut, ob im Sakkoanzug oder in Peplon, in Kathargo oder Köln, in diesem Jahrhundert, das vor oder nach Christus sein könnte, mit Unterschieden nur in der Hektik. Aber dieser reine Blick plötzlich, für nichts, wie ein Schrei, der alles zerreißt, diese ganze Staffage und das Herz mitsamt den Millionen Sinnlosigkeiten zerreißt – wie ein plötzliches Aufklaffen vor einer entsetzlichen Leere… die vielleicht das erste Etwas in einem ganzen Leben ist, dieses zugespitzte Etwas ohne Namen, ohne Gesicht, ohne alles, wie ein Blick, der sich selbst anblickt, wie ein Loch so schmerzend, daß es fast überwältigend ist, vielleicht endlich das erste Stammeln eines Wesens, ohne Worte, ohne Gedanken, ohne zu wissen oder zu verstehen, seine reine Schwingung, sein innerer Schrei – das ist es, was sich erinnert. Als wäre das die einzige Erinnerung. Wenn sich das öffnet, wird alles in seiner Ewigkeit erblickt: eine Rinne oder eine Tönung des Himmels, ein Gesicht oder eine kleine Katze, die über die Mauer huscht, es ist alles das gleiche, weil es Dasselbe ist, das man überall erblickt, in allem, innen oder außen, oder das sich überall selbst erblickt – das, was überall aufbricht, überall vibriert, ohne Anfang, ohne Ende, ohne Zeitalter, ohne Zeit, das, was sich überall regt und alles verbindet, das Gestern mit vor tausend Jahren, diesen Kiesel mit jener achtlosen kleinen Hand, diesen Ort hier mit jenem Ort von damals, die kleine Form unter der Haartracht eines Pharaos oder einer Kapuze, aber was bedeuten ihr schon Hauben und Mützen, solange nur jemand schaut – die Bewußtseinskraft, Shakti. Ein Blick, der sich ein-, zweimal öffnet und dann danach dürstet, sich immer wieder zu öffnen, überall, in einem Tempel oder ohne Tempel, mitten auf der Straße und in tausend vorbeischreitenden Nöten – ein Blick, der sich von Leben zu Leben erweitert, eine Schwingung, die immer deutlicher wird, eine Kraft, die sich sammelt, als wäre sie das einzige, das nicht eines Tages an den Rand einer Gruft in die überwältigende Niederlage unserer Körper flieht, eine Erinnerung ohne Gedächtnis und dennoch die Erinnerung von allem, ein kleines Königreich aus nichts, das fortdauert und das überall sein eigener Herrscher ist, denn es ist das Königreich der großen Shakti, und die gesamte Welt ist ihre Sphäre.
Und eines Tages wird dieser Blick sich nicht mehr schließen, nie mehr.
Manche Wesen haben vieles erblickt, während andere wie Blinde kommen und gehen. Manche Wesen sammelten Tropfen für Tropfen die kleinen rosigen, blauen oder bunten Perlen der großen Shakti und wurden zum Gebirgsbach, zur kleinen Quelle, zum Wildwasser oder zum mächtigen Fluß – und manchmal zum Ozean. Das ist der einzige Unterschied, und weder unsere Chromosomen noch sämtliche Mendelschen Gesetze können das erklären. Eine Evolution weder der Arten noch Talente, sondern des Bewußtseins und der Kraft. Oder vielmehr die Evolution von Millionen Blicken eines einzigen Bewußtseins, das mehr und mehr wächst, sich immer lebensvoller, immer stärker selbst entdeckt: Kaskade oder Katarakt. Eine optische Evolution vielleicht? Aber es ist der gleiche Tropfen vom gleichen Etwas. Es ist der gleiche mächtige Fluß, der fließt und fließt, durch Jahrhunderte hindurch, durch unsere kleinen und großen Plagen, unsere Philosophien, unsere Systeme, unsere tausendfachen Käfige, ob golden oder schwarz. Er, der all diese Millionen Menschen vorantreibt, all diese kleinen blauen oder schwarzen Blicke aus einem großen, uns unbekannten Land, und der uns langsam aber sicher zu jenem nächsten Augenblick seines gewaltigen Ganges führt, zur jähen Wende unserer Schmerzen, wo alle unsere Blenden fallen, weil sie nicht mehr nötig sein werden, um unseren kleinen Schrei in einem Käfig zu erwecken.
Dann findet jeder seinen wahren Namen unter allen Kostümen oder ohne Kostüm, seine einzigartige Schwingung, seine unersetzliche Musik in der großen Gesamtheit, sein endlich wiedererlangtes Gedächtnis und seine weiten Flügel. Und wir werden unsere Augen vor unserer Erde öffnen, als hätten wir sie nie gesehen.
Vielleicht wird es eine andere Erde sein.
Eine andere Geschichte.
Eine andere Schwerkraft unter den Sternen.
Endlich unser wahres Land und unser unzerstörbarer Körper.
Über die Gräber, vorwärts – über die Gipfel, vorwärts.
4. Kapitel: Von der Musik und den Farben
Meist fallen diese spontanen Erfahrungen dem Fallbeil des Mentals zum Opfer – und gewiß halten wir alle bestimmte Fäden, verfügen über Zeichen und Bruchstücke von Erinnerungen, nur wissen wir nicht, daß es Erfahrungen sind, daß es eine Erfahrung gibt, deshalb reden wir von “Träumen”, “Eindrücken”; es ist vage, verschwommen und wird schnell von der Logik der kartesianischen Welt verdeckt, die sich wie eine Glocke über uns stülpt. Früh wird uns beigebracht, wie man zu leben hat, das heißt, wie man mit allem Anstand erstickt. Nachher sagen wir dann: das sind Mystiker, Spinner, Scharlatane, und selber klammern wir uns an alle möglichen nicht sehr philosophischen Religionen, weil wir das Eine, das Einfache nicht erfassen, das alle unsere Fäden entwirrt. Aber vielleicht ist es gut so. Die Menschen bedürfen einer soliden, logischen und rationalen Vorbereitung, um der großen einfachen Wahrheit auf ebenem Fuße entgegentreten zu können, ohne dabei in ihrer allzugroßen Weite zu versinken oder eine kleine exotische Lagune für den gesamten Stillen Ozean zu halten. Im wunderbaren Walten der Natur scheint es fast, als schütze uns jede Unwahrheit oder jede Abweichung eines Zeitalters vor einer für unsere notdürftigen Kähne noch zu gefährlichen Wahrheit, so daß es vielleicht nirgendwo Lüge oder Irrtum gibt sondern einfach eine im Maße unserer Möglichkeiten wachsende Wahrheit. Könnten wir uns nur immer der größeren Weite hinter und jenseits von allem entsinnen, würden wir den kindischen Streitereien zwischen sogenannten “Materialisten” und “Spiritualisten” schnell ein Ende setzen, denn sie sind nichts weiter als “Isten” von etwas, das erst noch geboren werden muß und das vermutlich weder der reinen Materie der einen noch dem reinen Geist der anderen entspricht – es ist… etwas anderes, ohne “Ismus”: vielleicht die wahre Erde, die wir hinter unseren Brillen des materialistischen oder spirituellen Homo sapiens noch nicht sehen.
Mirra war unbelastet von solchen Widersprüchen. Mit ihrem ruhigen Blick betrachtete sie das Blendwerk dieser Welt, wie auch das anderer Welten, als nicht mehr und nicht minder denn ein “zu studierendes” Phänomen, eine bestimmte Verhaltensweise ein und desselben Dinges, das vielleicht nur für uns auf die eine oder die andere Seite verbannt ist. Wenn es keine Gefängnisse mehr gibt, verschwinden auch die Seiten, das ist klar. Sie malte, musizierte, spielte viel Tennis: seit ihrem achten Lebensjahr war sie eine “begeisterte” Tennisspielerin, und sie blieb es unermüdlich, bis sie achtzig war. Das Malen schien eine wichtigere Rolle zu spielen (besonders Portraits bedeuteten ihr viel: menschliche Gesichter waren für sie ein weit größeres Rätsel als Pharaone oder Mathematik), und so kam es, daß sie Henri Morisset, ihrem zukünftigen Ehemann, begegnete, einem jungen Schüler von Gustav Moreau und Klassenkamerad Rouaults. Eingeführt in diese Kreise wurde sie von ihrer erstaunlichen Großmutter, die sich unter Mathildes argwöhnischen Augen weiterhin lebensprühend in der Hauptstadt vergnügte. Mira Ismalun hatte eine Schwäche für die junge Mirra, was uns nicht wundert: Sie hielt mich für die einzige vernünftige Person in der ganzen Familie (!) und zog mich ins Vertrauen. Dennoch hatte die Malerei, die sie als Zwölfjährige begann, für sie weniger Bedeutung – oder zumindest nicht mehr –, als es scheinen mag, und wir hegen den Verdacht, daß sie sich dafür begeistert hatte, um Mathilde ein wenig zu ärgern und das zu glatt polierte Höflichkeitsjoch am Square du Roule abzuschütteln, wie eine gewisse Person in einem Theaterstück verriet, das sie später schrieb: In einer bürgerlichen, durchaus ehrenwerten Familie geboren, die Kunst eher als Zeitvertreib denn als Karriere betrachtete und Künstler als unseriöse, leicht zu ausschweifendem Lebenswandel neigende Leute mit einer äußerst gefährlichen Geringschätzung des Geldes, fühlte ich wohl aus Protest das zwingende Bedürfnis zu malen25. Ja, so wie Mathilde auf ihre Weise das Joch des Khedivs abwarf oder Mira Ismalun die Traditionen des feudalen Ägypten. Wäre ich in Indien geboren worden, hätte ich alles zerschlagen! vertraute mir Mutter eines Tages an. Wir glauben ihr gerne.
Nicht weit entfernt bereitete Sri Aurobindo sich in London darauf vor, dem britischen Joch einige Stöße zu versetzen.
Wir wissen nicht, ob Mirra eine große Malerin geworden wäre, zweifellos aber eine große Musikerin – hätte sie je Wert auf Größe gelegt – und tatsächlich versteckt sich in Mutter eine Musikerin, deren außergewöhnliche “Improvisationen” die Welt noch überraschen werden. Zehn Bücher müßte man schreiben, um anzufangen, über Mutter zu sprechen! Und übrig bliebe noch genug Ungesagtes für Generationen von Exegeten, über die sie sich auf liebenswürdige Weise lustig machte. Ich höre Töne dort oben… oh, wunderschön, entzückend! Und ich weiß überhaupt nicht, was es ist. Ich spiele, aber ohne zu hören, was ich spiele; ich horche auf das andere… Das ist sehr lustig. Da amüsiert sich einer – einer, der sich amüsiert und mich gewissermaßen zwingt zu spielen. Ich setze mich hin, und er sagt mir: “So fängst du an!” Also fange ich so an, dann schmückt er es aus und improvisiert. Plötzlich sagt er: “Ah, das genügt!” und weg ist er!… Ich weiß nicht, wer er ist. Und Mutter lachte.
Wieder ein anderes Mal erzählte sie mir: Ich höre ständig etwas wie große musikalische Wellen. Ich brauche mich nur ein wenig zurückzuziehen, und schon ist es da, ich höre es. Es ist immer da. Es sind keine Töne, und doch ist es Musik. Große musikalische Wellen. Seltsamerweise hängen diese “großen Wellen” auch mit der erwähnten “Flügelbewegung” zusammen, die Mirra so sanft auf die Flintsteine von Fontainebleau setzte – vielleicht ist unsere Welt rhythmischer, als wir denken, und ihre Musik erhabener. Zuerst müssen wir aber unsere eigene Musik innen entdecken, denn wie könnten wir sonst die Musik da oben hören, die vielleicht auch innen ist, die vielleicht ein und dieselbe Musik überall ist. Als ich vor Jahren ein bestimmtes Buch schrieb, sagte mir Mutter plötzlich: Ich weiß nicht, wie ich dir helfen könnte, aber ich werde dir Musik senden, und tatsächlich kam es wie ein sehr weiter Rhythmus, der vielleicht Musik war und sich beim Herabkommen in Worte kleidete – und das wählte die Worte automatisch, als erzeugte der Ton das Wort oder führte das ihm entsprechende Wort herbei. Aber der geringste Gedanke störte den Ton, und alle Worte wurden falsch. Die Gedanken nahmen auf tieferer Ebene automatisch Form an, fast ohne mein Tun, als würden sie durch die Musik erzeugt, ein Nebeneffekt der Musik und von geringerer Bedeutung: wenn man den Rhythmus verlor, dann verlor man auch den Gedanken. Vielleicht weil das Denken wie der ganze Rest, sei es unsere Architektur, unsere Malerei, unsere Gesten oder Revolutionen, nur der Ausdruck dieser mächtigen Flut der Shakti ist, die alles mit ihrem Rhythmus beflügelt – welch Wunder, wenn wir stets den klaren Fluß zu finden wüßten! Schöpferisch sein heißt, die große Musik wiederzuentdecken, uns mit dem reinen Rhythmus in Einklang zu bringen und ihn fließen zu lassen. Aber meistens sind wir nur auf “unsere” Ideen eingestimmt: wir übersetzen alles durch das unklare Gewirr unseres Verstandes – und selbstverständlich wird der Rhythmus verkehrt, werden die Gedanken und das ganze Leben verkehrt. Es ist nicht mehr die Bewegung weiter Flügel, sondern die Bewegung von etwas, das zappelnd gegen alle Stäbe seines Käfigs stößt. Könnte ich nur über ein Orchester mit zweihundert Musikern verfügen, rief Mutter aus, das wäre wirklich interessant! Leider verfügte sie nur über ein ärmliches Harmonium mit Blasebalg, später über eine nicht viel bessere elektrische Orgel, so muß man es wie mit einer Pipette aufsammeln und dann tropfenweise wiedergeben; natürlich wird es auf diese Weise sehr abgeschwächt26! Aber selbst diese kleinen Tropfen warten darauf, entdeckt zu werden, und vielleicht wird sie eines Tages denjenigen finden, der zu unserem Staunen diese großen Wellen keiner menschlichen Musik mit einem Orchester zu interpretieren versteht. Eine Art Meditation in Tönen.
Doch sie meditierte nicht. Bis sie zwanzig war, kam sie nie auf den Gedanken, daß man meditieren und aus alledem eine komplizierte Geschichte machen könnte: es war vollkommen einfach, so sehr Teil des Lebens selbst, daß es ihr äußerst merkwürdig erschienen wäre, sich mit gekreuzten Beinen abseits setzen zu müssen für etwas so Natürliches wie das Atmen. Ihre “Meditation” bestand darin, überall dieses Feuer in sich zu tragen, diese scharfe Intensität, die allen äußeren Schein zerreißt, diesen Blick, der das Wahre zu sehen verlangt, die wahre Welt, die Wahrheit in allem, diesen Drang nach Vollkommenheit, der nur die Vorahnung einer geheimen Vollkommenheit in den Dingen ist – nur für die äußeren Augen entstellt, pervertiert und verkümmert –, und dieser Drang schuf eine Intensität, als sei man ständig auf der Suche nach dem wahren Gesicht der Welt, einem rätselhaften Sich-Erinnern in allem: in den Wesen, Begegnungen, Gegenständen, in einem Klavier, das man stundenlang behämmert, als wolle man ihm seinen wahren Klang entreißen (sie übte täglich mehrere Stunden am Klavier), in einer Leinwand, die man bearbeitet, als wolle man eine unmögliche Farbe aufleuchten lassen oder vielleicht das unerträgliche Weiß mit einem Schrei zerreißen, in einem mathematischen Problem, in das man sich vertieft, als wolle man Linien und Rauminhalte durchbrechen, das Problem einer Welt durchbrechen, die in eine vielleicht nicht-euklidische Geometrie eingeschlossen ist: Mein Bruder studierte höhere Mathematik, um ins Polytechnikum einzutreten, und er fand es schwierig. Ich schaute mir das an [ja, sie “schaute” immer und unermüdlich], und alles war klar: das Warum, das Wie, es war klar. Der Professor mühte sich ab, mein Bruder plagte sich, und auf einmal sagte ich: “Aber das geht so!” Ich sah, was für ein Gesicht der Professor da machte… Anscheinend ging er zu meiner Mutter und sagte ihr: “Es ist eigentlich ihre Tochter, die studieren sollte!”
Etwas explodierte dann eines Tages unter dem steten Druck dieser Intensität des Blickes. Es geschah in einem Konzert, während eines Violinvortrages des großen belgischen Violinisten Ysaye, ein Gefährte Rubinsteins: Als ich zum ersten Mal das Konzert in D-Dur von Beethoven hörte – in D-Dur für Violine und Orchester – dort, wo plötzlich die Violine einsetzt (nicht ganz am Anfang, erst spielt das Orchester, dann nimmt die Violine auf), bei den ersten Klängen der Violine (Ysaye spielte die Violine, was für ein Musiker!)… Schon bei den ersten Klängen war es, als öffnete sich plötzlich mein Kopf, und ich wurde in eine solche Herrlichkeit versetzt, oh, es war über alle maßen schön! Über eine Stunde befand ich mich in einem Zustand der Glückseligkeit… Und wohlgemerkt, ich wußte nichts von diesen Welten, erzählte Mutter, ich besaß keinerlei Wissen. Aber so kamen alle meine Erfahrungen, ohne daß ich sie erwartete oder suchte. Über diese Explosion nach oben ist in der indischen Literatur viel Tinte geflossen. Es handelt sich um die Öffnung des Zentrums oberhalb des Kopfes, das Sahasradala, der “tausendblättrige Lotos”, die direkte Kommunikation mit dem Fluß der großen Shakti und ihren Welten von Licht und Schönheit, die wir uns ungeschickt bemühen, durch unsere harten Schädel zu übersetzen. Von nun an wird die junge Mirra die Welt anders sehen, nicht mehr nur durch die transparenten Seiten eines Geschichtsbuches oder im verborgenen Gemurmel der Blumen und Steine und den geheimen Schwingungen der Wesen, sondern in ihrem anderen Ursprung, darüber, in ihrer Urquelle – in Erwartung eines weiteren Wandels der Sicht (vielleicht noch viele weitere Wandel), und zwar innerlicher, mehr in der Tiefe der Dinge, im Herzen der Materie, wo vielleicht der geheime Ursprung liegt, im Atom und den Zellen des Körpers wie in den Unendlichkeiten der Shakti. Denn Mirra hörte nie auf zu “schauen”, und sogar die unermeßlichen Weiten schienen ihr noch ein Schleier vor “etwas anderem” zu sein, das vielleicht nicht bloß unermeßlich war. Sie war zu sehr “Materialistin”, um die Materie nicht noch mehr zu lieben als die Wissenschaftler und sie schöner zu wollen als deren sämtliche quantentheoretische Gleichungen.
Von nun an brach alles unter Mirras Augen hervor, nichts war mehr in seiner photographischen Plattheit eingeschlossen. Ich betrachtete ein Gemälde, und plötzlich geschah dasselbe: es öffnete sich in meinem Kopf, und ich sah den Ursprung des Bildes – welche Farben!… Selbst Wesen öffneten sich, wie Bilder, und hinter ihren Worten oder Taten gaben sie die wahre, sie animierende Bewegung preis, die Schwingung, die ihre Gesten bewegte, den Rhythmus oder die Farbe, die ihre Seele oder Seelenlosigkeit tönte, und alles war wie die zahllosen farbigen Wirbel eines Kaleidoskops, das endlos die tausendfachen Facetten der Shakti drehte und weiterdrehte – oft auch nur die tausend Arten, eine einzige kleine Farbe zu entstellen und zu fälschen, die ein so hübsches Bild hätte ergeben wollen. Ich sehe das physische Ding (das Wort oder die Tat) und gleichzeitig diese farbige, lichtvolle Übertragung – beide übereinander. Wenn zum Beispiel jemand spricht, dann übersetzt sich das in verschiedenartige Bilder, ein Formen-, Lichter- und Farbenspiel (Farben, die nicht immer leuchtend sind!), wie Flecken, wie fließende Formen, und auf diese Weise wird es ins Gedächtnis der Erde aufgenommen. Aus diesem Grund drücken sich die Dinge, die aus diesem Bereich ins aktive Bewußtsein der Leute kommen, in eines jeden eigener Sprache aus, mit den ihnen gewohnten Worten und Ideen – weil sie keiner Sprache und keiner Idee angehören, sondern der präzise abdruck dessen sind, was geschieht. Dieser Abdruck heftet sich an Orte, Häuser, Gegenstände sowie an unsere Zellen: eine ungeheure lebendige und genaue Geschichte, wie die farbige Wahrheit der Welt. Unsere Tonbandaufnahmen sind vielleicht doch keine so neue Erfindung; wir “erfinden” immer eine Karikatur dessen, was es schon gibt. Und später erkannte Mutter plötzlich: Das ist es also, was die Leute sehen, die ultra-moderne Bilder malen! Und mit einem schelmischen Lächeln, das ihre Lippen verzog und ihre Wangen wölbte, wie ein kleines Mädchen, das sich das Lachen verbeißt, fügte sie hinzu: Nur, da sie selber sehr zusammenhangslos sind, ist das, was sie sehen, auch zusammenhangslos!
Die Welt öffnete sich, und alles öffnete sich, das Entfernte rückte nahe, das Unbekannte dort vibrierte, als sei es hier, das hier Bekannte versank wie in die Tiefe der Jahrhunderte; jedes Ding war eine Welt, die vielleicht die ganze Welt in sich enthielt. Die Musik verschmolz mit den Farben und diese zerflossen im gleichen großen Rhythmus, der auch Gedichte oder Geometrie bilden konnte, je nachdem, ob er hierin oder dorthin wehte, der auch eine Gravitation oder andere Gravitationen erzeugen konnte, je nach… vielleicht je nach der Wahrheit unseres Blickes. Ein Blick, der immer wahrer wird – der mit der Raupe auf einer einzigen, schmalen Linie der Welt zwinkerte oder mit dem Maulwurf auf gewundenen Pisten, der unzählige Rillen und kleine Längenkreise auf seinen Landkarten zog und die Galaxien in eine Seifenblase einschloß, bis zu dem Tag, wo er seine eigene Seifenblase zum Platzen bringt und alles in einer anderen Geometrie von neuem beginnt. Und vielleicht waren all diese mentalen Stützen notwendig, um uns vor einem psychedelischen oder anders gearteten Sturz in eine für unser Bewußtsein zu große Welt zu schützen. Aber die Reise ist noch nicht zu Ende, der wahre Blick existiert noch nicht – die Welt existiert noch nicht! Die Welt wird mehr und mehr das, was sie ist. Die Welt ist ein wahr werdender Blick. Wir müssen an Bewußtsein wachsen, wir müssen jene Augen öffnen, die nicht am Gitter kleiner Weltkarten hängen bleiben. Und wenn wir unseren wahren Blick öffnen, wenn wir vollkommen wahr sind, dann wird die Welt vollkommen das sein, was sie ist, und alle unsere Gesetze werden herabpurzeln wie die Bauklötze eines Kindes im Garten der Götter.
Denn das gewaltige Kaleidoskop der Welt kann sich auch im Handumdrehen unvorhergesehen wenden.
5. Kapitel: Andere Welten und andere Körper
Diese Welt, diese große Welt, in der wir mit sicherem Schritt einhergehen, als wären wir in ihr zu Hause, wie aufrechtgehende Menschenkinder, die sich dennoch am Geländer festhalten, sie ist so wenig unser Zuhause, oder es gibt viele Zuhause, die wir noch nicht erreicht haben; wir kennen erst einen schmalen Saum des großen Waldes. Dieser kleine Pfad, der auf einmal hier auftaucht, diese unerwartete Geste inmitten unserer Routinen, diese geflüsterten Worte, diese Bewegung, die unsere Menschenmassen bannt und sie plötzlich fortreißt wie Matteos Wut oder eines kleinen Mädchens Luftsprünge über die gepflegten Blumenbeete in den Tuilerien – wir wissen weder, woher sie kommen, noch welcher Wind da vorüberwehte. Draußen bricht alles zusammen, wir flicken die Maschine, fangen diesen Unfall auf der Straße auf oder begegnen jenem Zufall, der ein ganzes Leben ändern wird, aber wer hat was bewegt und diese unvorhersehbare Koordinate gezeichnet? Wir wissen es nicht – Zufälle über Millionen von Zufällen in diesem großen Wald der Welt wie kleine zufällige Sprossen, die einen unglaublichen Wald ergeben, wie kleine zufällige Menschen, die eine unglaubliche Geschichte ergeben, wie so viele zufällige kleine Gesten und willkürliche Moleküle, die eine Symphonie oder eine Detonation ergeben. Letztendlich müssen wir gestehen, wenn es ein Zufall ist, dann ist er verdammt intelligent. Aber wir haben solche Angst, unsere schöne zufällige Intelligenz könnte durch eine größere Intelligenz hinfällig werden, daß wir die Welt lieber ihrem Zufallsteufel ausliefern als einem Schöpfergott, dessen willkürliche Schläge manchmal merkwürdig diabolisch und oft grausam ausfallen – und in beiden Fällen werden wir vom selben Butzemann aufgefressen. Vielleicht wäre es an der Zeit, in dieser Intelligenz der Welt nachzuforschen, ohne den Launen der Götter oder der Wissenschaftler von vorgestern zum Opfer zu fallen oder einem Zufall, der auf einen gewissen anderen kleinen Knall zurückgeht – aber dazu bedarf es der Furchtlosigkeit vor “Gott” und Teufel und besonders vor sich selbst. Denn vielleicht ist alles innen enthalten, im Inneren dieser kleinen zufälligen Zellen – wir sind das erste Forschungsobjekt, und zweifelsohne gibt es kein anderes, weil das, was in einem einzigen kleinen Körper, in einer einzigen kleinen Zelle steckt, sich in allen Körpern, in allen Universen befindet. Man fragt sich wirklich, warum wir eigentlich zum Mond gehen. Und wer weiß, wenn wir das wahre Gesetz dieser Zellen fänden, gingen wir vielleicht ohne Raketen und ohne sperrigen Aufwand in alle Universen und auf alle Monde.
Sie rührte an alles, die kleine Mirra, sogar die Dichtkunst, “um zu sehen” – zur großen Verzweiflung Mathildes: Sie wird nie im Leben etwas zustande bringen! Malerei, Musik, Wissenschaft, Literatur, praktische Arbeiten, all das nahm sie eins nach dem anderen auf. Dann, nach einer gewissen Zeit, ließ ich wieder davon ab… ich hatte die Erfahrung gemacht, und die Sache schien mir nicht so wichtig, ihr ein ganzes Leben zu widmen. Eher schien es ihr, daß es viele Erfahrungen zu machen gibt, als sei die Welt ein einziges Experimentierfeld – und das tat sie auch, ohne je aufzuhören, bis zu ihrem 95. Lebensjahr. Und wir wissen nicht, ob die Erfahrung sich nicht fortsetzt. Sich in eine Sache einzuschließen, und sei sie noch so nobel, erschien ihr wie eine Art Anomalie, eine Verherrlichung der Ameise: Sie sind starr, ausgezeichnete Gegenstände für ein Museum. Ich sehe gar keine Notwendigkeit, der größte Maler oder der größte Musiker zu sein. Dies erschien mir immer als Eitelkeit27… Und offenherzig (stets mit diesem kleinen Funken Ironie) faßte sie zusammen: All das ist ohne Bedeutung: es ist lediglich eine Perfektion auf menschlicher Ebene. Vielleicht war ihr schon unbewußt (?) klar, daß der Mensch mehr zu entdecken hatte als nur seine kleinen oder größeren Gipfel, die alle eines Tages vor einem gewissen Loch zusammenbrechen. Da sagte meine Mutter (die eine sehr strenge Person war): “Ich habe eine Tochter, die ist unfähig, eine Sache zu Ende zu bringen.” Und dabei ist es geblieben: unfähig, eine Sache zu Ende zu bringen – immer war es so, ständig etwas anfangen, es lassen, und dann nach einiger Zeit fing ich wieder etwas anderes an… eine Vielzahl von Dingen: “Sie wird nie im Leben etwas zustande bringen!” Und das war wirklich der kindliche Ausdruck des Bedürfnisses nach immer mehr, immer besser, immer mehr, immer besser… grenzenlos – das Bedürfnis nach Fortschritt, Fortschritt zur Vollkommenheit, einer Vollkommenheit, die ich spürte und die sich völlig dem entzog, was die Menschen dachten – etwas… ein “Etwas”. Ein undefinierbares Etwas, das ich aber durch alles hindurch suchte.
Vermutlich kam es mit Mathilde zu mehr als einem Zusammenstoß; es gab zwischen ihnen sogar ein gewisses Möhrengericht, das eine schlimme Wendung zu nehmen drohte: hartnäckig weigerte sich Mirra, Möhren zu essen, hartnäckig aber wollte Mathilde ihr eben jene Möhren aufzwingen – Mirra fastete drei Tage lang. Wir wissen nicht, wer als erster nachgab. Wahrscheinlich Mathilde. Aber der Höhepunkt – und das erste Zeichen eines anderen seltsamen Abenteuers – kam an jenem Tag, als Mathilde entdeckte, daß Mirra Gedichte schrieb… Gedichte, meine Tochter! Und obendrein noch im Schlaf! Ja, Mirras Schlaf war – wie alles übrige – etwas ungewöhnlich oder unnatürlich, oder sehr natürlich, wenn man es mit den Augen eines Kindes betrachtet, das noch nicht weiß, daß der Körper ein fest umrissener kleiner Kasten ist, der uns lebenslänglich einschließt. Mirra aber wandelte ganz unverschämt außerhalb davon umher, als sei nichts dabei. Man verläßt seinen Körper, wie man aus dem Haus geht, es gibt weiß Gott nichts Einfacheres. Nicht für Mathilde! Wir begegnen aber auch nicht immer Kindern, die uns ihre nächtlichen Erfahrungen zu erzählen wissen: Jede Nacht zur gleichen Stunde, wenn das Haus ganz still war, ging ich aus meinem Körper hinaus und machte alle möglichen Erfahrungen. Und so wurde mein Körper nach und nach schlafwandlerisch (das heißt, die Verbindung mit dem Körper – eine Art leuchtender Faden, der uns mit dem Körper verbindet – blieb sehr fest bestehen, und das Bewußtsein der Form28 wurde immer bewußter). Ich hatte die Gewohnheit angenommen, aufzustehen – aber nicht auf die Art gewöhnlicher Schlafwandler, sondern ich stand auf, öffnete meinen Schreibtisch, nahm ein Papier… und schrieb Gedichte! Ja Gedichte, ich, die ich nichts Dichterisches habe! Ich machte Notizen. Und ganz bewußt legte ich alles in die Schublade zurück und schloß sie sorgfältig, bevor ich mich wieder ins Bett legte. Ich weiß nicht warum, eines Tages vergaß ich es und ließ den Schreibtisch offen. Meine Mutter kam (gewöhnlich weckte sie mich – in Frankreich verhängen sie einem die Fenster mit dicken Gardinen – da kam sie also morgens herein, riß die Gardinen auf und weckte mich ohne jegliche Vorsicht; zum Glück war ich es gewohnt und war bereit aufzuwachen, sonst wäre es unangenehm gewesen29 !), sie trat also ins Zimmer und rief mich mit ihrer unbestreitbaren Autorität, da entdeckte sie den offenen Schreibtisch mit einem Blatt Papier darauf: “Was ist das?!” Sie riß es an sich: “Was machst du da?” Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete… Aber sie ging zum Arzt: “Meine Tochter ist eine Schlafwandlerin! Sie müssen ihr Pillen geben.” Und lachend fügte Mutter hinzu: Es war nicht leicht.
Ich habe nicht den Eindruck, daß die dichterische Phase lange währte, denn Mirra oder Mutter bekundete immer ein gewisses Mitleid gegenüber dieser erstarrten und wenig wissenschaftlichen Spezies, sie, die sich, ohne es zu wissen, auf so poetische Weise auszudrücken verstand. Was sie sagte, war zu einfach, um ins Alexandriner-Versmaß gesetzt zu werden. Wahr und präzis mußte es sein, allein das war ihr wichtig, und getragen von einer Schwingung, die reiner Ausdruck des Fließens der großen Shakti war – ein klarer Übermittler – dies war ihr höchster Schlüssel, noch mit 95 Jahren. Warum jedoch ließe die Shakti nicht auch Dichtung fließen, sie, die wie ein Katarakt aus den 23814 Versen von Sri Aurobindos Savitri strömt? Wir kennen noch nicht alle Geheimnisse dieser Shakti, und Mirra lernte, wie sie funktioniert: der Mechanismus lautete ihr Lieblingswort. Langsam, aus allen Anlässen lernte sie, daß Klarheit die höchste Meisterschaft von allem ist, Dichtung miteingeschlossen. Sri Aurobindo wird es “mentale Stille” nennen. Und wenn in der Klarheit des Bewußtseins alles still ist, dann ziehen die Schwingungen klar und unentstellt vorbei, ihrem richtigen Rhythmus gemäß, der auch die richtige Kraft und die richtige Aktion im richtigen Moment ist. Denn schließlich vergaßen wir, daß Dichtung (genauso wie Malerei, Musik und alle Formen) “einfach” die Sammlung gewisser Schwingungen ist, die die Kraft haben, den Bewußtseinszustand, den sie darstellen, wiederzugeben oder zu materialisieren: die Flamme der Sehnsucht oder einfach das Feuer, das Licht, die Freude, die Liebe… Alles in dieser Welt ist Ausdruck eines Bewußtseinszustandes: die Blume ist ein Zustand des Bewußtseins, der Stein, das Feuer, der Regen, die ganze Welt ist eine Myriade von Bewußtseinszuständen. Das ist die Magie des Klanges, das Mantra, das “Tatwort” der Shakti, das alle Formen bildet, sie zum Schwingen bringt, ihnen Farbe verleiht, sie in ihre musikalische oder elektromagnetische Geometrie einschließt. Letztlich wird das vielleicht eines Tages die Kraft sein, die alles, was Gegenstand unseres Bewußtseins ist, unmittelbar zu materialisieren oder in eine Form zu bringen vermag: die direkte Schöpfung durch eine bewußte Handhabung der Schwingungen. Das ist die “Dichtkunst” von morgen, wenn die Welt durch klare Übermittler eine reine Aktion der Shakti sein wird. Heute “sammeln” wir höchstens kleine Ideen, kleine Wünsche und Zustände ohne Macht (höchstens die Macht, Schaden anzurichten) und nicht viel Bewußtsein, dafür viele Arten kleiner Maschinen als Ersatz für die einfache Kraft der ursprünglichen Schwingung. Mirra lernte bereits diese Dichtkunst von morgen, nicht nur anhand von Gedichten, sondern in allem: jenes “Etwas”, das sie fühlte, wie die geheime Vollkommenheit aller Dinge, sogar die eines Kieselsteins. Ich bin keine Dichterin, sagte sie, ich begnüge mich zu handeln30, aber auf griechisch bedeutet Poesie “handeln”: poiein. Und Shakti bedeutet im Sanskrit: “können” oder “ausführen” – shak.
So erfand Mirra im voraus, was die Surrealisten dreißig Jahre später entdecken werden; aber in Wirklichkeit gibt es keine Erfindung, oder sie ist so alt wie die Veden und die Fresken von Ajanta, denn wer erfindet schon, ohne ein wenig die Augen zu schließen und tastend einige blitzartige Einfälle von oben herabzuziehen? Es genügt jedenfalls nicht, sich eines schönen Morgens oder in einer schönen Nacht hinzusetzen, um “automatisch” zu schreiben, denn dabei drohen eher einige Irrlichter aus unseren niederen unbewußten oder kaum bewußten Lagunen oder ein synkopiertes Echo unserer eigenen Inkohärenz herauszukommen. Zuerst muß man klar sein, sonst werden wir nur unser eigenes Knurren und Brummen hören. Und nicht alle bunten Lagunen oder Inspirationen kommen aus demselben Bereich, wenn auch alles dem gleichen Ozean entströmt. Wir müssen die Grade erlernen und uns mit den Schleusen der mächtigen Flut auskennen – da gibt es kleine Schleusen, große Schleusen und gar keine Schleusen mehr. Dies entdeckte Mirra mit äußerster Sorgfalt, Schritt für Schritt, von Grad zu Grad, von Welt zu Welt. Sie hatte bereits von den Tieren, Blumen, Porträts und Mumien gelernt (ganz zu schweigen von den Menschen, die voller Leben sind und vor lauter Begierden nur so brodeln). Jedes Ding kam, seine kleine Note auf ganz verschiedenen Höhen ihres Körpers anzuschlagen, und die “Zentren”, für die sie keinen gelehrten Namen hatte, waren wie sehr präzise kleine Stimmgabeln, die jede mit der ihr eigenen Note vibrierten. Je nach der angeschlagenen Note oder Schwingung wußte sie nicht nur sofort, was es bedeutete, sondern auch von welcher Ebene der Welt es stammte. Man konnte den schönsten farbigen Schein vor ihren Augen ausbreiten, ihr die verschlossensten Gegenstände oder Menschen mit der besten Kravatte der Welt präsentieren, ohne daß sie sich auch nur einen Augenblick hätte täuschen lassen: das vibrierte dort, also kam es auch von dort. Ein Gemälde oder Gedicht konnte mit dem berühmtesten Namen aller Zeiten unterzeichnet sein und stammte dennoch nur aus der kleinen Lagune des 6. Grades. Dies war von untrüglicher mathematischer Präzision. Aber all diese Zentren, diese kleinen Stimmgabeln, die bis hinauf ans Kopfende und darüber hinaus vibrierten, welchem Ton antworteten sie, woher kam die Musik? – Das war es, was sie interessierte. Hätte man ihr gesagt, was jener berühmte, damals noch nicht geborene amerikanische Verhaltensforscher behauptete, daß nämlich all das einem gewissen “Bewußtsein erzeugenden Apparat” entstamme und zwar aus unserem werten Gehirn, hätte sie ihre Augen weit aufgerissen – diesmal vielleicht in erstauntem Blau –, um sofort zu fragen, woher denn diese Idee käme und ob dieser erstaunliche Verhaltensforscher nicht zufällig die Welt erschaffen habe. Vielleicht schließlich doch – jedenfalls eine Welt, die auf dem Kopf steht. Ihr würdet doch niemals behaupten, das Grammophon wäre der Schöpfer des Tons, den ihr hört? Niemand käme auf so eine Idee31!
Tatsächlich entdeckte sie diese Welten, all diese Welten und Grade auf die prosaischste und überraschendste Weise, etwa so, wie man plötzlich unverhofft einen Obstgarten betritt, um dort in einen Apfel zu beißen. Das war keine Theorie: man brauchte nur zu schmecken, zu berühren oder zu sehen. Die Tür öffnet sich, und es ist da. Der Körper besteht aus unzähligen kleinen Türen, die sich in alle Richtungen hin öffnen, und manchmal läßt man ihn sogar dahingleiten, aber nicht nur in ein Bett oder in den Schlaf, sondern während des Mittagessens oder selbst mit weit offenen Augen beim Gehen. Er ist eine Art abtrennbarer Gegenstand geworden, den sie ebenso leicht wie einen Mantel ablegen konnte, um anderswo herumzuspazieren: in der Atmosphäre der Leute oder einer Stadt, in anderen Orten oder anderen Welten, die sie auf diese Weise zufällig entdeckte, ohne aber davon mehr beeindruckt zu sein als etwa vom Bois de Boulogne oder den “lebendigen” Porträts von Clouet. In der Sprache der Wörterbücher nennt man das “Trancezustand”, aber das ist ein häßliches Wort, das Derwische oder die Pythia auf ihrem Orakelstuhl heraufbeschwört, wo es sich doch nur um einen hübschen Spaziergang außerhalb des eigenen Körpers handelt (“hübsch” für die, die ein hübsches Bewußtsein haben, den anderen droht er zum Alptraum zu werden). Wir würden das Wort “Veräußerlichung” vorziehen – man geht in dieses Äußere, das im Inneren von allem ist: Selbst wenn ich gerade etwas tat oder sagte, ganz gleich bei welcher Gelegenheit – plötzlich war ich weg. Und niemand wußte, was mit mir los war. Alle glaubten in solch einem Augenblick, ich sei eingeschlafen. Ich war aber bewußt, und mit einem Arm in der Luft oder mitten im Satz, pfft! war alles weg – äußerlich war alles weg, innerlich aber spielte sich ein intensives, interessantes Erlebnis ab. Das passierte mir sogar, als ich noch klein war. Ich erinnere mich, ich mag 10 oder 12 Jahre alt gewesen sein, als meine Eltern ein Dutzend Leute zum Mittagessen eingeladen hatten, alle waren aufs Eleganteste gekleidet (es waren Angehörige der Familie, aber es war trotzdem ein feierliches “Mittagsmahl”, und ein gewisses Protokoll war einzuhalten; kurz, man hatte sich anständig zu benehmen!). Ich saß am Tischende neben einem Vetter, der später einige Zeit Direktor des Louvre wurde (er besaß eine künstlerische Intelligenz, ein ziemlich fähiger Junge). Da saßen wir also, und ich erinnere mich, wie ich gerade etwas Interessantes in seiner Atmosphäre spürte (weißt du, ich wußte nichts über okkulte Dinge, doch die Fähigkeit dazu war bereits da), ein gewisses Gefühl ging von seiner Atmosphäre auf mich über, und gerade in dem Moment, als ich die Gabel zum Mund führte, war ich weg. – Was für Schelte ich bekam! Sie schimpften mich aus, ich wisse mich nicht anständig zu benehmen und sollte besser nicht am Tisch erscheinen. Manchmal ließ sie diesen Körper noch weniger zeremoniell sogar auf den Boden gleiten: Das passierte mir einmal in Paris. Nachdem man mir ein gutes Abendessen verabreicht hatte, ging ich in einen Konferenzsaal. Viele Leute waren dort anwesend, und obendrein war es sehr warm. Da stand ich, mein gutes Abendessen lag mir auf dem Magen, und plötzlich fühlte ich mich unwohl. Ich sagte der Person, die mich begleitete: “Ich muß hier sofort raus!” Draußen (es war auf der Place du Trocadéro) fiel ich in Ohnmacht. Ich sah meinen Körper da liegen und fand ihn so lächerlich, daß ich ganz schnell wieder in ihn zurückflüchtete – und ihn tüchtig ausschimpfte32.
Im Kindergarten der Evolution erzogen, sind wir gewohnt zu glauben, daß ein Körper – mein Gott – Bewußtsein enthält, falls er dieses nicht gar fabriziert, und daß man ohne Körper eben tot ist – das ist ganz einfach –, und daß man ohne Augen nicht sehen, ohne Ohren nicht hören, ohne ein Paar Beine oder ein halbes Dutzend (dem Fall entsprechend) sich nicht fortbewegen kann. Das ist eine entwicklungsgeschichtliche Tatsache, “es ist so”. Es ist auch so, daß ein Kind nicht ohne Kindermädchen herumlaufen oder das Parktor allein öffnen kann, weil ihm dazu einige Zentimeter fehlen. Im großen Park der Einheit, in der großen ursprünglichen Gesamtheit wuchsen kleine Bewußtseinsparzellen, individualisierten sich, erkannten sich als “anders als”, konnten aber gerade diesen Unterschied nur an der Trennwand ihrer eigenen Begrenztheit erkennen, deshalb mußten sie anfangen, mit ihren Augen zu sehen, mit ihren Fühlern zu fühlen, und natürlich wurde die Welt zum Phänomen ihrer Augen und ihrer Fühler. Haben wir (um einige Jahrtausende “klüger”) erst einmal erklärt, die Welt sei nicht unsere persönliche Anglegenheit, würden wir dennoch fortfahren, die Welt wie kleine Tiere durch einen Schädel und persönliche Brillen hindurch zu individualisieren: die Welt wird “anders”, wir werden “anders”, und alles wird anders sein, dank der einzigartigen Brillen und zarten Schädelprotuberanzen, bis wir schließlich behaupten: “Ich existiere nur durch meine Brille” – oder sogar: “Ich bin das Produkt meiner Brille. Ohne Brille und ohne Protuberanz bin ich tot.” Das trifft für die wirklichen Babies der Evolution auch zu. Für den Fisch im Aquarium ist das, was außerhalb seines Glases liegt, ebenfalls inexistent oder bedeutet den Tod. Dennoch gibt es fliegende Fische und Reptilien, denen Flügel wuchsen; es gibt alle möglichen Arten, die ihr “Milieu” verließen – und seit wir mit gewissen Scheinfüßchen zappelten, haben wir mehr als ein Milieu verlassen… Vielleicht stehen wir an der Schwelle unseres nächsten Milieuwechsels. Aber statt von einem Goldfischglas in ein größeres überzugehen, sei es noch so himmlisch oder luftig, oder statt Superprotuberanzen wachsen zu lassen, als wären wir in unserem menschlichen Aquarium nicht schon genügend eingeengt, gilt es diesmal, das Milieu wiederzufinden, welches alle Aquarien und alle Körper enthält und alles, was diese Millionen Augen sehen, was diese kleinen Antennen tastend berühren, die diese winzigen Fragmente der Welt, die Fensterchen im Turm und die anpaßbaren Brillen herausschnipselten, um sich Schritt für Schritt, Tag für Tag an ihre eigene Ganzheit zu gewöhnen. Dann werden wir feststellen, daß wir ohne Brillen ausgezeichnet, ja, sogar besser sehen und ohne Schädel sehr gut denken und auch sehr gut außerhalb des Goldfischglases spazieren können, ohne zu sterben. Und schließlich erkennen wir, daß nicht der Körper das Bewußtsein enthält sondern das Bewußtsein den Körper – alle Körper. Dann können wir uns ungehindert hierhin oder dorthin bewegen, weil alles unser Körper ist.
Mirra verließ das “Goldfischglas” mühelos, wann immer sie wollte; sie war kein Baby der Evolution. Aber tatsächlich verlassen wir alle im Schlaf diesen Körper, nur wissen wir es nicht – wirklich, wir kennen so wenig die wahre Lebensweise! Man bringt uns Mathematik, Regeln, Gesetze und Sprachen bei, aber nicht das ABC des Lebens, nicht die Sprache der Welt: Nicht einer unter einer Million versteht es zu leben! rief Mutter aus. Sie treten ins Leben, ohne zu wissen warum; sie wissen, daß sie ein paar Jahre zu leben haben, ohne zu wissen warum; sie denken, daß sie dahinscheiden werden, weil alle dahinscheiden, ebenfalls ohne zu wissen warum… Sie wurden geboren, leben und erfahren sogenanntes Glück oder Unglück, kommen ans Ende und gehen. Sie kamen und gingen, ohne etwas zu lernen33. Auf einem Operationstisch oder bei einem Unfall nehmen wir manchmal zufällig wahr, daß wir eigentlich ganz leicht aus unserem Körper hinausgehen können. Aber wir betrachten es als ein “Phänomen”, vielleicht ein krankhaftes; und wir alle sind versucht, es mit Mathilde unter “Geistesstörungen” einzuordnen. Ja, es ist tatsächlich eine regelrechte Störung für die kleinen wohlbehüteten Gewohnheiten, die wir von Säugetier zu Säugetier geerbt haben. Wir hängen sehr an unserem Käfig. Im Grunde, bemerkte Mutter, sind die Menschen in ihrer überwiegenden Mehrheit wie Gefangene hinter verschlossenen Türen und Fenstern, da ersticken sie (was ganz natürlich ist). Sie tragen aber den Schlüssel, der die Türen und Fenster öffnet, bei sich, nur benutzen sie ihn nicht34. Oder wir gehen wie die unvorsichtige Jugend unter der Wirkung irgendwelcher Drogen, auf “Trips”… die oft verhängnisvoll werden. Denn es genügt nicht hinauszugehen, es ist keine “Super-Pfaueninsel” in Technicolor, obschon es farbig ist – alles hängt sozusagen von unserer eigenen “Farbe” ab: wir treffen immer unseresgleichen, und wenn wir grau und angstvoll sind, empfinden wir nur das Super-Graue eines Alptraums und Super-Ängste – das, was uns hier bewegt, bewegt uns auch “dort” (außerhalb des Körpers), nur in seiner ganzen “Reinheit”, wagen wir zu sagen, oder in seiner Unermeßlichkeit ohne die kleine schützende Hülle des Körpers mit den Regeln des Anstandes. Das ist genau die (für uns) unsichtbare Quelle all dessen, was uns hierhin oder dorthin treibt und uns wie kleine Marionetten mitreißt: Ein ganzes Forschungsgebiet, für diejenigen, die sich nicht gerne wie kleine Marionetten manipulieren lassen. Mirra sah diese ständige Bewegung überall, hinter Bildern, hinter Gegenständen oder in der Atmosphäre ihres Vetters: kleine Wolken, rote oder schwarze Wellen, Funken, verborgene Stacheln, Bewegungen von Kraft, die unsere Gesten und unsere Zukunft, diesen plötzlichen Unfall, diese geniale oder falsche Inspiration und tausend kleine uns unverständliche Zufälle hervorrufen. Tatsächlich wissen die Leute, die im gewöhnlichen Bewußtsein leben, sehr-sehr wenig über das, was sich physisch abspielt – sehr wenig. Sie glauben es zu wissen, aber sie kennen nur eine sehr dünne äußere Erscheinung, wie die Hülle eines Pakets. Darunter liegt das ganze Paket mit allem, was es enthält, aber sie sehen nur das Äußere, und daran sind sie so gewöhnt, daß sie immer eine Erklärung parat haben. Aber denjenigen, die nicht das Glück oder Unglück haben zu sehen (denn es ist nicht immer hübsch, und wahrscheinlich bewirkt das kluge Walten der Natur, daß sich unsere Augen nur im Verhältnis zu unserem Verständnis öffnen), denen öffnet sich das weite Feld der Nacht, wenn ihre Augen nicht mehr so sehr vom Ansturm der Erscheinungen geblendet sind. Der Tag ist eine Art Schule, die Nacht ist eine andere Art Schule. Für Mutter war alles eine “Schule”. Aber man bringt euch nicht einmal bei, wie man schläft! Man bildet sich ein, man bräuchte sich nur ins Bett zu legen und einzuschlafen. Aber das stimmt nicht35!
Und beim Hinausgehen trifft man keinesfalls auf ein wahlloses Durcheinander, sondern auf eine Hierarchie von Welten (oder “Bewußtseinsebenen”, je nach Geschmack), die sich von der materiellsten Materie bis zu Regionen voll Licht und Wonnen erstrecken, aus denen die Größten unter uns manchmal einen Geistesblitz, eine Symphonie oder ein Evangelium herunterziehen – und weitere Regionen, die wir noch nicht kennen. Diese Entdeckung ist ebenso alt wie die Grabkammern von Luxor oder die Upanischaden; sie ist nur für unser wissenschaftliches Zwischenspiel mysteriös und zweifelhaft, weil es vorzog, seine Maschine statt sein Bewußtsein zu entwickeln – bis die Menschen, am Ende ihrer Mittel und Puste angelangt, die Luft wiederentdecken, die ihrem Leben fehlte, und die Kraft selbst, die ihre Maschinen animierte, vielleicht reicher und reifer nach dieser strengen Schule im eisernen Dickicht. Aber vorerst bewegen wir uns in einer Art psychologischer und philosophischer Verwirrung, das müssen wir zugeben, die unseren weniger mechanisierten Vorfahren sehr kindisch erschienen wäre. Bei den meisten Philosophen, sagte Mutter, liegt eine der Hauptschwierigkeiten darin, daß sie die verschiedenen Existenzebenen, die verschiedenen Bereiche des Wesens nie anerkannten, geschweige denn studierten… Sie postulieren einen Schöpfergott und dann seine Geschöpfe. Hier fangen alle die Probleme an. Aus was hat er die Welt erschaffen? Einige antworten uns “aus Staub”; aber was ist dieser Staub? Was machte er, bevor man ihn zur Erschaffung der Welt benützte?… Oder mit nichts! Man schuf ein Universum aus dem Nichts, wie absurd! Für einen logischen Geist wirkt das sehr störend. Und obendrein sagt man euch, daß “Er” all das bewußt und willentlich geschaffen habe, und als er fertig war, hätte er ausgerufen: “Siehe, es ist gut!” Ich glaube, fügte Mutter hinzu, eine der größten Schwierigkeiten für das Verständnis der Dinge entspringt einer willkürlichen Vereinfachung, die den Geist auf die eine Seite stellt und die Materie auf die andere. Aufgrund dieses Unsinns versteht man überhaupt nichts. Da ist der Geist und hier die Materie, das ist sehr bequem. Wenn man nicht dem Geist angehört, dann gehört man zur Materie; wenn man nicht zur Materie gehört, dann ist man im Geist. Was aber meint ihr mit Geist und mit Materie? Es gibt eine unbegrenzte Vielfalt von Dingen, eine nie endende Stufenleiter. Das Universum ist eine fast unendliche Folge von Welten und Bewußtseinsebenen. Wo endet nun in dieser Stufenleiter zunehmender Subtilität eure Materie, und wo beginnt euer Geist?… Da sagt man euch: befreit den Geist von der Materie – sterbt, und so befreit ihr euren Geist von der Materie! Wegen solchem Unsinn versteht man überhaupt nichts mehr! Aber das hat mit der Welt, wie sie wirklich ist, nichts zu tun36.
Mirra hatte die “Welt, wie sie ist” noch nicht erreicht – dazu brauchte sie noch achtzig Jahre; denn all diese Welten und Ebenen sind noch nicht die Gesamtheit unserer Existenz: es gibt noch etwas anderes, etwas sehr Geheimnisvolles und sehr Einfaches, vielleicht die kommende Revolution der Welt. Eine neue Welt in einer kleinen Körperzelle. Unsere Basis – unser Körper – ist auch unser höchstes Geheimnis. Unsere Niederlage – der Tod – ist auch der Schlüssel zum höchsten Sieg. Und vielleicht liegt darin der Nutzen des “wissenschaftlichen Umwegs”: um unsere Nase wieder in die Materie zu stoßen und uns zu zwingen, in unser eigenes Geheimnis zu stolpern, anstatt in den sogenannten Himmel des Geistes zu entschwinden, der noch nie etwas rettete. Ein langer Weg ist zurückzulegen, bevor man ins Herz der Dinge gelangt, aber all diese Umwege, die tausend Umwege des großen Waldes der Evolution, sind Teil einer geraden Linie, die unser Bewußtsein vorbereitet und die Shakti in unserem Körper formt.
Denn genau darum geht es letzten Endes: die Shakti zu formen. Die alten vedischen Rishis sprachen von den “Vätern der Menschen”, die in sich die Götter schmiedeten “wie der Schmied auf seinem Amboß37”. Diese Ebenen, diese Welten sind schön und gut, da wo sie sind, wie ferne brasilianische Wälder oder Niagarafälle, aber was bedeuten uns die schönsten Wälder der Welt und alle Wasserfälle, wenn wir nicht ein paar Tropfen davon zu unserer Mühle zu bringen wissen und eine einzige Blume in unseren Garten, oder wenn dies ausschließlich ein Privileg geistiger Genies wäre? Doch wir alle haben in uns kleine Türen, die zu diesen weiten Feldern führen – wir müssen die Türen öffnen. Wir alle haben, genau wie Mirra, kleine pulsierende und vibrierende “Zentren”, die mit diesen Welten in Verbindung stehen, wie die schillernden Fühler der Terebella. Wir müssen wissen, wo wir leben wollen, wissen, wo wir uns befinden: ob wir den Knopf der Alpträume andrehen wollen und in den niederen Tümpeln von tausend Begierden plätschern, die ein so graues, so schmerzvolles und schwankendes Leben ergeben, oder ob wir die Türen nach oben öffnen wollen und mit einem Mal weit werden in großen, völlig offenen Landschaften, von denen wir uns noch Tage später erfrischt fühlen. Unser Leben mit offenen Augen ist eine Übertragung unseres Lebens mit geschlossenen Augen, und wir ziehen hier an einer Geschichte, die wir anderswo gewoben haben – man kann eine hübsche Geschichte herabziehen, Kräfte und Lichter, die das Leben anders schwingen lassen, die das Leben vielleicht sogar ändern. Denn das große Kaleidoskop “dort oben” dreht und dreht sich und wartet, daß wir seinen kleinen Farbregen, seine entzückenden Arabesken oder großen unbekannten Katarakte, die das Weltschicksal ändern werden, hier herabströmen lassen. Alle Zentren unseres Instruments müssen mit der schönen Frequenz, dem weiten Rhythmus in Einklang gebracht werden; die Kadenz, die alle unsere Gesten rhythmisiert, die kleinen wie die großen, muß hier fließen, denn wenn der Rhythmus nicht hier in dieser unbeachteten kleinen Sekunde, in diesem ersten Schritt auf dem Gehsteig zugegen ist, dann wird er nirgendwo sein.
Mirra wollte diesen Rhythmus nicht nur für sich selbst sondern für alle fließen lassen. Eigenartig, dieses so junge Mädchen, dessen Wurzeln weit in die Zeit zurückreichten, schien sich auch im Raum auszubreiten, sowohl Entfernungen wie Zeitalter zu umfassen, als wäre der Raum tatsächlich eine Art Dimension der Zeit oder als nehme die Weite unseres Bewußtseins im Verhältnis zur Anzahl der durch alle Zeiten hindurch erlebten Erfahrungen zu, als wüchsen wir ständig in einem anderen, subtileren Körper – einem Erfahrungskörper –, als schmiedeten wir ein immer weiteres, umfassenderes Ausmaß unseres Seins. Manche formen einen kleinen Garten mit einer einzigen Blume, andere einen Park, und wieder andere umfassen Meere und Flüsse, denn sie sind sehr viel mit der großen Shakti geflossen, trugen viele Schmerzen und Kämpfe in sich und sammelten mehr als eine Farbe des großen Regenbogens. Sie haben viel geliebt, vielleicht alles geliebt. Als ich ein Kind war, erzählte Mutter, so etwa im Alter von dreizehn Jahren, fühlte ich ungefähr ein Jahr lang, sobald ich mich schlafen legte, wie ich aus meinem Körper hinausging und mich gerade über das Haus, dann sehr hoch über die Stadt hinaus erhob. Ich sah mich in einem wundervollen goldenen Gewand gekleidet, das länger war als ich, und je höher ich stieg, desto länger wurde dieses Kleid, breitete sich kreisförmig um mich herum aus und bildete so ein immenses Dach über der Stadt. Da sah ich von allen Seiten Männer, Frauen, Kinder, Greise, Kranke, Unglückliche herbeikommen; sie versammelten sich unter dem ausgebreiteten Gewand, flehten um Hilfe und sprachen sich über ihre Nöte, ihren Kummer und ihre Schmerzen aus. Als Antwort streckte sich das schmiegsame und lebendige Kleid jedem einzelnen entgegen, und sobald sie es berührten, waren sie getröstet oder geheilt und kehrten glücklicher und stärker in ihre Körper zurück. Nichts erschien mir schöner, nichts machte mich glücklicher als das. Und alles, was ich tagsüber tat, erschien mir fahl und grau neben dieser nächtlichen Tätigkeit, die für mich das wahre Leben war38.
Aber dieser subtilere Körper – dieser Körper aller Schmerzen der Welt vielleicht – schien sich nicht nur über eine Stadt oder in eine Richtung auszubreiten, sondern schien manchmal grenzenlos zu sein. Auch hatte er andere Male eine andere Farbe oder eine andere Dimension. Mirra merkte sehr genau, wie dieser Körper oder diese Körper, diese Wesen in ihr, je nach der Region, in der sie sich bewegte, einen unterschiedlichen Farbton, eine unterschiedliche Bewegung annahmen, als sei sie nach und nach auf verschiedenen Ebenen ihres Wesens, in verschiedene Richtungen gewachsen. Alle diese Leben, seien sie von Ägypten oder anderswo, diese tausend Orte, die wir arm oder reich, als Prinzessin oder Mönchlein durchwandern, verkörpern alle einen Erfahrungstypus, eine gewisse Schwingung oder Note, die wir besonders kultiviert haben, das eine oder andere Zentrum, auf das wir unsere Anstrengung besonders konzentrierten – eine bestimmte Art, die Materie zu berühren, wird Mutter es nennen –, bis alle unsere Zentren und alle unsere Noten auf denselben Rhythmus gestimmt sind, bis wir eine annähernd vollständige und geeinte Menschheit bilden, die als Meisterin aller Farben und Rhythmen auf allen Ebenen lebt. Jedem Zentrum entspricht ein Erfahrungskörper (wir nennen es Persönlichkeit), den wir nach und nach formen und der unsere tausend Schritte auf einer bestimmten Ebene, unsere tausend Bemühungen in einer Richtung darstellt und dabei wächst – denn welche Energie löst sich in Luft auf? Das, was ist, ist für immer, und haben wir ein Rinnsal, einen Strom oder ein Unheil kultiviert, holt uns das Rinnsal, der Strom oder das Unheil tausend und abertausend Jahre später wieder ein und wird zum Fluß, zum Meer oder zur Katastrophe. Wir müssen wissen, was wir kultivieren wollen. Mirra hatte mehr als eine Welt kultiviert, und sie hatte mehr als ein Wesen, wie wir alle, aber manche Wesen kommen und gehen wieder, so wie sie kamen, während andere die Augen weit aufreißen und sich erinnern. Manche Wesen bilden eine schlecht zusammenpassende, ungleich entwickelte Schar und verbringen ihre Zeit im Streit miteinander, mit manchmal sehr lästigen Gnomen oder dunklen und meuternden Pygmäen, andere hingegen haben ihr Königreich vereinigt und alle ihre Wesen der mächtigen Kadenz hingegeben. Und schließlich haben sie so viele Wesen kultiviert, so viele Welten entwickelt, daß sie wie die gesamte Welt in einem Bewußtsein sind. Vielleicht war das die Erfahrung, von der die junge Mirra eines Tages heimgesucht wurde, und zwar in einer Kirche (es war wohl das erste Mal, daß sie den Fuß in eine solche Stätte setzte): In einer Kirche machte ich eine meiner ersten Erfahrungen: bei einer Hochzeit. Die Musik war wunderbar. Ich befand mich mit meiner Mutter oben auf der Empore, und auf der Orgel (es war die zweitbeste Pariser Orgel, großartig!) wurde diese Musik gespielt (später sagte man mir, daß es die Musik von Saint Saëns war). Ich stand also dort oben – ich war vierzehn – und da waren Glasfenster: unbemalte weiße Glasfenster. Auf eines schaute ich gerade (du mußt dir vorstellen, ich war wie emporgehoben von der Musik), als plötzlich durch dieses Fenster ein Strahl wie ein Blitz kam. Er drang ein (meine Augen waren offen), drang in meine Brust, und da… hatte ich das Gefühl vollkommener Grenzenlosigkeit und Allmacht. Das blieb mehrere Tage.
Gewiß hätten wir gerne eine Beschreibung dieser Welten und Körper, aber darüber auf feierliche oder gar akademische Weise zu sprechen, wäre Mutter gegenüber ungerecht – sie hatte immer eine Abscheu gegen das dogmatische und absolute “So-ist-es”, ähnlich den zehn Geboten Gottes (die sie nebenbei bemerkt außerordentlich banal fand… Und Moses stieg auf den Berg, um sich das anzuhören!). Wir werden jedenfalls keinen Sinai des Unsichtbaren erklimmen, um ihn dann in zwölf Paragraphen einzuteilen. Ja, sie waren zwölf – oder sind zwölf –, diese Welten, aber sämtliche Teilungen sind nur verschiedene Arten, ein bestimmtes “Etwas” zu betrachten: die Erde, unsere Erde, die uns noch entgeht und die wir vielleicht noch nie wirklich gesehen haben! Es bleibt genug Raum für Entdeckungen, und das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, auch nicht von den Sehern höchster Weisheiten (vielleicht gerade weil sie zu hoch waren). Man kann sich nur wundern – aber ist es wirklich verwunderlich? –, daß ein junges Mädchen vom Square du Roule und im Jahrhundert der positivistischen Lichter das entdeckte, was die Rishis und viele andere Weisen vor siebentausend Jahren ebenfalls entdeckt hatten. Doch die Tatsache bleibt. Des weiteren maß sie dem keine besondere Bedeutung bei, zumindest nicht mehr als den tausend täglichen Geheimnissen, die für uns schon lange keine Geheimnisse mehr sind, weil wir sie fein säuberlich mit einem beruhigenden Etikett unseres Verstandes überklebt und uns so sehr an sie gewöhnt haben, daß sie nach nichts aussehen – wenn wir aufhören, uns an die Welt zu gewöhnen, und unsere bequemen Etikette abziehen, dann fangen wir vielleicht an, mehr Dinge zu entdecken, als es zu geben scheint, und mehr Mysterien als alle eleusinischen zusammen.
Wir werden also weder ein Rezept des “guten Schlafs” noch eines der Welten vermitteln: Diese Gewohnheit, andere zu zwingen, so zu denken wie ihr, erschien mir immer fragwürdig… Ihr habt eure Erfahrung: sorgt dafür, sie so wahrhaftig und vollständig wie möglich zu machen, laßt aber jedem seine eigene Erfahrung39. So einfach ist das. Wichtig ist nur zu wissen, daß es eine Erfahrung gibt, und seine Gewohnheitsbrillen abzulegen. Wichtig ist nur zu wissen, daß es “etwas” zu sehen gibt, und es ohne Dogmen zu sehen, seien sie positivistisch oder nicht. Man muß im Positiven der Erfahrung sein, das ist alles. Und das großartigste an dem Unterfangen ist, daß bereits das Bemühen um Wissen die Türen der Entdeckung automatisch öffnet, als öffnete die Berührung dieser intensiven kleinen Schwingung unsichtbare Dachluken in den Dingen, in diesen nichtigen Gewohnheiten, und alles fängt an zu sprechen, seine Geschichte und ihre Folgen zu erzählen, als ob unsere eigenen stockenden Schritte ohne zu wissen aber mit dem so starken Willen nach Wissen den Weg bahnten. Als brächte diese Aufrichtigkeit des Bemühens den Körper der Shakti in uns hervor. Dann schreiten wir von einer kleinen Tür zur nächsten und von Entdeckung zu Entdeckung, da wo nur belanglose Alleen und tausend Schritte ohne Sinn waren.
Wir schreiten von Leben zu Leben, von Erfahrung zu Erfahrung – von einer Art und Weise die Materie zu berühren zur nächsten –, bis unser Erfahrungskörper in seinem Wachstum die Ausmaße des Universums erreicht.
Denn das ist letzten Endes der ganze Sinn der Evolution: den Körper der Shakti in uns zu entwickeln. Wir glauben, wir setzen Kriege, Revolutionen, Kreuzfahrten in Gang, verwirklichen Philosophie, Sozialismus, Kapitalismus und hauen ein Kaiserreich vom Hellespont nach Baktrien heraus. Wir glauben, wir bringen Maschinen oder Literatur, Gutes oder Schlechtes oder kleine Kinder in die Welt, aber ständig ist es die Shakti, die in uns wächst, durch Gutes, durch Böses, durch Sozialismus oder Gewaltherrschaft und sogar durch unsere Maschinen und unsere Dummheiten, ständig bauen wir das mächtige Reich der Shakti, dieselbe Shakti hinter allen Namen und Gesichtern, hinter schwarzen oder weißen Häuten, hinter unseren Sünden genauso wie hinter unserer Tugend, in unseren Niederlagen, unseren Triumphen. Wir besiedeln eine selbe kleine Parzelle des großen Milieus, sammeln sie in unseren großen denkenden oder fühlenden Speicher wie die Bienen einer großen Honigwabe, Korn für Korn, Tag für Tag, durch unsere Werke und unsere Leiden und zahllosen Leben hindurch, unter diesem Kostüm oder einem anderen, jener Philosophie oder ohne Philosophie, Religionen und Albernheiten in allen Sprachen. Wir individualisieren die große Shakti, wir baden darin wie Kaulquappen im Wildbach, die zum Flugsaurier oder zur Spitzmaus, zu Mathematikern oder Barfüßlern werden – die was werden? Manche Geschöpfe bestehen aus nichts als ihrem Körper und dessen Abläufen und sammeln nur die kleinen Energieparzellen, die notwendig sind, um ihren Mechanismus in Gang zu halten; und wenn der Mechanismus auseinanderfällt, bleibt lediglich das, was sie hineingesteckt haben: sie “gehen hinaus” ins Nichts, weil sie nichts anderes als allgemeiner Brennstoff sind, und sämtliche Philosophien, die sie hineinstecken könnten, machen nicht den geringsten Unterschied, wenn sie nicht eine lebende Substanz waren, eine winzige Möglichkeit, ein paar Tropfen der großen Shakti zu erhaschen. Auch wenn sie schlafen: wohin können sie gehen? Außerhalb ihres Körpers ist die Nacht ebenso schwarz wie drinnen, denn sie haben nur Materialien für ihr gutes Aussehen und ihre Funktionsfähigkeit kultiviert – man geht in das, was man ist, hier und dort, im Schlaf wie im Tod. Und ist man nichts als denkendes Gelee, geht man nirgendwohin, außer zurück in den allgemeinen Schmelztiegel. Um irgendwohin zu gehen, bedarf es eines Transportmittels. Und um aus seinem Körper “hinauszugehen”, muß es jemanden geben, der hinausgeht – das ist selbstverständlich. Und wer geht hinaus?
Manche Wesen haben kleine Tropfen der Shakti gesammelt, mit einem Schwert oder einem Meißel, Religion oder Irreligiosität, egal was, mit allem, was ihnen unter die Finger kam, mit Klavier oder Pinsel, sie lebten jede Minute, als müsse man in dieser Minute sein, egal was, aber sein, nicht im Leben von einer Beschäftigung zur anderen eilen, mit tausend nichtigen Schritten dazwischen; Wesen, die kleine Funken der mächtigen Energie ansammelten und weiter sammelten, durch alles hindurch, überall, durch Revolte und durch Hingabe, durch das Dafür und Dagegen, durch Ja und Nein, egal wie, aber daß es lebe, daß es sei. Was bleibt, wenn wir alle Bücher schließen, alle Gesten, alle unsere Schritte innehalten, die tausend Schritte des Lebens, um uns in den Schlaf oder in den Tod niederzulegen? – Das bleibt, diese kleinen Tropfen des Seins, ohne Religion, ohne Partei, vollkommen rein, ohne Beruf, ohne Vorwand, so einfach und einzig lebendig. Das ist alles, was bleibt. Kleine Tropfen, die nicht vergehen, denn welches Feuer, welcher Brennstoff kann diese Energie zerstören, die der Brennstoff aller Sterne ist! Kleine Tropfen, die sich in uns ansammeln, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Leben für Leben, die einen unzerstörbaren Körper in uns, um uns herum bilden, einen Körper in unserer wahren Farbe, einen Körper in unserer wahren Größe und unserer wahren Intensität des Seins. Das ist das Transportmittel. Es ist die große angesammelte Shakti, die alle Zeiten und alle Stätten durchquert und deren Schwerkraft von unserer Leichtigkeit abhängt. Manche Wesen sammelten ihre kleine Intensität in einer einzigen Beschäftigung, wollten nur wissen, wollten immer mehr wissen, wollten lieben, immer mehr lieben, wollten tun und immer mehr tun. Sie leuchteten ihre Flamme in einen kleinen Familienkreis, in einen kleinen Heimatkreis, in immer größere Kreise und verschmolzen ihre kleine Person in die Liebe zur Erde oder zum Ganzen, vereinigten ihre kleine Intensität mit der großen Intensität. Diese haben mehr als einen Körper und viele Farben, sie haben den Körper ihres gesammelten Wissens, den Körper ihrer gesammelten Liebe, den Körper ihrer Tat, viele Körper, die mit all den kleinen, vibrierenden Zentren schillern. Sie kultivierten alle Noten ihres Registers, alle Farben ihrer Intensität, sie projizierten sich immer weiter hinaus, sie liebten und erkannten in immer weiterem Ausmaß, ihr Wirken reichte immer weiter. Diese haben einen Körper und viele Körper, die mit den Zeitaltern und auf allen Breitengraden und mit allen Berufen wuchsen, schließlich so sehr wuchsen, daß sie weder irgend etwas “verlassen” noch ihre Umgebung zu wechseln brauchen, denn alles ist ihr Körper, und die Shakti selbst ist ihr Lebensraum geworden.
Jene entdecken vielleicht eine höchste Weise, die Materie zu berühren, und eine höchste Art des Seins.
Den nächsten Körper auf der Erde.
Und vielleicht gibt es kein “Höchstes” sondern eine Weise, die ständig wächst.
6. Kapitel: Von der Kunst zur Materie
Mit 19 Jahren betrat sie das “Künstlerleben” durch ihre Heirat mit Henri Morisset, Schüler von Gustav Moreau an der École des Beaux-Arts. Es scheint etwas merkwürdig, von einem “Künstlerleben” zu sprechen bei Mirra, die gegenwärtig im Gedächtnis oder lebendig vor den Augen so viele verschiedene Leben hatte, glanzvolle wie brutale, strahlende oder dunkle, und in so viele Geheimnisse eingeweiht war, ganz zu schweigen von all denen, die wir nicht kennen. Ihre Perspektive der Welt war natürlich nicht die unsere, so wenig wie ihre Eile oder ihr Fieber, wenn wir denken, daß wir am Ende des Weges umkippen, nach einigen Jahren voll Kampf und Schmerz, gemischt mit mageren Freuden, deren Ursprung und Bestimmung wir nicht einmal kennen, und ohne zu wissen, ob diese Mühen überhaupt etwas hervorbringen außer einer zweifelhaften, uns fremden Nachkommenschaft. Wir müssen zugeben, daß wir in einer völligen Absurdität leben, und unsere Anschauungsweise wäre unseren angeblich weniger intelligenten Vorfahren bestimmt sehr barbarisch vorgekommen. Für Mirra war alles anders. Anders war ihre Art, die Materie zu berühren, anders ihre Art, auf einem großen Weg zu wachsen, der immer klarer, weiter und präziser wurde: Es ist so amüsant, man lernt… Lebte ich auch tausend oder mehr Jahre auf der Erde, würde ich ununterbrochen fortfahren zu lernen, und ich bin sicher, daß ich immer etwas Neues hinzulernen würde, weil das, was gestern wahr war, es heute nicht mehr so sehr ist, und das, was heute wahr ist, es morgen nicht mehr sein wird40. Als eines Tages ein Kind sie fragte, was aus der Seele Beethovens geworden sei, zweifellos in der Annahme, daß dieses wunderbare Genie als Super-Quartette komponierendes Supergenie wiedergeboren würde, antwortete Mutter dem schockierten Kind mit der Spur von Humor, die sie stets begleitete: Ich weiß nicht… vielleicht ein Schuster! Denn unsere Vorstellung des großen Weges ist ebenso absurd wie das absurde verstümmelte Streckenstück, das wir in großer Eile zurücklegen, um einem Super-Etwas der heutigen Mode oder des gegenwärtigen Geschmacks oder momentanen Wissens nachzurennen – aber glücklicherweise wechseln Geschmack, Mode und Wissenschaft. Doch was in alledem ändert sich nicht? Wo ist die Konstante? Und um das Kind zu beruhigen, das über die Perspektive eines schusternden Beethovens aus der Fassung gebracht war, fügte sie hinzu: Das ist keine Abwertung: es bedeutet, dem Problem von einem anderen Winkel aus zu begegnen41.
Doch was ist dieses Problem aller Zeiten und jeder Zeit?
Von Luxor oder dem Palazzo Ducale bis zur Rue Lemercier (denn dort befand sich das Atelier von Morisset), war es scheinbar ein sehr weiter Schritt, aber diese ganze Welt ist ein ungeheurer Anschein von “etwas”, das sich unaufhaltsam hinter und durch alle Erscheinungen hindurch abspielt.
Es ist 1897, ein Jahr vor dem Tod von Gustav Moreau, sechs Jahre nach dem Tod von Rimbaud. Die Lichtexplosion der Impressionisten hat eine lange Reihe von Wellen über ganz Europa aufgewirbelt und am Seine-Ufer eine erstaunliche Palette versammelt, die schon in tausend neuen Farben aufleuchtete. Monet malte seine “Peuplier au Bord de l’Epte”, und zur gleichen Zeit hinterließen die kleinen pulverisierten Pinselstriche des Pointillismus einen neuartigen Durst, die Materie zu zerreiben und wer weiß welchen Akzent oder welches Licht daraus zu ziehen. Die Neo-Impressionisten, die Expressionisten, die “Fauves” zogen bereits ihre provokanten Linien und fingen den Himmel und die Bäume ein, um sie kanariengelb oder backsteinrot zu tönen, je nach der Farbe ihrer Seele oder dem “Etwas”, das nichts mehr mit dem Äußeren zu tun hat. Rouault kreiste seine Gesichter ein wie Flachreliefe und ließ Jahrhunderte durchbrechen oder öffnete einige überraschte assyrische Augen in unserem 20. Jahrhundert. So wie Mirra selbst durchbrach die Malerei die Kruste der Welt, um einige unberührte Geheimnisse wiederzufinden. Vlaminck ließ seine Geige liegen für diesen Taumel. Schon näherten sich Braque und Picasso wie hungrige junge Wölfe, um diese zweifelhafte Artikulation zu zergliedern. Rodin seinerseits haute und haute immer von neuem seine “Porte de l’Enfer”, als entsprängen dem Chaos der Seele vielleicht einige neue Himmel.
Mirra war dabei.
Sie riß die Augen auf, betrachtete all das mit ihrem Lächeln der Mona Lisa oder mit einem Lachen, das sich an allem freute, alles verstand, mit allem spielte – oh, das so gut verstand, was die anderen mit vollen Händen anpackten, kritzelten, auf ihren Leinwänden oder Steinen zerrieben, zerstückelten. Matisse war ein Schüler von Gustav Moreau, wie Morisset, wie Rouault, sie wird sie alle kennenlernen, zusammen mit den alten Impressionisten Renoir, Degas und den letzten Tagen von Sisley, Signac, und dem, der seine Teller nie rund malte (Cézanne), aber er hatte recht42!… Ihr Blick hielt nie inne, ihr Durst war ebenso groß wie der all dieser Künstler, vielleicht noch größer; als sie aufhörten zu forschen, grub Mirra weiter, grub weiter in dieser Materie, um ihr Geheimnis bloßzulegen, und selbst vor den extravagantesten Farbexplosionen unserer gegenwärtigen Künstler rief sie, die eine so verfeinerte Kultur hatte, noch mit 77 Jahren aus: Das Erschreckende ist, daß euch das die ganzen anderen Malereien völlig verleidet!… Ja, sie haben es fertig gebracht, mir jeden Geschmack an der Malerei zu nehmen… Es gab eine Zeit, da empfand ich eine große ästhetische Freude beim Betrachten der Bilder von Rembrandt, von Tizian oder von Tintoretto, Renoir, Monet. Diese ästhetische Freude fühle ich nicht mehr, es erscheint mir von jeder ästhetischen Freude entleert… Natürlich bin ich weit davon entfernt, sie zu empfinden, wenn ich die Sachen betrachte, die sie jetzt machen, aber es steckt dennoch etwas dahinter, was das andere verschwinden ließ. Mit einer winzigen Anstrengung der Zukunft entgegen werden wir vielleicht fähig sein, die neue Formel der Schönheit zu finden43.
Sie war dabei… War es ein Zufall? Im Grunde genommen gab es keine tiefergreifende Revolution seit 1789. Einstein war 18 Jahre alt, als Mirra 19 war. Wie die Pointillisten wird Max Planck bald entdecken, daß sich das Licht ganz und gar nicht auf brave Weise bewegt sondern in “kleinen Bündeln”. Newtons Apfel beginnt ernsthaft bedroht zu sein, wie ein gewisser anderer, der uns aus dem Paradies vertrieb. Und das ist noch nicht das Ende.
Sie wurde von allen verhätschelt, wie man sich denken kann. Sie waren an die 30, 35, 40 Jahre alt, und ich war 19, 20… Ich war das Nesthäkchen. Sie hatte ein unbestimmbares Etwas, das alle Herzen und Türen öffnete, wie Mira Ismalun, aber es lag weder an ihrer Extravaganz noch an ihrer Kleidung. Ich hatte gelackte Stiefelchen mit Rissen, die ich übermalte, damit man es nicht sah! Ihre Worte waren seltener als ihr Lachen, aber sie hatte eine stille Art, in das Herz der Dinge zu gehen, den Anschein zu entlarven und das zu berühren, was da vibrierte, dieses Etwas, das der Maler erfassen wollte, das er sich aber selbst nicht so recht erklären konnte, und dann diese Sanftmut, verbunden mit Humor, die es verstand, gelassen heftig zu sein, eine scharfe Intelligenz und ein direktes Verständnis, das jedes Ding ganz einfach an seinen Platz rückte, so einfach, daß niemand daran gedacht hätte, was alle unerwartet auflachen ließ. Selbst Rodin vertraute sich ihr an. So viele heimliche Intrigen kamen zu ihr, ohne es zu zeigen: den einen riß es zwischen seiner Frau und seinem Modell hin und her, den anderen zwischen seiner Kunst und der schwierigen Wahrheit, die er ohne Verzierung seiner Leinwand oder seinem Granitblock entreißen wollte. Wir würden über erstaunliche Memoiren verfügen, hätte sich Mirra darum gekümmert, ihre Erinnerungen zu sammeln, aber für sie war es ein vorübergehender Hauch, und schon war sie weit voraus, sehr weit, in der Schmiede der Zukunft. Ja, sie interessierte sich für diejenigen, die schmieden, überall und in allen Formen. Sie ging vorbei. Und jeder wußte, daß sie vorbeikam. Wir können sie uns vorstellen in ihrem langen Futteralkleid, wie man es damals trug, eng anliegend wie eine Wespentaille, ihr bernsteinfarbenes Haar zusammengefaßt und als Haarknoten hoch oben auf dem Kopf thronend, wie Shivas Jatta, ihre runden Backen, ein an den mittleren Orient erinnernder leicht goldener Teint, ihr völlig gelassenes Gesicht, das plötzlich in Lachen aufging und sich so eigenartig dem anpaßte, was sie betrachtete, und ihre Augen, die die Farben der Welten annahmen. Man hatte den Eindruck, sie wäre einem Bild von Renoir entstiegen, aber kein Renoir wäre fähig gewesen, diese Augen zu malen, und sie entstieg mehr als einem Bild, je nach den Tagen, den Stunden, mit einer so außergewöhnlichen Beweglichkeit, daß sie ebenso einem Clouet, einer ägyptischen Maske oder einer mongolischen Miniatur ähneln konnte (eines Tages sah ich sie einer Katze gleichen). Diese “Anpassungsfähigkeit” von Mutters Gesicht – und ich nehme an, auch Mirras – ist eines der eigenartigsten Phänomene, die ich je sah; zweifellos nicht “eigenartig” für sie, die zu dem wurde, was sie betrachtete, die so tief eindrang, daß alles eins war, ohne Trennwände wie der Python im Jardin des Plantes, die Geranien in den Tuileries (still und lächelnd, nichts scheint sie zu stören) oder die opalfarbene Spiegelung auf Monets sanften Flüssen oder die Misere des einen oder des anderen – und letzten Endes die große Misere überall. Sie drang in alles ein, in Bilder, in Wesen, in Katzen, in Steine, behauen oder unbehauen, und im Herzen eines jeden hinterließ sie etwas, das keine Mira Ismalun vermocht hätte.
Eigenartige Mirra.
Aber all das konnte ihren Hunger nicht stillen. Sie war auf der Suche nach einer tiefergreifenden Revolution als die der Linien und Farben – letztlich hätten Einstein oder Planck sie mehr interessiert als die impressionistische Explosion, obwohl all das zusammenhängt. Ein geheimer Gärstoff drang in die Materie, um die alte Fassade zum Einsturz zu bringen.
In Bengalen begann Sri Aurobindo seine revolutionäre Tätigkeit.
Sie suchte rechts und links, öffnete ihre großen Augen weit, “studierte” alles, wie sie sagte, und die Erfahrungen überfluteten sie weiterhin, unerwartet, chaotisch, aber diesmal in der menschlichen Materie. Und was bedeutet all das? Ja, man malt schöne Bilder, diskutiert heftig bis in die Nacht hinein, wagt diese Linie oder jene Farbe, behaut Marmor oder knetet Lehm, aber das Leben selbst, dieser Grundstoff ohne Rahmen und Verzierung, was ist es? All das ist wie ein hübscher Schaum, opalfarben oder zitronengelb oder von egal welcher aufgestäubten Farbe, der etwas verdeckt, was darunter so grau bleibt, so fahl, so miserabel im Grunde (die Kultur? Eine Art Schaum, den man aufwirbelte und der obendrauf liegt44, sagte sie), oder sonst besteht das Leben aus nichts weiter als einem Pinsel oder Meißel, irgendeinem Instrument, und der Rest ist ein Nichts, das zwischen zwei Pinselstrichen umherschlendert. Wo war das wahre Leben? Diese Farbe, so warm, so vibrierend, die auf mancher Leinwand aufleuchtete, nicht oft war sie auf dem Gesicht dessen zu finden, der sie malte, im Gegenteil: sie brauchte nur ihre Augen zu öffnen, und schon sah sie eine andere Geschichte, manchmal sogar eine merkwürdige Geschichte, als seien die Gesichtszüge durchsichtig geworden und als würden sich andere Linien mit wechselnden Farben abzeichnen, nicht immer schön, manchmal dunkel oder sogar so, als habe einer seinen Kopf in düsterem Nebel verloren, und manchmal nahmen die verschiedenen Gesichtsteile unterschiedliche Farben an, je nach der Stimmung dessen, der den Kopf trug, und das Ganze ergab ein aus groben Kontrasten und schmutzigen Farben zusammengesetztes Bild, das in nichts dem schönen Gemälde des Künstlers glich. Hätte Mirra gewagt zu malen, was sie sah, hätte sie vielleicht einen “realistischeren” Picasso dargestellt als Picasso selbst. Aber Picasso war noch nicht bei seinen “Harlekins” angelangt. Der Bewußtseinszustand, in dem sich die Person befindet, die ich betrachte, ändert für meine physischen Augen deren körperliches Aussehen. Die Augen sind nicht ganz die selben, auch nicht der Rest des Gesichts, selbst die Farbe und die Form… In ein und demselben individuellen Aggregat sind verschiedene Elemente vorhanden, und nicht nur das, es ändert sich auch ständig: die Proportion der Vibrationen ändert sich. Nur das Aussehen bleibt gleich, aber das ist sehr äußerlich. Und ihr Zustand zeigt sich – wenn du wüßtest, was man da sehen kann!… Eine unzählige Menge von Formen, Gesichtern, Ausdrücken, es ist wie das Skizzenbuch des feinsten Humoristen, den man sich vorstellen kann, und das dreht sich die ganze Zeit, es ist wirklich sehr amüsant. Aber es ist nicht von jemand Strengem oder Bösartigem gesehen, ganz und gar nicht, sondern von jemandem, der sehr subtil ist – sehr subtil – mit einem bewundernswerten Sinn für Humor und einer charmanten Ironie. Es wimmelt, es wimmelt… und die Leute, so eng in ihrem Hautsack eingesperrt, machen den Eindruck von etwas völlig Künstlichem und Hartem – hart, trocken und künstlich und exakt. Warum kann dann dieses Bild hier nicht so schön sein wie das andere? Warum soll das Leben minderwertiger sein als das, was man malt, ein glücklicher Pinselstrich mitten im dunklen “Tümpel”? Und schließlich erschien es ihr interessanter, diese menschliche Materie zu modellieren, als eine Leinwand zu kolorieren, so wenig ähnlich dem Modell. Wie wäre es, wenn wir dieses Bild veränderten? Wenn wir ein schöneres Bild daraus machten? In der Tat, Mirras höchste Ethik war eine Art Verlängerung der Ästhetik – die Griechen hatten nichts anderes entdeckt. Nur wissen wir nicht, ob deren Apollos nicht dieselbe Misere verdeckten.
Mirra hatte es nicht gern, wenn man mogelte. Ehrlichkeit beginnt mit den Farben der Gedanken.
Sie wird dieses Künstlerleben genau sechs Jahre lang leben, bis 1908, als sie sich von Morisset scheiden ließ; übrigens als Picasso begann, seine “Harlekins” zu malen – ein Zufall? Diese Künstler waren in vieler Hinsicht ein Brachland, bemerkte Mutter… Wenn man den Künstler bei seiner Arbeit sah, lebte er in einer wunderbaren Schönheit, aber sah man den Herrn bei sich zu Hause, bestand nur eine sehr begrenzte Übereinstimmung mit dem Künstler, der er war, und im allgemeinen wurde er sehr vulgär, sehr gewöhnlich45. Wir wissen nicht, ob diese Bemerkung auf Morisset zutraf, von dem sie nie sprach, jedoch nicht speziell auf ihn. Schon empfand sie diese Teilung des Wesens – aller Wesen – als zutiefst schockierend: die Kluft zwischen Kunst und Leben, zwischen dem, was man ist, und dem, was man macht, zwischen dem Ideal und dem praktischen Alltag. Die ewige Teilung von Materie und Geist. Denn der “Geist” beginnt nicht ab einer bestimmten Höhe, und Tatsache ist, wenn er nicht in der gewöhnlichsten, banalsten Handlung zugegen ist, wird er nirgendwo wirklich zugegen sein oder ständig Gefahr laufen, von der ersten unbeachteten Banalität zerstört zu werden. Die Macht der “Banalität” ist eine der erstaunlichsten Entdeckungen, die uns bevorsteht, sofern wir noch nicht gesehen haben, daß der Reihe nach alle unsere Zivilisationen und sämtliche Triumphe unseres Geistes oder der Wissenschaft und schließlich unser eigenes Leben, unser Körper, alle unter dem banalsten Vorwand zusammenbrechen – der eines ganz kleinen Schocks des “Zufalls”, eines Staubkorns, einer unbeachteten Lappalie, einer jener Millionen von Belanglosigkeiten, in die wir uns nicht bemühten, den Geist einfließen zu lassen, und die das Leben überfallen und zuletzt verschlingen. Nur, da wir 40 oder 60 Jahre lang brauchen, um dieses winzige Nichts zu bemerken, das alles niederreißen wird, bleibt es in der Zwischenzeit “wie nichts”, und wir gehen von hier nach dort in einer Menge kleiner wimmelnder und stiller Toten, die auf ihre Stunde warten. Ich erinnere mich (möge man diese Ausschweifung verzeihen), eines Tages jemandem, der sich über seine Schwierigkeiten beklagte, eine schöne Rede gehalten zu haben: es genügt, “das kleine Biest zu ertränken”, indem man es an seinen mikroskopischen Platz rückt, da, vor dem Meer, das sich bis Malaya und zum Pazifischen Ozean erstreckt, unter den kreisenden Galaxien – eine Mikrobe in der Ewigkeit von Zeit und Raum. Und das kosmische Bewußtsein ist effektiv ein ausgezeichnetes Mittel, das kleine Biest zu ertränken. Aber das kleine Biest rächt sich – es ertrinkt nie. Und diese Person antwortete mir recht einfach: “Ja, aber die Galaxien bestehen aus Mikroben.” Und werden von ihnen aufgelöst. In der Tat, solange wir nicht den Geist bis in die letzte Mikrobe gebracht haben, werden wir sterben und weiter sterben, und vielleicht sterben alle unsere Zivilisationen, eine nach der anderen, um diese Lehre zu erfahren.
Wir sind nicht hier, um “Zivilisationen” zu schaffen, sondern um eine neue Art, die Materie zu berühren, zu finden – nicht mehr mit Gedanken, Krallen oder einem Rüssel, sondern diesmal mit etwas anderem.
Mirra war zu “materialistisch”, oder zu sehr Geliebte der Materie, um diese Teilung zu tolerieren, um nicht überall Geist hineingeben zu wollen, oder eher den Geist überall zu befreien, denn sie sah überall dieselbe Gesamtheit des Bewußtseins fließen. “Die beiden Pole vereinigen”, wird sie es nennen. Das Universum wurde für nichts anderes geschaffen als dafür, die beiden Pole zu vereinen, die beiden äußersten Gegensätze des Bewußtseins. Und wenn wir sie vereinen, erkennen wir, daß die beiden Extreme genau dasselbe sind: ein Ganzes, das einzigartig und zugleich vielfältig ist46. Im fernen Kalkutta entdeckte Sri Aurobindo, voll aktiv in seiner revolutionären Bewegung, die gleiche Wahrheit und experimentierte mit der Unendlichkeit des Geistes, selbst inmitten der heftigsten oder banalsten, alltäglichen Handlung: Die meisten Religionen, wird er schreiben, haben die Materie verdammt und lehnen das körperliche Leben ab oder machten daraus ein vorübergehendes, resigniertes Durchhalten, einen Prüfstein der religiösen Wahrheit und Spiritualität. Die älteren Glaubensbekenntnisse, die geduldiger, in tieferer Versunkenheit, noch unberührt waren von der Qual und fiebrigen Ungeduld der Seele unter der Bürde des Eisenzeitalters, machten nicht diese scharfe Trennung: sie erkannten die Erde als unsere Mutter und den Himmel als den Vater und schenkten ihnen in gleicher Weise Liebe und Respekt; aber die alten Mysterien sind dunkel und unergründlich für unsere Augen. Sei unsere Vorstellung materialistisch oder spirituell, sie begnügt sich gleicherweise damit, den gordischen Knoten des Problems der Existenz mit einem Schlag zu zerschneiden und akzeptiert die Flucht in eine ewige Glückseligkeit oder das Ende einer ewigen Vernichtung oder irgendeiner ewigen Ruhe47.
Ich erinnere mich dieses vortrefflichen Verses von Sri Aurobindo:
Sie fesselten den Geist an goldene Pfeiler der Glückseligkeit48.
Und die anderen fesselten die Materie an den schwarzen Pfeiler des Todes. Denn das Dogma der einen: “Man geht in den Tod”, ist genauso falsch wie das Dogma der anderen: “Man kommt in den Himmel”. Man “geht” weder in den Tod noch in den Himmel, man ist in etwas anderem, weder in der Materie, so wie wir sie mit unseren Augen der mentalen Raupe sehen, noch im Himmel, so wie wir ihn in unserem Geist sehen – etwas, das unser nächstes Paar Augen entdecken muß. Es ist gut möglich, daß der Tod unser letztes zu zerstörendes Dogma bleibt. Aber dafür muß man in eine gewisse mikroskopische, zellulare “Banalität” hinabsteigen, die wir bis jetzt völlig übersahen, zugunsten von Bildern, die mehr schillerten. Denn der Tod beginnt ebensowenig bei rigor mortis wie der Geist auf einer bestimmten Höhe.
Sri Aurobindo und Mutter bedeuten die ganze Geschichte einer neuen Beziehung zwischen Geist und Materie. Die Entdeckung einer dritten Größe, die sowohl Geist als auch Materie ändert und eine Tür zu einer neuen Spezies auf der Erde öffnet.
Wie wird Mirra es angehen? Welchen Weg wird sie einschlagen?… Das ist schwer zu sagen. Sie wußte es vielleicht selber nicht genau: Zweifellos muß mein Weg unberührt sein, selbst für mein Denken, wird sie bald notieren. Es ist sehr bequem zu sagen: erstens, zweitens, drittens… zuerst tat sie dies, dann das, soundsoviele Übungen, soundsoviele Meditationen – und das Ganze ergibt einen netten Weg in einer Schachtel. Aber wie immer hüpfte sie schalkhaft nach rechts, dann nach links, einen Sprung nach vorne, einen man weiß nicht wohin – um alle Welt zu verwirren. Oder vielleicht um unseren Kopf zu verwirren, der sich einbildet, der Yoga sei eine Art Übung, wie Hanteln, Geometrie oder Segeln. Übrigens wußte sie nichts von Yoga, nie hatte sie von diesem Exemplar reden gehört, und was die “Übungen” betraf, nun, das ganze Leben war ihre Übung, und der Weg verlief bei ihr in alle Richtungen, ohne sich zu teilen. Wir könnten auch versuchen, Mutter auf einem Umweg einzufangen, aber sie würde uns auslachen und wäre bereits woandershin entschwunden… Eine schwierige Aufgabe für ihre gegenwärtigen und zukünftigen Biographen, wenn sie nicht in das lächerliche “Mutter sagte…”, “Mutter tat…” verfallen wollen – sie hat alles gesagt, selbst die widersprüchlichsten Dinge, und alles getan, selbst die unerwartetsten Dinge: Mein Bewußtsein ist unabänderlich ein Bewußtsein der Tat. Es ist immer die Tat – die Tat, die Tat, die fortwährende Tat. Im Grunde eine beständige Schöpfung. Ich könnte ein Gelehrter, ein Schriftsteller sein, so wie ich auch ein Maler hätte sein können – aber zu alledem hatte ich nie die Geduld. Es war immer “etwas”, das zu schnell vorbeiging, zu hoch, zu weit.
Zweifellos zu schnell für Morisset, und ihre Wege trennten sich, ruhig, ohne zu verletzen, als gute Kameraden, bis er wieder heiratete… zufällig eine Freundin Mirras. Über ihn wissen wir wenig, höchstens, daß er ungläubig war wie der ganze Rest der heiligen Bande, und daß er ein Lebemann war, mein Gott, vielleicht ein wenig oberflächlich und bestimmt wenig geneigt, das in seinem Leben anzuwenden, was er in seine Bilder legen wollte. Sie hatte nie versucht, ihn zu “bekehren” oder zu überzeugen. Es widersprach völlig ihrer Natur, andere zu überzeugen; ganz spontan hatte sie das Gespür für eine völlige Freiheit: Ich habe den Eindruck, daß die Welt nur wahr sein kann, wenn sie völlig frei ist. Und mit ihrer entwaffnenden Einfachheit antwortete sie später denen, die ihr den Vorwurf machten, sie sei nicht streng genug mit einigen eigensinnigen Schafen: Das Göttliche verwirklicht sich in jedem auf verschiedene Weise – sonst gäbe es nur eine Person! Und als Morisset die Augen schloß, um woanders hinzuscheiden, war sie es, an die er dachte, und sie, die er um Verzeihung bat. So muß jeder seinem eigenen Weg folgen, und die anderen haben sich nicht einzumischen49. So einfach ist das.
Einfach aber schwierig, wenn man ehrlich ist.
Sie hatte indes einen Sohn bekommen, André, der auch “Politechniker” werden wird (eine Familienkrankheit). Sie war genau 20 Jahre alt. Aber das war nicht, was sie vom Leben erwartete, auch nicht das, was sie sich von Morisset erhoffte: Ich hatte immer von einer großen gegenseitigen Liebe geträumt, die frei wäre von jeder animalischen Aktivität, wird sie später einen ihrer literarischen Helden sagen lassen; etwas, das die große Liebe, die am Ursprung der Welten ist, körperlich wiedergeben könnte50. Aber Mädchen und Jungen in die Welt zu setzen… ich fühlte mich körperlich nie sehr mütterlich. Es gibt Millionen von Leuten, die das tun, warum also wieder damit anfangen? Nein, wirklich, dafür wird man nicht geboren.
Das, wofür man geboren wird… Man ist sich selbst ein Geheimnis, eingeschlossen in einen Hautsack, mit einem Vater, mit einer Mutter, bald mit Geometrie und Gesetzen, Geschichte, einer Menge Geschichten – aber wo ist unsere Geschichte? –, Freunde, Familie, bald einen Beruf – welcher Beruf? –, eine Frau und Kinder, die die Geschichte wieder von vorne anfangen… die wir nie begonnen haben – und wo haben wir eine Sekunde begonnen, eine einzige kleine, uns eigene Sekunde, die nicht die Geschichte des Großvaters und des Urgroßvaters und der Freunde der Freunde ist mit dem einzigen Unterschied eines Füllfederhalters oder eines Stetoskops, einer Frau in Braun, einer Frau in Weiß, die die Geschichte der Großmutter und der Freunde wieder von vorne beginnen, mit dem Unterschied einer Religion oder eines Strohhuts und einer Menge kleiner Bibliotheken, die die nie begonnene Geschichte wieder erzählen. Man hüllt uns in 23000 Mysterien, bevor wir Zeit hätten, uff zu sagen! Denn ehrlich gesagt, das Mysterium gibt es nicht, es ist dasjenige, was man uns auflud, mit dem Vater und der Großmutter, der Geographie und den Gesetzen. So glauben wir, man müsse dies “tun”, jenes “lernen”, und wir laufen Büchern nach, die uns nur erzählen, was andere lernten, die es von anderen lernten, indem sie lediglich ein wenig mehr Mysterien hinzufügten sowie einige Gleichungen, um das große Mysterium, das sie selbst in die Welt setzten, in die Schachtel zu stecken. Wir rennen dem einen Objekt, dem anderen Objekt und Millionen von Objekten nach, um die große Kluft des Subjekts zu füllen, das es selbstverständlich gar nicht gibt, oder wo sollte es sein? Es rennt, es rennt in Millionen von Exemplaren – es rennt etwas nach, das es nicht ist. Es erfindet Uhren, Telefone und hat sich keine Sekunde selbst erfunden. War es auch nur einen Atemzug lang, rein es selbst, ohne die ganze Hülle, die es in Religionen, Philosophien, Farben, eine Fülle von Farben kleidet? Man wird geboren mit einem Schlammtümpel, den es zu säubern gilt51, wird sie sagen. Wissen, Wissen! Ich wußte von nichts, nichts außer von den Dingen des gewöhnlichen Lebens, äußeres Wissen. Ich lernte alles, was mir beigebracht wurde, ich lernte nicht nur, was man mich lehrte, sondern auch das, was man meinen Bruder lehrte, höhere Mathematik und all das. Ich lernte und lernte, und es war nichts. Nichts erklärte mir irgend etwas. Ich konnte nichts verstehen.
Mirra säuberte den mysteriösen Schlammtümpel. Sie wollte darin klar sehen – kein Mysterium, vor allem kein Mysterium! Sie blickte in sich selbst, und sie sah alle die Geschichten der anderen, eine Unzahl Geschichten von Mathilde und dem großen Türken und der Nachbarin der Nachbarin – “das scheußliche Gewirr52”. Es ist, als nehme man Farben – drei, vier, fünf verschiedene Farben – und gießt sie in dasselbe Wasser und verrührt sie dann: das ergibt ein graues, undeutliches, unverständliches Resultat. Man weiß nicht, was rot, was blau, was grün, was gelb ist. Es ist etwas Unsauberes, viele ineinander gemischte Farben. So müßt ihr zuerst die kleine Arbeit verrichten, das Rote, das Blaue, das Gelbe, das Grüne aussortieren, und jedes an seinen Platz stellen53. Im Grunde ist es gut möglich, daß sie, die so viele “Mysterien” in vergangenen Leben durchquerte, in einer solchen materialistischen Banalität geboren wurde, um der Last veralteter Initiationen zu entrinnen und, von den Weisheiten befreit, das höchste Geheimnis des Geistes im Herzen der Materie wiederzufinden. Vielleicht ist es dies, “dem Problem von einem anderen Winkel wieder zu begegnen”. Es gibt große Winkel, es gibt kleine Winkel, Millionen von Winkeln, und schließlich gibt es einen Punkt, von dem alle Winkel ausgehen, so wie der Urknall von einem Atomkern ausging.
Aber zuerst muß die Materie geklärt werden.
Das tat sie überall, in jedem Augenblick, auf der Straße, auf der Treppe zu ihrem Zimmer, bei der geringsten Gelegenheit, in der geringsten Begegnung. Nein, das Leben ist nicht mysteriös, nur wissen wir es nicht zu leben, unablässig rühren wir den Schmutz des Tümpels hoch, auf der Straße und bei allem, dem wir begegnen, und dann wundern wir uns, daß wir darin nicht klar sehen. Wir rühren Gedanken, Gefühle, Reaktionen auf und begegnen niemandem und nichts wirklich, außer unserem eigenen Gewirr, das wir in alles hineinmischen. Wo kann da die exakte Vibration sein, die exakte Wahrnehmung? Ebensogut könnte man von einem Radio erwarten, daß es uns die exakte Wellenlänge wiedergibt, nachdem wir es in Teer getaucht haben. Man badet in allen möglichen Dingen – guten, schlechten, neutralen, leuchtenden, dunklen – all das umgibt euch, und das Bewußtsein jedes Einzelnen soll im Prinzip wie ein Filter wirken… Das ist der eigentliche Zweck der körperlichen Existenz: jeder ist ein Instrument, um einen gewissen Komplex von Vibrationen zu beherrschen, der sein spezielles Arbeitsfeld darstellt54. Und das ist eine wunderbare Sache, die Leute erkennen gar nicht, was für eine unendliche Gnade es bedeutet: daß dieses Universum so eingerichtet ist, daß eine Ansammlung von Substanzen von der materiellsten Substanz bis zur höchsten Spiritualität zu dem vereinigt wurde, was man als kleine Individualität bezeichnet, die jedoch einem zentralen Willen zur Verfügung steht. Dies gehört euch, es ist euer Arbeitsfeld. Es ist, als habe man sorgsam eine gewisse Summe von Vibrationen zusammengebracht, angesammelt, und sie euch zur Verfügung gestellt, damit ihr völlig und ganz daran arbeiten könnt – Tag und Nacht, im Wachen, im Schlaf, ständig. Niemand kann euch das nehmen, es ist wunderbar55! Da ist also all das, was von unten kommt, die alten familialen und angeborenen Gewohnheiten, die mit der ersten geschluckten Muttermilch so “natürlich” entstandenen Reaktionen, die enorme Fabrikation der Erziehung, und dann die Welt der waagerechten Vibrationen, die einkehren wie in eine Wassermühle und die uns nach rechts oder nach links hüpfen lassen – ein höllischer Tanz, verglichen mit dem unser Straßenverkehr geradezu ein ländlicher Traum ist. Und jeden Tag fügt man diesem seltsamen Gemisch neue “Erkenntnisse”, neue Begegnungen, so neue und vortreffliche “Anschauungsweisen” hinzu, aber die ganze Zeit ergibt sich nichts Neues darin, außer einer gigantischen mentalen Geschraubtheit in trüb schimmernden Windungen. Wir machen einen großen Kreis um ein kleines Trapez herum und sind um die Welt gereist. Und dieses Trapez ist nicht einmal unser eigenes Werk – was stammt denn von uns in alledem? Vielleicht eine kleine unbeachtete Sekunde, die wir nicht einmal bemerkten, wie ein kleines Lächeln für ich weiß nicht was.
Nein, es gibt keine auserlesenen Talente, ebensowenig wie auserlesene Visionen: es gibt klare Instrumente oder gestörte Instrumente.
Und wenn es ein wenig klar ist, dann… dann beginnt das große Interesse an der Welt, dann beginnt “jemand” da drinnen sein Auge zu öffnen – ein sehr frisches, sehr klares Auge, als würde es die Welt zum ersten Mal sehen. Dann ist nichts mehr mysteriös. Man ist aus dem ganzen mysteriösen Schlamassel heraus. Man lernt das große Buch der Welt zu lesen wie Mirra in ihrem Kinderstuhl oder mit den Bäumen von Fontainebleau: Noch hatte mir niemand etwas über Meditation oder wie man meditiert gesagt. Ich setzte mich unter diese großen Bäume, ich fühlte mich innerlich sehr ruhig und konzentriert und verlor beinahe das Empfinden für die äußere Welt und spürte eine sehr intime Verbindung mit den Bäumen, und ich war glücklich. Es gibt Bäume, deren Freundschaft mit dem Menschen sehr intim wird. Sie haben eine große Zuneigung, und ihre Großzügigkeit, Schutz zu bieten, ist vielleicht um vieles größer als die des Menschen. Wenn ihr ihnen gegenüber offen seid, könnt ihr sehr gut die Vibrationen ihrer vitalen Kraft fühlen56. Man lernt eine neue Art von Lebensfluß kennen, der überall in alles dringt, alles ohne Teilungen in Zeit und Raum verbindet – es ist unmittelbar da. Man kann den Fluß als ein gutes Symbol des Lebens nehmen, erklärte Mutter, das Konstante im Fluß ist die Spezies “Wasser”: es ist nicht immer der gleiche Tropfen Wasser, aber es ist immer Wasser – ohne Wasser gäbe es keinen Fluß. Und das, was in einem menschlichen Wesen fortdauert, ist die Spezies “Bewußtsein”57. Losgelöst aus seiner mentalen Verkleidung und dem abscheulichen bunten Gewirr “unserer” Gefühle, “unserer” Reaktionen, unserer unzähligen “Unseren”, die nicht unser sind, fließt die Spezies Bewußtsein völlig klar und überbringt ihre unzählbare Botschaft. Man merkt, daß es eine Kraft ist, ebenso konkret wie elektrische oder magnetische Ströme, und sie läßt sich genauso greifbar handhaben: man lenkt den Strahl, sendet ihn, unterbricht den Strom; man läßt ihn fließen, wo und wie man will. Und man empfängt, was man will: man sieht die Vibrationen kommen – helle, dunkle, von Sympathie, Haß, Krankheit oder Unfall. Dieses Unterscheidungsvermögen zwischen Vibrationsqualitäten ist ein ganzes Lernfeld, und darin liegt keine Moral mehr, jene scheußlichen Tigerstreifen der Tugend und Sünde58, wie Sri Aurobindo es nennen wird, derselbe Teufel in Schwarz oder in Weiß: es gibt nur “konstruktive Vibrationen” und “zerstörerische Vibrationen”, die direkte Vibration und Vibrationen in absurden und völlig unnötigen Windungen. Anstatt in das Gewimmel waagerechter Vibrationen verwickelt zu werden, lernt man, davon befreit, die ganze Welt der senkrechten Vibrationen wahrzunehmen und zu empfangen; man lernt, seine Antenne über die kleine Schädeldecke hinauszustrecken, und entdeckt eine Welt nach der anderen, eine Ebene nach der anderen, jene Vibrationen, welche Welt, Menschen und Geschehnisse bewegen: Ich habe sogar Kenntnisse, die ich gar nicht habe! rief Mutter eines Tages aus. Ja, alles ist da. Man braucht nur aus dem großen Fluß der Shakti zu schöpfen. Und auf ihre humorvolle Art wird sie zusammenfassend sagen: Der Unterricht ist ein Versuch, das Bewußtsein durch eine innere Bibliothek zu ersetzen!
Wo bleibt letzten Endes die Misere, wenn alles weiträumig ist? Die einzige Misere ist die, klein und in einem Körper eingeschlossen zu sein.
Und schließlich sind wir aus unserem mentalen Hautsack herausgekommen – oh, wir könnten ebensogut sagen aus dem “mentalen Zirkus”, und er ist sehr nett, der Zirkus, mit seinen mehligen Clowns, seinen Tänzerinnen, seinen Akrobaten, die ausgezeichnete Trapezsprünge vollbringen: man kann nicht genug bekommen von dem Spektakel, von dieser wunderbaren Geschicklichkeit, von ihren Sprüngen durch flammende Ringe, diesem Jonglieren, das einen sprachlos macht… Und dann verläßt man das Zelt – dieses riesige Zelt, so brillant erleuchtet… mit Azetylen – und es war nichts als ein kleines Zelt in einer Immensität. Man kann fünfzig Jahre seines Lebens darin spielen, man kann Jahrhunderte lang darin spielen. Man hält sich, ja, für einen Trapezkünstler, einen Possenreißer, einen Kunstreiter, man bildet sich ein, jemand zu sein, ein Junge, ein Mädchen, ein Mann, eine Frau, ein Hund, ein Pferd, egal was, ein Stein, das Meer, die Sonne, man hält sich für all das, anstatt sich für das einezu halten59. Und hier beginnt das ganze Mysterium.
Das “einheitliche Feld” ohne Gleichungen.
Im Jahr 1905 legte Einstein seine ersten Gesetze über die Gleichwertigkeit von Materie und Energie nieder.
7. Kapitel: Die Wahre Wirklichkeit
Sie drang allein in eine Welt geborstener Erscheinungen. Diejenigen, die mit ihren Farben oder ihrer Wissenschaft das erste Sturmgeläute ertönen ließen, kannten selbst nicht den Sinn ihres Tuns. Wir schreiten blindlings in den Wald der Zukunft, während die Zukunft schon gegenwärtig ist und unsere Hände und Schritte antreibt. Sie war dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre alt, und sie ging allein und furchtlos in verschiedene Welten zugleich, tags und nachts, und die Materie, die sie läuterte, schien immer tiefer durch uhrenlose Zeiten und ungezählte Räume in eine seltsame Geographie zu tauchen, in der Vergangenheit und Zukunft ineinanderflossen und diese solide Materie unter mächtigen Strömungen auf- und niederwogte und nur eine kleine, dünne Kruste unversehrt zurückließ, nichtssagend, beinahe trügerisch und dennoch für ihre materialistische Seele so zwingend notwendig, als enthielte dieses verirrte Sternenkorn den Schlüssel zu allen anderen Gestirnen, als enthielte diese vibrierende kleine Zelle die Kraft selbst, die alle Welten kreisen läßt, als enthielte diese zwanglose kleine Geste, diese flüchtige Lappalie das äußerste Ereignis, in dem alle Verknüpfungen der anderen Welten sich lösen und verknoten. Eine entscheidende kleine Veranschaulichung von “Etwas”, dessen Gesetze und wahre Bewegung sie tastend suchte. Ohne Zweifel hatte “Gott” sie mit der Unkenntnis des Buddhismus gesegnet, sonst wäre sie vielleicht der großen illusionistischen Maya verfallen. So aber ging sie voran, unbelastet vom Wissen um irgendeinen “Ismus”, unschuldig und allein, mit allseits geöffneten Augen – denn warum sollte die Lebensweise mit offenen Augen falscher sein als die mit geschlossenen? Und wer weiß, nichts war absolut wahr auf irgendeiner Seite außer etwas in ihrem Herzen, das inmitten von allem strahlte, Tag und Nacht, in der Banalität oder im Wunder, in der Katastrophe oder Nichtkatastrophe, und das weiter und weiter vorwärts trieb auf der Suche nach der wirklichen Wahrheit der Materie und des Geistes. Ich habe im Leben die verschiedensten Erfahrungen durchlebt, immer mit dem Gefühl von einer Art Licht, das so unberührbar, so vollkommen rein ist (nicht im moralischen Sinn, sondern rein Licht), daß es durch alles gehen konnte, sich allem geben konnte, ohne jemals mit etwas vermischt zu werden. Schon als ganz kleines Kind fühlte ich diese Flamme – eine weiße Flamme. Nie empfand ich Ekel oder Verachtung, und ich fühlte mich von nichts und niemandem abgestoßen. Immer war es so: eine weiße Flamme – weiß – weiß, so weiß, daß nichts sie daran hindern konnte, weiß zu sein. Und was konnte dem Angst machen? Welche Maya konnte dem widerstehen, welches Paradies oder welche Hölle der zwölf Welten? Oder der dreizehnten, der unsrigen, die vielleicht noch nicht das ist, was sie wirklich ist. Wenn sie geworden ist, was sie wirklich ist, werden die dreizehn Welten vielleicht eine einzige sein in einer Zeit ohne Misere und in einem Raum ohne Stöße – und in einem unsterblichen Körper.
Wir sagen, Mirra war auf der Suche nach dem wahren Gesetz der Materie, dem wahren Lauf des Lebens, aber im Grunde dreht sich alles unmerklich um ein einziges Problem und um eine einzige Tatsache: die Tatsache, daß man stirbt oder zumindest der Körper stirbt. Solange wir nicht den Schlüssel des Todes gefunden haben, werden wir weder über den Schlüssel des Lebens noch über den der Materie verfügen. Es ist eigenartig, um wirklich zu verstehen, was die Materie ist, müssen wir verstehen, was der Tod ist, als ob unsere Art, die Materie zu sehen, auch den Tod verursacht. Die beiden zusammen. Keine spirituelle oder wissenschaftliche Revolution wird irgend etwas revolutionieren, solange wir nicht die Revolution gegen den Tod unternommen haben. Diese Seite und alle Seiten der Welt sind voneinander getrennt durch eine einzige Lücke, die bewirkt, daß das Leben und die Welt sich in einem Körper auf eine gewisse Weise verhalten und ohne Körper auf eine andere Weise – zwei Weisen, getrennt durch einen Körper, der stirbt. Der vielleicht stirbt, weil er nicht die Art und Weise gefunden hat. Die wahre Weise finden heißt, das wahre Gesetz des Lebens und der Materie zu finden – die Lücke zu füllen, die das Leben hindert, wirklich Leben zu sein und etwas anderes als die Beute des Todes, und die die Materie hindert, wirklich das zu sein, was sie ist – denn wir wissen nicht, was sie wirklich ist, außer durch unsere Mikroskope und Teleskope, die schwerlich intelligenter sein können als wir selbst oder nur eine Verlängerung unserer eigenen Intelligenz darstellen: dasselbe schwarze oder goldene Netz bis ins unendlich Kleine fortgesetzt, dasselbe Paar Brillen, das sich selbst auf andere Weise ansieht – wo aber ist die Weise? Die Weise, die alles ändert. Würden wir nur ein einziges Mal das wahre Fenster der Materie öffnen, dann wäre sie ebenso radikal verändert wie an jenem Tag, als das Fenster des Mentals dasjenige des Affen ersetzte.
Drüben in Kalkutta sah auch Sri Aurobindo – wie Mirra – die äußere Erscheinung bersten, und bald schrieb er: Heutzutage weiß jeder, daß die Wissenschaft nicht die Wahrheit der Dinge darlegt, sondern nur eine Sprache ist, um eine gewisse Erfahrung der Objekte, ihrer Struktur, ihrer Mathematik zum Ausdruck zu bringen, ein zusammenhängender und brauchbarer Eindruck ihrer Abläufe – nicht mehr. Die Materie selbst ist etwas (eine Energiebündelung vielleicht?), dessen Struktur wir nur oberflächlich kennen, so wie sie unserem Mental und unseren Sinnen und gewissen Untersuchungswerkzeugen erscheint (die inzwischen im Verdacht stehen, ihre Resultate weitgehend selbst zu bestimmen, indem die Natur ihre Antworten dem benützten Werkzeug anpaßt), aber mehr als das weiß kein Wissenschaftler und kann es auch nicht wissen60.
Diese Suche begann Mirra Schritt für Schritt und setzte sie Tag für Tag und Nacht für Nacht bis zu ihrem fünfundneunzigsten Lebensjahr fort. “Visionen zu haben”, interessierte sie nicht besonders, jedenfalls nicht mehr, als zu beobachten, wie die Gesichtszüge des einen oder anderen ihre Linie oder Farbe wechselten oder wie Gegenstände in eine andere Dimension tauchten. Eine “andere” Dimension, wo aber ist die wahre Dimension? All das interessierte sie nur, insofern es etwas an der Materie und deren Organisation ändern würde und endlich etwas für die Welt tun konnte, für diese Welt hier, in der sie sehr konkret voranschritt. Eine der wesentlichsten Charakteristiken Mutters und Mirras ist ihr Pragmatismus. Was sie sah, versuchte sie weder in eine Philosophie noch in ein System umzusetzen sondern in ein Mittel zur Tat. Nie reizte mich diese Art, mit dem Kopf zu verstehen, das interessierte mich nicht – mich interessierte das Resultat: Wie änderte es mich innerlich, was änderte sich an meiner Haltung der Welt gegenüber, wie änderte sich meine Einstellung der Schöpfung gegenüber? All das interessierte mich schon als Kind. Wie kam es, daß sich meine Beziehung zu dieser ganzen kleinen Welt, die Kinder um sich herum haben, änderte, nachdem etwas scheinbar völlig Gewöhnliches geschehen war? Alles ringsum war vollkommen anders. Und immer war es das gleiche: anstatt sich erdrückt zu fühlen von etwas, das dir auf dem Kopf lastet und dich wie ein Esel den Weg entlang trotten läßt, stehst du darüber, betrachtest es mit einem Lächeln und fängst nach und nach an, dich zu ändern – das was krumm ist, warum es nicht gerade rücken? So wie man eine Schublade aufräumt.
Um das Geheimnis der Materie zu finden, müssen wir sie erst beherrschen, das ist klar. Niemand kann Auskunft darüber erteilen, was ein Gefängnis bedeutet, ohne ihm entkommen zu sein. Ebensogut könnte man ein Mikroskop in die Mauern der St. Annen Klinik stoßen, um ihre Realität zu finden. Und wie funktionieren überhaupt die Sinne, die Augen, die durch das Mikroskop schauen? Sie machte Hunderte von Erfahrungen jeden Tag, bei jedem Anlaß und vor allem ohne Anlaß, und es würde uns schwer fallen, in diesem Hin- und Herhüpfen eines seinem Käfig entronnenen Vogels auswählen zu müssen. Dennoch haben wir Glück, daß sie sich an ein Erlebnis besonderer Art erinnerte, das uns die Richtung oder zumindest eine der Richtungen zeigt, in die ihr Suchen floß: Mehrere Tage war ich bettlägrig und fand das sehr langweilig – ich wollte sehen. Neben meinem Zimmer lag eine kleine Kammer, und hinter dieser Kammer begann eine Art Brücke, die in der Mitte des Gartens in eine Freitreppe überging, die in ein geräumiges und sehr schönes Atelier hinabführte, das mitten im Garten eingerichtet war… Es war das Atelier in der rue Lemercier. So blieb ich sehr ruhig, schloß die Augen und entsandte mein Bewußtsein nach und nach, nach und nach61. Man konzentriert sein Bewußtsein und erweitert es sozusagen (es ist wirklich, als würde man es auf diese Weise fast materiell verlängern) und man geht den ganzen Weg entlang und kommt alsbald ins Atelier. Wenn man es richtig macht, dann sieht man, was sich im Atelier befindet, hört, was darin vorgeht, ohne selbst dort zu sein: der Körper liegt im Bett in einem anderen Zimmer, aber das Bewußtsein wird projiziert. Es ist ein physischesBewußtsein – nicht ein innerer Zustand, denn man sieht physisch, hört physisch: wenn sich Leute im Raum befinden, sieht man sie, und wenn sie sprechen, hört man sie… Das ist eine Art Übersinn, das heißt, ein Sinn, der einen solchen Grad von Intensität und Feinheit erreicht hat, daß er genau spüren kann, was der gewöhnliche Sinn nicht fühlt: in der Ferne sehen, wirklich sehen – physisch sehen –, durch die Wände62. Dieser “Übersinn” ist Bewußtsein. Denn letztlich gibt es nur einen Sinn, das Bewußtsein. Aus evolutionärer Bequemlichkeit nahm es die Gewohnheit, sich der Augen, der Ohren und so weiter zu bedienen, dabei handelt es sich aber nur um eine Art evolutionärer Trägheit, wie wir es nennen möchten, ein Sichherablassen vielleicht, das die Mittel des evolutionären Babys, das wir sind, vorläufig akzeptiert und fest daran glaubt, daß man ohne Augen nicht sehen, ohne Ohren nicht hören und ohne Körper nicht leben kann. Und weil es daran glaubt, ist es so. Wenn es aufhören würde, daran zu glauben, könnte es sehr wohl anders sein. Wenn wir aufhörten, an den Tod zu glauben, wäre er vielleicht auch völlig anders. So viele Gewohnheiten sind zu ändern: Das Gefängnis der tausendjährigen Gewohnheiten63, sagte sie.
Ganz allein entdeckte sie erneut, was die alten Weisen wußten, jenes Sanjnana aus den Sanskrittexten, das Sri Aurobindo auf seine so klare Weise definierte: Die Sinnesempfindungen beruhen im Grunde nicht auf dem Wirken gewisser Körperorgane, sondern sind die Berührung des Bewußtseins mit seinen Objekten, sanjnana64. Als Kinder der Evolution vergessen wir ständig das Grundgesetz, das uns den Schlüssel aus unserem Gefängnis in die Freiheit geben könnte, nämlich zu wissen, daß die Welt eins ist, ein unmittelbares Ganzes ohne Trennung, in das wir Termitenhügel, Panzer, Schädeldecken gemeißelt haben, aber all das steht unmittelbar miteinander in Verbindung wie ein einziger Körper – wir sind ein einziger Weltenkörper, also ist es nicht viel erstaunlicher, mit New York, Hongkong oder dem Atelier in der rue Lemercier in Berührung zu kommen als mit der Schramme an unserem kleinen Zeh, oder daß diese kleine Zelle jene andere Zelle innerhalb desselben Körpers kennt. Wir haben uns in einen Käfig gesperrt und behaupten, so sei das Gesetz. Ja, das Gesetz unseres Käfigs, aber nicht das Gesetz der Welt und nicht das der Materie.
Das Bewußtsein erweitern ist ein erster Schritt, von physischen Instrumenten unabhängig sein ist ein weiterer, und die Unabhängigkeit vom Körper ist ein letzter Schritt. Sri Aurobindo nannte diesen Körper eine “Relaisstation”. Aber was überträgt er? Mirra war schon seit langem unabhängig von ihrem Körper, “einfach so”, ohne es zu wollen oder zu suchen. Er war eine Art abtrennbares Objekt, das sie jederzeit ablegen konnte, um anderswo zu spazieren – aber wo anderswo? Es gibt viele “Anderswo”, und Mirra war an ätherischen Spaziergängen ebensowenig interessiert wie an Visionen, wenn diese ihr nicht ermöglichten, die Materie, ihren vorrangigen Arbeitsbereich, besser zu kennen und besser auf sie einwirken zu können – warum sonst einen Körper annehmen, nur um ihn wieder zu verlassen oder wenn sie anderswo hätte besser leben können? Das ist einfach und logisch. Man könnte sich überhaupt fragen, warum so viel Aufhebens um die Paradiese und transzendentalen Glückseligkeiten gemacht wurde, wenn sie nur der Beseligung dienen, während der Rest verrottet. Immer hat sich das Walten der Natur als klug erwiesen, und wenn sie diesen Käfig erbaute, mag nach und trotz alledem etwas darin stecken, das es anderswo nicht gibt – unser Materialismus erweist sich immer als der beste Prüfstein. Nur sollten wir nicht einen “abwärtsgerichteten Materialismus”, sozusagen einen Materialismus des Todes kultivieren, sondern einen aufwärtsstrebenden Materialismus, der sich der Materie bemächtigt und etwas anderes aus ihr hervorbringt als Telefone und die ganzen Kinkerlitzchen, sogar etwas anderes als Supergemälde oder Supersymphonien, die noch immer ein Lied von anderswo sind. Mirra wollte, daß dieses Anderswo hier sei, bis in diese Materie und die Zellen dieses Körpers hinein. Sie war einfach und integer: wenn es ist, dann ist es immer und jeden Tag oder überhaupt nicht; schläfrige Glückseligkeiten oder Andachtsmessen am Sonntag waren nichts für sie. Ein Tag, das bedeutet 1440 Minuten und eine bestimmte Anzahl von Sekunden. Zuerst aber muß man die wirkliche Funktionsweise des Käfigs kennen, den “Mechanismus”. Und diese Materie erschien ihr immer geheimnisvoller und “plastischer”, ähnlich der Energie, wie Einstein sie sah, oder der Wellenteilchen, die Louis de Broglie entdeckte – dieser Körper, der stirbt, warum stirbt er? Denn alles übrige lebte vor ihren Augen bestens weiter, mit oder ohne Körper und auf sehr plastische Weise. Sie befaßte sich weder mit Philosophie noch mit irgendeinem Ismus, egal welcher Art: Ich glaubte nur an das, was ich sah, was ich berührte.
Sie sah die verschiedensten Dinge, zunächst alle diese Welten oder Bewußtseinsebenen von der materiellsten Materie – vielleicht ohne daß man weiß, wo die Materie beginnt und wo der Geist endet – bis hinauf in immer weiträumigere, immer “ätherischere” Bereiche, in denen es sich sehr angenehm leben ließ und wo das Bewußtsein fast zu entschwinden schien – aber auch hier, was bedeutet dieses Entschwinden? Eine Grenze? Oder unsere eigene Begrenztheit? Ein Superkäfig? Oder was? Sie begann sich in allen diesen Welten zurechtzufinden und “mit viel Geschicklichkeit” von einer zur anderen überzugehen, so wie man Kleider wechselt, immer leichtere, immer weiträumigere, während dieser physische Körper hier unten am Ende des langen Fadens, einem dünnen “Lichtfaden” zurückblieb – tief “schlafend”, in um so tieferem Schlaf, je weiter sie sich “entfernte”, beinahe kataleptisch schließlich. Das Leben, der Tod lag nur in diesem Faden, und nichts starb in Wirklichkeit, außer dem kleinen Ding am anderen Ende des Fadens. Sie hatte keine Angst, sie hatte nie Angst vor irgend etwas. Und überall war diese weiße Flamme zugegen.
Der Schlaf war also ihr erstes Experimentierfeld in der rue Lemercier. Das ist nicht kompliziert, er liegt direkt in Reichweite. Sie übte sich einfach darin, während ihrer Streifzüge nicht eine Sekunde lang das Bewußtsein zu verlieren. Sie wollte wissen, wohin sie ging, was sie tat und warum und wie diese nächtliche Tätigkeit auf ihr Leben in der Materie zurückwirkte oder sich mit den Vorfällen oder Unfällen verknüpfte, die merkwürdigerweise plötzlich am nächsten Tag auftauchten, als seien sie die Fortsetzung oder Konsequenz dieser Spaziergänge. Nur nicht in den Abgrund der Unbewußtheit fallen – um keinen Preis wollte Mirra unbewußt sein, das war für sie der Tod, der wahre Tod –, immer und überall die Augen offen halten, sei es auf dieser Seite der Welt oder auf sonst irgendeiner. Am Anfang war es nicht immer leicht, denn zwischen jeder Welt oder Ebene und der nächsten muß eine Art winzige Schwelle überwunden werden, eine unmerkliche Zustandsveränderung – kaum ein Hauch, und schon verliert man den Kontakt, mit anderen Worten, man “schläft” wie ein Murmeltier. Manche Menschen finden keinen Weg zwischen einem Zustand ihres Wesens und einem anderen, da ist ein kleines Loch, und so schnellen sie vom einen Zustand zum anderen: da ist kein Weg, der ohne Bewußtseinslücke durch alle Seinszustände führt. Ein kleines schwarzes Loch, und man erinnert sich nicht mehr. Es ist wie eine schmale Kluft, über die man sein Bewußtsein spannen muß. Es dauert sehr lange, eine solche Brücke zu bauen, länger als der Bau einer physischen Brücke65. Geduldig baute sie Nacht für Nacht alle Stufen, und zuletzt “schlief” sie überhaupt nicht mehr: Ich unterwarf mich mehr als ein Jahr dieser Selbstdisziplin: ich notierte alles – einige Worte, eine Kleinigkeit, einen Eindruck – und versuchte von einer Erinnerung zur nächsten zu gelangen. Am Anfang war das nicht sehr ergiebig, aber nach ungefähr vierzehn Monaten konnte ich alle “Träume” angefangen vom Ende der Nacht bis zum Anfang zurückverfolgen. Das bedeutet einen so stetigen und vollkommen bewußten Zustand, daß ich zuletzt überhaupt nicht mehr schlief. Mein Körper lag in tiefem Schlaf ausgestreckt, aber das Bewußtsein ruhte keineswegs. Das Resultat war wunderbar: man wird sich der verschiedenen Phasen des Schlafes und absolut allem, was vorgeht, bis ins kleinste Detail bewußt. So entzieht sich nichts mehr der Beherrschung66.
Diese “Beherrschung” interessierte sie, denn was nützt es zu “träumen”, wenn sich an der Materie nichts ändert. Hat der Suchende sich bemüht, sein Wesen zu einen und alle Bestandteile seines Körpers mit Bewußtsein zu erfüllen, wird sein Schlaf ein bewußter Schlaf universellen Ranges sein: er wird nach Belieben wissen können, was hier oder dort, in dieser oder jener Person oder im einen oder anderen Winkel der Welt geschieht. Weil es universell ist, wird ihn sein Bewußtsein natürlich mit allen Dingen, die er wissen möchte, in Verbindung setzen. Anstatt eines unbewußten und nutzlosen Schlafes – außer vom rein physiologischen Standpunkt – wird er einen hilfreichen und vollkommen bewußten Schlaf haben67. Und sie erklärte den Mechanismus des Erinnerns folgendermaßen: Du läßt deinen Kopf genau so, wie er liegt, ohne ihn zu bewegen, und innerlich bildest du gleichsam einen ruhigen Spiegel und konzentrierst dich darauf. Du erwischst einen kleinen Zipfel des Traumes. Fange ihn und beginne sanft daran zu ziehen, weiterhin ohne dich zu bewegen. Ziehe ganz sanft daran, und schon kommt ein Teil nach dem anderen zum Vorschein. Man geht rückwärts. Das Ende kommt zuerst. Alles geht behutsam rückwärts, und plötzlich erscheint der ganze Traum: “Ah, so war es!” Springe vor allem jetzt nicht hoch, bewege dich nicht, wiederhole dir selbst den Traum mehrere Male – einmal, zweimal – bis er in allen Einzelheiten klar ist. Sobald du den Traum wieder ganz ins Gedächtnis zurückgerufen hast, bleibe weiter bewegungslos liegen und versuche, noch mehr nach innen zu gehen, bis du plötzlich den Zipfel einer anderen Sache erwischst, die noch weiter zurückliegt, noch unklarer ist, aber du kannst sie noch einfangen. Auch hier lasse nicht nach. Fange sie und ziehe daran, und du wirst sehen, wie die Szene sich ändert – du betrittst eine andere Welt, und auf einmal bist du in ein unglaubliches Abenteuer verwickelt – ein anderer Traum. Wiederhole den gleichen Vorgang. Erzähle dir selbst den Traum einmal, zweimal, bis du dir seiner ganz sicher bist. Bleibe weiter ganz ruhig. Dann gehe noch tiefer nach innen, so als gingst du sehr, sehr weit in dein Inneres. Und dort siehst du plötzlich eine vage Form, eine Vermutung, ein Gefühl… wie ein Luftzug, eine kleine Brise, ein winziger Hauch. “Sieh an!…” Es gewinnt Form, wird klar, und die dritte Kategorie folgt68.
Und am Ende aller Kategorien, hoch oben im Bewußtsein, liegt schließlich eine höchste Phase reinen Lichts, weiß, bewegungslos, in der alles wie in Ewigkeit ruht und aus dem man erfrischt wieder hervorkommt. Einige Minuten in diesem Bad genügen, und alles ist vollkommen entspannt und erneuert.
Uns bleibt noch zu entdecken, daß diese Welten und Ebenen die Quelle all dessen sind, was uns hier widerfährt, und daß unsere Millionen kleiner Zufälle sehr genau, sehr methodisch und ununterbrochen dort gewoben werden, wie von jemandem, der alles weiß und alles sieht – vielleicht sind das wir selbst ohne Zerstückelung in kleine mentale Panzer.
Dann stellen wir fest, daß wir natürlich universell sind.
Doch zunächst war da jene unmittelbare Grenze der Materie, wo man nicht genau wußte, ob es noch Materie war oder etwas anderes oder eine andere Materie, vielleicht die wahre Materie. Aber das sah sie schon mit offenen Augen. Sie sah sich und jeden (jedoch unter sehr verschiedenen Aspekten) umgeben von einem leichteren Körper oder einem leichteren Gewand. Darin hüllte sie sich, um jene Ebene zu betreten, die der Materie unmittelbar am nächsten ist – eine Welt, die der physischen Welt ähnelt, aber ein Physisches, das reibungsloser ist, wo die Dinge harmonischer, befriedigender und weniger erregt sind, dort herrscht weniger das Gefühl der Hast und Ungewißheit – und dieser leichtere Körper begleitete sie überall, sogar auf der Straße, er war geradezu ein Fortbewegungsmittel in dieser anderen, weniger schwerfälligen Materie, wie eine Auskleidung der physischen Welt, nannte sie es. Sie entdeckte, was Tausende von Leuten, und nicht unbedingt die klügsten, hier und dort unter allen Breitengraden seit Tausenden von Jahren entdeckten, was aber für unsere Augen wegen unserer zu schwerfälligen materialistischen Betrachtungsweise verborgen ist: das Sukshma Sharira der indischen Tradition, den “subtilen Körper”, der eine wichtige Rolle in unserer Geschichte hier spielen wird, wie wir bald sehen werden. Sie sah diesen Körper schon seit langem, seit ihrer Kindheit. Das Verständnis im höheren Bereich des intellektuellen Bewußtseins kam lange nach der Erfahrung. Seit meiner frühesten Kindheit kam die Erfahrung immer auf diese Weise – massiv, in einem Block: es packt dich, und dir bleibt keine Zeit, daran zu glauben oder nicht, zu wissen oder nicht, nichts von alledem – bum! Da gibt es nichts zu sagen, man steht vor dem Ding. Das “Ding” in diesem Fall ist dieser Körper, den die Leute manchmal im Schlaf annehmen oder, noch radikaler, wenn sie sterben. Dies ist die erste Etappe einer Reise, die wir gemeinsam mit Mirra unternehmen wollen. Im Grunde haben wir Glück, in Mirra einen so unvoreingenommenen Experimentator gefunden zu haben, der sich nicht von der Summe vergangener Erfahrungen und allem, was darum gewoben wird, irreführen ließ: ein spontaner Einstein sozusagen, ebenso unbelastet von den Möglichkeiten wie den Unmöglichkeiten der Newtonschen Mechanik, der Sanskritgrammatik oder Initiationsschriften. Vielleicht sollten wir sie eine Materialistin des Geistes nennen.
Wir mögen mit Mathilde behaupten, daß all dies nichts weiter als Träume seien, und wir widersprechen ihr nicht, denn schließlich sind auch die Gleichungen Einsteins eine Art Traum für eine Menge Säugetiere – höherstehende vielleicht. Wir erinnern uns einer amüsanten kleinen Szene, die sich zwischen Mirra und Mathilde kurz nach dem Tod der erstaunlichen Großmutter abspielte: “Stell dir bloß vor”, sagte Mathilde, “ich sehe dauernd deine Großmutter! Und obendrein gibt sie mir noch Anweisungen! Sie sagt mir: «Verschwende nicht dein Geld».” Ich antwortete meiner Mutter [und wir können uns Mirras Ton vorstellen, die sich ihr Lachen hinter ihren Wangen verkneifen mußte]: “Nun, sie hat recht, man muß vorsichtig sein.” – “Aber sie ist doch tot! Wie kann sie dann mit mir reden?! Ich sage dir doch, sie ist tot – tot und begraben!” Da fragte ich sie: “Was bedeutet es eigentlich, zu sterben?”… Das Ganze war sehr komisch. Denn offensichtlich ist für uns alles, was außerhalb unseres Goldfischglases liegt, ein “Traum”. Vielleicht sind wir der Traum der Goldfische, oder wessen Traum sind wir?… Um das herauszufinden, muß man das Goldfischglas verlassen. Zum besseren Verständnis kann ich ein Beispiel dieser subtilen Physis anführen – ein persönliches Beispiel, denn was nützt letztlich alles Wissen der Welt, wenn es in einer Bibliothek verstaubt… Eine mir sehr nahe stehende Person nahm sich in Frankreich das Leben, als ich in Indien lebte. Sie wählte zu diesem Zweck eine mir unbekannte Stadt und mietete dort ein Zimmer. Natürlich wußte ich nicht, daß die betreffende Person vorhatte, sich umzubringen. Eines nachts sah ich nun im tiefen Schlaf etwas scheinbar völlig Banales und Uninteressantes. Da Mutter mir aber beigebracht hatte, nichts zu übersehen (und vor allem nicht die unscheinbaren Kleinigkeiten), notierte ich den Vorfall. Im Traum stieg ich eine ziemlich dunkle Treppe hinauf und stieß auf ein Zimmer. Ich betrat das Zimmer nicht, sondern blieb auf der Schwelle stehen. Etwas gab mir zu verstehen, daß es das Zimmer der besagten Person war, die sich das Leben nahm, aber ich sah sie nicht. Ich ließ nur meinen Blick durch das Zimmer schweifen: es war vollkommen leer, bis auf ein Bett, das aus hellem Holz zu sein schien und am anderen Ende des Raumes stand – das Zimmer war länglich und mit einem strohfarbenen Teppich ausgelegt. All das zeichnete sich deutlich ab, vor allem aber ein Fenster, auf dem mein Blick lange ruhte, als sei diesem Fenster eine besondere Intensität eigen. Es öffnete sich auf einen Platz mit Bäumen (ich befand mich über den Bäumen). Die eine Seite des Platzes war von Häusern umgeben, während die andere von einem niedrigen Wall eingefriedet war. Dann versank dieser längs vor mir liegende Platz in der Ferne unter einem fahlen, neblig-eisigen Himmel mit einigen schwarzen Wolken. Diesen Himmel betrachtete ich lange. Eine geradezu ergreifende Intensität lag darin. Das war alles. Anscheinend war es ohne Bedeutung. Zwei Tage später erhielt ich ein Telegramm, das den Tod der Person mitteilte. Dies rief die Erinnerung an mein “Zimmer” wieder wach, und sofort sandte ich einen Brief mit einer Skizze des Zimmers. Es war tatsächlich genau das Zimmer, in dem der Selbstmord verübt worden war, mit dem einzigen Unterschied, daß darin kein Teppich lag, sondern ein Fußboden aus Kiefernholz: Kiefernholz ist strohfarben – ich hatte lediglich die Rillen im Holzboden übersehen. Aus einer Entfernung von zehntausend Kilometern ist das verständlich. Aber das Fenster mit seiner Aussicht war genau so, wie ich es gesehen hatte. Man fand die Person zusammengesunken auf der Türschwelle liegen. Was ich sah, war das, worauf ihr letzter Blick gerichtet war.
Das war ein Spaziergang in der subtilen Physis mit dem subtilen Körper.
Auch unsere Teleskope hätten die Rillen im Fußboden wohl kaum gesehen, durch die Mauern, aus einer Entfernung von Pondicherry zum Atlantischen Ozean. Bleibt die Frage, wie es kam, daß ich mich, ohne etwas zu wissen, dort befand, genau zur Stunde, als diese Person starb – vorgewarnt… aber wie? Wir leben ständig in dieser großen Illusion des Getrenntseins (das ist der wirkliche “Traum” der Welt); wir kommen nicht davon ab, zu denken und zu fühlen, es gäbe ein Hier und ein Dort, ein getrenntes Du und Ich in zwei kleinen Hautsäcken und unzählige uns fremde kleine Zimmer irgendwo in der Ferne – aber Mutter sagte: Du bist hier, und ich bin hier, und alles ist hier! Wir sind ein und derselbe Körper, der sich ruft und über Tausende von nichtexistierenden Kilometern hinweg antwortet. Nur müssen wir aus unserem Goldfischglas ausbrechen, wir müssen aufhören, ein Traum der Goldfische zu sein oder von sonst jemandem, der vielleicht wir selbst sind, endlich ganz und lückenlos.
Dieser subtile Körper hätte Mirra nicht sonderlich interessiert, wenn er nicht eine ganz entscheidende Rolle in ihrem alltäglichen Leben gespielt hätte. Was die “Toten” betrifft, mögen sie in Frieden ruhen, und die Spaziergänge in der subtilen Physis, was nützen sie, wenn sie nicht unsere Wanderung hier verbessern? Vielleicht haben wir nicht alle das Glück (?), unseren subtilen Körper zu sehen, aber er ist dennoch vollkommen da, und ohne ihn wären wir ein mehr oder weniger molliger Roboter, der nichts wahrnähme, was nicht unmittelbar seine Haut oder Retina berührt. Er ist das Verbindungsinstrument mit der “Außenwelt”. Durch ihn erreichen uns alle Vibrationen der horizontalen Welt. Er ist gewissermaßen unser physiologisches Gewand, eine Hülle, die sich aus all jenen Kräften zusammensetzt, die wir besonders anzusammeln gewohnt sind – “abzugeben” könnten wir sagen, aber in Wirklichkeit geben wir nichts ab, sondern absorbieren ständig, und sobald es in uns ist, sagen wir “es gehört mir”. Wir merken nicht, wie die Vibrationen in uns eindringen. Um die Wahrheit zu sagen, leben wir auf sehr fahrlässige Weise. Dieses Gewand nimmt also die Farbe und Intensität unserer Vibrationsgewohnheiten an. Wir haben die verschiedensten Gewänder, ein ganzes Netz aus mikroskopischen, gewohnheitsmäßigen Kräften von Angst, Begierden, Wut, Wünschen, Dürsten, Sehnsüchten… die zusammen ein Gewand weben, das mehr oder weniger beständig ist, mehr oder weniger hell, rot, blau oder grün, und meistens ein “abscheuliches Gewirr” ergibt, den besten Picassos ähnlich. Und manchmal hat es überhaupt keine Farbe, nur einen grauen Dunst. Ein dunkles Magma. Manchmal ist dieses Gewand auch voller Löcher: Depression und Entmutigung haben eine unheilvolle Wirkung. Sie durchboren es mit Löchern, schwächen sein Gewebe, nehmen ihm alle Widerstandsfähigkeit und öffnen in ihm einen leichten Durchgang für feindliche Angriffe. Und ständig ändert es sich: Es ist allen möglichen Suggestionen ausgesetzt, die seinen Zustand augenblicklich ändern und geradezu umschlagen lassen können. Eine schlechte Suggestion übt eine sehr starke Wirkung darauf aus, ebenso wie eine gute mit gleicher Kraft in die entgegengesetzte Richtung agiert… Friede, Ausgeglichenheit, Zuversicht, Vertrauen in die Gesundheit, Ruhe und eine beständige Heiterkeit und strahlende Freude verleihen ihm Kraft und Substanz69. Es ist genau die Eingangstür all unserer Krankheiten. Wir reden von diesen Mikroben, jenen Keimen, aber es gibt nichts, das nicht “Mikrobe” oder “Virus” wäre, wir sind ganz aus diesen Dingen gemacht, rief Mutter aus. Sie geben dem, was sie nicht mögen, häßliche Namen, aber es ist alles dasselbe. Das, was man Krankheit nennt, ist eine ständige Angelegenheit, ein andauernder Zustand, in dem man sich befindet… oder nicht. Ist man heiter, funktioniert die “Mikrobe” nicht. Ist man schlecht gelaunt, wird alles zur Krankheit: man ist in der Krankheit. Man erwischt den kleinen “Zufall”, den man sorgfältig um sich herumgewoben hat. Uns befällt die Krankheit unseres eigenen Gewandes. Das ist die einzige Krankheit.
Die einzige Heilung besteht darin, das Gewand wieder zu reparieren, die Löcher zu flicken, seine Farbe zu ändern – in eine etwas leuchtendere und gesündere Farbe. Aber dazu muß man die Materie ein wenig “klären”, muß man aufhören, eine Windmühle zu sein, in die alles nach Belieben hineinblasen kann. Dann beginnen wir, den “Tanz der Vibrationen” zu sehen. Wenn sie ankommen, nimmt man sie als außerhalb seiner selbst wahr, in einer gewissen Entfernung (sozusagen tangential), genau in dem Augenblick, wo sie unsere Hülle oder unseren subtilen Körper berühren: eine winzige Vibration, die unzählige Intensitäten und alle mögliche Farben haben kann und sehr deutlich zeigt, was sie ist – Begierde, Zorn, schlechte Gedanken, Krankheitssuggestionen. Trotz allen Lächeln, hübschen Worten und guten Mienen, die man darüberzukleben versucht, ist es unmißverständlich. Es kann von einem Gefühl, einem Geschmack, oder auch von einem Geruch begleitet sein… Manche dieser Krankheitserscheinungen verleihen der Luft einen ganz eigentümlichen Geruch oder ein besonderes leises Gefühl… wie wenn man mit der Hand über einen Stoff gegen den Strich streicht70. Die ganze Welt wird klar, alles wird klar. Wir sind Meister im eigenen Haus, wir lassen nur hereinkommen, was wir wollen, wir werfen oder fegen hinaus, was wir nicht wollen. Unser ganzes Leben wird völlig anders, es ist nicht mehr das abscheuliche Gewirr, in dem man nicht klar sieht. Und wenn wir dann unseren Körper verlassen, um zu sterben oder zu “träumen”, bleiben uns eine Menge Alpträume erspart.
Da ist auch eine ganze Welt vertikaler Schwingungen.
Darin spazieren zu gehen, hatte für Mirra aber nur einen Sinn, wenn man etwas davon hier herüberbringen konnte. Eine innere Erleuchtung, die weder den Körper noch das äußere Leben berücksichtigt, hat keinen großen Nutzen, denn sie läßt die Welt unverändert71. Die Shakti – dieser einzige Körper des Bewußtseins oder der Kraft –, die sie durch verschiedene kleine menschliche und nichtmenschliche “Relais” fließen sah, schien sich zu verändern, sich gelblich oder schwarz zu färben, je nach dem Milieu, das sie durchquerte, schien sich zu zerteilen, sich beinahe zu zerstreuen, als sie tiefer in die Materie drang. Mirra wollte ihr reines Strömen erfassen, die weiten rhythmischen Wellen, statt des kleinen zerstückelten Lärms, kunterbunt, verzerrt und zusammengezogen. Sie fühlte spontan, daß sich alles ändern würde, wenn man einen reinen Tropfen davon in die Materie einfließen lassen könnte. “Ändern” lautete bereits ihr Mantra oder Kennwort. Der Tod, dieses Schwarz, das, ohne irgend etwas zu reflektieren, alle Strahlen des Spektrums absorbiert, das nicht mehr antwortet und verwest, weil es nicht mehr antwortet, dieser äußerste Zerfall zu Staub war im Grunde nur der Höhepunkt der Unstimmigkeit. Könnte man den Rhythmus überall einfließen lassen, würden die tödlichen Folgen der Unstimmigkeit aufhören. Für sie war es fast nur eine Frage der “Mechanik”. Wie kann man das, was krumm ist, wieder gerade biegen? Jedesmal, wenn etwas abwich von dem, was mir die leuchtende Linie, die gerade Linie zu sein schien (nicht geradlinig im geometrischen Sinn, sondern die leuchtende Linie) vom reinen Licht – oh, die geringste Abweichung war für mich das einzige Bedrückende! Nie, nie kam mir die Idee von Tugend oder Sünde – niemals. Der direkte Strahl. Das war es, was sie suchte und was sie in alles hineinbringen wollte, bei jedem Schritt und bis in die alltäglichste Kleinigkeit. Ohne diesen direkten Strahl war alles tödlich oder konnte tödlich sein. Der Tod begann mit der Teilung des Strahls. Sie fühlte diesen Strahl über sich, sie sah ihn durch all die kleinen Schichten dringen, sich färben, sich brechen wie in den kleinen Reagenzgläsern des Apothekers, sie sah, wie er sich teilte und in unzählige kleine Kräfte zerstreute, die natürlich untereinander zankten, denn jede wollte der einzige Strahl sein, und natürlich litten, denn jede war auf der Suche nach dem großen Strahl, der sie nicht mehr waren. Es war einfach – warum war es dann so kompliziert?
Sobald man einen Schritt über das kleine Goldfischglas hinaustat und auch nur einen Grad höher stieg, änderte sich alles. Man konnte all die kleinen Kräfte sehen oder verfolgen, wie sie sich darin tummelten wie Fische im Aquarium: Schwärme kleiner Gedanken, Wirbel von Wünschen, Anstürme zwerghafter oder sogar gefräßiger Launen, die sich aufeinander stürzten und ununterbrochen von einer Person zur anderen übergingen, und all das stiftete reichlich Unheil, nur im seltenen Glücksfall von einigen kleinen Lichtblasen unterbrochen, die die Richtung der Kräfteströmungen änderten. Ein kleines Ereignis hatte Mirra mehr erstaunt als hundert andere, die sie ständig sah, denn sie erzählte es öfters. Es ereignete sich in der Zeit, als ganz Paris die Zeitung Le Matin laß. Auf der Titelseite war oben ein kleiner Page abgebildet, der dem Leser liebenswürdig einen kleinen Kalender mit dem Datum des jeweiligen Tages entgegenstreckte. Es war an einem 22. oder 23. mit den üblichen Miseren, aber es war trotzdem ein netter kleiner Page. Der Held dieser Episode hatte ein Zimmer in einem großen Hotel gemietet. Er war lange gereist und fühlte sich erschöpft, so legte er sich zu Bett. Da sah er im Schlaf etwas wirklich Seltsames: Der kleine Page aus der Zeitung Le Matin kam zu ihm, aber statt ihm den Kalender zu zeigen und ihn zu den Freuden des Tages einzuladen, forderte er ihn auf, – in einen Leichenwagen einzusteigen. Allerhand Wunderliches geschieht im Schlaf, und, meine Güte, der Reisende achtete nicht besonders darauf, stand auf, rasierte sich und verließ sein Zimmer, um hinunterzugehen. Auf dem Korridor forderte der junge Hotelpage ihn höflich auf, in den Lift einzusteigen… Da verspürte er einen jähen Schock, denn er erinnerte sich seines “Traumes”. – “Nein, danke. Ich gehe zu Fuß.” Zwei Minuten später stürzte der Lift zu Boden.
Auch hier handelte es sich um einen Spaziergang in der subtilen Physis, ein knappes Grad oberhalb der Materie, die uns so materiell erscheint – ein glückbringender Spaziergang. Aber vielleicht könnten wir auf diese Weise mancherlei glückliche Spaziergänge unternehmen, die all die kleinen unheilvollen Hexereien aufeinanderprallender Kräfte in unserem menschlichen Goldfischglas bannen würden. Vielleicht würde unsere Wanderung in der Materie besser verlaufen, wenn wir nur den höheren Blick und den höheren Strahl hier einfließen lassen könnten. Genau das sagte sich Mirra. Denn schließlich stammen alle diese zerteilten, ineinander verwickelten Kräfte einer einzigen Kraft – es gibt ebensowenig zig verschiedene Kräfte auf der Welt, wie zig verschiedenes Unheil oder “Gutes”, es gibt nur eine, und wenn wir dieses reine “Eine” berührten und es in dieses Chaos hinabzögen, müßten sich alle Gesetze des Goldfischglases ändern – oder vielleicht sollten wir sagen, das gesamte Milieu und sein Refraktionsindex würden sich ändern, und das, was uns geteilt, zerstückelt, mißtönend, gefärbt oder entfärbt wie eine chaotische Palette erscheint, finge an, anders zu fließen, und ergäbe ein vollkommen anderes Bild.
Wir wissen nicht wirklich, wie das Bild der Welt aussieht. Wir leben eine Annäherung, geradezu eine Karikatur von etwas, das uns entgeht und dennoch da ist, voll da, denn wo liegt das “Anderswo” in Wirklichkeit? Das Anderswo ist lediglich in all das gekleidet, mit dem wir es bemänteln: es nimmt die Farbe unserer Augen an, die Dicke unserer Finger, die Abgeschiedenheit unseres Herzens, seine Entfernung beträgt die Millionen Lichtjahre Ferne unseres Denkens und der Gesetze unseres Denkens. Der Weg besteht in der Tat nicht darin, aus all dem “hinauszugehen”, Bewußtseinsgipfel zu erklimmen, sondern vielleicht nur unser eigenes Gewirr zu durchqueren: aufgehäufte Evolutionsschichten, die uns den Eindruck geben, wir würden reisen, reisen, uns weiter und weiter in ein immer helleres, leichteres, unermeßlicheres Anderswo entfernen – doch diese Weite war die ganze Zeit gegenwärtig unter jedem einzelnen unserer Schritte und in den eintönigsten Lappalien, die Leichtigkeit lebte immer in uns, und die Klarheit kam nicht von “oben” sondern aus einem entrümpelten “Ganz-Hier”. Unsere Himmel sind weder Millionen Wegstunden entfernt noch für morgen oder für andere Leben vorbehalten: das volle Leben ist jetzt, der Tod ist nur die Strecke unserer Unbewußtheit – und wenn auch diese Schicht geklärt ist, wird die Ewigkeit in einem Augenblick leuchten und das Paradies in unserem leichten Körper leben. Es gibt keine Reise! Es gibt kein Morgen, keine Ferne, kein “Anderes” – das ewige Etwas liegt hier unter unseren Schritten und in unseren winzigsten Gesten, verdeckt von Millionen Farben und Gesetzen, die nur die Gesetze dieser Farbe und die unerbittliche Schwerkraft unserer eigenen Finsternis sind. In Wirklichkeit leben wir in einer unendlich leichten, fließenden, geschmeidigen, erstaunlichen Welt – nur glauben wir nicht daran: wir glauben an den Tod, an Newton, an die Mendelschen Gesetze und alle unerbittlichen Gleichungen der Ärzte und Richter einer kleinen bunten Seifenblase, die sie selbst aufbliesen. Wir folgen dem unerbittlichen Determinismus unserer eigenen Farbe und unserer eigenen Bewußtseinsumgebung: Übereinanderliegende Schichten von Determinismen72, sagte Mutter. Diese unermeßliche Welt ist wie eine riesige Projektion – eine einzigartige Projektion –, die immer dichtere, dunklere Milieus oder Schichten durchquert und auf jeder Ebene die Farbe oder das “Gesetz” von deren Dichte annimmt, aber es ist stets derselbe Strahl, dieselbe Shakti – rein, leicht, immens, sehend, frei. Immer das gleiche Ding, denn es gibt keine zwei. Wir selbst in unserem Körper bestehen aus einer Reihe übereinander liegender Milieus, mehr oder weniger dichter Schichten, jede mit ihrem eigenen kleinen Zentrum, das der ihm identischen, universellen Umgebung oder Schicht entspricht. Wir könnten sagen, daß uns verschiedene Geschichten offen stehen, und diese Geste, jene Episode oder der zufällige Vorfall auf einer niederen Ebene ist wie eine Karikatur oder Entstellung einer gleichen Geste und Episode, die, wäre sie auf einer höheren Ebene gelebt, eine völlig andere Geschichte ergeben hätte – immer noch die gleiche, aber in einem anderen Licht gesehen, als würden wir in jedem Leben eine Leinwand mit einer bestimmten Farbe bemalen; und nur gelegentlich ziehen wir kleine Blitze einer anderen Farbe herunter – winzige Durchbrüche im absurden Determinismus –, die das nächste Bild der gleichen Geschichte verkünden, aber reiner, harmonischer. Man könnte sagen, erklärte Mutter, daß jeder Umstand, jedes Ereignis, jedes Ding ein reines Dasein hat, seine wahre Existenz, und eine beachtliche Anzahl unreiner, entstellter Existenzen, der gleichen Dinge auf den verschiedenen Ebenen des Wesens73… Folglich läßt sich sagen, daß man trotz der absolutesten Determinismen entlang der horizontalen Linie Dinge, die absolut determiniert erscheinen, ändern kann, wenn man es versteht, alle diese horizontalen Linien zu überwinden und den höchsten Punkt des Bewußtseins zu erreichen74. Etwa wie jemand im ersten Stockwerk, der einfach durch das Hinausstrecken seiner Hand einen Stein im Fallen auffängt und damit verhindert, daß er den Kopf eines Passanten zerschmettert. Der kleine Hotelpage im Traum ist nur ein erster Schritt in diesem neuen “vertikalen Determinismus” – ein erster Schritt nach “oben”, sagten wir, aber vielleicht ist es einfach nur ein erstes Entrümpeln der unmittelbaren Umgebung, eine erste Klärung der dicken Schicht, in der wir leben, eine beginnende Leichtigkeit inmitten der barbarischen Gleichungen. Ein Anfang der wahren Geschichte.
Vielleicht spielen wir von einem Leben zum anderen immer dieselbe große Szene, aber jedesmal in einem volleren Licht erlebt. Die Welt ist eine ewige Geschichte, die sich erhellt. Wir sind ein vollständig “Anderer”, der nach und nach sich selbst wird.
Mirra hätte die Geschichte der Welt gerne etwas heller gehabt. Ihre eigene kannte sie nur zu gut, sie hatte sie erlebt und endlos wiederholt unter jedem erdenklichen Kopfschmuck, ob pharaonenhaft oder aus Stroh. Was sie um sich herum sah, war Rodins, Rouaults, Morissets Misere: “Was? Das ist das Leben?… Was? Das sind die Menschen?…” Ein Elend überall, in mehr oder weniger leuchtenden Farben. Diese kleinen Determinismen wollte sie ändern, den finsteren Determinismus einer Welt, die in einer sogenannten wissenschaftlichen Schicht eingeschlossen ist, jeder in einem Sack aus Materie, den er als starr, getrennt und sterblich empfindet: Laßt die Illusionen auffliegen! rief sie in einer ihrer frühesten Schriften aus. Möge dieses schmerzvolle Universum aus seinem schrecklichen Alptraum erwachen, seinen grauenvollen Traum beenden75… Und über welche Mittel verfügte sie? “Träume”, chaotische und manchmal unerklärliche Visionen, unzählige Wahrnehmungen, welche die äußeren Erscheinungen durchlöcherten, ohne sie zu heilen, Rhythmen einer anderen Harmonie, kleine aufblitzende Schwingungen wie diamantenes Licht, das die Finsternis zu zerreißen schien, ohne sie aufzulösen, Bewußtseinsgrade über Bewußtseinsgrade, die sich in immer dünnerem Äther zu verlieren schienen, Welten und Körper, die schon nicht mehr dem Erdenkörper angehörten – oder vielleicht die einer anderen, noch ungeborenen Erde. All das war verschwommen, vermischt, unerklärlich. Sie empfand nur diesen Durst, als sei ihr Durst ihre klarste Gewißheit, eine Art ungeborene Zukunft, die im Inneren wie eine weiße Flamme brannte – “Träume”. “Du wirst es nie zu etwas bringen.” Sie war sechsundzwanzig, allein. Aber sie fühlte, es müsse einen Weg geben, um diese “Träume” in die Materie zu ziehen – das Mittel, es mußte ein Mittel geben. Dieser Durst nach dem Mittel war es, der das Mittel schließlich herauskristallisierte. All diese “Träume” und “Einbildungen”, wie man sie mitleidig zu nennen pflegt, bereiteten eine außergewöhnliche Revolution vor, deren radikale Reichweite die Welt noch nicht zu ermessen beginnt. Oh, wir stellen uns sehr wohl den Tod vor, wir stellen uns Telefone, die Bombe und Fieberkurven vor, wir haben alle nur erdenklichen zerstörerischen Vorstellungen und die rühmlichsten Vorstellungen von großen Naturwissenschaftlern, die Heilmittel gegen eine Krankheit erfinden, die sie selbst ins Leben riefen, chemische Düngemittel, um Felder zu befruchten, die sie ihrer Vögel beraubten – das gesamte Arzneimittelverzeichnis ihrer Bewußtseinsarmut. Aber manche seltene Wesen, die Kinder geblieben sind, besitzen die Vorstellungskraft der Wahrheit76, wie Mutter es nennen wird, junge Sprieße noch unberührt vom verwesten Hauch unserer intellektuellen Zivilisation, sie haben die Fähigkeit, sich Dinge vorzustellen, die noch nicht manifestiert sind, eine wahrere Erde, eine lebendigere Materie; sie haben Antennen, die in eine noch nicht verwirklichte Welt reichen, dort etwas erhaschen und es hierher ziehen77. Das war es, was Mirra bereits tat: ziehen. Tastend zog sie die Welt von morgen herbei. Sie sah eine Materie, die unsere nächste Materie sein wird. Ohne es recht zu wissen, war sie auf der Suche nach dieser kleinen Anzahl von Wesen, die fähig wären, einen anderen Determinismus in den physischen Determinismus herunterzubringen78.
Sie war sehr allein.
Ungefähr zu Beginn des Jahres 1904, als sie am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt war und kurz vor der Begegnung mit einer einzigartigen Persönlichkeit, die ihr endlich eine etwas zusammenhängende Erklärung ihrer eigenen Erfahrungen geben konnte, hatte Mirra eine Reihe von “Träumen” (wieder Träume!), in denen sie… Sri Aurobindo begegnete – von dem sie nie etwas gehört hatte, denn er war in Frankreich völlig unbekannt – zehn Jahre, bevor sie ihn 1914 physisch in Pondicherry traf. Ich hatte ein Reihe von Visionen… (Stell dir vor, ich wußte nichts über Indien, nichts, so wie die meisten Europäer nichts davon wissen: “ein Land mit Leuten, die gewisse Gewohnheiten und Religionen haben, mit einer konfusen und unklaren Geschichte, und man hört von vielen außergewöhnlichen Dingen, die dort geschahen”, das war alles! Mit anderen Worten, ich wußte nichts.) In diesen Visionen sah ich Sri Aurobindo, wie er physisch war, aber verherrlicht. Das heißt, ich sah denselben Mann, so wie er war, als ich ihn später zum ersten Mal sah, beinahe mager, mit goldbraunem Teint und ausgeprägtem Profil, einem wirren Bart, langen Haaren, gekleidet in einen Dhoti, dessen eines Ende über die Schulter gezogen war, entblößte Arme und Oberkörper, barfuß. Ich glaubte damals, es sei ein “Visionsgewand”! Nur um dir zu sagen, daß ich nichts dergleichen kannte, nie in meinem Leben waren mir Inder in indischer Kleidung zu Gesicht gekommen… In diesen Visionen tat ich etwas, was ich physisch nie getan hatte: ich warf mich nieder auf Hindu-Art. All das geschah, ohne daß ich irgend etwas in meinem kleinen Gehirn verstand (mit Verstehen meine ich, daß ich nicht wirklich wußte, was ich tat, wie ich es tat – nicht im geringsten). Ich tat es, und im selben Augenblick fragte sich mein äußeres Wesen: “Was bedeutet das alles?”
Äußerst bemerkenswert ist, daß genau im Jahr 1904 Sri Aurobindo mit seinem eigenen bewußten Yoga begann, während Mirra ihrerseits zum ersten Mal eine systematische Erforschung der verschiedenen Ebenen des Bewußtseins oder Schichten des Determinismus antrat, um diesen “höchsten Punkt” zu erreichen. Als hätten beide auf diese Begegnung gewartet, um sich gemeinsam auf den Weg zu machen – zehn Jahre, bevor sie sich begegneten.
Auch das war eine Begegnung in der subtilen Physis, nur eine winzige Stufe oberhalb der Materie. (Aber ist es wirklich oberhalb und außerhalb der Materie oder im Inneren einer Materie, die viel präziser ist als jene, die wir mit unseren Augen sehen?)
Und wenn dies “Träume” sind, was ist dann die Wirklichkeit? Oder ist die Wirklichkeit ein Traum, der sich gemäß der Fähigkeit des Träumers verwirklicht? Manche besitzen die Fähigkeit, die Zukunft der Welt zu erträumen, während andere sich kleine Höllen einfangen, die sich alsbald verwirklichen, oder belanglose Nützlichkeiten, die sich schnell in nichts auflösen. Seien wir vorsichtig mit unseren Träumen! Denn was können wir in unserem Goldfischglas erträumen? Kein Traum ist uns eigen, so wie auch kein Gedanke von uns stammt: sie kommen und gehen, ziehen vorüber, rollen vorbei im mächtigen Strom der Shakti. Im Vorbeifließen erhaschen wir kleine Qualen, große Qualen, graue Träume, rosige Träume, je nach der Wellenlänge, die wir zu empfangen fähig sind. All das ist eine mehr oder weniger klare, mehr oder weniger trübe Verzerrung des Strahls, der unser Goldfischglas durchquert. Aber die Zukunft ist nicht morgen, so wenig wie Pondicherry zehntausend Kilometer weit weg ist oder die Begegnung erst in zehn Jahren stattfindet, und das große Licht, das alles ändern wird, liegt nicht in fernen Jahrhunderten oder ätherischen Zonen: die Entfernung hängt von unserer Dickschichtigkeit ab, die Zukunft ist der langsame Weg durch die Schichten unserer Unbewußtheit, morgen liegt auf der anderen Seite des Goldfischglases, so wie wir das Morgen für unsere Brüder, die Fische, sind. Unsere Paradiese warten nicht auf den Tod, so wenig wie die Freiheit auf ein Supergrundgesetz oder die schöne Erde auf ein Jahrtausend der Gnade – alles ist da, ohne Aufhebens, und liegt weder auf irgendeiner anderen Seite noch in irgendeiner Entfernung. Es gibt keine andere Seite, nur die Dickfälligkeit unseres Bewußtseins. Es gibt keinen Determinismus, außer der Finsternis unseres Milieus. Es gibt keine anderen Gesetze als die, die wir im Goldfischglas erträumen. Seien wir vorsichtig mit unseren Träumen! Die Zukunft ist eine große leuchtende Blume, die mitten unter uns strahlt, die sich Blatt für Blatt zu öffnen scheint im Maße, wie wir unsere Augen öffnen – und wenn wir unsere Augen etwas schneller öffneten? Wenn wir etwas schneller verstehen könnten? Wenn wir diese falsche Finsternis mit einem strahlenden Blick zerrissen? Oh, worauf warten wir!
Manche öffnen ihre Augen früher, schneller, und ziehen in unser Bewußtsein diesen großen, völlig gegenwärtigen Traum, der nur für uns ein Traum ist. Sie nehmen den Schmerz auf sich, die dunkle Schicht des Unbewußten zu tragen, damit der Strahl in unsere finstere Substanz dringt. Sie warten, warten… Oh, worauf warten wir, um aus diesem Nachtmar zu erwachen! Wir erfinden Maschinen, Grundgesetze, Allheilmittel, die stets versagen, während der einzige Blick, der alle unsere Gespenster in nichts auflösen könnte, wartet – würden wir nur begreifen!
Man mag sich fragen, wie es kam, daß Mirra zehn Jahre im voraus jemandem begegnete, den sie nicht kannte, einem “Unbekannten”, von dem sie glaubte, er sei in ein “Visionsgewand gehüllt”(!) Aber wo ist das “Unbekannte”, wenn nicht in unserem Goldfischglas, und wo ist der “andere”, das große Geheimnis, das keine Geheimnisse mehr in sich birgt? Das Geheimnis liegt in unserer Schicht der Unbewußtheit, der “andere” sind wir selbst, solange wir glauben, in einem kleinen getrennten Sack zu stecken. Seit undenklichen Zeiten gehen wir zusammen mit einer Million “Unbekannten”, die unser Dach, unsere Spiele und Qualen teilten, auf den höchsten Punkt zu, in dem sich alles wiedererkennt, weil jeder alles ist und alles seit jeher bekannt war. Die Zeit ist vielleicht nur die Langsamkeit unseres Bewußtseins. Mutter und Sri Aurobindo gingen seit langem zusammen, träumten seit langem, und jedesmal rückte ihr Traum näher, jedesmal klärten sie die Passage des großen Strahls ein wenig mehr. Sie hatten die “Vorstellungskraft der Wahrheit”, sie zogen die wahre Wirklichkeit, die von der gewöhnlichen Welt Illusion genannt wird79, auf die Erde herab.
(1) Die Pforten des Möglichen
Ein neues und merkwürdiges Abenteuer sollte in diesem bereits merkwürdigen Leben beginnen. “Mutters großen Wald” nannten wir es, und wir könnten darin bis zum letzten Tag ihrer 95 Jahre wandern und noch größere Geheimnisse entdecken, als wir je ahnten – transparente Geheimnisse, sie sind am schwersten zu entziffern; jedesmal, wenn wir sie zu entziffern versuchen, entgleiten sie uns und lachen uns ins Gesicht oder entführen uns auf einen unerwarteten Weg, der plötzlich in eine strahlende Lichtung mündet, als stünden wir am Rande von… von was? Etwas, das in eine schwindelerregende Zukunft führt. Es ist phantastisch und wirklich, wirklicher als das Konkrete von heute; dann versucht man es zu erhaschen, aber es springt davon – man kann es nicht fassen. Man kann Mutter nicht entziffern, man muß sich hineinstürzen, mag kommen was will. Mutter ist der größte Roman, den ich je erlebt habe – alles kommt darin vor, Liebe, Schönheit, die Weite, das Unerwartete, die Wege der Zukunft und die des Vergangenen, man wandelt darin wie in einer Zukunft im voraus, es ist die wahrwerdende Fiktion des Unendlichen und so viele andere Dinge, die wortlos sind und in einem geheimen Abgrund pulsieren und noch weiter pulsieren werden, wenn alle unsere kleinen Körper nicht mehr sind. Es gibt nichts zu glauben, vor allem nichts glauben: man muß kosten.
Dennoch ähnelt diese neue Episode – die des Okkultismus – einem ausweglosen Abenteuer, einem Weg, den man besser nicht einschlagen sollte, aber dann müßten wir uns ständig fragen, was “darf man nicht” nehmen, denn schließlich gibt es nirgendwo einen Weg: der Weg entsteht beim Gehen. Und gehen muß man, nach rechts, nach links, hinauf oder hinunter, und ist man aufrichtig, wirklich aufrichtig, dann befindet man sich immer genau dort, wo man zu sein hat. “Aufrichtig” – wieder ein Schlüsselwort von Mutter. Diese ganze okkulte Wissenschaft, die sie sich aneignete, das Wissen um die vierte Dimension, die erstaunlichen Kräfte, welche die braven Leute verblüffen, weil sie nicht verstehen, wie sie funktionieren, all das ließ sie eines schönen Maientages 1962 einfach am Wegrand fallen: Ich brauche das alles nicht mehr. Vielleicht weil die vierte Dimension in die unsrige eingegangen ist… Ja, es gibt etwas Einfacheres, Direkteres – und fabelhaft Wirksames. Mirra war immer auf der Suche nach Wirksamkeit. Dennoch brauchte sie achtundfünfzig Jahre, um diesen Ballast abzuwerfen. Könnten wir vielleicht die Abkürzung benutzen?… Doch was ist wirklich “überflüssig” oder ein “Umweg” in diesem guten Universum? Wir suchen noch immer den einen Grashalm, der nicht seinen vollkommenen Nutzen in der Ordnung der Natur hätte, wie jener Schüler des vedischen Rishis, der von seinem Meister in den Wald geschickt wurde, nachdem er alle medizinischen Pflanzen studiert hatte: “Finde mir eine Pflanze, die nutzlos ist, dann werde ich dir die Initiation geben.” Der Schüler ging und ging, suchte und suchte und kehrte verzweifelt zurück: “Ich habe die Pflanze nicht gefunden.” Da drückte der Rishi ihn ans Herz, und er bedurfte keiner Initiation mehr, denn er hatte die Erkenntnis empfangen. So einfach ist das – aber sehr schwierig, es im einzelnen und mit weit offenen Augen zu verwirklichen, denn gleich bei der ersten Schramme, beim ersten “Hindernis” oder der ersten “Sünde” stoßen wir gellende Schreie aus: “Das hätte doch nicht…” Aber alles hätte, und zwar voll und ganz. Einschließlich dem köstlichen ursprünglichen Apfel, der vielleicht zu guter Letzt doch nicht so schlecht gefallen ist. An uns liegt es, den Sinn zu finden. Darin liegt eine große Wahrheit für die Durchwanderung von Mutters großem Wald. Dann sieht man überall Goldkörnchen und Sinn darin leuchten, wo vorher nur nutzloser Staub lag. Mutters Wald kann genauso in einem Staubkorn enthalten sein, er ist ein magischer Wald mit allen Dimensionen.
Durch einen Freund Matteos sollte Mirra eines Tages im Jahr 1904 einer seltsamen Persönlichkeit begegnen, die sich Max Theon nannte – “Höchster Gott”, nichts Geringeres. Er sagte nie, wer er wirklich war, wo er geboren war, wie alt er war oder sonst irgend etwas. Wie es schien, war er ein russischer oder polnischer Jude, der aus diesem Grunde sein Land verlassen mußte. In Paris veröffentlichte er in Zusammenarbeit mit einem gewissen Themanlys, Freund Matteos, eine Zeitschrift, die er Die Kosmische Tradition nannte. Mirra stürzte sich wie eine ausgehungerte Löwin darauf: es war das erste Mal, daß sie auf dieser Welt etwas fand, das ein wenig ihre eigene Erfahrung beschrieb, wenn auch in einer eher bizarren Sprache. Welch plötzliche Offenbarung! Endlich ergab all das einen Sinn – sie war also nicht völlig verrückt. Vielleicht wußte sie sogar mehr, als sie wußte. Man stelle sich diese brave kleine Positivistin vor, seltsam und fremd unter den Menschen, still, immer still, denn sie konnte seit sechsundzwanzig Jahren nichts sagen, ohne in Gefahr zu laufen, daß man sie zum nächsten Arzt brachte: mit einem Schlag wurde sie mit der Rationalität ihrer irrationalen Welt konfrontiert. Ein Umsturz im umgekehrten Sinn sozusagen – ich bin also doch nicht verrückt! Wahrscheinlich lachte sie plötzlich laut auf. Denn man darf sich auch keine falschen Vorstellungen machen, Mirra gehört nicht zu denen, die den Mund in Bewunderung aufreißen und sich dem erstbesten Lehrmeister zu Füßen werfen (außer im “Traum” selbstverständlich, aber jeder weiß, daß Träume seltsam sind). Sie betrachtete ihren Umbruch gelassen, atmete aber dennoch erleichtert auf, sich gesund und im Besitz ihrer Sinne zu wissen. Und wer war dieser mysteriöse Eingeweihte? Themanlys wußte selbst nur wenig und sprach über ihn im leicht zitternden Flüsterton eines jungen Neubekehrten. “Er” wohnte drüben in Algerien, in Tlemcen. Das war alles. “Er” wußte.
Eines schönen Tages tauchte Max Theon höchstpersönlich in Paris auf. Er wußte bereits, wer Mirra war. Er wußte in der Tat viele Dinge. Theon war ziemlich groß, ungefähr wie Sri Aurobindo, schlank, mager, mit einem sehr ähnlichen Profil. Aber Mirra fühlte sofort, daß er nicht die Gestalt ihrer Vision war: Ich sah, daß er es nicht war (ich sah es nicht: ich fühlte es), denn als ich ihm begegnete, war da nicht diese Schwingung… Nein, es war wirklich nicht “diese Schwingung” sondern etwas völlig anderes. Dennoch bleibt die frappierende Tatsache einer Ähnlichkeit – und es sollte viele weitere Ähnlichkeiten mit Sri Aurobindos Entdeckungen geben, jedoch mit gerade dem “kleinen Unterschied”, der zwei Welten trennt, als fände die Natur Gefallen daran, den Gegentypus oder Antitypus eines jeden Wesens zu erfinden, und je mächtiger das Modell, desto mächtiger das Antimodell, könnten wir sagen. Nietzsche war vier Jahre zuvor gestorben. Ein weiteres merkwürdiges Modell oder Antimodell, wir wissen nicht, welches. Es ist gut möglich, daß die Natur die Antimodelle erfand, um die Modelle zu zwingen, sich selbst zu übertreffen und so weit zu wachsen, bis keine Karikatur mehr möglich ist oder bis die Kehrseite dessen, was man darstellt, sich in einem Punkt auflöst, an dem es weder Kehrseite noch Vorderseite gibt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Nein, es war nicht “diese Schwingung”, sondern etwas viel Merkwürdigeres, das sich Mirras Augen darbot: Plötzlich erschien blitzartig ein Porträt, das sie elf Jahre zuvor in Venedig gesehen hatte (wenn Mirra etwas “betrachtete”, war es für Jahrhunderte festgehalten, wie die Rinnsteine in Theben), und legte sich über Theons Gesicht – ein Porträt von Tizian: Vollkommen Theon! sein Porträt, als hätte man es jetzt gemalt! Es war das Porträt eines Dogen – Mirra hatte gewisse “erdrosselnde” Erinnerungen vom Palazzo Ducale… Wahrscheinlich schluckte sie kurz und zeigte ein großes, gefaßtes Lächeln, was Theon wohl kaum täuschte. Das fing ja gut an! Vielleicht wäre es interessant zu wissen, welcher Doge es war, aber leider habe ich den besagten Tizian nie gesehen und konnte ihn nicht mit einem der bemerkenswertesten Porträts vergleichen, das Mirra je zeichnete: das von Theon. Man könnte es für eine Radierung Rembrandts oder vielleicht für eine Gestalt Dürers halten: ein schütterer Bart, lange Haare, eine barettartige schwarze Samtmütze, fünfzig oder sechzig Jahre alt, vielleicht auch vierzig, ein asketisches Gesicht, das Profil eines Adlers und dann diese Augen… die eine Seite wie erleuchtet, hell und fast ein Lächeln, das unmerklich zwischen Ironie und den Lichtern des Himmels schwankte, und die linke Seite… beunruhigend. Machtvoll, oh, ungeheuer machtvoll, aber eine Macht… Vielleicht ein Schmerz – dieser Schmerz überall in der Tiefe des Menschen – der Schmerz, nicht das zu sein, was man ist, der kämpft, um aus seiner Kehrseite herauszukommen und in seine Seite der Freude einzutreten, eine Macht, die zu einem Punkt geballt ist, anstatt in der Unermeßlichkeit aufzugehen. Eine hohe Stirn, sehr hoch, die vieles empfing: Eine bemerkenswerte Intuition80, sollte Sri Aurobindo selbst über Theon sagen, was kein mageres Kompliment von seiner Feder ist. Und eine weite dunkelviolette Toga, von einer roten Kordel zusammengehalten.
Es fällt nicht schwer, sich einen jener mächtigen Dogen vorzustellen, die ihre Domäne von Dalmatien zum Peloponnes und Byzanz ausdehnten oder ihre blutigen Schlachten gegen die Sforzas lieferten und ihre Opfer dann stillschweigend über die Seufzerbrücke warfen. Man könnte sich darüber wundern, vorausgesetzt, Theons “Ahnenfolge” war exakt, daß er sich auf diesen “geistigen” Pfad begeben hatte, doch unsere Vorstellung vom “Geist” ist gewiß ebenso falsch wie unsere Wahrnehmung der Materie und aus demselben Grund. Als Sri Aurobindo von Napoleon sprach, sah er Gott bewaffnet über Europa schreiten81, und die “Evolution des Bewußtseins”, ebenfalls eines von Theons Themen (“verstünde doch die Menschheit ihre Rolle als Evolutionsträger des Planeten82…”), findet nicht unbedingt oder bevorzugt mit kleinen Heiligen statt. Evolvieren bedeutet die Materie bearbeiten, nicht in den Himmel entschwinden. Allerdings unterscheidet sich der Weg des Geistes und der des Titanen durch einen kaum merklichen Faden, der lediglich von einer leisen inneren Haltung abhängt: im einen Fall reißt man die Shakti an sich, im anderen läßt man sie durch sich fließen – aber in beiden Fällen kann die Shakti gleichermaßen grausam zuschlagen. Auch Theon stellte sich diesmal “dem Problem aus einem anderen Winkel”: er ging an die Eroberung des Geistes, wie man Euböa erobert.
Auf seinem Weg fand er Mirra. Die Welt ist wahrhaftig eine seltsame Angelegenheit, so unendlich seltsamer, als sie uns erscheint, so unendlich großartiger, als alle unsere Teleskope sie je durch unsere Welträume entdecken könnten: das geringfügigste Ereignis, das hier geschieht, die unscheinbarste Begegnung auf der Erde beschreibt ganze Bahnen, verglichen mit denen die gewaltigen Kreise unserer Sternbilder nur königliche Alleen ohne Mysterium sind. Wir gehen aneinander vorbei, als sei es zum ersten Mal und nur für ein paar Sekunden oder ein paar Jahre, während diese zufällige Handbewegung heute das Echo alten Unheils wieder heraufbeschwört oder einer alten, unterbrochenen Geschichte nachjagt, die sich noch auf anderen Breitengraden und unter anderen Himmeln fortsetzen wird, im dunkelvioletten Gewand oder in der Leichtigkeit eines Selbst, das in keiner Farbe mehr zu glänzen braucht und nichts mehr zu erobern sucht, denn es trägt alle Farben der Liebe im Herzen und die gleiche Verzauberung in allem. Wir kennen weder die Millionen “Zufälle”, die diesen kleinen Zufall hier hervorrufen, noch wissen wir, welcher Tizian diese Übereinstimmung vorbereitete, es sei denn, alles ist aus einem einzigen Faden gewoben, ein einziges Bild, das sich uns nach und nach enthüllt, die Bewegung eines einzigen Körpers, der sich durch undenkliche Zeiten fortbewegt mit Myriaden kleiner, in einen Körper eingeschlossener Dogen, um den einzigen Körper und die einzige Kraft und das einzige Bewußtsein und die einzige Liebe zu erobern, die alle unsere zerstückelten Räume und alle unsere Zeiten des Elends heilen würde.
Aber die Weisheit ist weise. Sie verhüllt unsere alten Untaten wie unsere Wohltaten, damit wir befreit von den einen und den anderen vorangehen können. Wie dem auch sei, Theon erkannte auf den ersten Blick wenn auch nicht, wer Mirra war, so doch ihre erstaunlichen Fähigkeiten und lud sie zu sich nach Tlemcen ein… um zu arbeiten. Sie besuchte ihn dort in zwei aufeinanderfolgenden Jahren, 1905 und 1906, soweit wir bei Mutter Daten festlegen können, denn ihre vorderste Fähigkeit war sicherlich, alle Zeiten zu durcheilen.
Es war zweifellos ein wundervoller Ort. Theon hatte Geschmack, wenn dieser auch manchmal etwas sarkastisch war. Zarif nannte er seine Gärten, die in Terrassen auf den Hängen des Atlas angelegt waren. Ein riesiges Landgut mit hundertjährigen Olivenbäumen und Feigenbäumen, wie ich sie sonst noch nirgendwo gesehen hatte – ein wahres Wunder, das sich an der Gebirgsflanke von der Ebene bis fast zur Hälfte des Gipfels erstreckte83…, mit einem Rosengarten, der den Aussagen von Themanlys zufolge “ein Kunstwerk” war. Denn der “Aia” (wie er sich unter Arabern nannte – Aia Azis, “der Vielgeliebte”, was zweifelsohne besser klingt als “Höchster Gott”, jedoch wohl kaum beruhigender) war auch Gärtner und außerdem Maler, Bildhauer, Schreiner, Schlosser, kurz, er tat alles: “Kultiviert Menschen, so wie ihr Pflanzen kultiviert!” rief er aus. “Ja, wenn man nur wüßte wie! Wenn man nur wollte! Wenn man nur wagte84!” Er wagte es durchaus. Aber lassen wir Mirra uns diese denkwürdige Begegnung selbst erzählen: Es war das erste Mal, daß ich alleine reiste, das erste Mal, daß ich das Meer überquerte. Dann folgte eine ziemlich lange Zugfahrt von Auran nach Tlemcen; kurz, ich schaffte es. Er erwartete mich am Bahnhof und brachte mich im Auto zu sich nach Hause. Es lag ziemlich weit ab. Wir trafen auf seinem Landgut ein – es war traumhaft schön. Wir erreichten es von unten (es lag auf einem Vorsprung und überschaute das ganze Tal von Tlemcen) und stiegen breite Alleen hinauf, um zum Haus zu gelangen. Ich sagte kein Wort. Als das Haus schließlich in Sichtweite kam, blieb er stehen: “Das ist mein Haus.” Es war rot! Rot angemalt. Und er fügte hinzu: “Als Barley kam, fragte er mich: «Warum haben Sie Ihr Haus rot angemalt?»” (Barley war ein französischer Okkultist, der Theon mit Frankreich bekannt machte und sein erster Schüler war.) Da funkelte Spottlust in Theons Augen, gefolgt von einem etwas hämischen Grinsen: “Ich antwortete ihm: «Weil das Rot so hübsch zum Grün paßt!»” Auf einmal fing ich an, den Herrn zu verstehen… Wir gingen noch ein wenig weiter, und plötzlich drehte er sich unvermittelt um, richtete sich vor mir auf und erklärte: “Jetzt sind Sie mir vollkommen ausgeliefert. Haben Sie keine Angst?” Einfach so. Da schaute ich ihn an, lächelte und sagte: “Ich habe nie Angst. Ich trage das Göttliche hier.” (Und Mirra deutete auf diese weiße Flamme in ihrem Herzen.) Er wurde wirklich bleich.
Wir können es uns nicht verwehren, an Gurdjeff und Katherine Mansfield zu denken. Aber verglichen mit Theon war Gurdjeff ein kleiner Junge, und Mirra war nicht Katherine Mansfield.
Lächelnd durchschritt man nun den Rosengarten auf der obersten Terrasse mit einem “quatratischen Becken, in das unablässig Wasser von einer Quelle floß85” und erreichte alsbald eine kleine Treppe aus weißem Stein, die in einen Hof und schließlich in Theons Haus führte. “Ein maurischer Landsitz”, rot angemalt aus Gründen der Farbharmonie, wie wir bereits wissen. Zu ebener Erde befand sich ein Salon mit Ausblick auf “mit Mosaiken ausgelegte Innenhöfe, umgeben von hohen Mauern mit spitzbogigen Toren und Amphoren, die an die Märchen der Scheherezade erinnern”, erzählte Themanlys, obwohl wir, was Scheherezade betrifft, nicht so sicher sind. Dann die terrassenförmig angelegten Gärten. Mitten im Salon standen ein großer Flügel und Theon höchstpersönlich in imposanter Haltung und dunkelvioletter Toga. Auch ein arabischer Gong fehlte nicht, der die rätselhafte Gewohnheit hatte, ganz von allein zu ertönen, sobald Theon ihn etwas ernsthaft anblickte. Ich sah dort wirklich erstaunliche Dinge, berichtete sie, und wir glauben es gerne.
Da war aber noch jemand, und zwar Madame Theon. Ein ganz anderes Thema. In Wirklichkeit war sie es, die außergewöhnliche Fähigkeiten besaß, eine umfassende Kenntnis der psychischen Ebenen86, wird Sri Aurobindo sagen, und auf ihrer Erfahrung gründete Theon seine Lehre. Sie war Theons Basis. Was auch immer man über ihn denken mag, er hatte immerhin das große Verdienst, von dieser wunderbaren, wunderbaren Frau (wie Mutter sagte) als Lebensgefährte gewählt worden zu sein, und sie besaß sicherlich genug Wissen und Intuition, um ein äußerst fähiges Wesen zu wählen. Ungeheuer fähig – genau darin lag die Schwierigkeit. Aber Alma, so hieß sie, war die Sanftmut in Person, ein stilles Licht: Ein Friede so sanft, so zärtlich, so strahlend. Wir können uns ihre großen blauen Augen vorstellen, die wie vom Meer gewaschen schienen, kam sie doch von der “Isle of Wight” (so wissen wir wenigstens, woher sie kam), eine kleine, untersetzte, beinahe mollige Frau, man hatte das Gefühl, sie würde zergehen, wenn man sich an sie lehnte, als versinke man in einem Daunenbett. Sie trug ein weites weißes Gewand, eine Dalmatika, und sie war wie abwesend, immer wie abwesend und fröstelte leicht. In der Tat verbrachte sie dreiviertel ihres Lebens in Trance, außerhalb ihres Körpers, auch während sie umherging, sich bewegte und ihren Beschäftigungen nachging. Sie befand sich fast ständig in Trance, aber sie hatte ihren Körper so gut trainiert, daß selbst in der Trance, das heißt, wenn ein Teil (oder mehrere Teile) ihres Wesens sich veräußerlicht hatten, ihr Körper sein eigenes Leben weiterführte. So konnte sie umhergehen und sogar kleine praktische Dinge erledigen87. Sie konnte auch sprechen und erzählen, was sie alles auf den anderen Ebenen sah, unmittelbar während sie sich dort befand. Auf diese Weise sammelte Theon das gesamte Material für seine Kosmische Revue. “Ihre Augen hatten die Reinheit von Kinderaugen, aber sie schienen müde zu sein, so viele Dinge gesehen zu haben88…”, bemerkte Themanlys. Unglaubliche Fähigkeiten! rief Mutter aus, und aus ihrem Mund kommend, stimmen einen diese Worte eher nachdenklich, wo es ihr selber doch gewiß nicht an erstaunlichen Fähigkeiten mangelte. Ihre Kräfte waren von ganz außergewöhnlicher Natur; sie hatte eine äußerst vollständige und rigorose Schulung erhalten und war fähig, sich zu veräußerlichen, das heißt bei vollem Bewußtsein aus ihrem materiellen Körper einen subtileren Körper auszustrahlen, und dies zwölfmal hintereinander. Mit anderen Worten, sie konnte bewußt von einem Zustand in einen anderen übergehen und darin ebenso bewußt leben wie in ihrem physischen Körper und konnte auch noch diesen subtileren Körper in Trance versetzen, sich veräußerlichen, und so weiter, zwölfmal, bis zur äußersten Grenze der Formenwelt89.
Diese äußerste Grenze interessiert uns.
Was tat dieses merkwürdige Ehepaar zusammen?
Tatsächlich schien sich in Zarif alles merkwürdig zu verhalten und einem anderen Gesetz zu folgen, als sei man in eine andere Welt eingetreten. Die Materie gehorchte einer anderen Kraft – eine “andere” oder die gleiche, nur in einem anderen Grad? Theon ließ Regen auf seine Rosen fallen, während zwanzig Meter weiter kein einziger Tropfen fiel, oder er sandte den armen Fellachen Regen (und heilte sie, was ihm den Namen “Vielgeliebter” vielleicht doch mit Recht einbrachte). Man wandelte in schattigen, vom Duft der “Wunderblumen” schwangeren Alleen, während charmante kleine Nattern – wie die von Kleopatra – vor Theons Augen heranschlichen und wieder entschwanden, wobei dieser so tat, als sei er mit etwas anderem beschäftigt, während er Mirra aus den Augenwinkeln beobachtete. Mirra lächelte, sie war die große Freundin aller Tiere. Sie verstand sich sehr gut mit ihnen. Auch Theon verstand ausgezeichnet: er hatte seine Lektion schnell gelernt. Letzten Endes war es ganz lustig, man verstand sich mit allem – ja, man verstand sich gegenseitig im geheimen Einverständnis eines anderen Gesetzes, wo nichts mehr “etwas anderes” oder “ein anderer Körper” war. Wenn Madame Theon ihre Sandalen benötigte, brauchte sie diese nicht zu holen, sondern ließ sie stillschweigend zu sich kommen, oder sie ließ wie Theon den Gong ertönen, indem sie ihn anschaute, statt nach einem Diener zu rufen. All das geschah auf das natürlichste der Welt, ganz unauffällig. So natürlich, wie wir auf einen elektrischen Knopf drücken – der noch dazu manchmal versagt, während jener Strom nie versagte und ohne jeden Aufwand floß. Sie prahlte nie, sie sagte nicht: “Ich werde dies oder jenes tun”, sie redete nicht darüber: sie tat es stillschweigend90. Denn gewiß wäre es ein Irrtum zu glauben, Theon oder Madame Theon wollten irgendwelche Demonstrationen zum Besten geben, die Mirra auch kaum verblüfft hätten, es amüsierte sie eher, sie amüsierte sich viel. Man bediente sich einfach eines anderen Wissens und anderer Gesetze. Manchmal jedoch erlaubten sie sich etwas zweifelhafte Späße, wie an jenem Tag, als sich ein etwas aufdringlicher arabischer Händler im Speisesaal breitmachte. Plötzlich hörte ich einen Schrei: einen Schrei des Entsetzens. Ja, der Tisch, ein riesiger Eichentisch, hatte sich ganz von allein in Bewegung gesetzt und sich mit einem fast heroischen Schwung auf den armen Mann gestürzt, ohne daß Madame Theon ihn angerührt hätte. Zuerst schwankte der Tisch ein wenig, fing langsam an, sich zu bewegen, um sich plötzlich in einem Satz auf den armen Mann zu stürzen, der auf und davon rannte und sich nie wieder blicken ließ91!Manchmal waren die Späße sogar noch beunruhigender (nicht für Mirra), und der “Strom” schien ein wenig… überdimensioniert, wie an einem bestimmten gewittrigen Tag: Es gab dort schreckliche Gewitter. Eines stürmischen Tages wollte Theon ganz nach oben auf die letzte Terrasse über dem Salon steigen. Ich sagte ihm: “Das ist aber ein sonderbarer Moment, um hinauszugehen.” Da fing er an zu lachen. “Kommen Sie, haben Sie keine Angst!” Ich ging mit ihm hinauf. Dann sah ich ganz deutlich, wie ein Blitz direkt auf uns zukam, aber plötzlich abbog – man wird sagen, das sei unmöglich. Doch ich sah, wie er abbog. Er schlug ein wenig weiter in einen Baum ein… (nicht einen von Theons Bäumen, natürlich). Ich fragte Theon: “Waren Sie das?” – Er nickte…
Er war schrecklich, er besaß eine erschreckende Macht, aber äußerlich war alles völlig in Ordnung! Und Mutter lachte.
Auch konnte man in Zarif auf ganz besondere Art speisen, die wir gerne verstünden – eine Menge Umstände blieben uns dann erspart. In der Tat war Madame Theon oft sehr müde, weil sie die meiste Zeit außerhalb ihres Körpers verbrachte, das heißt die Energie ihres Körpers ging größtenteils woanders hin, anstatt brav in ihrem Kasten zu bleiben und dort all die Übungen und Handlungen zu erledigen, die man normalerweise von diesem Kasten erwartet. So benötigte sie materielle Energien, um wieder zu Kräften zu kommen. Diese verschaffte sie sich auf eine sehr einfache und direkte Weise: anstatt sich an einen Tisch zu setzen und den ganzen Vorgang des Schälens und Verdauens einer Frucht durchzumachen, streckte sie sich auf ihrem Bett aus und legte eine große Pampelmuse auf ihren Magen: “Kommen Sie in einer Stunde wieder!” Eine Stunde später kehrte Mirra zurück, und die Pampelmuse war flach wie ein Pfannekuchen… das heißt, sie hatte das ganze Leben der Frucht absorbiert, und diese war schlaff und flach geworden92.
Auch die Materie selbst verhielt sich auf sonderbare Weise, und hier können wir uns fragen: Was ist die Materie wirklich? Denn natürlich gibt es weder Wunder noch irgendeine “Magie” in alledem, außer für Einfaltspinsel – für Hundskopfaffen und einige andere sind die Maschinen der Menschen Magie. Wir wissen sehr gut, daß wir keine Magier sind, weit davon entfernt, wir benutzen lediglich gewisse Abläufe. Wir können also besser denken als der Hundskopfaffe und den Verlauf der Dinge in Zarif mit einem weniger abergläubischen Auge betrachten. Aber vielleicht sind wir letztlich alle ein wenig abergläubisch, was die Materie betrifft – wissenschaftlich abergläubisch. Aberglaube ist ein blinder Glaube an eine einzige Art von Dogma oder Ablauf, an eine bestimmte, zur Gewohnheit gewordene Verhaltensweise der Materie – aber handelt es sich wirklich um die Gewohnheit der Materie, oder ist es nicht eher die Gewohnheit unseres Mentals in der Materie…? Hier fühlen wir, daß wir uns auf unsicheren Boden begeben, und halten es wie der arabische Händler, der so schnell wie möglich floh. Wie dem auch sei, in den Alleen von Zarif wuchsen hübsche Wunderblumen, die einen erlesenen und köstlichen Duft verbreiteten: Riesige Büsche, Madame Theon steckte sich immer einige Blüten ins Haar, weil sie so schön dufteten… So schritt sie in der Allee zwischen diesen Büschen einher und sammelte die Blüten auf, während Mirra mit Theon spazieren ging. Als ich vom Spaziergang zurückkehrte und meine Tür öffnete (die abgeschlossen war, es konnte also niemand hereingekommen sein), lagen diese Blumen in meinem Zimmer93. Eine kleine Girlande aus Wunderblumen lag diskret auf ihrem Kopfkissen. Das heißt, Madame Theon konnte auch Blumen entmaterialisieren, um sie durch die Mauer in das Zimmer zu bringen und sie anschließend wieder zu “materialisieren” und frisch auf Mirras Kopfkissen zu zaubern. Einfach eine charmante Aufmerksamkeit für Mirra jeden Abend; denn sie war sehr charmant, diese Alma.
Was ging also in dem Hause vor? Vielleicht befand man sich in einer fortgeschritteneren Zeit der Evolution – was aber gar nicht sicher ist. Offensichtlich herrschte dort eine andere Atmosphäre, man könnte es beinahe eine Transparenz nennen, in der Dinge hindurchgehen konnten und durchdringbar waren, denn vielleicht ist das größte Hindernis und die dickste Mauer nicht die aus Granit oder Beton, in die wir uns einschließen, sondern die unserer eigenen Gedanken; ständig weben wir einen Schleier des Unmöglichen zwischen uns und den Dingen. Weil wir denken, dies oder jenes sei nicht möglich, ist es selbstverständlich nicht möglich – wie könnte es unmöglicherweise möglich sein? Eines der herrlichsten Wunder unserer Existenz beginnt wirklich, wenn wir anfangen, das große Auge des Möglichen zu öffnen, wenn wir erst denken, dann fühlen, dann erstaunt sehen, daß dieser einfache Gedanke “alles ist möglich” eine unscheinbare Bresche ins Gefängnis schlägt – eine Transparenz – und heimlich, fast schüchtern, ein kleines Etwas hindurchschlüpft, dann ein weiteres und noch eines, geradezu ermutigt durch unser Einverständnis, und alles beginnt einem anderen Gesetz zu folgen. Es ist so, wie wir wollen. Es genügt, es zu denken. Aber wir denken an Krankheit, Tod, Unglück, Mathematik, Strafgesetze, und alles kommt so, wie wir es erwarten, genau und mathematisch. Wir kommen nicht aus dem Gefängnis heraus, solange wir an das Gefängnis glauben, das versteht sich von selbst.
Unser erstes Gefängnis ist nicht die Materie, sondern das Mental. Die Mauern der Materie sind ein Traum unseres Mentals. Vielleicht ein Schutzgeländer, das uns hindert, vorzeitig in eine für uns zu üppige Unermeßlichkeit zu kippen. Ich erinnere mich an eine sehr aufschlußreiche kleine Geschichte, die Mirra bald aus dem Munde von Madame David-Neel vernahm, und Mirra hatte alle Gründe diese als vollkommen wahr zu akzeptieren. Madame David-Neel hatte bei einem Aufenthalt in Indonesien (glaube ich) die Gewohnheit, mit geschlossenen Augen beim Gehen zu meditieren. Sie ließ die anderen im Feldlager zurück und ging immer geradeaus eine Piste entlang… bis ihre Meditation beendet war. Eines Tages kehrte sie nun wie gewohnt am Ende ihrer Meditation um und ging ruhig mit offenen Augen zurück – da stand sie plötzlich vor einem Fluß. Der Fluß war aber nicht unversehens zwischen ihrem Kommen und Gehen hervorgequollen, also mußte sie ihn beim Hinweg überquert haben – fragt sich nur wie?… Jetzt hingegen war sie gezwungen, sich naß zu machen, um ins Lager zurückzugelangen. Nun wird man sagen, es war ein Wunder, “sie schritt über das Wasser” wie Christus, oder man wird glauben, ihre Meditation sei so tief und ätherisch gewesen, daß… nun, man mag denken, was man will, die Tatsache ist, Madame David-Neel dachte nicht an den Fluß. Also existierte der Fluß nicht, und sie schritt darüber wie über alles andere. Sobald sie daran dachte (vor allem, als sie dachte, man kann nicht einen Fluß überqueren, ohne naß zu werden), war sie, wie wir alle, gezwungen, naß zu werden. Nur – es gibt ein “nur” –, es genügt nicht, zu denken, daß es nicht existiert, damit es nicht existiert; denn das ist immer noch das Denken, das sich selbst einen guten oder schlechten Streich zu spielen versucht: die Magie des Mentals hat tiefere Wurzeln. Genau das ist es, was Mutter sorgfältig klären wird, Schicht für Schicht, bis zu einer bestimmten zellularen Grenze, die vielleicht die eigentliche Wurzel des Todes ist.
Unterdessen ließ Mirra ohne jede Mauer der Unmöglichkeit alles durch sich hindurchgehen, und wo wäre in alledem “Wunder” oder “Magie” gewesen? Nein, da gibt es nichts zu zaubern sondern nur zu entzaubern. Wir stehen unter dem Bann der Wissenschaft, und unsere ganze Wissenschaft bestärkt den Bann. Als ich all das Sri Aurobindo erzählte, sagte er mir, dies sei ganz natürlich; wenn man selber die Macht hat, lebt man in und schafft man um sich herum eine Atmosphäre, die solche Dinge ermöglicht – denn es ist alles da; es wurde nur noch nicht an die Oberfläche gebracht. Ja, “nicht an die Oberfläche gebracht” bedeutet, daß es verschleiert, blockiert, verhindert ist durch Schichten über Schichten schwerfälliger Determinismen, in die wir uns eingeschlossen glauben. Sobald wir aber eine Stufe darüber hinausgehen, oder genauer gesagt (denn wo ist das “darüber”?) sobald die Substanz klar wird, sobald sie sich aus dem Schlamm ihrer Gewohnheiten des Sehens, Tuns und Vorgehens befreit hat, läßt diese gleiche Shakti – denn es ist immer die gleiche, die in Staub, Mauern, Nattern, im Blitz oder in den Symphonien Beethovens fließt: es gibt nur ein Ding auf der Welt, keine zwei –, läßt diese gleiche einmalige, befreite Shakti ihren Strahl reiner und deshalb direkter, mächtiger und freier in derselben alten, aber klaren Substanz fließen und ändert alle ihre Gesetze, denn sie sind nur die Gesetze unseres Gewirrs oder die Gesetze des Schleiers, den wir über die Dinge, so wie sie sind und so wie wir sie sehen und uns denken, legen. Dieses “so-wie-sie-sind” ist unser Mysterium, ist der Zauber, den es aufzulösen gilt, um an das Geheimnis, an die zu klärenden Schichten heranzukommen. Wir wissen nichts, wir kleben unvermeidliche und mathematische Abläufe über “etwas”, das lediglich die Mathematik unseres Gehirns ist. Wissenschaftliche Gesetze, sagte Sri Aurobindo in seiner wundervollen Klarheit, geben nur eine schematische Darstellung von materiellen Abläufen der Natur wieder – man kann sich ihrer als eines gültigen Schemas bedienen, um willentlich einen materiellen Ablauf wiederzugeben oder zu erweitern, aber sie können offensichtlich keinen Aufschluß über das Ding an sich geben. Wasser zum Beispiel ist nicht einfach die Verbindung von soundsoviel Sauerstoff und Wasserstoff: die Verbindung ist lediglich ein Prozeß oder Mechanismus, der die Materialisierung einer neuen Substanz ermöglicht, die wir Wasser nennen; was dieses neue Ding wirklich ist, ist eine ganz andere Geschichte94. Das “Ding” selbst entgeht uns überall. Wir kommen zu einer klareren Ebene, und schon ändern sich alle Abläufe: die Wunderblumen materialisieren und entmaterialisieren sich, so wie Wasserstoff + Sauerstoff sich zu Wasser materialisieren und als Gas wieder entmaterialisieren. Aber die Tatsache der “Wunderblume” ist was? Wir wissen es nicht. Letzten Endes gibt es nur eine Tatsache des Bewußtseins oder eine Tatsache der Shakti, die sich mehr oder weniger direkt lenken läßt, je nach der Ebene oder Schicht, auf der wir uns bewegen. Es gibt keinen “Fremdkörper”, kein Feuer, das auf Wasser wirkt: Bewußtsein wirkt auf Bewußtsein, Shakti auf Shakti. Der einzige Ablauf ist die Shakti – man kann sie wie ein Affe, wie ein Gelehrter oder auch anders handhaben, das ist alles.
In Tlemcen gab es also keine Wunder, sondern einfach eine gewisse Atmosphäre eines etwas realeren Wissens95. Vielleicht sollte man sagen: einer realeren Materie. Eine Materie näher dem “so-wie-sie-ist”. Die einzige Frage ist zu wissen, ob wir es wie der arabische Händler halten wollen oder doch wagen, unsere verbesserten Hundskopfaugen gegen Augen des Bewußtseins einzutauschen. Sri Aurobindo sagte immer, erzählte Mutter in Bezug auf die Begebenheiten in Tlemcen, das größte Hindernis für das wahre Verständnis und das Mitwirken am Werk sei der gesunde Menschenverstand. Er sagte, daß die Natur deswegen ab und zu Verrückte hervorbringt: sie sind nicht stark genug, um der Entfesselung dieser kleinen Dummheit des gesunden Menschenverstandes standzuhalten. Mutter lächelte, und in ihrem Lächeln schienen phantastische Möglichkeiten zu warten. Vielleicht wartet die Natur vorsichtig, bis wir weniger kindisch und weniger verängstigt sind, um mit einem Lächeln diese enorme chinesische Mauer der Wissenschaft zum Einsturz zu bringen, die uns nur vor uns selbst schützt.
Wenn wir wirklich wissen, was die Materie ist, dann werden wir wissen, was der Geist ist. Und wir werden den Tod besiegen.
Wir müssen die Pforten des Möglichen öffnen, aber nicht irgendeine Pforte.
All das ist schön und gut, man lenkt den Blitz, den Regen, das schöne Wetter, kleine und große Tiere, man gibt den Sandalen den Befehl, zu unseren Füßen zu eilen, oder läutet sogar die Sturmglocke der wissenschaftlichen Welt – das ist prima, man kann, es ist sogar völlig natürlich, wenn man weiß wie, so natürlich, wie wir zum Telefon rennen, um die Feuerwehr zu rufen. Es ist eine andere Ordnung – bestimmt einfacher ohne Feuerwehr und all dem Drum und Dran, das uns allmählich auf die Nerven geht. Mirra jedenfalls lernte den “Trick” schnell, obwohl es in Wirklichkeit kein Trick war, genauso wenig, wie Wasserstoff und Sauerstoff zu H2O zu verbinden. Und als auf ihrer Rückreise nach Frankreich die stürmische See das Schiff zu verschlingen drohte, zog sie sich ruhig in ihre Kabine zurück, legte sich in ihre Koje und verließ ihren Körper, um den tosenden Tanz zorniger Kräfte ein wenig zu beruhigen, woraufhin eine halbe Stunde später jedermann vergnügt sein Whiskyglas erhob, als sei nichts geschehen. Schön und gut. Man kann sich seiner Kraft sogar auf “humanitäre” Weise bedienen, weil das Humane gerade in Mode ist. So heilt man Leprakranke mit einem Blick – die zwei Minuten später zu ihrer Lepra zurückkehren, weil sie keineswegs die Ursache ihrer Lepra heilen wollen; man löscht Feuersbrünste – die sich drei Minuten später, drei Felder weiter oder im Viertel nebenan wieder entfachen, weil die kleine Dummheit, die Brände und Kriege entfacht, nicht gelöscht wurde; man schnappt Diebe und Kriminelle mit einem inneren Erleuchtungsblitz, und Schluß mit der Polizei – aber sie wachsen nach wie Löwenzahn, sowohl die Polizei als auch die Diebe. Man dreht sich weiter im Kreis, nur ein Grad höher, mit weniger Telefonen und weniger Lärm, aber immer noch mit der gleichen menschlichen Substanz, die im Handumdrehen den Blitz an sich reißen kann, um den unbequemen Nachbarn zu beseitigen. Alles in allem ist es nur ein Chaos höheren Grades, ein super-wissenschaftliches Superchaos. Ist das die nächste Stufe der Evolution? Jeder reinigt die Erde von allem, was nicht seiner Vorstellung des Guten entspricht, und letzten Endes bleibt nichts übrig, außer einem Super-Asketen oder einem Super-Dämon, der eine vergnügt seinen Whisky trinkend, als sei nichts geschehen, der andere vergnügt in seinen reinen Himmel entschwindend, aus dem er nie hätte hervorzukommen brauchen, denn warum zum Teufel kämen wir in diese verflixte Geschichte, wenn es nur darum ginge, sie abzuschaffen, und warum nehmen wir überhaupt einen Körper an, nur um außerhalb von ihm herumzustrolchen?
Nein, das ist keine höhere Stufe der Evolution, sondern eher eine niedrigere: eine der zahlreichen fruchtlosen Versuche der Natur, die sie kurzerhand wieder zerstört, auch sie, als sei nichts geschehen – denn sie besitzt eine weit größere Weisheit als wir. Wenn es wahr ist, daß Atlantis existierte, dann ist es gut möglich, daß es diese Art von Übermensch, der nur ein Super-Mensch war, erblühen sah: Denn, sagte Sri Aurobindo, der intellektuell entwickelte Mensch, machtvoll mit wissenschaftlicher Erkenntnis und der Meisterschaft sowohl über die grobe als auch über die subtile Materie, der sich der Elemente als Diener und der Welt als Trittbrett bedient, der im Herzen und im Geist aber unentwickelt bleibt, wird nur zu einer niederen Art von Dämon, der sich der Kräfte eines Halbgottes bedient, um seine Tiernatur zu befriedigen. Dunkle Traditionen und Erinnerungen der alten Welt weisen darauf hin, daß die Zivilisation des alten Atlantis derartiger Beschaffenheit war und vom Ozean verschlungen wurde, als ihre Größe und ihre Schwäche eine zu schwere Last für die Erde wurde96. Es ist gut möglich, daß unsere brutale Rückkehr zu dem, was wir als wissenschaftliche Barbarei bezeichnen könnten, der sanften Weisheit unserer Mutter Natur zuzuschreiben ist, die besser weiß als wir, was sie uns in dieser verachteten Erdenscholle entdecken lassen möchte, und sich unseres ersten Stolperns bedient, um uns weiter zu führen, als unsere Wissenschaftler ahnen, und tiefer, als unsere Spiritualisten es sich vorstellen. Von wie vielen Epochen, von wie vielen fruchtlosen Versuchen sind wir die Überbleibsel? Aber vielleicht stehen wir diesmal an der wahren Wende, gerade weil unsere Wissenschaft und alle unsere Anmaßungen zusammenbrechen, die nur ein altes, hartnäckiges Elend verhüllten, und gerade wegen der Macht unseres eigenen Fehlschlags. Von unseren nichtigen materiellen und spirituellen Siegen erleichtert nähern wir uns dem Punkt, wo Materie und Geist sich in etwas verwandeln, das vielleicht die Wirklichkeit der Erde ist.
Mirra war dabei.
Sie ließ sich nicht täuschen – ebensowenig wie Theon – und sie wußte genau, daß seine blendenden Kräfte aus der unteren Pforte kamen. Je brillanter, je überwältigender und wunderbarer etwas erscheint, desto niedriger die Ebene der Pforte, aus der es kommt, dessen kann man sicher sein, denn es ist die Pforte, die der Materie am nächsten ist. Seit Jahrhunderten mangelte es nicht an braven Leuten, die leicht zu verblüffen waren, und an weniger braven, die ihre himmlischen Taschenspielertricks preisgaben. Es ist himmlisch, wenn man so will, sagte Mutter, aber das hängt ganz davon ab, aus welchem Himmel es kommt97! Man muß den Leuten ihren Spaß lassen, solange es ihnen Spaß macht. Die Erde hingegen hat keinen Spaß daran. In der Tat leidet sie, schmerzvoll sucht sie und würde gerne finden, was sie wirklich heilen könnte. Mirra verstand seit Tlemcen zwei Dinge sehr gut, die in Wirklichkeit eins sind, denn sie spielten sich vor ihren Augen ab. Als erstes waren da all die armen Leute, die Theon mit einem Handstreich heilte, die aber zwei Tage oder eine Woche später wieder mit einer anderen Krankheit zurückkehrten, die immer noch die gleiche war. Man stopft hier ein Loch, und schon klafft es woanders. Selbst wenn man fähig wäre, allen Krebs aus der Welt zu schaffen, erfänden die Menschen noch eine andere Art von Krebs. Hier handelt es sich zweifellos um eine der ungeheuerlichsten Illusionen, in der wir als sogenannte rationale Wesen leben. Unaufhörlich suchen wir Millionen von Heilmitteln gegen eine einzige Krankheit, von der wir nicht geheilt sein wollen: die Unbewußtheit, die schwerfällige Schicht, die nicht den geringsten Strahl durchläßt. Aber das ist weniger bequem, als die Pillen des Apothekers zu schlucken. Doch die Natur gewährt netterweise den Ärzten freien Lauf, denn auch auf diese Weise hilft sie ihren Kindern, sich zu entwickeln: sie bedient sich all ihrer Kniffe, um ihnen beizubringen… daß sie nichts wissen! Das ist die große Lektion und die längste, die es zu lernen gilt. Wenn wir das gelernt haben, nähern wir uns der Erkenntnis. Und wenn wir sie nicht lernen wollen, greift sie auf einen altbekannten Trick zurück: den Tod. Man wiederholt die Lektion in einer anderen, etwas unbelasteteren Haut, und so weiter bis zur völligen Erschöpfung. Dann bleibt nur noch eine Mauer… nicht dicker als ein Zigarettenpapier; es genügt, darauf zu blasen, um dem Goldfischglas endlich entrinnen zu können. Das ist die schreckliche Lektion des Nicht-Wissens. Die Erde ist der Erschöpfung nahe. Vielleicht ist sie es leid zu sterben. All das sah, erlebte, berührte Mirra: Die Bedingungen, unter denen die Menschen auf der Erde leben, sind das Resultat ihres Bewußtseins. Die Bedingungen ändern zu wollen, ohne das Bewußtsein zu ändern, ist eine eitle Schimäre98. Wenn also die Leute Krankenhäuser bauen, Leprakranke pflegen und Antikrebsmittel erfinden wollen, laßt sie machen, aber damit verhelfen sie der Welt nicht zum Fortschritt oder zur Heilung, sie perfektionieren bloß das Nicht-Wissen. Willst du die Welt verändern, dann ändere dich selbst99.
Das zweite war diese glänzende “Macht”, die nur die Kehrseite derselben Frage ist… Je mehr sie Theons Wunderwerke beobachtete, desto weniger Bewunderung empfand sie. Eines Tages erklärte sie: Das ist wie ein Gummiband, das man auseinanderzieht. Ja, dann läßt man es los, und alles ist wieder wie zuvor. Solange man daran zieht, heilt es, blitzt und regnet es wie ein Segen, es ist sogar ganz unsterblich… eine Viertelstunde lang. Und immer wieder stieß sie auf die gleiche Lektion des Todes. Im Grunde war das der springende Punkt: Warum stirbt das, wie kann man verhindern, daß es stirbt? Wäre diese Frage gelöst, würde sich alles andere ergeben, die Ursache und der Mechanismus. Drüben, zehntausend Kilometer entfernt, berührte Sri Aurobindo (möglicherweise im selben Moment) dieselbe Frage, vielleicht anläßlich jenes kleinen Vorfalls, der einem seiner revolutionären Gefährten zustieß, der von einem tollwütigen Hund gebissen worden war, aber dank seiner yogischen Kraft die Krankheit für mehrere Jahre zu unterdrücken verstand, bis er sich eines Tages in einer politischen Versammlung erzürnte und wenige Stunden später an Tollwut starb – denn er hatte die Beherrschung verloren und sich so den Bedingungen entzogen, unter denen die Kraft wirkte. Eine bedingte Kraft ist keine Kraft; eine Kraft, die nur zehn oder zwanzig Jahre wirkt und dann versagt, ist keine Kraft; eine Kraft, die der Materie aufgezwungen wird wie ein Faustschlag oder wie ein gespanntes Gummiband ist keine Kraft – eine Kraft, die nicht die Materie selbst ändert, ist keine Kraft. Die Materie selbst muß geändert werden. Man muß eine neue physische Natur erschaffen100, wird Sri Aurobindo bald sagen. Die wahre Bewußtseinsänderung, betonte Mutter, ist die, welche die physischen Bedingungen der Welt ändert und aus ihr eine vollkommen neue Schöpfung hervorbringt101.
Es ist gut möglich, daß die Natur den Tod erfand, um uns zu zwingen, das höchste Geheimnis und die höchste Meisterschaft hier in der Tiefe des Körpers zu finden.
Sonst wären wir schon längst der Reihe nach als kleine Heilige in den Himmel entschwunden. Wenn wir am tiefsten stürzen, sind unsere Chancen zu siegen am größten, unsere größten Niederlagen sind vielleicht unsere höchsten Pforten der Möglichkeit.
Dergestalt ist die Sackgasse der Macht: daß sie eben mächtig ist. Die Wissenschaftler tun mit ihren Zyklotronen, Mühlen und Brechwalzen auch nichts anderes: sie brutalisieren die Materie mit einem Schlag Gleichungen, so wie andere sie mit einem okkulten Blick brutalisieren, aber sie rächt sich, das alte Wunder von vor ein paar Stunden oder ein paar Jahrhunderten schnellt wie ein Gummiband zurück oder braust wie ein alles vernichtender Sturm auf. Zu guter Letzt hat sich nichts geändert, weil die Wissenschaftler die Materie nicht meisterten: sie umgingen sie nur. Die Macht ist ein Mythos, an dem wir hartnäckig sterben. Wir müssen sein – anders sein in der Materie. Dann kann uns nichts mehr etwas anhaben, denn was kann dem etwas anhaben, was ist?
(2) An den Grenzen der Evolution
Die Materie ändern… den Tod ändern.
Man würde Theon unrecht tun zu glauben, er sei auf der Suche nach den großen blendenden Kräften der niederen Tür gewesen, die brauchte er auch nicht zu suchen, denn sie standen ihm voll zur Verfügung. Er suchte etwas viel Bedeutsameres, das zu vollenden ihm nicht bestimmt war. Vielleicht ist das die Tragödie Theons: die Herausforderung im Innersten und der Schmerz und die Ironie einer gewissen Größe, die sich zum Scheitern verurteilt weiß, aber trotzdem kämpft wie ein wahrer eroberungslustiger Doge. Immer verfallen wir dem Irrtum, an “Siege” zu glauben, aber es gibt Leben der “Niederlage”, die den wahren Sieg einer Seele ausmachen und auf der Kehrseite das besser zu finden vermögen, was sie auf den ungewissen Höhen der Tugend nie berührt hätten. Wo ist der Sieg, und wessen Sieg letztlich, wenn nicht innen etwas lächelt, im Sieg wie in der Niederlage, weil es für immer frei ist, hier wie da! Wir kennen erst einen Aspekt von Theon, und manchmal vermischen sich Teufel und Gott auf eigenartige Weise. “Die Menschen sind den Göttern überlegen”, sagte er. Damit hatte er recht, obgleich sie es noch nicht sind. Diese Göttlichkeit suchte er für die Menschen und für die Erde: “Man muß die Geschöpfe von den traurigen Ketten der Gewohnheit befreien und ihnen das Leben zeigen…” Und während er unablässig mit beunruhigender Geschwindigkeit Zigaretten rollte, fügte er hinzu: “Alles hängt von der Ebene ab, die man erreicht, und von der Weite des Horizonts. Für den Wurm im Rettich ist der Rettich sein gesamter Kosmos – die meisten leben wie der Wurm in seinem Rettich102”, was völlig wahr ist, aber… da lag in seinen Worten immer eine undefinierbare Schwingung, ein zweifelhafter Unterton. Etwas, das eigenartig an Zarathustra erinnerte, dennoch so voll von wahrlichen Geistesblitzen – nur eben dieser Unterton. Es gibt nichts Verfänglicheres und Bezaubernderes als diesen Unterton, nichts Gefährlicheres als eine in die Falle geratene Wahrheit. Sobald eine Wahrheit in der Falle sitzt, ist sie schon beinahe eine Lüge – oh, wie gut Mirra das wußte und wie ihre eigenen Worte alle Kategorien und Kategorisierungen vereitelten und nur einen Hauch, eine kleine klare Schwingung hinterließen, die einen, ohne daß man es merkt, zum Kern der einfachen Wahrheit trug. Mit Mutter trank man die Wahrheit, atmete die Wahrheit und ging federleicht und lachend. Theon philosophierte und erzählte, während “seine langen, nervösen Bildhauerhände103” die Zukunft kneteten oder die Vergangenheit entblößten, um ihr Geheimnis zu entreißen. Er kannte wahrhaftig viele Geheimnisse, und immer kam er uns vor, als schwankte er auf einem schmalen Grat zwischen dem Wahren und dem Falschen, einem überlebenden Atlantiden ähnlich, der sich seiner Triumphe erinnerte, ohne sich ganz von ihnen lösen zu können, während er in der Zukunft einen mysteriösen neuen Menschen erspähte, größer als alle Atlantiden zusammen, aber ohne ihr Gewicht des “Egos” – denn nur es macht schließlich die Schwere aus.
Er kannte Ägypten, wo er mehrere Jahre gelebt und eine okkultistische Gesellschaft gegründet hatte, bevor er nach Zarif flüchtete, weil er aus Ägypten verjagt wurde – aus mysteriösen Gründen, die vielleicht mit den Blitzschlag-Exzessen nicht unverwandt waren. Und wie war er Alma begegnet, dieser sanften Engländerin von der Isle of Wight, durch welch mysteriösen Weg? Wahrhaftig, die Begegnungen der Wesen durch Raum und Zeit ergeben eine seltsame Geographie, und wir kennen noch nicht die kleinen unsichtbaren Leuchtfeuer, die unsere Nachen lenken und sich gegenseitig in der Nacht über Entfernungen jenseits der Geburten zurufen, während wir dem Zufall folgen oder mit dem Südwind treiben und auf den Antipoden der Landkarte landen. Theon kannte sogar Indien, wo er eingeweiht worden war: Er beherrschte ein wenig Sanskrit und kannte den Rig-Veda von Grund auf, erzählte Mutter, er behauptete, er sei in eine “der Kabala und den Veden vorangegangene okkulte Tradition” eingeweiht worden. Und woher nahm er diese Tradition, aus welchem verschwunden Kreis von Eingeweihten? Aber Theon bluffte nie, außer mit arabischen Händlern; auch war Mirra nicht zu bluffen, obgleich sie nach sechundzwanzigjähriger Abstinenz heißhungrig zuhörte beim gemeinsamen Spaziergang durch die Alleen von Zarif oder im Basar von Tlemcen, wo sie unter den strengen Blicken der Mohamedaner im Kimono einherging (schließlich befinden wir uns am Anfang des 20. Jahrhunderts und Abd-el-Kader wirft bereits seinen Schatten voraus, während Abd-el-Krim in unmittelbarer Nachbarschaft seine Verschwörungen mit Wilhelm II anzettelt; dennoch gefiel es Mirra nicht, daß man Frauen verschleierte, genauso wenig wie Mathilde die Vormundschaft des Kedhifs ausstehen konnte). Theon erörterte: “Diese sogenannte Zivilisation, in der die Anführer selber nichts von den Tiefen des Lebens wissen, wo Mystiker sakrale Bücher lesen und sie so verstehen, wie man ahnungslos über Diamantenminen schreitet, die Nase zum Himmel erhoben104…!” Er aber blickte auf die Erde. Ebenso Mirra. Er zitierte sogar den Apostel Petrus: “Eine neue Erde, auf der die Wahrheit wohnen wird105.” Wie Sri Aurobindo proklamierte er eine neue, übermenschliche Menschheit, ausgestattet mit einem neuen Körper, der, wie er sagte, aus einer “dichteren Substanz als die Materie” beschaffen sein wird. Wir wissen nicht genau, was er damit meinte, denn als “dichtere Materie” ist uns höchstens ionisierte Materie bekannt, die unter extremem Druck und Hitze inneratomaren Veränderungen unterworfen wird, oder die Materie bestimmter zerfallener Sterne, die eine durch gewaltige Kräfte herbeigeführte Schrumpfung aufweisen, wie bei Neutronensternen oder schwarzen Löchern. Wie dem auch sei, vielleicht werden Mutters weitere Erfahrungen uns darüber aufklären.
Was war Theons Geheimnis?
Es gibt die obere Pforte. Sie ist die bekannteste und zugleich die am wenigsten erkannte Pforte. Der niederen Pforte haftet alle Verachtung der sogenannten Erleuchteten an, die einen schnell des “Machthungers” oder sogar wie in Europa der “Hexerei” bezichtigen, um einen schnurstracks auf den Scheiterhaufen zu schicken. Die obere Pforte ist vom Nimbus des Himmels umgeben, denn was nützen schon “Mächte”, wenn man nur aus dieser leidigen Geschichte herauszukommen sucht – eine einzige Macht würde genügen, und zwar die herauszukommen. Seit Jahrhunderten (wenn auch nicht in allen) haben Weise und Heilige in jeder Hautfarbe teils fröhlich, teils mühselig die vertikale Welt erklettert, so vertikal wie nur möglich, ohne die dazwischenliegenden großen strahlenden Königreiche des Geistes je zu erblicken, wie Sri Aurobindo sagte. Möglicherweise erreichen sie ihr Ziel; aber nur, um im Unendlichen einzuschlafen106. Amen. Die armen Menschen unten begnügten sich damit, schlecht und recht ein paar Lichtschimmer herabzuziehen, aus denen sie ein Gedicht, ein Quartett oder eine erstaunlich einfache Gleichung schöpften oder des öfteren größere und kleinere Kirchen, die jede das Alleinrecht auf den Strahl beanspruchten. Was aber nützen Quartette und Gleichungen, wenn das Ziel darin besteht, aus alledem herauszukommen? Jene, denen nicht daran lag herauszukommen, hatten weder die notwendige Meisterschaft noch die Disziplin, um wissentlich in diese vertikale Richtung zu klimmen und bessere Quartette oder bessere Gleichungen herabzuziehen – so blieben wir auf der einen Seite das Spielzeug vager “Inspirationen”, und auf der anderen verfolgten wir eine gewisse “Befreiung”, die eher ungewiß war, denn sobald wir zufällig etwas brutal aus unserem Himmel gezerrt wurden, waren wir wieder wie der Rest der Menschheit, wütend und angewidert von den Reibereien dieser Welt. Kurz, es war der “Himmel” zwischen den vier Wänden eines Klosters oder Ashrams. Man starb jedoch nicht minder. So waren wir gespalten zwischen machtlosen Mystikern und manchmal zu mächtigen Scharlatanen oder eher vagen Poeten. Letzten Endes litt diese vertikale Welt unter einer gewissen Irrationalität, die vermutlich nur unsere eigene war.
Mirra hingegen war überhaupt nicht vage. Sie hatte diese Stufen der vertikalen Richtung genau erkannt. Sie kannte die Welt der farbigen Wellen, der Rhythmen, denen große musikalische Wellen entströmten. Dort oben war plötzlich ein Klang… aber so vollendet! So voll, als ob etwas berste… ich weiß nicht, viel kraftvoller als ein Orchester, etwas Berstendes und so ungeheuer Mächtiges!… Große blaue Noten. Sie hatte den Ursprung der Musik berührt, vielleicht die Quelle aller Formen. Man muß den Klang auffangen, sagte sie. Ja, auffangen, aber wie? Da war auch die Welt der großen schöpferischen Vibrationen der Zukunft, wie ein ungeheures stetes Glockenspiel über der Erde, die manchmal kleine “Lichttropfen” herabfallen ließen, die eine Offenbarung, eine Intuition auslösten, vielleicht wie jene verlorengegangenen Gedichte, die sie im Schlaf notierte. Wenn wir aber diesen “Klang von oben”, diesen Rhythmus, diese Vibrationen aufzufangen versuchen, dann ist es, als ginge es durch ein Sieb, und alles zerfällt in kleine Stücke. Übrig bleibt nur eine mentale Übertragung. Noch weiter oben war es dann wie ein leuchtendes Entschwinden, bewegungslos, leer, formlos: eine große Schneestille, die Ewigkeit. Aber um die Wahrheit zu sagen, wir haben uns immer über diese Schneestille gewundert. Sie ist herrlich, sie ist frei, sie ist weit, man atmet – oh, wie wundervoll man darin atmet, einen ganzen Himmel kann man aus ihr zaubern, und es ist ein Himmel! Aber selbst auf die Gefahr, ungehörig zu erscheinen, fragen wir uns doch, wie wohl unserem Freund, dem Hundskopfaffen, unsere einfache mentale Welt erscheinen würde, die seine vertikale Richtung darstellt? Wäre er nicht, gemessen an der engen Mechanik seiner sinnlichen Wahrnehmungen, genauso in der Ekstase des Nicht-Verstehens und der verwirrenden Immensität in Ohnmacht versunken? Der “Himmel” ist vielleicht recht “anpassungsfähig”, wenn man so sagen darf. Vielleicht wissen wir überhaupt nichts von dem “Ganz-dort-oben”, nicht mehr, als wir über das “Ganz-hier-unten” wissen. Vielleicht müssen wir beides zusammenbringen, um wirklich zu wissen, was das eine und das andere ist?
Das begann sich auch Mirra zu sagen.
Was sie frappierte, was sie suchte, war der Schlüssel zu diesem “Sieb”. Denn immer wenn man “das” in die Materie herabzubringen versuchte – diesen Klang, diese Vibration, die Harmonie (wie man es auch nennen mag), dieses Etwas, das endlich die Schichten des niederen Determinismus ändern würde –, dann war es wie Wasser, das im Sand versickert, und das Resultat war sehr vermindert, bruchstückhaft, verformt und scheinbar ohne wirkliche Kraft, als habe sich der Strahl bei jeder durchquerten Schicht verdunkelt, verschleiert, gefärbt und in winzige Stücke zerstäubt bis zur äußersten pulverisierten Verfinsterung, die eine Art opake Materie ergab, auf der wir hier schreiten. Das war vielleicht der verzweifelte Grund, warum sämtliche Weisen aller (fast aller) Zeiten endgültig herauszukommen suchten: hier ist nichts zu machen, es ist hoffnungslos, am besten läutert man sich so weit wie möglich und entschwindet in die Schneestille oder auch eine weniger erhabene Region, jedenfalls in irgendeinen Himmel in Einklang mit den Fähigkeiten und dem Geschmack oder Glauben; in der Zwischenzeit, mein Gott, tut man seine Pflicht, ist gut zu seinem Nächsten, heilt Kranke, wenn man kann, und dreht sich weiter im Kreis, bis jeder es genügend satt hat, um endgültig da herauskommen zu wollen. Gut, aber der Himmel des Hundskopfaffen ist letztlich eher ungewiß – sind wir des unseren so sicher? Versteckt sich dahinter nicht noch ein weiterer böser Trick, um uns an irgendein anderes Rad zu spannen, das wir nicht voraussahen, ebensowenig wie der Hundskopfaffe seine nahende mentale “Befreiung” voraussah. Vielleicht hegt unsere Mutter, die Natur, Absichten, die alle unsere Evangelien vereiteln werden, seien sie materialistisch oder anders. Was ist letzten Endes diese vertikale Welt, wenn nicht unsere evolutionäre Zukunft? Diese Zukunft ist die unsrige, so wie wir die Zukunft des Fisches in seinem Aquarium sind. Warum wollen wir die Zukunft unbedingt in den “Himmel” verlegen – für den Fisch sind wir vollkommen irdisch und haben, soviel wir wissen, überhaupt nichts Übernatürliches. Unsere Zukunft ist vielleicht ebenso irdisch und natürlich, wenn auch auf eine Weise, die unserer schwerfälligen Materie und unserem in Schubladen eingeschlossenen Mental noch entgeht. Wir müssen die “neue Erde” finden. Wir müssen die “Art” finden, die nächste Art, wie Mutter sagte. Es muß eine solche geben, denn warum sonst hätte die Natur die Evolution überhaupt erfunden?
Immer blieb dieses “Sieb”, dieser zerteilte Strahl, die ganze Strecke der Zukunft, die uns stückweise erreicht – könnte man die Zwischenschichten entrümpeln, wäre das Problem vielleicht gelöst. Sie für sich selbst zu entrümpeln, wäre noch denkbar, sie aber auf kosmischer oder auch nur menschlicher Ebene zu entrümpeln, scheint… schwierig. Zumindest würde es Jahrhunderte oder Jahrtausende benötigen, eine ungeheuer langsame Evolution, die unzählige Körper verschwendet und Schmerzen anhäuft, nur um diese “einfache” klare Lehre zu erlernen. Warten, bis jeder einzelne Mensch diese Lehre erlernt hat…? Und wenn dann immer noch ein einziger etwas Hartnäckiger übrigbliebe, wo wäre dann die “Befreiung” der anderen, wo doch alles ein Körper ist? Wir kommen nicht heraus, oder wir kommen alle zusammen heraus. Wir ändern nichts, oder wir ändern uns alle zusammen – der gesamte Körper muß sich ändern. Welcher reine Strahl könnte dieses einzigartige Wunder bewirken? Wir können es dem langsamen Wirken der Jahrhunderte überlassen, und zweifellos wird es geschehen, allen Materialisten und Spiritualisten zum Trotz, denn was kann den Samen daran hindern, Baum zu werden? Die Evolution ist die sicherste Sache der Welt, sie ist ein unwiderstehlicher Bulldozer. Aber schließlich könnten wir die Bewegung beschleunigen wollen, das Geflecht des Elends etwas verkürzen. Das sagte sich Theon. Und das begann Sri Aurobindo sich zu sagen. Mirra suchte ihrerseits den Strahl, der alle Schichten erhellen würde. Je mehr man in die Tiefe dringen will, desto mächtiger muß der Strahl sein. Je tiefer man in die Materie hinabsteigen möchte, desto höher muß man sich im Bewußtsein erheben107, weil der Widerstand um so stärker wird. Sie sah es deutlich. Aber je mehr man sich in diesem vertikalen Bewußtsein erhob – und hier liegt das Dilemma –, desto mehr schien es zu entschwinden oder, von oben gesehen, schien die Erde wie ein böser Traum bedeutungsloser Inkonsequenz zu verblassen. Eine Illusion.
Dies war das Dilemma, und es hatte nichts Philosophisches, sondern war rein praktisch, wie ein chemischer oder physikalischer Ablauf. Ein Element fehlte. Man schwankte zwischen der ausschließlichen Realität eines Himmels ohne Verbindung mit der Materie und der ausschließlichen Realität einer Materie ohne Verbindung mit dem, was sie heilen könnte. Wenn man zwischen diesen beiden Stühlen sitzt, ist das weiß Gott keine bequeme Lage. Vielleicht etwas so Dunkles wie der Übergang vom Fisch zum Säugetier.
Doch es gibt einen Übergang. Es gibt eine Verbindung, denn wir gelangen nicht mit einem Sprung von den Gipfeln des Mentals zur reinen und formlosen Stille der Ewigkeit, sonst bliebe uns keine Hoffnung und wir wären auf evolutionäre Weise zum Super-Menschen verurteilt, der Super-Quartette, Super-Gleichungen und Super-Kirchen fabrizieren würde, die gleiche Runde wie auf der niederen Ebene, nur verklärt, aufgeblasen und titanenhaft, einem menschlichen Tausendfüßler ähnlich, der sich ein zweites Paar tausend Füße erfände oder ein viertes Gehirn und Supermaschinen, um seiner Lebensmüdigkeit abzuhelfen, bis wir des Ganzen überdrüssig und endlich bereit wären abzuspringen, um in einen ewigen Winterschlaf einzugehen oder uns in einer weißen Ewigkeit aufzulösen, die wir nie hätten zu verlassen brauchen. Denn alle diese “höheren” Stufen, die uns entzücken und inspirieren, sind nur die helleren Schichten oder höheren Gewässer desselben Goldfischglases – des mentalen Goldfischglases: das Mental ist das Goldfischglas –, es ist dasselbe Prinzip, dasselbe Gesetz, nur effektvoller und dröhnender sozusagen. Es ist die gleiche Zersplitterung unter einem gewissen goldenen “Sieb”, das den Strahl in unzählige kleine oder große Farben zerteilt, die alle unsere getrennten Bilder und getrennten Miseren bestimmen – denn letzten Endes gibt es nur eine Misere, und zwar die, in einem Körper und in einem kleinen, nie vollendeten Bild getrennt zu sein. Darüber gibt es nur den großen Sprung ins Bildlose, was selbstverständlich für die Faulenzer der Evolution eine Lösung ist.
Aber es gibt etwas anderes.
Mirra wird auf experimentelle Weise wiederentdecken, was die Rishis vor sieben- bis zehntausend Jahren, zu Beginn dieser unglücklichen (?) Epoche entdeckt hatten, und was Theon suchte – und was Sri Aurobindo schon im mächtigen Urwald der Shakti freizulegen begann. Denn die vedischen Rishis waren keine Schläfer des Geistes. Sie waren große Eroberer und Helden, noch unberührt von der Hast und Ohnmacht unseres heutigen Eisenzeitalters, wo schwerfällige Menschen die Herrschaft über sich selbst durch die Herrschaft der Maschinen und das kraftvolle Licht durch soziologische Ethik und Paradiese aus Rosenwasser ersetzt haben. Sie hatten methodisch alle Ebenen erforscht und das entdeckt, was sie geheimnisvoll “ein gewisses Viertes”, turiam svid nannten.
Mirra arbeitete. Theon gab sich nicht mit Worten zufrieden, er wollte Resultate. Dies nahm jeden Morgen eine Stunde in Anspruch, übrigens eine recht gefährliche Arbeit: die Energie des Körpers ging hinaus – alles, alles ging hinaus, wie wenn man stirbt. Sehr methodisch ging sie von Ebene zu Ebene, zwölfmal hintereinander wie Madame Theon: Es gelang mir sogar mit viel Geschicklichkeit; ich konnte auf jeder beliebigen Ebene haltmachen und tun, was ich dort zu tun hatte, konnte mich dort frei bewegen, konnte sehen und das, was ich sah, sagen und notieren. Denn sie hatte ihren Körper so gut trainiert, war sich auf allen Ebenen (die für uns wie ein tiefer und völlig unbewußter Schlaf wären) so vollkommen bewußt, daß sie schwach aber deutlich sprechen konnte, obwohl sie sich außerhalb ihres Körpers befand, der in einem der Katalepsie ähnlichen Zustand mit nur noch schwach schlagendem Herzen auf dem Diwan ausgestreckt lag. Das bedeutet, ihre körperliche Materie war schon sehr geklärt oder geläutert und somit fähig, die Erfahrungen von “oben” mitzuteilen. Theon hörte begierig zu. Mirra war gerade noch durch einen winzigen Lichtfaden mit der Erde verbunden – “die Schnur”, wie sie es nannte – offensichtlich gefährliche Erfahrungen. Falls der Faden reißt, bleibt keine Möglichkeit zurückzukehren, man “vergißt” gewissermaßen seinen Körper und ist “tot”. Man lebt zwar recht gut auf den anderen Ebenen weiter, ist aber von der irdischen Ebene abgeschnitten. Das ist im allgemeinen, was geschieht, wenn man stirbt. Eines Tages hatte Mirra sogar die Gelegenheit, die Erfahrung des vollständigen Todes zu machen, und zwar unter ziemlich tragischen Umständen – oder zumindest wären sie für jeden anderen tragisch gewesen –, die recht gut Theons “andere Seite” enthüllten. Auf einer gewissen Ebene hatte sie etwas entdeckt, das wie die Vibrationsweise oder die Kombination von Vibrationen war, die das Leben erzeugt, das heißt auch das, was den Tod bewirken konnte – offenbar eine ziemlich gefährliche Macht, wenn sie in falsche Hände gerät. Innerlich wußte sie, daß sie nicht weitersprechen durfte, so hörte sie genau in dem Moment auf zu sprechen, als Theon anfing, das höchst interessant zu finden. Das versetzte ihn in rasenden Zorn, und der Faden zerriß; Mirra blieb gerade noch Zeit, “gerissen” zu hauchen, und Theon wurde plötzlich mit der Ungeheuerlichkeit seiner Handlung konfrontiert. Er muß in kalten Schweiß ausgebrochen sein. Es bedurfte Theons ganzer Kraft und Mirras ganzer Kunst, um die Verbindung wiederherzustellen, und Mutter erzählte, daß die “Reibung beim Eintreten” in den Körper einen so furchtbaren Schmerz verursachte, als hätten sich alle Nerven jäh mit Strom geladen – der Lebensstrom wohlverstanden. Plötzlich begriff sie, warum Neugeborene schreien. Wie dem auch sei, hiermit begann Mirra die bewußte Erfahrung des Todes im Körper, die später in ihrer Suche, “die alte Frage” zu lösen, zum Gegenstand sehr gründlicher Erfahrung wurde. Das “Geheimnis des Lebens” vertraute sie später Sri Aurobindo an, der es schlicht in Vergessenheit geraten ließ, denn nicht auf diese Weise sollen Leben oder Tod geändert werden, nicht durch eine willkürliche Macht – das ewige Scheitern der Macht – sondern durch eine Änderung in der eigentlichen Substanz von Leben und Körper. Mirra und Sri Aurobindo befanden sich am entgegengesetzten Pol des Super-Menschen und Super-Demiurgen, der Theon so sehr interessierte: sie suchten eine neue und natürliche Evolution der irdischen Natur, keine okkulte und “übernatürliche” Revolution, die darüber hinaus nicht dauerhafter wäre als der Taumel eines Feuerwerks, bevor das “Gummiband” wieder zurückschnellt wie vorher. Sie suchten ein anderes Prinzip als eine gipfelnde Steigerung unseres mentalen Goldfischglases – ein armseliger Gipfel.
Mirra war dabei.
Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß Mirra immer am Scheideweg zugegen war, wie an dem des ersten Aufbrechens der äußeren Erscheinungen (Max Planck 1900, Einstein 1905), das sich auf seltsame Weise mit dem farbigen Durchbruch der Impressionisten verband, als ob nicht alles immer eine einzige Bewegung wäre! Ein und dasselbe Samenkorn wird in einer bestimmten Epoche gesät und erblüht überall unter verschiedenen Namen, Formen und Gesichtern. Jetzt stand sie mit Theon am Scheideweg der Evolution, vielleicht angesichts einer Wiederauferstehung alter Atlantiden – die heimlich ihren Weg bis zu Hitler bahnten –, und einem völlig unbekannten aber erkennbaren Weg, auf dem sie sich mit Sri Aurobindo dort drüben und einem schwankenden Theon vorantastete.
Während dieser Experimente sollte sich eine ganz besondere Erfahrung ereignen, eine Erfahrung, die Mirra schon alleine in Paris gemacht hatte und die sie sich nicht erklären konnte – aber, um die Wahrheit zu sagen, sie versuchte gar nichts zu erklären, denn es war wie ein Chaos von Erfahrungen, die ohne sichtbare Verbindung von einer Ebene zur anderen hüpften. Wie sie selbst sagen wird, ging es nicht darum, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern man stand der Tatsache gegenüber, das war alles. Der Vorteil ist, daß meine Erfahrungen nicht mental konstruiert waren. Und immer blieb sie Theon dankbar, trotz seiner gefährlichen Streiche (die vielleicht jene eines ehemaligen Dogen fortsetzten). Trotz allem hat er mir vieles beigebracht. Was wissen wir schon über unsere heutigen Gesten? Sie setzen alte Gesten fort und vollenden heute ein Bild, das wir begannen, als wir uns in andere Farben kleideten und vielleicht nach einem entgegengesetzten Ziel dürsteten… immer das gleiche Ziel, aber in einem anderen Licht gesehen. Wir können nichts verstehen, solange wir nicht alles verstehen. Aber das ist ein anderes Bild. Die wirklich merkwürdige, wir könnten sagen die “wissenschaftlich merkwürdige” Tatsache war, daß Mirra nicht nur mehrere Male hintereinander die gleiche Erfahrung machte, so regelmäßig wie ein wiederholtes Chemieexperiment, sondern daß auch Madame Theon die gleiche Erfahrung machte… daß Sri Aurobindo sie ebenfalls machen wird… und daß diese Erfahrung genau mit derjenigen der vedischen Rishis übereinstimmt, von denen Mirra nichts wußte, bevor sie Theon begegnete.
Eines Tages, als sie von Ebene zu Ebene ging, jenem “höchsten Punkt” entgegen, wo das Bewußtsein zu entschwinden, sich zu verflüchtigen, seine Dimension in einer Art Unendlichkeit zu verlieren schien, gerade an der Schwelle dieser Unendlichkeit, in der alle darunterliegenden großen Wellen und leuchtenden Vibrationen erlöschen – auf dem goldenen Gipfel, von dem die Menschen ihre Evangelien, ihre Offenbarungen und ihre goldene Musik herabziehen, ihr großartiges Weltbild, das in so vielen widersprüchlichen Farben dargestellt wurde –, als all das wie von Nichtigkeit geschlagen in einem höchsten, in sich ruhenden Weiß der Wonne verschmolz, stand Mirra plötzlich an dieser goldenen Schwelle, kurz vor dem großen Sprung und war ergriffen von etwas gänzlich anderem, etwas radikal anderem. Einem anderen Bewußtsein. – War es wirklich ein Bewußtsein? Denn es war von ungeheurer Festigkeit, das Gegenteil der Verdünnung oder Verfeinerung: eine Substanz kompakten, verdichteten Bewußtseins. Nichts bewegte sich oder schien sich zu bewegen, keine einzige Welle, oder falls es eine Welle gab, war sie wie erstarrt. Alle Strahlen – die unzähligen Strahlen, die sich unten zerteilten und bis ins Unendliche zerstückelten – wurden hier zu einem kompakten Block gebündelt. Es war sogar ziemlich erdrückend, so dicht war es. Ein dichtes Bewußtsein. Es war von rot-goldener Farbe. Darin sah sie für einen Augenblick, was sie zuvor ganz allein in Paris gesehen hatte und was auch Madame Theon gesehen hatte: eine Form, die sich als Silhouette in einer rot-goldenen Pracht108 abzeichnete und eine Art Prototyp darstellte, wie sie sagte, ein Mensch – keineswegs ein Gott – aber der unerdenklichste Übermensch, den wir uns vorstellen können. Etwas, das schon existierte und wartete. Das vielleicht schon seit jeher wartete. Unsere Zukunft, die Zukunft des Menschen. Ein Mensch in einer anderen Bewußtseins-Substanz – und kein “Traum”: Darin träumte man nicht, es war solider als der Himalaja. Ein verdichteter Mensch. Machtvoll, äußerst machtvoll, aber in einer Unbewegtheit – diese Unbewegtheit war das ungeheuer Machtvolle. Eine rot-goldene Pracht, die Zukunft. Keine Super-Quartette, keine Super-Evangelien: ein verdichteter Mensch. Ein anderes Seinsprinzip. Etwas, das wie die Fortsetzung des Menschen war, aber dennoch so radikal anders, vielleicht ebenso anders, wie sich der Sauerstoff des Fisches vom Sauerstoff des Menschen unterscheidet – das Atmen war anders. Hier atmete man nicht auf dieselbe Weise, man war nicht dasselbe. Ein anderes Wesen. Eine andere Seinsweise.
Jenseits des “höchsten Punktes” war etwas.
Das Ende des Menschen war der Anfang von etwas.
Die Evolution führte zu etwas, das nicht die weiße Unendlichkeit war.
Vor etwa sieben- bis zehntausend Jahren sagte der Rig-Veda dasselbe, er sprach von der gleichen Erfahrung in seiner symbolischen Sprache: “Die ewige Wahrheit ist von einer Wahrheit verdeckt… wo sie die Pferde der Sonne ausspannen; die zehntausend [Strahlen] waren dort noch zusammen – da war jenes Eine, tad ekam. Ich sah die größten aller Götter in einem Körper” (Rig-Veda, V.62.1). Jenseits der goldenen Wahrheit der mentalen Gipfel erstreckt sich eine Sonnen-Wahrheit, wo die zehntausend Strahlen unserer verstreuten Intuitionen und gegensätzlichen Bilder sich in einem kompakten Körper vereinen: da ist dieses Eine. “Das Antlitz der Wahrheit ist von einem goldenen Deckel verdeckt109”, verkünden die Upanischaden, dies ist das goldene “Sieb”, das unsere ganze mentale Welt zerstückelt. Sie durchquerten den spirituellen Deckel der Welt, die immer dünner werdenden Schichten des “Geistes”. Sie fanden “den großen Übergang”, mahas pathah (II.24.6): “Der Himmel [des Bewußtseins] wurde so fest wie ein gut geformter Pfeiler… ein Gott öffnete die menschlichen Tore” (V.45). Sie betraten ein “dichtes Bewußtsein”, chidghana110, sie berührten eine andere Macht und ließen “in einer Bewegung die menschlichen Kräfte und die göttlichen Energien fließen” (IX.70.3). “Da erwachten sie und sahen vollkommen; hinter sich und überall um sich herum erreichten sie wahrlich die Ekstase selbst, deren man sich im Himmel erfreut” (IV.I.18). “Als Sterbliche erlangten sie die Unsterblichkeit” (I.110.4).
Diese neue Welt nannte Sri Aurobindo das Supramental. Es ist das turiam svid der vedischen Rishis, ein “gewisses Viertes”, vielleicht das vierte Stadium der Materie – der kommende Zustand. Ein Zustand, in dem die Materie nicht stirbt.
Eine andere Materie? Oder eine andere Sicht derselben Materie? Ein anderes Atmen in der aus ihrem mentalen Gefängnis befreiten Materie?
Endlich hatte Mirra den Strahl gefunden, der alle niederen Determinismen verändern konnte.
Besonders interessant ist, daß sie – wir wissen nicht genau wann, wahrscheinlich zum gleichen Zeitpunkt – eine Art Ebenbild dieses höheren Wesens sah, aber ganz unten, in den tiefsten Schichten der materiellen Unbewußtheit: Ein Wesen, das wie in intensivem Schlaf in der Tiefe einer sehr dunklen Höhle ausgestreckt lag. Im Schlaf gab es Strahlen prismatischen Lichts von sich [“irisiertes Licht” nannte sie es auch], die sich nach und nach im Unbewußten ausbreiteten111. Das eine auf der höchsten Stufe des Bewußtseins in rötlich-goldener Herrlichkeit und das andere in diamantenem Weiß, von opalfarbenen Strahlen umgeben auf den ersten stummen Stufen der Existenz, in den ältesten Schichten der Evolution, als “sich Dunkelheit noch in Dunkelheit hüllte”, in der mächtigen Bildersprache des Rig-Veda (X.129.3). In dem Augenblick, als Mutter dieses Wesen sah, öffnete es die Augen, als erwache es – als schlummere verborgen in der tiefsten Materie, in den dunklen Anfängen der Dinge die Verwirklichung des Ziels, die eigentliche Energie, die diese ganze Evolution zu ihrer goldenen Blüte führen wird… Wir reden von “Zukunft” und “Vergangenheit”, “Gipfeln oben” und “tiefen Höhlen unten” in einer unzulänglichen Sprache und mit Bildern, die nur unsere dreidimensionale Unfähigkeit in einem Goldfischglas zum Ausdruck bringen, die Verzerrung und Zerstückelung einer Gesamtheit, die nie aufhörte, total zu sein, ohne oben und unten oder Himmel und Hölle: Die einzige Wegstrecke ist die unseres Bewußtseins, das alle Schichten durchquert, um das zu erlangen, was schon immer da war. Es geschieht nichts als nur die Wiederentdeckung unserer eigenen Gesamtheit, “und sie sahen vollkommen”. “Das, was in dieser Welt ist, ist auch in der anderen”, sagt die Upanischade, “und das, was in der anderen ist, ist auch hier; derjenige, der glaubt, hier einen Unterschied zu sehen, geht von Tod zu Tod112.” In anderen Worten, je weiter wir in der Evolution “vorangehen” und die dichten Schichten entrümpeln und klären, desto mehr rückt das ewige Ding “dort” in die Nähe unseres Bewußtseins – zuerst in unseren Träumen, unseren Visionen, dann in unserer Phantasie, unseren Gedanken, unseren Gefühlen – bis es endlich mit unserer Materie und unserem Körper übereinstimmt; dann wird das Wesen dort zum Wesen hier, und die beiden werden eins, die nie aufgehört hatten eins zu sein. All unser Elend und unsere Aspiration sind nur das erste Flüstern dieses vergessenen Einen, das sich im vergeßlichen anderen wieder seiner selbst erinnert. Wir streben nach dem, was da ist, denn nach was sonst sollen wir streben? Der Schlamm strebt nicht nach Schlamm, und wenn er sich zum Licht und zum Lotos im Licht verwandelt, so deshalb, weil das Licht seit jeher da war und der Lotos ewig in der Tiefe seiner dunklen Saat leuchtete. Die höchste Energie ist die ursprüngliche Energie. Die höchste Stufe ist die erste Stufe. Überall und immer begegnen wir uns selbst – wie könnte das Nichtexistente dem Existenten begegnen, wenn es nicht schon seit jeher existierte? Im zerstückelten, zerteilten, pulverisierten Atom verbirgt sich der höchste Strahl; das höchste, alles umfassende, mächtige, unsterbliche Eine liegt in der Tiefe einer kleinen vergeßlichen Zelle genauso wie im gesamten interstellaren Raum. Denn wahrhaftig “der Geist, der sich hier im Menschen befindet, und der Geist, der dort in der Sonne lebt, ist ein und derselbe Geist, und es gibt keinen anderen113”. In der Evolution kommt ein Augenblick, ein höchster Augenblick, wo das Zusammentreffen naht, wo das strahlende Bewußtsein – frei von den Schichten, die in Wirklichkeit Schichten des Vergessens sind – sich über seinen kleinen Körper beugt und sich selbst wird, vollkommen, mächtig, leuchtend, unsterblich bis in die dunkelste kleine Zelle. Dann vereint sich das Wesen “oben” mit dem Wesen “unten”, der Übermensch wird zum Menschen, die unverstümmelte Gesamtheit findet sich im dunkelsten Fragment – was war, ist. Eine andere Zeit. Eine andere Sicht. Und der Tod wird besiegt sein, denn der Tod war nur das Vergessen unserer selbst. Wenn der Körper sich vollständig erinnert, wenn er vollständig das sein wird, was er ist, erleuchtet, geklärt, wenn die beiden sich bis in die dunkelste Zelle hinein umarmen, dann werden wir vollständig unsterblich sein in einem neuen Körper, auf einer neuen Erde. “O Menschen”, sagten die vedischen Rishis, “folgt dem leuchtenden Faden, webt ein unzerstörbares Werk, werdet zum menschlichen Wesen, erschafft die göttliche Rasse… Seher der Wahrheit, schärft die leuchtenden Lanzen, die den Weg des Unsterblichen freischlagen, Kenner geheimer Ebenen, formt die Stufen, auf denen die Götter die Unsterblichkeit erlangen werden” (Rig-Veda X.53, 5, 6, 10). “Dann wird deine Menschheit wie das Wirken der Götter sein, als wäre das Licht des Himmels sichtbar in dir begründet” (V.66.2).
Dieses Zusammentreffen der beiden werden Sri Aurobindo und Mutter die Transformation nennen. Es ist der Übergang vom menschlichen Körper zu einem supramentalen oder übermenschlichen Körper.
Ein geheimnisvoller Übergang. Aber in der Evolution war jeder der vorausgegangenen Übergänge von einer Spezies zur anderen ein Geheimnis. Immer gab es einen Augenblick, in dem eine Veränderung, eine sprunghafte Mutation stattfand, wie langwierig auch immer die Vorbereitung gewesen sein mag und trotz aller dazwischenliegenden Arten. Man kann den Verlauf des Übergangs in Frage stellen und endlos darüber diskutieren, aber jedesmal fand der Übergang statt – trotz aller “natürlichen” Unmöglichkeiten und zweifelsohne auch trotz demjenigen, der Gegenstand der Mutation war. Es mag sein, daß unsere Sprache hier nicht angemessen erscheint – wir brauchen eine neue Sprache! rief Mutter mit Rimbaud aus –, wie kindisch mögen unsere Bilder anmuten, um den Übergang zur neuen Spezies zu beschreiben, die eine so andere Luft atmen wird und deren Bewußtseinsmaßstäbe sich zweifellos ebenso radikal von den unseren unterscheiden werden wie die des Tieres vom Mineral. Es ist ein wenig so, als ob die Raupe ihren eigenen bevorstehenden Tag als Schmetterling zu definieren suchte. Aber keine intellektuelle Raupe wird sich je selbst daran hindern, ein Schmetterling zu werden, all ihrer Raupenwissenschaft zum Trotz. Wir können zweifeln mit unserer intellektuellen Intelligenz, die, so kurzsichtig wie sie ist, nur eine Super-Verherrlichung ihrer eigenen Rationalität sieht (die jetzt weltweit versagt), aber die Evolution zweifelt nicht, und der Übergang wird stattfinden – mit oder ohne uns. In der Tat stehen wir mitten im Übergang, mahas pathah, dem großen Übergang, und unser wissenschaftlicher und intellektueller Materialismus ist vermutlich die überholteste Sache seit dem alten Moses auf seinem Sinaï. Übrigens werden wir bald auf den besagten Sinai, den größten Luftballon, der je platzte, zurückkommen. Warum aber sollte der Übergang nicht mit uns stattfinden? Anstatt das passive, ziemlich grob behandelte Versuchskaninchen der Evolution zu sein, könnten wir sozusagen ihr Mit-Experimentator werden. Genau das ist die ganze Geschichte von Mutter und Sri Aurobindo. Und es ist die mißglückte Geschichte Theons.
Auf die Unsterblichkeit könnten wir schließlich verzichten, denn sobald das Bewußtsein erwacht und den Faden früherer Existenzen zurückzuverfolgen beginnt, erscheint das schnell kindisch: Wem wäre schon daran gelegen, ein und denselben Mantel hundert Jahre lang zu tragen, fragte Sri Aurobindo, oder ewig in der gleichen engen, unveränderten Behausung eingesperrt zu bleiben114? Aber diese “Behausung” macht uns nun mal zu schaffen, und die Tatsache des Todes. Der Tod ist wirklich die Niederlage – die Niederlage des Körpers, könnte man sagen, aber das ist nicht wahr, er ist die Niederlage des Geistes; denn ungeachtet unserer Raupenaugen sind Geist und Materie ein und dasselbe, und weil wir weder die Realität des Geistes noch die der Materie gefunden haben, sterben wir. Wenn diese beiden eins geworden sind in etwas anderem, dann sind wir angekommen – und dieses andere Etwas ist ohne Zweifel unser nächster Körper.
Aber wir müssen diesen anderen Körper schaffen, er wird nicht vorgefertigt vom Himmel fallen. Was ist der Entstehungsprozeß?
Den Konsumbürger und Metaphysiker zu verewigen, wäre offensichtlich sinnlos – der Evolution ist die Metaphysik ziemlich gleichgültig, obgleich sie sich ihrer wie alles übrigen bedient. Sie strebt nicht danach, ein viertes oder zehntes Gehirn hervorzubringen oder einen Super-Menschen, der nicht mehr als ein verbesserter Schimpanse mit Mathematik und Fernseher wäre, sondern nach einem Instrument, das fähig ist, das Bewußtsein direkt zu lenken; denn das ausschlaggebende Faktum der Evolution ist Bewußtsein, es ist der ursprüngliche Motor, der Anfang vom Ende, es ist das, was wir mehr schlecht als recht durch die harte Schale eines Krebses oder eines Hirnkastens oder sonst irgendeines größeren oder kleineren Kastens zu manipulieren versuchen. Die Evolution errichtet keine Zivilisationen, sie formt ein immer umfassenderes Bewußtsein. Das Bewußtsein ist der Schlüssel zum Übergang, zu allen Übergängen. Es ist die Shakti auf der Suche nach ihrer eigenen Gesamtheit.
Dieses kommende, erweiterte, “dichtere” Bewußtsein sahen wir oben in irgendeinem “Himmel”, wie die Rishis, wie Mirra, die tief schlafend ihrem Körper entstieg, um die Stufen zu erklimmen. Aber all das ist unsere Raupensprache oder die Sprache der Fische in ihrem Goldfischglas. Wenn unser Freund, der Hundskopfaffe, dank eines besonderen Talents die nächsten Stufen der Evolution erforschen sollte, so erschienen ihm die ersten mentalen Grade wahrscheinlich wie ein entfernter Himmel hoch oben, den er durch eine Auflösung von allem, was sein bisheriges Leben als Affe ausmachte, berühren würde – wie könnte dieser mentale Himmel auch direkt in sein Bewußtsein eintreten? Darin wäre kein Platz, alles ist erfüllt von den verschiedenen Mechanismen seines Affenlebens; ein abruptes “Herabkommen” des mentalen Himmels in sein Bewußtsein wäre wie ein unerträgliches Zerplatzen. Im Schlaf jedoch, wenn alles seinen üblichen Lärm einstellt, wäre es möglich, daß einige erste fremdartige Schimmer oder Vibrationen sich in seinem Affenbewußtsein bemerkbar machen und in ihm etwas wie eine Sehnsucht oder Aspiration, ein entferntes, unerklärliches Verwundern zurückließen, einen plötzlichen Durchbruch zu einem unermeßlichen Verständnis, das in einem einzigen Blick sein Leben als Affe und das Leben aller Affen erfassen würde: eine unerklärliche Erklärung. Einen mystischen Hundskopfaffen würden die vernünftigen Nachbarn ihn nennen. Dennoch bereiten diese ersten schlummernden Spuren die nächste Furche der Evolution vor. Etwas erwacht in ihm, wie ein anderes Wesen auf dem Grund einer tiefen Höhle, das sich langsam, langsam seinen Weg an die Oberfläche bahnt – langsam klärt die Natur die Schichten und läßt die Jahrhunderte verstreichen in Erwartung des nächsten Auftauchens: das Zusammentreffen des mentalen “Himmels” mit der Erde in einer neuen hominiden Schöpfung. Dieses Reinigen der Zwischenschichten scheint der Mechanismus jedes Übergangs zu sein. Jedesmal wächst der Strahl und berührt ein immer weiteres Umfeld, eine immer dunklere Tiefe, als verleihe ihm die gewonnene Höhe jedesmal die Kraft, eine tiefere Schicht zu durchqueren, bis die höchste Energie sich selbst im Atom wiederbegegnet und das höchste Wesen im äußersten Vergessen. Der Tod ist die letzte Pforte zum Höchsten. So stolpert die Welt von Stufe zu Stufe, von Wesen zu Wesen, von “Himmel” zu Himmel der Gesamtheit ihres Bewußtseins entgegen – dem unzähligen Einen in jedem Punkt.
Jetzt erreichen wir den Punkt, wo ein neuer Himmel eine neue Erde berühren wird.
Der Unterschied ist jedoch radikaler, als wir denken, denn schließlich besteht zwischen Affe und Mensch kaum mehr als nur ein Unterschied des Grades eines gleichen Prinzips. Das, was Mirra gesehen hatte, wie auch die Rishis und Sri Aurobindo, war ein anderes Prinzip, etwas, das sich ebenso radikal von uns unterscheidet wie der Sauerstoff des Menschen vom Sauerstoff des Fisches, das sagten wir bereits, und dennoch ist es der gleiche Sauerstoff, nur völlig anders geatmet. Sie sah eine andere Struktur, oder vielleicht sollten wir es eine andere Materie nennen: eine bewußte Materie oder eine Materie, die aus Bewußtsein besteht, ein massives Bewußtsein – vielleicht die wahre Materie, die uns entgeht, die wir schlecht sehen und so schlecht leben. Wie sieht die “Erd”-Materie für einen Fisch aus? Natürlich wie das Ersticken all dessen, was der Fisch ist, vorausgesetzt er sieht sie, und dennoch sind es für uns die gleichen Atome, die gleichen Moleküle hier wie da, nur anders zusammengesetzt: dasselbe “Etwas” (das wir nicht wirklich kennen), das sich zusammensetzt. Und das, was sich unterschiedlich verbindet, ist Bewußtsein. Diese neue Verbindung suchten Sri Aurobindo und Mutter in ihren Körper zu bringen und dadurch in die Erde, denn sobald ein einziger Körper berührt ist, können auch alle anderen Körper berührt werden, weil es nur eine Materie und nur einen Körper gibt. Wenn sich die Materie in einem Punkt ändert, kann sie sich in allen Punkten ändern. Die ganze zu überbrückende Strecke besteht darin, die Zwischenschichten zu klären, damit dieser neue Himmel oder diese neue Verbindung Eingang in die Materie finden kann, ohne alles zum Explodieren zu bringen. Die Kluft muß überbrückt werden, wird Sri Aurobindo bald sagen, der verschlossene Durchgang muß geöffnet, Wege müssen gebahnt werden, um dort hinauf- und hinunterzusteigen, wo jetzt nur Leere und Stille herrschen115.
Ein gefährliches Abenteuer.
Ein gefährlicher Übergang für die Erde.
Ein kleiner Winkel im Atlasgebirge sah etwa im Jahr 1906 ein einzigartiges Zusammentreffen zwischen einer vergessenen, unter dem Unverständnis “höher entwickelter” Millennien verlorengegangenen vedischen Erfahrung und einer materialistischen jungen Pariserin, die nur an das glaubte, was sie “sehen und berühren” konnte; zehntausend Kilometer weiter (vielleicht gerade zu dem Zeitpunkt, als er wegen “Aufruhrs” zum ersten Mal verhaftet wurde) entdeckte ein junger Bengale namens Aurobindo Ghose, der ebenfalls eine westliche Erziehung genossen hatte, jenseits des höchsten “Gipfels” des Nirvana – das als so unantastbares, so endgültiges Ziel galt, daß zu behaupten, man ginge darüber hinaus, schlichtweg einer Blasphemie gleichkam – ein gewisses “Etwas”, welches das Saatgut des kommenden Zyklus der Menschheit enthielt. Welcher Wind wehte wohl in diesem Augenblick über die Erde? Welcher weit radikalere Aufruhr bereitete sich hier vor? Es geht nicht um einen Aufstand gegen die britische Regierung, was jeder leicht tun kann, wird Sri Aurobindo bald sagen, sondern um eine Auflehnung gegen die gesamte universelle Natur116! Und Mutter wunderte sich noch 1972, gerade ein Jahr, bevor sie ihren Körper verließ, als erschiene ihr das Einzigartige an der Sache immer einzigartiger oder immer aufschlußreicher: Theon und Sri Aurobindo kannten sich nicht, hatten einander nie gesehen, keiner wußte von der Existenz des anderen. Und ohne in irgendeiner Weise der gleichen Linie gefolgt zu sein, kamen sie beide zu demselben Ergebnis. In völlig verschiedenen Ländern, ohne sich je zu begegnen, gelangten sie zur selben Erkenntnis. Und ich kannte sie alle beide…
Zwei Wesen mit der gleichen westlichen, materialistischen Bildung fanden eine seit Beginn dieses Zyklus verlorengegangene und an die sieben- bis zehntausend Jahre zurückliegende Lehre wieder, als müsse die Menschheit eine immense Bahn durchlaufen, die Wege des Himmels oder die des Nichts bis ans Ende erforschen mit zahllosen Weisen und Heiligen, die allesamt in ein unendliches Weiß oder ein außerirdisches Paradies verwiesen; bis ans Ende die Wege der Wissenschaft erforschen, die allesamt in eine fast monströse Erde mündeten; auf den Wegen des Mentals ringen und leiden, die allesamt zu einem neuen weltweiten Babel führten, wo die Gedanken und Worte zu Falschgeld im Dienst der wimmelnden Egoismen und der machthungrigen Zwerge wurden; immer näher und tiefer in die eigene Misere stoßen auf allen Wegen des Glaubens oder Unglaubens, des Ja oder Nein, des Guten oder Bösen, wo nichts mehr gut oder böse ist, um am Ende in ein dunkles Loch zu geraten, dessen einzige untrügbare Realität der alte Tod blieb, mit oder ohne Bombe, inmitten eines tragischen oder grotesken Zirkus, in dem der Mensch sich selbst verspottete, unter den einzigen Wellen der Radios und demokratischen Parolen – als müsse die Menschheit die gesamte Kurve des Schmerzes vom Nullpunkt der Materie bis zum Nullpunkt des Geistes vollziehen, um den Zyklus endlich zu vollenden und jenen höchsten Ausgangspunkt zu erreichen, an dem einige Rishis gleichsam in der Tiefe einer dunklen Höhle, im Herzen der Materie, im Innersten ihres Körpers eine neue Sonne der Erkenntnis erblickt hatten, einen neuen Geist in einer neuen Materie: “Dieser Schatz im unendlichen Felsen” (Rig-Veda I.130.3), “die Sonne, die in der Finsternis weilt” (III.39.5). Vielleicht lag der Sinn dieses ganzen Zyklus darin, daß diesmal statt einigen wenigen über den Himalaja verstreuten Rishis die gesamte Menschheit diese Verwirklichung erreichen mußte – weil es letztlich nur einen Menschen gibt, eine einzige Evolution. Wir werden alle zusammen das Ziel erreichen, oder niemand erreicht es.
Wir sind angekommen, wir erreichen diesen Punkt, wir haben alles erschöpft, uns bleibt kein Wunderglaube mehr, uns nach oben oder unten irrezuführen. Wir haben uns vollständig erkannt: die Pforten des Versagens zeigen auf uns selbst.
Letztlich regiert das gleiche alte Gesetz über diesen Übergang wie über alle anderen. Der Schlüssel zum Übergang liegt weder in einem Paar neuer Kiemen noch in Superstirn- oder Scheitellappen, sondern genau in dem inneren Druck, dem Drang, der die Reptilien aus der Tiefe ihres ausgetrockneten Loches zog und sie zwang, Flügel zu erfinden, der die Fische aus dem erstickenden Loch zog und sie zwang, Lungen zu erfinden – der die Menschen mitten aus ihrer mentalen Pest herauszieht und sie solange malträtiert und behämmert, bis sie den Sprung in eine andere Bewußtseinsluft, in dieses Eine wagen, wo alle Miseren der Trennung und Teilung innerhalb der Materie geheilt sein werden.
Die Materie ist das Hindernis, die Materie ist der Schlüssel.
So kam es, daß Mutter Theon vor Sri Aurobindo begegnen sollte, als müsse auch sie alle verkehrten Wege des Möglichen ausschöpfen, bevor sie an die wahre Tür klopfte – vielleicht um gewissen alten wieder auftauchenden Atlantiden endgültig den Durchgang zu versperren, von denen Plato behauptete, sie seien neuntausend Jahre vor ihm versunken –, vielleicht auch, weil sie dem Tod ein erstes Mal begegnen mußte, bevor sie ihm sein Geheimnis entreißen konnte. Denn die alten Schriften verkünden: “Der Tod ist der Wächter der Erkenntnis117.”
Wir befinden uns in der Zeit des letzten Aufruhrs: des Aufruhrs gegen das Mental in der Materie und gegen den Tod in der Materie. Vielleicht ein und dieselbe Sache.
Das höchste Hindernis ist die höchste Pforte.
10. Kapitel: Der Drang zu Sein
Wir können wie Mirra die schönsten Visionen der Welt haben, die höchsten Gipfel des Bewußtseins berühren und verzückt in den großen Wellen einer göttlichen Musik schweben. Wir können die schönsten nur möglichen Abenteuer auf der Erde erleben, uns Leidenschaften hingeben, die uns für einen Augenblick in eine nie erlebte Fülle des Lebens versetzen, können in einem opalfarbenen sanften Licht baden wie Monet oder uns im Schrei der Möwen verlieren, lieben, wie hingerissen ein funkelndes weites Meer lieben, in dem sich das Unendliche so weit erschöpft, daß es beinahe ins Herz schmilzt oder das Herz in einen großen sanften Strom im Rauschen der Brandung hinaustreibt durch immer gelebte Jahrhunderte und kristallene Leben wie eine Sekunde. Und dann… dann fängt alles wieder von vorne an. Das Leben stößt sich und stolpert, die eine Sekunde ist nie erfaßt. Das Leben schillert und glitzert, aber etwas fehlt, fehlt schrecklich. Wir drehen und wenden uns, und es ist immer gleich; man geht voran, durch Kontinente und Geschichten, und es ist immer gleich: es ist da, als habe es sich nie bewegt, ein kleines, nie erfülltes Loch innen, ein kleiner Schrei eines selben Kindes vergessen am Ufer eines riesigen Strandes in keinem Land, während wir draußen laufen und reden, draußen kommen und gehen, aber was geht in alledem, was ist das alles? Wir lieben, lieben nicht, nehmen und geben und lachen und weinen, aber was heißt das alles, was bleibt, was ist? Etwas fehlt, fehlt. Es ist eine nie begonnene Geschichte, wie ein kleiner, nie geatmeter Atem innen, ein kleiner Schrei zu sein, da, rein, nackt, oh, der fragt: Wo ist das Leben, wo bin ich, wo beginnt das? Und manchmal bricht es zusammen, und alles bricht zusammen, und wir sagen, “Ah!” – als hätten wir nie auch nur eine Sekunde von diesem ganzen Chaos gelebt. Manchmal, in einem müßigen Augenblick am Ufer eines alten, zeitlosen Strandes, zwischen zwei Schritten verloren unter Millionen von Schritten hält etwas inne, schaut, wir sind da, ohne zu sehen, und schauen wie seit immer, wir sind da, vergeblich und nichtig, und für eine Sekunde sind wir: wir sind wie nichts, das schaut, und auf einmal ist die Welt in Sanftheit gehüllt. Es ist nichts, und es ist sehr sanft, und es ist wie das einzig Seiende. Dann ist es wie ein Lächeln, das aus Jahrhunderten des Vergessens auftaucht, aus verlorenen Stränden über Stränden, Millionen nichtiger Schritte und Millionen gleicher Geschichten, und nichts ist mehr gleich… für eine Sekunde. Eine kleine volle Sekunde, die die ganze Ewigkeit und alle Leben enthält, als sei es das, was wir suchten, das, was wir durch Leben über Leben hindurch waren, und das, wofür wir vorangingen, das, wofür wir liebten. Es ist nichts, und es ist gleichsam alles. Die einzige Geschichte in einer Sekunde. Und was sonst? Alle Himalajas und alle Visionen der Welt sind wie ein leerer Hauch neben diesem kleinen Atem, und wenn wir das nicht berühren, dann haben wir nichts berührt, nichts gelebt, nichts geliebt – es fehlt, es fehlt… Denn es ist das, was erfüllt, das, was lebt, das, was liebt. Was sonst?
Die große Geschichte der Welt ist sehr einfach. Sie ist in einer Sekunde enthalten.
Eine kleine Sekunde, die ist.
Wie eine weiße Flamme.
Ein Tropfen des großen Strahls.
So viel Aufhebens um nichts. So viele Schreie, so viel Suchen, so viele Schritte und Worte, Religionen und Philosophien: Was für Umstände sie machen! sagte sie. Man hält eine Sekunde inne, und es ist da. Es ist immer da. Es schaut wie ein verlorenes Kind, es versteht kaum etwas von all dem Getue: “Was, das ist das Leben? Was, das sind die Menschen? Was…” Wir schauen, aber es braucht nichts anzublicken: es ist der reine Blick. Wir sehen, wir laufen, wir suchen, aber es braucht nach nichts zu suchen: es ist da, es ist immer da. Wir wollen, wir wollen nicht, wir lieben und hassen, während es nichts von alledem braucht: es ist. Und es ist Alles – was kann darin fehlen? Es ist eine Blume, eine Rose, ein Mensch, ein Pferd, eine vorbeihuschende Eidechse: es ist all das, was ist. Es schaut, und es ist. Wir lassen unsere Finger durch den Sand gleiten, lassen uns im Lichtstrahl auf dem kleinen Blatt dahingleiten, wir blicken auf den Bürgersteig, egal was, ein reiner Blick, und schon sind wir staunend anderswo; wenn wir uns gehen ließen, würden wir stundenlang schauen: ein plötzliches Loch in diesem enormen Nichts, das sich bewegt, das kommt und geht… und dann ist es. Es ist. Ein Kind betrachtet es stundenlang. Ein Mensch hat es vergessen. Deshalb braucht er Schritte über Schritte, Worte, Evangelien, Schmerzen über Schmerzen und Philosophien, die alles verwirren, und eine enorme Verwirrung von allem, um plötzlich ein Loch dahinein zu bohren und in die freie Luft zu gelangen. Manchmal bringen wir nie ein Loch dort hinein, sind vollkommen tot auf zwei Beinen, behängt mit Orden, gesegnet mit Kindern, die ihrerseits das wiederzuerlangen suchen, was wir vergaßen. Es ist, und es ist so einfach, daß niemand daran denkt, es ist sogar zu einfach, als daß man daran dächte: es kann nicht so einfach sein! Jedenfalls nicht für die Magie des Mentals: sie webt, umgarnt, verzaubert und mystifiziert alles, was sie berührt, sie evangelisiert und verbannt, glaubt oder glaubt nicht, verurteilt oder billigt, und es ist alles das gleiche in Schwarz oder Weiß, ja oder nein, für oder dagegen – ein und derselbe Stoff aus nichts über dem, was einfach ist. Das Mental richtet seine Mikroskope auf die Mauern, seine Teleskope auf die Sterne, erfindet galaktische Distanzen und geologische Tiefen, um seine eigene Dickschichtigkeit auszuloten und die gesamte Länge seiner eigenen Lüge zu durchqueren, um im siderischen Maße seiner Nichtigkeit das Sein nachzuahmen. Dennoch ist alles in einem Augenblick da: das Ferne, das Nahe, das Vorher, das Nachher. Es ist leicht wie die Luft, unbedeutend wie ein Spatz, nicht größer als ein Grashalm oder ein Anflug von Humor. Ja, es ist nicht einmal der Mühe wert, daran zu denken. Es benötigt weder tausend Sterne noch Ozeane: es ist in einem fallenden Tropfen, in einem vorbeihuschenden Nichts. Wenn wir das auch nur eine Sekunde lang berühren, wie ein Kind zerstreut dem Kräuseln der Welle zuschaut, dann sind die vier Winkel der Welt zugegen – Asien, Afrika, die Unbekannten von morgen und übermorgen; alles ist genau gewußt, ist in einer Sekunde gegenwärtig. Das ist der große Körper der Welt im Punkt einer Sekunde. Es ist da, ganz da, vollständig da, ohne mehr, ohne weniger, ohne “anderes”. Und wie könnte es etwas anderes geben: es gibt nur ein Ding, das ist, keine zwei. Es gibt nur eine Geschichte, keine zwei. Ein kleiner reiner Tropfen des Seins. Das ist die ganze Zukunft der Erde – ihr “Ewig-Hier”, das sie nicht sieht, auf das sie sich aber endlos und schmerzhaft zubewegt, um die ganze Entfernung ihrer mentalen Lüge und alle Schichten ihres Vergessens abzutragen…
Die Grenzen der Evolution liegen hier.
Sie verbergen sich im Lächeln eines Kindes.
Einige nennen es Seele, andere Gott, Paradies, Erlösung – aber die Erlösung von was letztlich? Könnten wir uns nur von unseren Evangelien erlösen, von unseren Kredos rechts, links, oben und unten, unseren unzähligen Gebäuden der Erlösung! Wären wir doch nur dieser kleine reine Tropfen des Seins!
So eröffnete sich Mirra ein neues Experimentierfeld, ein Bereich so alt wie das Eiszeitalter und so jung wie das Lächeln eines Kindes. Wir befinden uns ungefähr im Jahr 1908. Durch ihre Scheidung von Morisset hatte Mirra gerade das “Künstlerleben” verlassen, das immer weiter zurückzuliegen schien. Theons künstliches Feuerwerk war bereits ausgebrannt. Letzten Endes bleibt nur das, was man ist – oder nicht ist.
Die Zerstörung des Goldfischglases
Was ist dieser kleine Tropfen des Seins? – Poesie? Vielleicht schließlich doch, denn es ist das, was “tut”, es ist der “Poet” par exellence. Und warum ist es so verschleiert, warum sollte das Mental eine Lüge sein? Die Natur erfindet keine Lügen – ebenso wenig, wie sie die Wahrheit erfindet, sie bedarf weder des einen noch des anderen: sie erfindet Mittel. Das Mental ist der Erfinder der Wahrheit samt ihrer Zwillingsschwester, der Lüge. Das Mental vollbringt Wunder; die Natur ist völlig natürlich, wie es sich gehört. Sie braucht weder Philosophien noch Evangelien: sie braucht sich nur zu entwickeln. Sie geht voran, das ist alles: nach rechts, nach links, nach oben, nach unten, mit allen Mitteln, sie geht immer voran, ob wir nun auf den Boden fallen oder in den Himmel stürmen. Denn der hinabführende Weg steigt ausgezeichnet. Das Mental ist der Macher von Gut und Böse. Die Natur braucht weder das Gute noch das Böse: sie braucht nur voranzugehen. Aber warum hätte sie, die so weise ist, dieses Instrument des Mentals erfunden, nur um es wieder zu verwerfen? – Es ist wahr, sie hat viele Dinge verworfen seit dem Präkambrium, sie ist ein ausgezeichneter Ikonoklast. Das Mental ist ein Götzendiener, ein unermüdlicher Götzendiener: Pharaone, Totems, Penizillin und Gleichungen siebten Grades. Anbeterei des Materialismus oder Gottes, man fragt sich: wo liegt genau der Unterschied? Das Mental ist der Ideenmacher. Die Natur braucht keine Ideen: sie tut einfach. Sie bewirkt sogar Wunder, die nachzuahmen uns schwerfällt. Es stimmt, daß sie nicht schlau genug ist, Theorien aufzustellen; wir oder eher unser Mental fabriziert diese, um sie hinterher gleich wieder zu verwerfen im Versuch, die Natur beim nächsten Mal einzufangen. Aber sie lacht und entwischt. In der Zwischenzeit jedoch läßt sie uns Fortschritte machen. Fortschritte in was…? Genau das ist die Frage. Das Mental ist die Macht. Ja, aber… Wir brauchen nur kurz innezuhalten und uns die Errungenschaften vor Augen zu führen: Dampfmaschine, Elektrizität, automatische Türen für eilige Leute, und nicht zu vergessen die Concorde, die uns mit Überschallgeschwindigkeit ans andere Ende von Nirgendwo bringt. Die Natur hat keine Macht: sie ist, was sie ist. Wenn etwas sie stört, schickt sie ein Erdbeben, das ist alles. Wir aber sind nicht, was wir sind, darin liegt der ganze Unterschied – und auch der Grund, warum wir letzten Endes nichts können, denn Sein bedeutet, das zu können, was man ist. Wir haben uns alles ausgeliehen, in all unseren Millionen von Entdeckungen ist keine einzige Minute Mensch! Sogar die Sonne haben wir eingefangen, um sie in eine Schachtel zu stecken. Das Mental ist der Nachahmer. Es ist sogar ein ausgezeichneter Fälscher. Die Vögel fliegen bestens, es liegt in der Natur ihres Wesens zu fliegen. Der Mensch geht im Prinzip, und er behauptet sogar zu wissen, wo und wohin er geht, während die Natur nicht weiß: das Mental ist das Wissen. Ja, aber… Halten wir inne und betrachten wir! Die Natur besitzt kein Wissen, sie ist; so geschehen die Dinge auf ganz natürliche Weise: Es ist gewußt, indem es geschieht, und es geschieht, weil es ist. So einfach ist das. Es ist das automatische Tat-Wissen, wie der Zugvogel, der direkt nach Sibirien fliegt. Unsereins braucht Landkarten und Winkelmesser – eine Verbesserung vielleicht. Das Mental ist der ewige Verbesserer; es hat die Natur so weit verbessert, daß sie nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht. Es sei denn, sie verursacht noch ein Erdbeben, um all diese verbessernden Pygmäen abzuschütteln. Aber wir haben eine Seele und einen Geist. Ja, aber… Denn auch die Seele und den Geist versteht das Mental einzufangen, wenn es ihm paßt – um seine Arroganz bis zum Himmel zu treiben. Die Natur hat keinen Geist: sie ist. Und vielleicht ist sie schließlich doch Geist, denn Geist ist das, was ist. Der Mensch ist nicht – er versteht nicht, und er weiß nicht, und er kann nicht, weil er nicht das ist, was er ist. Das ist alles. So einfach. Wenn man ist, weiß man, und wenn man weiß, kann man. Und man lacht.
Aber warum bloß erfand sie dieses Instrument? Die Natur ist nicht verschwenderisch, ihre Ökonomie ist weise. Schließlich war sie es, die den Menschen erfand und ihn mit einem Mental ausstattete, so wie andere mit einem Paar Zangen. Aber letztlich ist es unsere Vermessenheit zu denken, das Denken sei das höchste Werkzeug. Als ausgezeichnete Ikonoklastin zerstört die Natur jetzt dieses Idol. Wir sollten zumindest so viel “Geistesgegenwart” besitzen, um die charmante kleine Säuberung zu bemerken, die sie zur Zeit in der Welt durchführt und sich dabei köstlich amüsiert: wir brauchen nur die Nachrichten einzuschalten, um uns über den Fortschritt der Säuberung zu unterrichten. Eine geometrisch fortschreitende Reihe, da wir noch immer Mathematik lieben. Aber angewidert oder verärgert können wir schließlich die Natur am Kragen packen und sie fragen, warum sie dieses Instrument, das Mental, überhaupt erfand, nur um es wieder zu zerstören.
In Wirklichkeit zerstört die Natur nicht: sie verändert. Sie ist die große Veränderin. Seit der Zeit eines gewissen Protoplasmas in seinem Tümpel hat sie nicht damit aufgehört, und wir sind keine Ausnahme in der Geschichte. Hier wird das Mental bedächtig und ernsthaft innehalten (das Mental ist schrecklich ernsthaft) und einwenden, wir würden aus der Natur einen neuen Demiurgen machen. Denn wohlverstanden hat niemand das Recht, Demiurg zu sein – außer dem Menschen. Mag er es doch sein, das macht nichts! Zur Zeit sieht er allerdings nicht danach aus. Die Natur braucht nicht Demiurg zu sein, und Gott braucht nicht Gott zu sein! – Jeder braucht nur das zu sein, was er ist, das ist alles, und wenn man ist, dann gibt es nur ein Ding, und das ist überall gleich: Gott, Demiurg, Krokodil oder Marienkäfer. Denn es gibt nur ein Ding, das ist, und keine zwei. Wo ist da Gott, wo der Materialist und wo der Marienkäfer? Nur das ist und wird mehr und mehr zu dem, was es ist, mit einem Paar Zangen, einem Paar Brillen, und immer besser und immer mehr. Wenn der Mensch erst einmal das ist, was er ist, wird er verstehen. Er wird können und herzhaft lachen.
Das Mental ist der schlagendste Beweis, ad absurdum, für die Notwendigkeit zu sein. Alles, was täuscht, bricht zusammen und stirbt. Wenn wir erst einmal sind, brauchen wir nicht mehr zu sterben; der Tod ist der letzte Trick, um uns zu zwingen zu sein, sowohl in unserem Körper als auch in unserer Seele. Dann werden wir vielleicht begreifen, was das Sein ist. Denn die sogenannte “Materie” ist nicht ohne Geist, und der sogenannte “Geist” ist nicht ohne Materie. Die Vereinigung der beiden ist das Sein. Nur der Körper kann verstehen, wird Mutter sagen. Solange wir nicht den Geist in der Materie verwirklicht haben – oder vielleicht den Geist der Materie, oder die göttliche Materie –, werden wir weder Geist noch Materie verstehen, weder Gott noch die Natur, den Teufel oder sonst etwas. Nicht einmal uns selbst. Die Materie ist der Schlüssel zum umfassenden Wissen – vielleicht sollten wir sagen: das Wissen um das Ganze. Ich sah dieses Geheimnis, sagte Mutter später, ich sah, daß der Höchste in der irdischen Materie, auf der Erde, vollkommen wird. Und sie wird unermüdlich bis zum letzten Tag ihres Lebens wiederholen: fähig zu sein, das spirituelle Extrem und das materielle Extrem zu verstehen und den Berührungspunkt zu finden, dort wo… es eine wirkliche Kraft wird.
Eine Kraft sagte sie. Eine wirkliche Kraft.
Noch steht uns die Erkenntnis aus, daß Sein Macht ist. Es ist sogar die einzige Macht.
Wenn es das Ziel der Evolution ist, diese Millionen kleiner evolutionärer Punkte, die wir sind, ihrer Gesamtheit zuzuführen – ihrer Gesamtheit des Bewußtseins, Gesamtheit des Seins, Gesamtheit der Macht und der Sicht und schließlich der Gesamtheit der Freude, denn nur sie fehlt… wie könnte Freude sein in dem, was unvollständig ist? – dann mußte die Evolution wohl Mittel finden, jeden dieser Punkte zu befähigen, sich seiner Individualität bewußt zu werden. Deshalb warf sie das große Netz des Mentals in diese unteilbare Ganzheit, in der die frühen Hominiden mit den Herden von Auerochsen umherliefen und in Einklang mit den Monden und den langsamen Vereisungen pulsierten, in derselben Flut des Seins, die alles mit allem verband, den sibirischen Vogel mit den tropischen Lagunen und den Hominiden mit dem stummen Pochen seines Stammes – ohne Fehler, ohne dich, ohne mich, ohne dort, ohne hier, morgen oder gestern und der ganzen Horde von Schmerzen, die daher rühren, nicht mehr zu wissen und ein Mensch ganz allein in seiner Haut zu sein. Das Mental ist der große Zerteiler. Dies ist seine evolutionäre Notwendigkeit und seine tödliche Eigenschaft. Es hat alles getrennt, kein Ding, das seiner Fragmentation entginge: Gut, Böse, Wahrheit, Lüge, Zeit, Raum, das Nahe, das Ferne, die Hölle, die Erlösung, Geist, Materie und du und ich und die Millionen kleiner durch siderische Distanzen voneinander getrennten Ichs – die sich aber als Ich wissen. Die ganze Machtlosigkeit, nicht mehr unmittelbar zu wissen, und all die Millionen Mittel, das nahe zu bringen, was sie entfernten, die Weite zu durchdringen, die sie blockierten, zu kennen, was sie vergaßen, zu fühlen, was sie unter dickeren Panzern als der ihrer Dinosaurierbrüder einschlossen, unglücklich, schmerzvoll und getrennt zu lieben, was sich gemeinsam und gegenseitig liebte in einer Freude, die sich nicht einmal Freude zu nennen brauchte. Die ganze Kurve des Mentals – dieser immense Weg des Ichs einsam in seiner Haut, diese ungeheure Wieder-Erfindung von allem mittels Ersatz, diese endlosen Tricks – nur um den einzigen Trick wiederzufinden, die eine Einfachheit, die alles in einem einzigen Flügelschlag wieder zusammenfügen würde, endlich in einem einzigen Blick, in einem einzigen Pulsieren des Seins, einem einzigen Wissen, das endlich wie die Liebe wäre, die vermag. Die Millionen Farben des einen vollendeten Bildes, die tausend Evangelien des einen ruhigen Strahls, die tausend Maschinen der einen Macht des Seins, die tausend kleinen Wesen des einen Wesens, die tausend erstickenden Miseren im erfundenen Goldfischglas. Der Mensch, der glaubt, sein Mental sei geschaffen, erhabene Philosophien, göttliche Gleichungen und Raphaelische Gemälde zu erfinden, ist wahrlich ein Narr der Evolution. Es ist der Erfinder der notwendigen Trennung und der notwendigen Lüge und des notwendigen Schmerzes und der notwendigen Illusion, damit jeder der evolutionären Punkte in einem individuellen Wesen das gesamte Wesen wiederfindet, in einem individuellen Bewußtsein das gesamte Bewußtsein und in individueller Machtlosigkeit die gesamte Macht. Und die Freude, endlich zu sein.
Wenn das Goldfischglas seine evolutionäre Notwendigkeit erfüllt hat – wenn diese Millionen Wesen darin nicht mehr können vor lauter Ersticken in einem getrennten Ich, Ersticken in einem verpesteten Denken und verwesenden Worten, Ersticken in ihren Evangelien, die nichts retten, und Heilmitteln, die nichts heilen, und ihrer Wissenschaft, die nichts weiß, nichts löst, nichts kann und den Menschen in einer ungeheuren Rattenfalle aus Stahl und Beton mechanisiert, in der die Wirtschaftspolizei bald König sein wird unter der Fassade inexistenter Freiheit, inexistenter Gleichheit und inexistenter Brüderlichkeit und den tausend sterblichen Parteien, die nach rechts oder links ziehen, um herauszufinden, in welcher Richtung man besser ertrinkt – dann kommt die Stunde, wo die Evolution unser Goldfischglas zertrümmert.
Wir befinden uns in dieser Stunde.
Unser Scheitern ist unsere wunderbarste Hoffnung.
Die letzten Zuckungen des alten mentalen Babels münden in einen neuen Zyklus, einen supramentalen Zyklus. Die größte Illusion aller Zeiten ist dabei, in einem Getöse aus Rost und Staub einzustürzen, als habe sie nie existiert. Und in der Tat, sie existierte nie. Die Trennung gab es nie. Das Bewußtsein war nie getrennt, der Geist ist nicht das, was wir denken, die Materie ist nicht das, was wir sehen; und Leben und Tod – diese erste und grundlegende Trennung – ist weder das Leben, wie wir es kennen, noch ist es der Tod, wie wir glauben, sondern etwas anderes: ein radikal Anderes, in das wir langsam gezogen werden wie in eine umwälzende und unerwartete Geburt – radikaler und unerwarteter als jene, die das Reptil in seinem Sumpf zum Vogel in den Lüften verwandelte, und viel umfassender, weil es ein anderes Wesen ist. Es wird keine verbesserte Fortsetzung der gleichen alten Evolution sein, sondern ein Sprung, ein evolutionärer Saltus in ein anderes Bewußtsein. Eine neue Evolution, sagte Sri Aurobindo. Ein anderes Leben in der Materie. Eine andere Materie. Ein anderes Gesetz des Seins.
Denn anders sein bedeutet anders können.
Aber das Sein beginnt mit einem Tropfen.
Die Natur gibt uns immer Mittel und Wege, in einen anderen Zyklus überzugehen und unsere eigene Evolution selbst zu tätigen. Kollektiv schafft sie den Druck neuer oder erstickender Umstände im Lebensbereich, individuell den inneren Druck eines Dranges zu einem anderen Zustand oder einem anderen Lebensbereich.
Dieser Drang ist der Hebel des Übergangs.
Seit allen Zeiten, seit Jahrtausenden über Jahrtausenden liegt dieser Drang am Ursprung des verborgenen Impulses der Welt. Er ist der Antrieb der Evolution. Der Drang nach Sonne im Inneren der Pflanze, der Drang nach Luft im Inneren der Larve, der Drang zu leben, der Drang zu sein. Selbst Galaxien drängt es, sich auszudehnen. Und wie könnte das, was wirklich tot wäre, sich nach Sein sehnen? Der Tot existiert nicht; was nicht ist, kann nicht sein. Nichts auf der Welt kann sich nach etwas sehnen, das es nicht schon besitzt und nicht schon ist – wenn die Sonne nicht existierte, sehnten wir uns nicht nach Sonne, und erfänden wir auch nur eine einzige Sonne, so nur, weil sie schon in unseren ersten Schritten zu ihr existierte, sie wäre es, die uns zu sich triebe, sie, die sich in uns an sich selbst erinnerte. Wir erfinden ständig das, was da ist, wir graben in den dunklen Schichten eines Ewig-Hier, wir sehnen uns nach dem, was wir sind. Das ist der große Drang der Welt: zu sein. Er ist es, der sich seiner selbst erinnert, er, der sich selbst wird. Er ist das, was allmählich für unsere Augen und durch unsere Augen entsteht – wir werden das, was wir sind. Sein bedeutet vollständig sein, denn wie könnte das, was ist, nicht alles sein – es ist oder es ist nicht, und wenn es ist, dann ist es alles. Man kann nicht ein Teil seiner selbst sein ohne den Drang, ganz sich selbst zu sein. Die Welt und jede Parzelle der Welt sehnt sich, alles zu sein, was ist. Das Sein sehnt sich danach zu sein. Das ist alles. Welches Nichts könnte sich nach etwas sehnen?
Von Zyklus zu Zyklus, von Spezies zu Spezies wächst der Drang zu sein. Er ist wie eine Flamme innen, die drängt. Sie drängt Atomkerne zu Atomkernen, zu immer mehr Atomen, zu riesigen Sternennebeln. Sie drängt Moleküle zu Molekülen, zu immer mehr Molekülen, zu einem ersten Seinskörper. In jedem Wesen drängt sie zu anderen Wesen, zu immer mehr Wesen; sie wächst mit dem Körper der Welt und bleibt unstillbar, bis jedes Atom und jedes Molekül und jede Körperzelle die Gesamtheit ihres Wesens wiederfindet. Denn es ist ein und dasselbe Wesen, das in allen Punkten sein will, in der interstellaren Gesamtheit und der unendlichsten Summe ebenso wie im kleinsten Atomteilchen. Wenn man eine einzige Sekunde lang im mikroskopisch kleinsten Punkt ist, dann ist man alles und überall, denn es gibt keine zwei Dinge und keine zwei Wesen. Das, was am kleinsten und ältesten ist, wird als letztes zur Gesamtheit seines Seins werden – denn es ist das, was im Laufe der Evolution am meisten verkrustet wurde. Weil das Sein in einem Punkt enthalten ist, liegt das gesamte Geheimnis, die gesamte Macht und das gesamte Wesen im Atom und in der Zelle. Der Punkt ist der Schlüssel zum Ganzen. Der Gipfel der Evolution hängt nicht von Milliarden hinzugefügten oder perfektionierten Dingen ab, sondern von einem einzigen Punkt, der sich vollkommen dessen erinnert, was er ist. Die Materie des Anfangs enthält das Geheimnis der Materie des Endes: das Geheimnis des Seins, denn es gibt kein anderes. Das Vergessen enthält das vollkommenste Sein. Die älteste Schicht tritt als letzte hervor, um ihren Inhalt zu enthüllen. Das auf den Gipfeln der Evolution leuchtend bewußt gewordene Bewußtsein beugt sich hinab zu seiner Basis und begegnet dem höchsten Sein, das diese Flamme in diesem Bewußtsein entzündete und diese ganze Reise zu sich führte. Die Erinnerung vollendet ihr Sich-Erinnern: sie ist. Nur in unserer ersten Materie, dem Körper, werden wir vollständig sein. Das Sein am Ende ist am Anfang. Die Flamme des Dranges ist die Führerin der Reise. Das Feuer der Materie ist das höchste Feuer des Geistes: “O Feuer”, sagte der Veda, “wenn du gut gehegt bist von uns, wirst du zum höchsten Wachstum und zur äußersten Ausdehnung unseres Wesens… du bist eine nach allen Seiten entfaltete Vielfalt an Reichtum… du bist das Kind des Himmels durch den Körper der Erde.” (Rig-Veda, II.1.12, III.25.1)
Eine kleine weiße Flamme.
Sie ist die Freude.
Eine große Seinsfreude wollte diese Reise, denn zu sein bedeutet die Freude von allem, was ist. Eine andere gibt es nicht. Jeder Schmerz ist eine Unzulänglichkeit des Seins. Die Welt leidet darunter, nicht das zu sein, was sie ist; die Wesen leiden darunter, nicht das zu sein, was sie sind. Aber sie nähern sich einer großen Freude, ihrer eigenen Freude; sie nähern sich der Gesamtheit, die sie schon immer waren. Bald werden sie das alte Goldfischglas verlassen. Der Drang zu sein ist der Schlüssel zum Durchbruch, der Druck der Flamme wird die Mauer der Illusion aufbrechen. Wir befinden uns in der Zeit des unerträglichen Drucks. Das Mental erstickt wie ein alter Fisch auf dem Boden seines ausgetrockneten Loches. Aber wir nähern uns etwas anderem, wir sind die Pioniere einer neuen Luft. Diesmal wird es vielleicht eine Luft der Freude sein.
Dieser Drang ist der Schlüssel jedes Übergangs in der Evolution, vom Mineral bis zum Menschen und zu dem, was den mentalen Menschen ersetzen wird. Es gibt keine zig verschiedenen Wege hindurchzukommen sondern nur einen. Weil wir aber mentale Wesen sind, nennen wir es Verlangen nach Wahrheit, Verlangen nach Gerechtigkeit, Verlangen nach dem Guten, nach Freiheit… die unzähligen Dualitäten des Mentals, jede mit ihrer Gegenseite des Schattens, geradezu mit der Notwendigkeit des Schattens; denn würde eine einzige dieser Dualitäten wirklich triumphieren, wäre das eine so unerträgliche Katastrophe wie der Sieg ihres Gegenteils, und welche Gerechtigkeit könnten wir vollstrecken, die nicht die unerbittliche Dominanz einer einzigen Idee bedeutete, welche Wahrheit wäre nicht die intolerante Ausschließlichkeit eines einzigen Gedankens, welches Gute wäre nicht die blinde Zerstörung all dessen, was jenes “Böse” an verborgener Aspiration und Drang nach einem umfassenderen Guten in sich birgt? Ginge man nach dem Gesetz des Schuldigen, der bestraft werden muß, sagte Mutter, dann müßten nach und nach, so wie die Dinge sich entwickeln, alle bestraft werden! Es bliebe niemand übrig, um fortzuschreiten. Wir wissen nicht, wir wissen überhaupt nichts, das Mental ist Nicht-Wissen, das nach Wissen drängt – noch eines dieser tausend dualistischen Bedürfnisse, die allesamt die Hülle des einzigen Drangs zu sein sind. Denn Sein bedeutet, das Bedürfnis jeden Wesens und das Gute jeden Wesens und die Wahrheit jeden Wesens in etwas zu erkennen, das alles vereint, alles liebt, alles versteht – und das uns über unsere eigenen Grenzen von Gut und Böse, von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, von Wahrheit und Unwahrheit hinaushebt, dort wo das Goldfischglas nicht mehr existiert und die tausend Strahlen eins sind. Jeder evolutionäre Durchbruch bedeutet nicht die Zerstörung eines unerträglich gewordenen Bösen, sondern eines alten, erstickenden Guten, das den einzigen Drang zu sein zugunsten des verbrauchten Mechanismus verschlang.
Mit dem Menschen kam es jetzt zu der wohl kümmerlichsten Entstellung in der gesamten Evolutionsgeschichte – obwohl wir uns sogar da nicht ganz sicher sind, denn im weisen Haushalt der Natur konnten wir immer beobachten, daß jede Entstellung einer tieferen Notwendigkeit entsprach und manchen Umweg verbarg, der ihre Domäne bereicherte, einen Vorwand, um uns unseren eigenen Vorstellungen zum Trotz in eine unerwartete Lichtung zu führen… die schließlich die Entstehung des einen Dinges verbarg, das durch alle Zeiten, alle Seinsweisen und alle “Entstellungen” hindurch entsteht. Aber diese Flamme, dieser Drang zu sein, wirklich dieses evolutionäre Feuer, das unser höchster Schatz hätte sein sollen: “Diese Flamme mit den hundert Schätzen”, wie der Rig-Veda es nennt (I.59.7), dieses “höchste Wachstum und diese äußerste Ausdehnung unseres Wesens” (II.1.12) wurde synonym mit einem tragischen Mißverständnis. Das Mental riß es an sich, wie es alles an sich reißt, und versah es mit dem Etikett: “Gott, Richtung Himmel”. Was völlig abwegig ist. (Aber gegenüber diesen sogenannten “Abwegen” sind wir stets vorsichtig, da sie vielleicht nur ein weiterer Abstecher in die einzige Richtung sind.) Vielleicht erschien diese evolutionäre Zukunft dem belasteten Menschen, der wir sind, tatsächlich wie ein entfernter “Himmel” hinter der Wand des Goldfischglases in den phänomenalen Distanzen unserer eigenen Schichten der Vergessenheit. So war es nötig “aufzusteigen”, zu “transzendieren”, “hinauszugehen”, um Gott dort irgendwo am Ende einzufangen, in der goldenen Zukunft eines Grabes. Und wieder vermeinen wir Mira Ismalun zu hören, die bei allem Übermut Goethe besser verstand: “Voran! Über die Gräber hinaus!” Wenn wir den Tod abschafften, was bliebe dann von den Religionen?… Und von ihrer Erlösung? Doch jetzt, wo wir den Grund des Loches erreichen, wo wir an jeglicher Hoffnung irgendeines Himmels verzweifeln inmitten dieser klebrigen Flut, die die Welt zu verschlingen scheint, in diesem mentalen Chaos, diesem niederen Ausbruch, der alte, längst gefallene Totems wieder zu beleben scheint und mit psychedelischen Farben schmückt, während niedrigste Instinkte und uralte, tausendjährige Ängste wieder auftauchen im Triumph einer Wissenschaft, über die wir uns fragen, ob sie nicht eine verheerendere Plage ist als alle alten Plagen, die zu heilen sie vorgab – jetzt scheint es mehr denn je, als müßten wir uns “erheben”, “hinausgehen”, als sei der “Himmel” ferner denn je. Aber das ist falsch. Noch nie waren wir so nah! Wir graben im Schlamm der ersten Evolutionsschichten, nahe, sehr nahe dem Urgeheimnis auf dem Grund der nackten Materie. Dank der Religionen haben wir alle Himmel dort oben erschöpft und befinden uns auf dem Grund des Loches, es bleibt nur noch eine Schicht – der Ausgang ist unten.
Das ist “die Sonne der Finsternis” der Veden.
Aber wir müssen den Hebel des Übergangs ergreifen.
Wir müssen verstehen, worum es geht.
Zu verstehen wird zwingend.
Diese volle Flamme, durch die Abwege der Religionen erstickt, mit dem Etikett “Gott” entwertet, von ihrem wahren Ziel abgelenkt – diese Idee eines höchsten, eigenmächtigen Gottes ist für jeden klaren Geist eines der inakzeptabelsten Dinge118! rief Mutter aus; dieser “alleinige Gott” inmitten der Millionen Religionen, jede mit ihrem alleinigen Gott und alleinigen Sinn, dessen Kehrseite unveränderlich der Teufel war, um zu korrigieren, was der unerträgliche Triumph dieses einzigen Lichts des Todes hätte sein können – diese Flamme muß ihre wahre Bedeutung für die Erde wiedergewinnen, ihren wahren Sinn für “das höchste Wachstum und die äußerste Ausdehnung unseres Wesens” und nicht für unsere Auflösung in einem der alleinigen Himmel.
Denn sie ist die Flamme des großen evolutionären Durchbruchs und der Schlüssel zum vollständigen Sein.
Es liegt nicht fern, es ist im Herzen.
Als ich das verstand, erzählte Mutter, stürzte ich mich wie ein Orkan darauf, und nichts hätte mich zurückhalten können119.
Sechzig Jahre später, im Alter von sechsundachtzig, sagte sie noch: Wahrhaft ein Durst, ein Drang, ein Drang. Alles übrige hat überhaupt keine Bedeutung, das ist es, was wir benötigen. Keine Bindungen mehr – frei, frei, frei, frei. Immer bereit, alles zu ändern, außer einem: die Sehnsucht, diesen Durst. Ich verstehe gut, warum manchen Leuten die Idee eines “Gottes” mißfällt, denn dies vermischt sich sofort mit all den schrecklichen Vorstellungen, und das verkompliziert ihr Dasein ein wenig – aber das ist ganz unnötig! Einzig das “Etwas”, nach dem wir uns sehnen, die Vollkommenheit, nach der wir uns sehnen, die Liebe, nach der wir uns sehnen, die Wahrheit, nach der wir uns sehnen, die höchste Perfektion, nach der wir uns sehnen – das ist alles. Was die Formeln betrifft… Je weniger Formeln desto besser! Aber das: ein Drang, ein Drang, ein Drang, den nur das Ding befriedigen kann – nichts anderes, keine halben Maßnahmen, nur das. Dann geht voran! Euer Weg wird euer Weg sein, das hat keine Bedeutung – egal welcher Weg, sogar die Extravaganzen der amerikanischen Jugend können ein Weg sein.
11. Kapitel: Vom Unendlichen zum Unendlich Kleinen
Man bewegt sich, kommt und geht, man ist König, Schüler, Maler, man hat sogar wie Mirra ein Kind, hat Visionen in allen Farben und von allen Ländern, man lebte seit langem, das ist wahr, man war hier oder dort, als Priesterin oder Prinzessin oder sonst jemand, und im Jardin de Luxembourg, wo sie spazieren ging, in Theben, Venedig oder Versailles, glich sich alles so sehr, daß es wie immer war: in einer kleinen Allee, dort, mit einem Hut oder einer goldbestickten Mütze – aber was bedeutet all das, was bleibt, was ist da? Wir taten dies und jenes, liefen, träumten, lauschten dieser oder einer anderen Musik, gingen diesen Weg oder andere Wege, lasen Bücher über Bücher – “kosmische Revuen”, Schriften, die alles beschreiben, doch nichts wirklich sehen, nichts wird im Grunde verstanden, heute ist es wie immer, “etwas” geht voran, das ist alles, sei es hier oder dort, mit oder ohne Gepäck, mit oder ohne Familie, mit allen Mächten oder machtlos, welcher Unterschied? Millionen über Millionen Dinge werden hinzugefügt… zu was? Zukünftige Theben, unentdeckte Eldorados, dies und jenes, aber was dann? Millionen Dinge, die zu tun sind, aber was tut sich? Millionen zukünftige Wunder, aber was bedeuten sie, welcher Unterschied? Etwas mehr, etwas weniger, aber das, was da ist, diese einfache Minute, in der wir uns gerade jetzt bewegen, dieses Etwas jetzt sofort, wo ist es? Dieses Etwas, das nie Millionen Jahre alt sein, nie die Wunder von morgen besitzen wird, für das es kein Gestern, kein Morgen gibt, das sich unerschütterlich voranbewegt in dieser schrecklichen Sekunde des Nichts – oh, was ist es, was ist da? Wenn es nicht hier ist, dann ist es nirgendwo und nie, auch nicht in hundert Jahrhunderten, und was nützen alle Wunder, wenn diese einzige Sekunde hier nicht das Wunder ist? Morgen ist wie gestern, da gibt es nichts mehr hinzuzufügen, nichts mehr zu finden: wenn es nicht da ist, wird es nie da sein. Nie-mals. Es gibt keine Zukunft, nur diese einzige Sekunde. Es gibt keine Vergangenheit, nur diese einzige Sekunde. Es gibt keine Hoffnung, kein Wunder, nichts zu gewinnen, nichts zu verlieren, nur diese einzige Sekunde. Es gibt nichts zu finden, wenn es nicht hier gefunden wird; die Übermenschen und Übergötter aller Universen, die Paradiese von morgen, die Evolutionsgipfel oder Abgründe sind nichts und werden nie etwas sein, wenn diese einzige Sekunde nicht erfüllt ist von “etwas”, das ist.
Da können wir alle beliebigen Geschichten erzählen, uns der sieben Weltwunder und eines baldigen achten rühmen, Philosophien und Religionen gründen, Enkelkinder zeugen und viele Reisen machen, aber wir gehen nirgendwohin, wenn unsere kleine Sekunde nicht jetzt ist. Auf Seite achthundert sind wir wie zuvor, nach allen Taufen sind wir wie zuvor, nach tausend Leben bleibt alles gleich – gibt es den Übermenschen nicht jetzt sofort, dann wird es ihn nie geben, zu keiner Zeit und in keinem Universum. Denn dieses “Da-Sein” ist, was alle Übermenschen und alle Universen schafft, alle Mehr und alle Weniger, und wir brauchen kein Mehr und kein Weniger, kein Vorher, kein Nachher mehr, wir brauchen nichts hinzuzufügen, nichts wegzulassen, es ist voll hier, und es ist erfüllt für immer.
Ein Tropfen Sein.
Wir mögen sagen, was wir wollen, aber die Existenz in der Welt ist auf diese einfache Sekunde zurückzuführen. Weder große noch kleine Dinge sind zu tun, weder Erfindungen noch Entdeckungen oder Verbesserungen zu machen – nichts bessert sich, wenn diese einzige kleine Sekunde nicht ist. Sie ist das Unverbesserliche. Sie ist das unmittelbar Beste von allem, was sich bewegt. Es ist die große Reise einer Sekunde, die einzige Geschichte von Millionen Geschichten, die wie Phantome kommen und gehen und immer wieder von vorne anfangen, um diese einzige kleine existente Sekunde zu finden.
Etwas, das plötzlich im Herzen pocht, etwas Warmes, Ruhiges, reich an Gehalt und ganz still und sehr erfüllt, wie eine Sanftheit… Wie das Spiegelbild von etwas Ewigem in einem sehr ruhigen Gewässer120.
Aber es ist so leicht, so klar, daß es wie nichts ist, kaum ein Hauch, und uns mit einem Lächeln beläßt. Das große Wunder ist so transparent, daß man es nicht sieht. Wir lachen, wir gehen daran vorbei. Wir gehen an allem vorbei. Wir ersteigen Gipfel, entschwinden in kosmische Bewußtseinszustände, bewegen uns hier und dort, im Mönchsgewand oder ohne Gewand, als Sünder oder Heiliger, es ist alles gleich – mitten auf der Straße und ohne Tempel, ohne Geschichten ist es da, es lächelt wie ein Schelm, leicht, so leicht, unverschleiert, frei, so fließend, daß wir es nicht einfangen können, so klar, daß es augenblicklich überall ist, so einfach, so einfach! Millionen Jahre in einer Sekunde. Und so jung, daß es wie die ewige Kindheit der Welt anmutet. Wo ist morgen? Wo ist dort drüben? Wie kompliziert die Menschen es machen!
Die Zukunft der Welt in einer Sekunde. Ihre ewige Gegenwart.
Dann erfüllt sich alles mit Gegenwart.
Ohne das gibt es überhaupt nichts. Ein vergeblicher Traum. Und für Jahrhunderte ohne Ende wird es nichts geben. Wir würden Tonnen von Nichts hinzufügen.
Eines Tages fühlte sich Mirra plötzlich erleichtert, als ihr jemand erklärte: “Wissen Sie, das ist nicht der alleinige-Gott-da-oben, sondern der Gott innen, es ist das, was die Welt wird. Und das bedarf keiner Religion.” Bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr war ich durch und durch atheistisch; allein die Idee Gottes machte mich wütend. Das gab mir eine äußerst solide Grundlage – keine Phantastereien, kein mystisches Erbe, meine Mutter war völlig ungläubig, mein Vater ebenfalls; vom Standpunkt der Vererbung war das sehr günstig: Positivismus, Materialismus. Nur eines: ein Wille zur Perfektion in allen Bereichen, von klein auf; ein Wille zur Perfektion und das Gefühl eines unbegrenzten Bewußtseins – keine Grenzen, weder in seiner Entwicklung noch in seiner Macht und Weite. Dies von klein auf. Aber vom Mental her eine strikte Weigerung, an einen “Gott” zu glauben, ein Grauen vor Religionen; ich glaubte nur an das, was ich sehen und berühren konnte. Aber das Gefühl eines Lichts oben (das begann, als ich ganz klein war, mit fünf Jahren) und ein Wille zur Perfektion – der Wille zur Perfektion: alles, was ich tat, mußte immer, oh, so gut sein, wie ich es nur tun konnte. Und dann ein grenzenloses Bewußtsein. Diese beiden Dinge. Durch Theons Lehre fand ich zum Göttlichen zurück, als mir zum ersten Mal gesagt wurde: “Das Göttliche ist innen.” Da fühlte ich plötzlich: ja, das ist es.
Es war, als stürzte eine Mauer ein.
Wir befinden uns alle hinter einer Mauer, der riesigen Mauer unserer eigenen Vorstellungen, Ängste oder Hoffnungen – denn auch die Hoffnung ist eine Art Mauer; sie sind so armselig, unsere Hoffnungen – aber auf der anderen Seite dieser Mauer liegt die Einfachheit des Wunders, das wir nicht zu erhoffen wagen. Es ist so einfach, daß wir nie daran gedacht hätten. Und wir konnten uns nicht vorstellen, daß es so einfach ist, denn für das Mental kann nichts ohne Komplikation, ohne Schwierigkeit, ohne Kampf, ohne Mühe bestehen… Das Mental ist die Komplikation selbst; wenn etwas nicht kompliziert genug ist, kann es nicht wahr sein. Wenn ein Kind es fertig bringt, wozu bin “ich” dann nütze! Und die ganze Mühe dient wirklich nicht dazu, das Ding zu “finden”, sondern um aus der Komplikation herauszukommen. Um das Nicht-Eroberte zu erobern. Um es transparent zu machen. Man könnte fast sagen, das Mental ist ein riesiges Gebäude, um einen Luftzug zu erhaschen. Aber es erhascht ihn nie; es erwischt Orkane, Erdbeben, all die künstlichen Feuerwerke, die ihm das Gefühl zu existieren verleihen: Ah, seht, wie solide ich bin! Ich koche und sprudele, ich schäume und walle! – Und dann… nichts. Nicht eine Sekunde lang erhaschte es irgend etwas Erfischendes. Nicht eine Sekunde lang atmete es. Das Ersticken verleiht ihm am besten das Gefühl der Existenz; es schreibt sogar ganze Bände über sein schmackhaftes Ersticken. Vielleicht wurde im Haushalt der Natur diese enorme Erstickungsmaschine gerade deshalb erfunden, damit wir es nicht mehr länger aushalten können und gezwungen werden herauszukommen: als bewußte Individuen. Alle Dämme – seien sie religiös (wie jener, der Mirra zurückhielt), philosophisch, politisch, wissenschaftlich: Millionen kleiner Dämme – existierten vielleicht nur, um die Kraft, die Shakti aufzustauen und den Damm zum Bersten zu bringen, den Sprung in die frische Luft zu wagen, frei und geformt, anstatt eine kleine amorphe Larve des Präkambriums zu bleiben, die den großen Lebenssaft saugt, ohne es zu merken. Deshalb konstruieren wir weder Wissenschaft noch Maschinen, weder Religionen noch Philosophien: Wir erbauen die Shakti. Wir bringen das Sein unter seiner Glasglocke zum Wachsen. Aber es ist nur eine Glasglocke. Mirra hatte ihren Orkan sechsundzwanzig Jahre lang aufgestaut.
Auf einmal schien sich alles verschworen zu haben, um ihr die Tore zu öffnen (oder die Komplikation aufzulösen): eine Konferenz über Indien zu einer Zeit, da ich nichts, gar nichts über Indien wußte, außer dem üblichen Unsinn. Ich wußte nicht einmal, was ein Mantra ist. Ich nahm an einer Konferenz teil, die jemand hielt, der angeblich ein Jahr lang in den Himalajas “Yoga” gemacht hatte und nun von seiner Erfahrung berichtete (die, nebenbei bemerkt, recht uninteressant war). In seiner Rede sprach er plötzlich den Laut OM aus. Da sah ich den ganzen Raum sich mit Licht füllen: ein goldenes, vibrierendes Licht (wahrscheinlich war ich die einzige, die es bemerkte); alles, mein ganzer Körper, alles vibrierte auf außerordentliche Weise. Es war wie eine Offenbarung – alles, alles, alles fing an zu vibrieren. Und ich sagte: Endlich der wahre Laut! – Jemand hatte “den Laut eingefangen”.
Etwa zur selben Zeit ereignete sich ein anderer Vorfall (alles schien sich zusammenzutun): ein sehr gewöhnlicher Inder, der sich auf der Durchreise in Paris befand, legte ihr den Radja-Yoga von Vivekananda in die Hände, ihr, die nie ein Buch über Indien gelesen hatte: Es erschien mir wirklich so wunderbar, daß mir jemand etwas erklären konnte121. Sie stürzte sich darauf. Bald überreichte ihr ein anderer Reisender die Bhagavat-Gita und riet ihr: Lesen Sie es im Wissen, daß Krishna in der Gita den Gott in Ihrem Inneren darstellt122. Von allen Seiten kam Indien und klopfte an Mirras Tür. Nicht, daß sie sich plötzlich als Anhängerin und Gläubige der “Religionen Indiens” (das übrigens keine “Religionen” hat – noch so ein Unsinn) betrachtete; ob exotisch oder nicht, alle Religionen erschienen ihr gleichermaßen absurd, doch es war hier, es war innen – nicht in Büchern, nicht in Indien, sondern im Inneren ihrer selbst, hier, unmittelbar. Und in einem Monat war die ganze Arbeit vollbracht123! Mit einem Schlag war es ent-kompliziert. Im Leben gibt es wirklich Augenblicke, wo sich alle Umstände zu einer stillen Verschwörung zu verbünden scheinen, um uns zu einem gewissen Punkt zu führen – und dazu bedarf es keiner “großen Ereignisse”, keiner ehrwürdigen Individuen, keiner erleuchteten Worte, manchmal genügt ein vorbeistreichendes Nichts, “irgendeine” Person, eine zufällige Begegnung, ein Buch, und es ist, als fielen uns die Schuppen von den Augen. Wie ein kleiner Schock: “Oh, das wußte ich ja schon immer!” Jedesmal ist es dieses “Das-wußte-ich-ja-schon-immer”. Es ist nichts Neues und ist doch vollkommen neu. Wie eine Begegnung mit sich selbst. Und es ist nichts, wie nichts, ist nicht greifbar, aber es ist eine andere Luft. Ein kleiner Atemzug. Man mag achselzuckend daran vorbeigehen, weil seine Dosis an Komplikation nicht stark genug ist. Aber hat sich einmal, ein einziges Mal diese kleine Tür geöffnet, diese kleine Luke in der Festung, dieser kleine goldene Atemzug, dann kommt man wieder darauf zurück, wird fast gewaltsam dorthin zurückgeführt – denn es ist nichts und ist zugleich erfüllt von einer höchsten Kraft, die die Jahre wie ein Lächeln durchfließt. Es ist sogar das, was durch alle Leben hindurch fließt. Plötzlich kommt diese unnütze Sekunde und zupft dich am Ärmel, als existiere nur sie allein in einer Million leerer Stunden. Ein kleiner Tropfen reinen Diamants. Das ist die eigentliche Kraft. Rein. Es ist das einzige Etwas, das je war in einem millionenfachen Gerümpel. Es ist ganz und gar nicht ernst, und es ist alles, was bleibt. Es ist so zart wie ein Lächeln und mächtiger als Tonnen gestapelten Uraniums – aber es ist Millionen Jahre alt, es hat es nicht eilig, es blufft nicht, es wartet auf seine Stunde, es bedarf keiner Wunder: es ist das Wunder. Es kann die Welt in einer Sekunde neu schöpfen. Es ist die Macht der Welt. Es dreht das Rad der Äonen. Es zog uns aus dem Urtier heraus und führt uns allmählich zu dem, was wir sind, zu unserer eigenen Macht des Seins. Dann brauchen wir kein Uranium, keine Maschinen mehr als Ersatz für unser Unvermögen zu sein: mit einem Lächeln werden wir tun, wir werden ganz einfach sein. Von Anfang bis zum Ende gehen wir nur der Begegnung mit uns selbst entgegen.
Aber wir würden uns sehr irren zu glauben, daß Mirra sich mit “so” einer kleinen Sekunde zufrieden gegeben hätte. Wenn es einmal ist, dann muß es immer sein, in jedem Augenblick und gerade in all diesen kleinen so völlig nichtigen Minuten zwischen zwei Schritten auf der Straße, auf der Treppe und überall, so brennend in ihrer absurden Leere, daß sie fast mit etwas zu explodieren scheinen. Das Leben wird sehr schmerzlich in einem solchen Augenblick. Es ist, als stünde alles in seiner Nichtigkeit auf dem Kopf, alles ist erstickend, als befänden wir uns ständig in der Un-Vernunft, im Un-Sinn, im Nicht-Sein; dort bewegt sich etwas so schrecklich Leeres, daß es fast zur schmerzlichen Fülle wird – ein Drang… rein, ohne Sinn, sogar ohne “ich will”, und was will ich überhaupt? Was geschieht? Ein Drang, ein nackter Drang, als sei diese leere Intensität die einzige bestehende Fülle, das eigentliche Pochen unseres Wesens, das Noch-nicht-Sein, welches darauf brennt zu sein, und es gibt nur das, nur das, dieses Nichts, das mit jedem Schritt, mit jeder Geste pocht, dieses brennende Verlangen zu sein… wie eine weiße Flamme. Es brennt. Für nichts. Es brennt einfach. Es ist, weil es brennt. Das Sein ist Feuer. Die Leere ist Feuer, die Fülle ist Feuer. Das Nichts ist Feuer, das Etwas ist Feuer. Es ist alles gleich, und wir wissen nicht mehr, ob wir etwas brauchen oder nicht, ob es absurd ist oder nicht, ob wir wollen oder nicht, leben oder nicht, sind oder nicht sind – ein gleiches Feuer bewegt sich in jedem unserer Schritte; und welcher Unterschied, solange es nur brennt, es ist das Wesen unseres Seins, unsere einzige Fülle, unser einziger Sinn, das einzige Hier, das es gibt.
Und dann ist es immer hier.
Es ist die ganze Zeit hier. Es gibt nichts zu finden, nichts zu suchen: der Drang war das Sein, die Leere war das Sein, das Ersticken war das Sein – es, das sich selbst suchte und suchte, sich selbst mit seinem Feuer des Seins füllte. Das Gute war Feuer, das Böse war Feuer; Zukunft und Vergangenheit sind Feuer, und was bedeuten schon all die Jahrhunderte! Es brennt: es ist. Das ist alles. Morgen und gestern, Höhepunkte und Dummheiten, dort und hier, alles ist gleich, es brennt: es ist. Eines Tages wird es innen dann so kompakt, als sei man zu groß für seinen Körper, zu voll mit Seins-Feuer, um es länger darin auszuhalten. Es wird fast erdrückend. Überall stößt man gegen Mauern: in sich selbst, außen, überall, in Wesen, in Dingen – eine Welt aus Mauern – als bringe dieses Feuer die Mauern zum Wachsen, oder vielleicht macht es uns die Mauern bewußt. Da beginnt es, ganz und gar nicht mehr natürlich zu sein, es beginnt zu schreien vor lauter Lüge, es wird erstickend, man fragt sich, wie man darin leben kann. Je mehr man sich der anderen Seite nähert, desto deutlicher sieht man den Unterschied, sagte Mutter. Solange man in seiner Ignoranz badet, bemerkt man ihn nicht. Es ist das letzte Ersticken. “Die Bronzetür”. Ich dachte nur an das: diese Konzentration, eine Konzentration, als säße man vor einer verschlossenen Tür, und das tat weh, physisch weh, vor lauter Druck. Das trug sie mit sich herum, damit ging sie den Boulevard St. Michel auf und ab, wurde auf dem Weg zum Jardin de Luxembourg fast von einer Straßenbahn überfahren, sah nichts, hörte nichts. Sie drückte immer heftiger und mit wachsender Kraft gegen diese Tür, drückte, drückte124… Dann plötzlich, ohne ersichtlichen Grund – ich war weder konzentrierter als üblich noch sonst irgend etwas mehr oder weniger – poff! Sie öffnete sich. Und dann… mein Kind, das hielt nicht nur ein paar Stunden an, sondern Monate, es verließ mich nie: dieses Licht, dieser strahlende Glanz, ein Licht und eine unendliche Weite! Das Gefühl: das ist es, was will, was weiß, was das ganze Leben lenkt, was alles lenkt – es hat mich nie verlassen, nicht eine Minute seit diesem Augenblick. Und jedesmal, wenn ich eine Entscheidung zu treffen hatte, hielt ich eine Sekunde inne und erhielt die Antwort von dort.
Eine völlige Umkehrung. Und diese Umkehrung fiel nie mehr in ihre alte Lage zurück… das Gefühl, eine andere Person zu werden125. Und das ganze Leben ändert sich: Absolut alles ändert sich vollkommen, und alles, was euch als wahr, natürlich, normal, wirklich und greifbar erschien, all das erscheint euch sofort als sehr grotesk, sehr komisch, sehr unwirklich, sehr absurd: aber man hat etwas höchst Wahres und ewig Schönes berührt, und das verliert man nie mehr126. Es ist, als trete man zum ersten Mal ins Leben. Und man weiß. Es ist das unmittelbare Wissen. Man weiß, weil man ist – ein Pferd, eine Schwalbe, ein Stein, ein Säugling, alles ist dasselbe Wesen. Man kennt sich selbst sehr gut, sei es hier oder Millionen Kilometer entfernt. Man weiß, was man zu tun hat, man weiß, was man zu sagen hat, welche Bewegung man auszuführen hat, und zum ersten Mal wird das Leben natürlich. Es ist alles dasselbe Wesen, das sich bewegt und seine Schritte kennt und die Millionen Schritte der anderen Millionen “es-selbst”, die sich bewegen. Es ist sehr einfach, es ist unmittelbar, harmonisch und unfehlbar. Die lebendig gewordene Harmonie. Das ist sehr komfortabel in jeder Minute, als lehne man seinen Rücken gegen ein großes Licht127… Das ist die zentrale Erfahrung. “O Feuer!” sagt der Veda, “Du bist der Wissende aller geborenen Dinge…” (I.59.7), “Du bist die Fülle, die uns bis ans Ende des Weges trägt (II.1.12). Diese deine Pracht, o Feuer, die im Himmel und in der Erde ist, in den Pflanzen und in den Gewässern… ist ein lebendiger Ozean aus Licht, der mit göttlicher Schau sieht (III.22.2). Es ist das Kind der Gewässer, das Kind der Wälder, das Kind der beständigen Dinge und das Kind der sich wandelnden Dinge; sogar im Stein ist es für den Menschen gegenwärtig, es ist hier mitten in seinem Haus – es ist das universelle Eine in den Geschöpfen.” (I.70.2)
Aber das ist nicht das Ende der Reise.
Wir können hier stehen bleiben und zufrieden in Glückseligkeit eindösen, nur ändert unsere Glückseligkeit die Welt um kein Jota. Wir können dieses Licht einfangen, um Predigten, Evangelien oder sogar Wunder zu produzieren. Aber keine einzige Predigt hat je die Welt verändert, und alle Wunder enden in ein und demselben Loch. Wir sind “erlöst”, wie wunderschön. Aber die Welt ist damit nicht erlöst, und unsere allererste Welt, unser Körper, wird dennoch in einem Grab verfaulen – ist er erlöst? Und was ist überhaupt erlöst, solange nicht alles erlöst ist, da alles doch nur ein einziger Körper ist? Solange wir nicht diesen Körper und diese Materie “erlösen”, wird letztlich nichts erlöst sein; denn welche Parzelle des Universums könnte sich “außerhalb” befinden? Es gibt nur das. Wenn diese einzige Zelle und diese einzige Sekunde nicht erfüllt ist, dann ist nichts erfüllt und nichts vollkommen wahr. Das äußerste Endliche enthält die äußerste Unendlichkeit. Das unendlich Kleine enthält das gesamte Sein. Die Erlösung ist physisch, wird Mutter sagen. Unser Yoga beginnt dort, wo die anderen aufhören, schreibt Sri Aurobindo.
Mirra überschaute die Lage sehr genau, sie gehörte nicht zu denen, die in Glückseligkeit eindösen oder Predigten halten – sie hatte immer eine Abscheu vor Predigten. Sie wollen die Wahrheit in wenigen klaren und gut definierten Worten formuliert haben, damit sie sagen können, “das ist wahr” – das alte Unheil aller Religionen: das-ist-wahr. Demzufolge wäre der Rest eine Lüge… Wenn etwas wahr ist, dann könnt ihr sicher sein, daß sein Gegenteil ebenfalls wahr ist. Wenn ihr das begriffen habt, werdet ihr anfangen zu verstehen. Sie wurde mit genau all diesen “Gegensätzen” konfrontiert, den ständigen Widersprüchen im menschlichen Mental, im menschlichen Leben, im menschlichen Körper, in ihr selbst und in allem. Wir glänzen auf den Gipfeln des Seins, wir sehen, wissen; es ist vollkommen, es ist sogar sehr “komfortabel”… vorausgesetzt, wir schließen die Augen. Darunter oder draußen oder innen steckt dasselbe alte Biest, das sich schnaufend windet und plagt: ein ständiger Ansturm des Widerspruchs – des großen Widerspruchs überall, Ja-Nein, Gut-Böse, Richtig-Falsch, Leben-Tod, wir kommen nicht davon los – oh, nein, da kommen wir nicht heraus! Und wo hinaus könnten wir denn gehen? Nirgends geht es hinaus. Wo hinausgehen? Es gibt nur das. Wir kommen nicht aus dem heraus, was als einziges existiert! Und sie begann diesen Schlüssel zu erfassen, daß gerade das “Gegenteil” uns zur Gesamtheit führt: Aus Furcht, in unserem Handeln zu irren, tun wir gar nichts mehr; aus Furcht, in unseren Worten zu irren, sagen wir gar nichts mehr; aus Furcht… Die Tugend verbrachte immer ihre Zeit damit, Dinge aus dem Leben zu schaffen, und hätte man alle Tugenden der verschiedenen Länder der Welt zusammengebracht, würden nur noch sehr wenige Dinge existieren. Das ist eine sehr weitverbreitete Tendenz, die wahrscheinlich einer Armut, einer Unfähigkeit entstammt – reduzieren, reduzieren, reduzieren… und alles wird so eng! Im Bestreben, keinen Fehler mehr zu machen, beseitigen wir jede Möglichkeit zu irren – das ist aber noch lange keine Heilung. Das reduziert lediglich die Manifestation auf ihr Minimum, und die natürliche Folge ist das Nirvana. Aber hätte der Herr nur das Nirvana gewollt, gäbe es nur das Nirvana! Offensichtlich aber hat er das gleichzeitige Bestehen aller Widersprüche im Sinn, was für ihn der Anfang einer Gesamtheit sein muß. Damit berührte sie mit einem Schlag den ganzen Schlüssel, den einfachen Schlüssel, der direkt zum Ende führt: zum Tod – dem äußersten “Widerspruch”, der uns noch die äußerste Gesamtheit verbirgt. Das Hindernis ist der Hebel. Das Gegenteil ist der Hebel. Es ist das, was die Welt wachsen ließ, seit das erste Urtier im Tümpel zu ersticken begann (und wäre es mit Geist ausgestattet gewesen, hätte es sicherlich das Böse, das große Böse für sein Ersticken verantwortlich gemacht, und den, der ihm das Leid zufügte, als Teufel bezeichnet: den großen Teufel der Evolution). Hier bekommen wir die Wurzel dessen zu fassen, was das gewaltigste Unheil aller Spiritualitäten war und ist, der Grund ihres Scheiterns und des Scheiterns der Welt, denn zerrissen zwischen Religionen voller Sünden und einer Materie, die als das Gewand selbst der Sünde gilt, verbannten die Menschen Gott in den Himmel (was nicht so schlecht ist) und stürzten sich wie schuldbewußte Kinder in die Materie: Kurz aber gut, und nach uns die Sintflut. Das ist die logische Schlußfolgerung der Behauptung, das Leben sei eine verdammte, verwerfliche, gottlose Angelegenheit; wo ist da die Lösung? – Sie wollen das Leben nicht abschaffen, also schaffen sie Gott ab. Mit ein und demselben Schlag schließen sie die Augen vor dem Hebel der Transformation der Welt; sie kehren der Evolution den Rücken, so wie andere ihr aus reinen Himmeln den Rücken kehren. Resultat: der Religiöse wie der Materialist bemühen sich, jeder auf seine Weise, den großen Widerspruch zu korrigieren, der eine durch Erlösung, der andere mit Maschinen. Und alle sind überzeugt, daß sie, wenn sie die Welt erschaffen hätten, nicht so viele Dummheiten gemacht hätten wie Gott128! rief Mutter mit ihrem köstlichen Humor aus. Und am Ende besitzt keiner den Hebel, weder den der Macht noch den der Befreiung.
Was ist dieses Böse, dieses gewaltige Böse der Welt?
Wir stellen Religionen, Philosophien, Systeme auf, dennoch sind wir nicht mehr als angeblich “höhere” Säugetiere im großen Schmelztiegel der Natur. Die Natur hat keine Philosophie: sie tut. Und was sie tut, ist die Philosophie. Wir fügen alle möglichen Dinge hinzu, die sie gewähren läßt… für einen Augenblick, um sie wieder wegzublasen, falls sie ihrem Fortschritt im Wege stehen. Sie geht voran, das ist ihre Philosophie. Wir kennen die Philosophie des höheren Reptils nicht und wissen nicht, ob es sich ein Paradies vorstellte, aber es flog trotzdem. Das Wichtige war das Fliegen. Und sicherlich waren seine ausgetrockneten Tümpel, seine glühende Luft ein gewaltiges Böses, das die Vortrefflichkeit seiner Eigenschaften als Reptil bedrohte. Gewiß hätte es behauptet, all das verstieße gegen das “Gute” der Reptilien. Von Spezies zu Spezies waren wir ohne Unterlaß von “feindlichen” Bedingungen bedroht; und was uns, die restlichen armen menschlichen Kreaturen betrifft, so sind wir reichlich mit Parasiten versehen, wie der kleinste Baum im Wald und die geringste Pflanze in unserem Garten, jeder hat seinen speziellen Parasiten, sein besonderes Mißgeschick, jenes Etwas, das wir lieber nicht hätten und das uns hindert… woran hindert? Ohne Zweifel daran, der vortreffliche Mensch zu werden, der wir gerne wären – aber vielleicht würden diese Millionen vortrefflicher Menschen ein äußerst eintöniges Bild auf der Oberfläche dieser guten alten Erde ergeben, und unsere Mutter, die Natur, hat vielleicht andere Absichten. In der Natur gibt es kein “Dagegen”, alles ist dafür, und alles ist dazu geschaffen voranzugehen. Vielleicht ist das die wichtigste Erkenntnis, die wir noch zu lernen haben. Wenn wir aufhören, die Dinge für “dagegen” zu halten, nähern wir uns dem großen Hebel. Wenn wir, anstatt es beiseite zu schieben oder zum Teufel oder zu Gott zu jagen, dieses “Dagegen” einen Augenblick näher betrachteten, um zu sehen, was es wirklich an sich hat, wären wir der Lösung sehr nahe. Aber wir verhalten uns tatsächlich wie Babys der Evolution, wir schreien und rufen: Oh, wie wundervoll! – also ist es Gott. Oh, wie abscheulich! – also ist es der Teufel. Aber wir übersehen, daß alles wunderbar ist und daß es das Wunder in jedem Augenblick ist – ein Wunder an Präzision, auf die Sekunde genau; wir sehen nur ein mikroskopisch kleines Stück Weg, und alles, was nicht genau so blüht, wie wir es in dieser absurden Minute des Weges denken, ist offenbar böse, abscheulich. Und unser Gutes ist ebenso absurd wie unser Böses; wir begreifen gar nichts, wir leben in einer Idee des Universums, nicht aber in der Tatsache des Universums! Wir leben im Mental, das entsprechend seiner Gewohnheit ein sich entfaltendes unerschütterliches Ganzes in kleine Würfel zerschnitt, ein Ganzes, in dem es keine Sekunde lang auch nur ein Atom an Unvereinbarkeit gibt. Alles führt dorthin, alles ist für das, was sich entfaltet, und alles ist in dem, was wächst, und alles wird das, was es ist. Denn es gibt keine zwei Dinge im Universum sondern nur eins. Alle “Dagegen” sind nur dazu da, damit wir das finden, alle “Nein”, damit wir dieses Ja berühren, diesen geometrischen Punkt der Welt, wo alle Widersprüche verschmelzen und eins werden durch die Kraft des Widerspruchs selbst.
In Wirklichkeit gibt es nur ein einziges Übel: nicht zu sein. Für den Körper ist es sogar das äußerste Übel: er stirbt, weil er nicht ist. Das Problem ist auf allen Ebenen zu sehen: Häßlichkeit, Bosheit, Krankheit, Unfall, Leid, Tod, dies geschieht in verschiedenen Bereichen mit unterschiedlichen Vibrationen, aber die Ursache von alledem ist die gleiche129. Wenn wir die Wurzel berühren, berühren wir alle anderen Ebenen. Nur ein Ding ist zu berühren. Vielleicht liegt die Heilung der Welt in einem mikroskopischen zellularen Punkt, zu dem wir langsam hingetrieben werden. Nur müssen wir ihn erreichen. Wir müssen alle Schichten entrümpeln, um zu diesem Punkt zu gelangen – alle die Schichten, die uns eine nach der anderen durch die Jahrtausende der Evolution auferlegt wurden. Tatsächlich sind es die Schichten des Vergessens. Das ist unsere evolutionäre Last. Das ist unser Hindernis und unser Schlüssel. Das ist das berühmte “Dagegen”, das zum Dafür wird. Und mit dieser wundervollen Einfachheit, die alle “großen Probleme” des Menschen samt seinem ungeheuren philosophischen Aufwand zu ihrem einfachsten universellen Ausdruck zusammenfaßt, sagte sie lachend: Jeder wird auf eine besondere Art verzerrt geboren (!), aber das ist etwas, das hinzugegeben, darübergelegt wurde, um die Materie zu berühren. Und erklärend fügte sie hinzu: In allen menschlichen Wesen gibt es zwei Dinge: das, was aus der Vergangenheit stammt (das Wesen, das fortdauert, weil es geformt und bewußt ist), und dann diese ganze dunkle, unbewußte und wirklich schlammige Masse, die in jedem Leben hinzukommt; das Erstere gerät in diesen letzteren Morast, findet sich eingesperrt – darin vermischt und gefangen –, und im allgemeinen dauert es länger als ein halbes Leben, um aus dieser Verstrickung wieder herauszukommen. Das ist der Teil, der noch dem Unbewußten, der Ignoranz, der Dummheit angehört; er ist… nicht einmal so anmutig wie die Bäume oder Blumen, nicht einmal so still wie der Stein, nicht einmal so harmonisch und stark wie das Tier – ein wirklicher Verfall. Das ist wirklich die menschliche Unterlegenheit. Ja, es ist das, was sich mehr oder weniger ungünstig und unwissentlich durch den Vater, die Mutter, die Großeltern, die Erziehung angesammelt hat, dieser ganze Morast, in den wir kopfüber hineinfallen… Das wurde hinzugefügt, weil es einen der Siege bedeutet, die wir erringen müssen. Ohne unsere verhaßten tödlichen oder medizinischen Sünden wären wir alle schon längst in irgendwelche reinen Himmel entschwunden oder hätten uns in hygienischen oder demokratischen Paradiesen verschanzt, aus denen uns die Evolution nur mit Mühe wieder herauslocken könnte. Aber sie ist wachsam, sie erstickt uns und “parasitiert” uns rechts und links, damit wir gezwungen werden, die Materie zu berühren, und hier auf dem Grund dieses Loches, im Herzen des Widerspruches das höchste Geheimnis und das höchste Sein und die höchste Macht finden: Das Mittel zur Heilung liegt im Zentrum des Bösen130. Der Ausgang ist unten. Und 1912, im gleichen Augenblick, als Sri Aurobindo in Pondicherry einen noch radikaleren Aufruhr vorbereitete, schrieb sie bereits: Vom vollen Sonnenlicht sind die Wege der Intelligenz beschienen, aber im weißen Schein der Nacht offenbaren sich die verborgenen Pfade der Vollkommenheit131.
Hier beginnt, was sie bald “den Weg des Abstiegs” nennen wird.
Versucht nicht, tugendhaft zu sein, sagte sie, seht, wie weit ihr geeint seid, eins mit allem, was ungöttlich ist, nehmt euren Teil der Last an, akzeptiert, selbst unrein und falsch zu sein, und so könnt ihr den Schatten annehmen und hingeben. Und so wie ihr fähig seid, ihn anzunehmen und hinzugeben, werden die Dinge sich ändern.
Wir müssen eine Bresche in die alte Mauer schlagen. Aber die Bresche bewerkstelligt sich nicht aus der Summe unserer menschlichen Tugenden, die nur die alte Selbstzufriedenheit festigen – wir müssen fühlen, daß etwas fehlt, schrecklich fehlt; dann beugen wir uns über die Wunde, und es brennt und schmerzt, bis wir auch hier den kleinen Schrei zu sein finden und den kleinen Lichtbrunnen dort hineinbohren. Dann beginnen wir von neuem, und jedesmal berühren wir eine tiefere Schicht, schmerzvoller und brennender – umfassender sogar, als erweiterten die Schichten sich, je tiefer wir hinabsteigen, im Gegensatz zu den großen Schichten des Lichtes oben. Jedesmal scheint die Intensität zu wachsen, dieser Druck einer immer größeren Erstickung, eines immer größeren Dranges, eines immer absoluteren Mangels, eines immer heftigeren Feuers, als schmerzte hier die ganze Erde mit ihren jahrhundertealten Wunden. Wir steigen hinab, wir graben den Lichtbrunnen, ziehen den kleinen Strahl von oben dort hinein, und bisweilen scheint die kleine weiße Flamme von oben sogar in diesem Feuer verschlungen zu werden, und wir brauchen nur noch zu brennen, zu brennen, als sei dieses Brennen das eigentliche Sein in diesem Nichts: ein immer mächtigeres, immer umfassenderes, immer dichteres Feuer, als würde das Wesen selbst wachsen, um eine immer tiefere Schicht seiner selbst berühren zu können. Je tiefer wir hinabsteigen, desto mehr wächst das Wesen, als sei es geschmiedet, entfacht von der Macht des Widerspruchs, erweitert von einem Schmerz, der an die äußersten Grenzen der Erde zu rühren scheint. “Ich grub und grub…” sagten die vedischen Rishis (I.179.1). Das ist die große Bresche. Der Riß. Die Lichtbrücke zwischen der blassen alten Oberfläche, den alten Paradiesen oben, die alle so substanzlos, so leer, so hohl zu sein scheinen neben dieser Dichte brennenden Seins, und… dem Etwas, das einen jedesmal tiefer auf den Grund herabzieht, mehr nach innen, zu seinem unerträglichen Mysterium, wo das Brennen wie zum Höhepunkt des Widerspruchs wird, zum Ja-Nein, ein Nichts des Seins, eine brennende Verweigerung, ein so verzweifeltes Ende von allem, daß nichts mehr bleibt als zu lieben. Als wäre die Tiefe der Nacht aus Liebe gemacht.
Dies sind die Stufen des Abstiegs.
Und am Ende: die Zelle. Der Körper. Die reine Materie unter ihrer tausendjährigen Verkleidung.
Dem Menschen fiel das schmerzliche Privileg zu, sich zu irren. Das ist unter den Millionen unfehlbaren Tieren seine evolutionäre Besonderheit und das hervorstechendste Merkmal seines Mutationsgrades. Die Erde ist voller Risse und Löcher und Wunden wie noch nie zuvor im Laufe der Millionen Jahre des Quartärs. Ein großer Evolutionsdurchbruch bereitet sich vor.
Es gibt immer einen schwachen Punkt, sagte sie, einen empfindlichen Punkt, den man im allgemeinen als Schwäche bezeichnet; aber gerade das ist die Kraft des Wesens! Der Punkt, durch den wir berührt werden können132. Wir müssen den schwachen Punkt akzeptieren. Wir müssen eine Brücke bauen zwischen dem, was ewig ist, und der ganzen schmerzlichen dunklen Ignoranz der materiellen Welt133. “Sie spalteten die Nacht wie eine aufgetrennte Tierhaut”, sagt der Veda, “um unsere Erde [Erde = Körper] unter der strahlenden Sonne auszubreiten.” (V.85.1) Es genügt nicht, nur in den inneren Welten zu triumphieren, wir müssen bis in die materiellsten Welten siegen134! Der Mensch muß seine Mission, die Materie zu reinigen135, die Materie zu transformieren136, vollenden, sagte sie im Jahr 1912, noch bevor sie Sri Aurobindo begegnete. Der Mensch muß den Weg des göttlichen Lebens betreten137, eine neue Rasse erschaffen138. Und in einer prophetischen Vision all dessen, was Sri Aurobindos Yoga und auch ihr eigener bis zu ihrem fünfundneunzigsten Lebensjahr sein wird, schrieb sie: Das Hindernis ist eng mit dem eigentlichen Sinn des zu vollbringenden Werkes verbunden: derart ist der gegenwärtige Zustand der Unvollkommenheit der physischen Materie139… Wir müssen ständig vorangehen, um diesen Hintergrund des universellen Unbewußten zu erobern, und ihn durch unseren organismus nach und nach zu klarem Bewußtsein transformieren140.
Das außergewöhnliche Phänomen besteht jetzt darin, daß je mehr dieses “klare Bewußtsein” der Gipfel die dunklen Schichten unserer evolutionären Vergangenheit durchquert – all das, was in uns knirscht, sich quält und leidet, erkrankt und sich widersetzt, begehrt und nicht begehrt, will und nicht will, diese ungeheure Verwirrung, die uns wie auf einem Folterlager hin- und herzerrt und uns zu guter Letzt sterben läßt –, je mehr die Materie sich klärt, das Licht herabkommt, sich darin entzündet und sich den Grenzen der reinen Materie im Körper, in den Zellen nähert, desto mehr scheint sich auch die Materie selbst zu ändern: ihre Sichtweise, ihre Kraft, ihre stoffliche Feinheit, sogar ihr Gesetz; als ob das Wesen selbst, oben auf seinen Gipfeln sozusagen seine Ewigkeit änderte, seine Zeit, seinen Raum, sich sogar in der Haut seines Wesens änderte – es ist nicht mehr das gleiche Wesen! Es ist nicht mehr die gleiche Materie. Es ist etwas anderes… etwas Göttliches, sagte sie; eine höchste Vereinigung, in der Geist und Materie zu einem Dritten verschmelzen… dem Geheimnis der Zukunft. Vielleicht das vollständige Wesen. Etwas, das alle Gegensätze umwandelt: Leben-Tod, Ruhe-Bewegung, Zeit-Ewigkeit, Sein-Werden, hoch-niedrig, du-ich, hier-dort… Eine höchste und mächtige Vereinigung, die in sich die wirkliche und wahre Kraft birgt, die Befreiung der Welt und den Anfang einer “neuen Evolution” auf der Erde.
Auf der Ebene der Materie zerbricht das Goldfischglas. Und nur auf dieser Ebene.
Das unendlich Kleine vereinigt sich mit dem Unendlichen.
Dies also ist das Werk der Vereinigung, das Sri Aurobindo und Mutter in ihren Körpern verfolgen werden, die letztlich der eine große Körper der Erde sind. Und dies ist der Sinn unserer Evolution, das Ziel unseres millionenfachen Mühens und Suchens – keine Rückkehr ins Paradies und keine Erlösung nach dem Tod141, wie Sri Aurobindo sagte, kein “Sturz”, sondern ein geplanter Abstieg des Bewußtseins zu seinem Geheimnis in der Materie und zu unserer Vollkommenheit in einem Körper. Eine ungeheure spirituelle Revolution, die die Materie und die Schöpfung rehabilitiert, wird Mutter über Sri Aurobindos Werk sagen. Folglich können wir feststellen, daß die Erfahrung erst dann schlüssig sein wird, wenn der Kreis vollendet ist, wenn die beiden Extreme sich berühren, wenn sich das Höchste im Materiellsten manifestiert… Es scheint, wir können nur dann wirklich verstehen, wenn wir mit dem Körper verstehen142.
12. Kapitel: Die Zwischenherrschaft des Mentals
Sie hat einen weiten Weg zurückgelegt seit der Zeit, als sie schweigend mit den Bäumen, den Mumien oder den Rehen in Fontainebleau kommunizierte. Mutter ist jene, die überall Verständigungswege findet – oder sie öffnet. Wir stehen einer großen Welt gegenüber, die uns durch das versperrt ist, womit wir sie verdeckt haben, und zwar unsere Art, sie zu verstehen: wir verstehen auf der verkehrten Ebene. Aber dann gibt es jene, die die Versperrung wegräumen können – denn wir entdecken stets nur das Natürliche, wir finden das wieder, was schon immer da war, nur auf einer anderen Ebene. Wir befinden uns in einer Zeit der wechselnden Verständnisebene. Der erhabene Zustand ist der natürliche Zustand, sagte Mutter, ihr hingegen seid alle ständig in einem nicht natürlichen, nicht normalen Zustand, der eine Verfälschung, eine Entstellung ist143. Die gesamte Evolution besteht vielleicht aus der Eroberung des Natürlichen durch bereichernde Komplikationen – die ursprüngliche, einfache aber leere Einheit wird zu einer vollen und in ihrer Vielfalt sich selbst bewußten Einheit. Alle Entstellungen und Verfälschungen sind letztlich Mittel des Wachstums und der behutsamen Eroberung einer Wahrheit, die wir nicht auf einmal schlucken könnten, ohne zu bersten, aus dem einfachen Grund, daß die höchste Wahrheit physisch ist und der Körper, dieses alte Tier, am langsamsten begreift. Die äußerste Schwerfälligkeit oder der äußerste Knoten enthält das höchste Verständnis und die Schwierigkeit, die alle anderen lösen wird.
Das Mental ist unser provisorisches Instrument der Wahrheit oder der bornierten Verfälschung (je nach dem, von welcher Seite wir es betrachten). Es ist der großartige Gestalter, der alles entstellt. Wir können mit keiner Wimper zucken, ohne daß es sich nicht augenblicklich vordrängt, um den Wimpernschlag zu erklären. Es hat alles erklärt, darin liegt ja die Schwierigkeit, oder will alles erklären und spinnt ein so dichtes Netz um das Universum, daß wir nicht wirklich das Universum erleben, sondern eine “Auslegung” des Universums: Jedes Ding trägt in sich selbst seine Wahrheit – seine absolute, so leuchtende, so klare Wahrheit, sagte sie. Und wenn man mit dem in Kontakt steht, ordnet sich alles wunderbar; aber die Menschen haben keine Verbindung damit – ihre Verbindung geschieht immer durch ihr Denken: was sie über die Sache denken und fühlen… Darin besteht die “wunderbare” Verwirrung, in der wir leben: wir stehen nur mit unserem eigenen Kopf in Verbindung. Wir verständigen uns durch etwas. Wir erleben nichts so, wie es ist.
Muß das Mental aufgelöst werden?
Vielleicht löst es sich schon ganz von alleine auf.
Man kann aber nur das wirklich auflösen, was vollständig erobert wurde. Im Grunde ist es immer dasselbe, auf jeder Ebene: Viele kleine Dämme helfen, die Shakti zu akkumulieren, um die notwendige Kraft zu sammeln, den Damm zu brechen und durchzudringen… zum nächst stärkeren Damm, gemäß der neu erlangten Kraft. Der mentale Damm kann dicker sein als die Himalajas, und verglichen mit ihm ist die Materie ein leichter Hauch. Aber das Mental streckt seine Wurzeln bis in die Materie – ein weiteres solides Geheimnis, das wir bald mit Mutter entdecken werden. Bisher hatte Mirra das Mental noch nicht erobert. Merkwürdigerweise ist es das letzte, was sie am Ende des Weges erforschte – oder vielleicht nicht so “merkwürdig”, denn sie hatte auf ganz natürliche Weise das Natürliche erforscht (das wir als das “Übernatürliche” bezeichnen – wie verkehrt doch alles ist!), bevor sie mit dem Künstlichen in Berührung kam, dieser äußeren erklärenden Schicht, die wir für das solide Universum halten, das heißt, auf mentale Weise solide. Sie verständigte sich mit den Pflanzen und Tieren, entdeckte weite, farbige Wellen, die Schwingung der Schöpfung, den Laut von oben, die großen blauen Noten am Ursprung der Musik. Sie spielte viel Klavier (selbst im großen Salon von Tlemcen, zum Entzücken… der Kröten!) und malte ebenfalls. Sie kannte die Bewußtseinsebenen, sie ging aus ihrem Körper heraus, bewegte sich überall. Sie bewegte sich sogar völlig gelassen in der höheren Mathematik – auch hier ist erstaunlich, wie ihr diese scheinbar hochmentale Übung natürlicher erschien als alles andere; vielleicht weil Gleichungen zum Einfachen tendieren. Einstein war ein großer Vereinfacher, der fast mathematisch die Einheit des Universums hinter dem enormen Schleier der Komplikationen der Erscheinungen zu berühren suchte. Einstein hätte Mutter sehr gut verstanden. Vielleicht hätte er Mutters Gleichung aufgestellt… und das Universum wäre in schallendes Gelächter ausgebrochen – Mutters Lachen, selbst inmitten der furchtbarsten Schmerzen, wer wird es je verstehen?
So lachte sie und zündete mit Theon Feuerwerke, sie entschwand sogar auf subtile Weise von Tlemcen nach Paris, wo sie einer Gruppe von Freunden erschien, und zwar “physisch” genug, um einen Bleistift zu nehmen und eine Notiz auf ein Stück Papier zu schreiben, wie Sri Aurobindo später berichten wird144 – eigenartiger Körper, eigenartige Materie. Aber die Materie materialisieren oder entmaterialisieren heißt noch lange nicht, die Materie zu transformieren, es ist einfach ein Spiel mit anderen Gesetzen desselben alten Dings. Mit diesen Gesetzen würden wir vermutlich gerne spielen, aber leider würden eher sie mit uns spielen, und das Geheimnis bleibt wohl behütet in Erwartung eines reiferen Alters – dort werden wir es auch nicht mehr nötig haben, “Wunder zu vollbringen”, weil wir die natürliche Vollkommenheit leben werden. Sie spielte also, lachte mit Rouault, Rodin, Matisse, besuchte die Museen und Schlösser Frankreichs und Italiens, kannte die gesamte alte Kultur in- und auswendig, und wahrscheinlich besaßen nicht viele Wesen eine so verfeinerte und vielseitige Bildung. Eine große Pariserin, könnten wir sagen. Aber ihr fehlte seine Exzellenz, das Mental. Mit anderen Worten, die mentale Jongliererei – die vielleicht komplizierter ist als das Jonglieren mit den kleinen Schlangen von Zarif, Theons Blitzschlag oder dem Mistral über dem Mittelmeer. Aber wir würden uns irren zu glauben, Mirra hätte ihren “Geist” nicht kultiviert; sie hatte Bibliotheken verschlungen wie jedermann, hatte jedoch nicht den “Mechanismus” berührt, wie sie es am liebsten ausdrückte. Diesen Mechanismus bekam sie bald in konzentrierter Form zu schlucken, während der schmerzlichsten Erfahrung ihres Lebens – denn das Mental bedeutet wirklich immer den Schmerz des Seins oder den Schmerz zu sein. Und so, wie sie mit Theon den Tod berührte, wird sie mit Paul Richard die Lüge der Welt berühren. Wir begegnen im Leben stets den Hindernissen, die zur Perfektion der zu erreichenden Verwirklichung beitragen – schließlich gibt es nirgends Hindernisse, außer in uns selbst, alles führt zur Vollkommenheit. “Mein Leben ist schrecklich!” sagen sie, “Ich habe das schlimmste Leben der Welt!” Aber sie sind Einfaltspinsel. Jeder hat das Leben, das seiner vollen Entwicklung entspricht. Jeder hat die Erfahrungen, die seiner vollen Entwicklung entsprechen, und jeder hat die Schwierigkeiten, die seiner vollen Verwirklichung entsprechen145.
Seine Exzellenz, das Mental, präsentierte sich eines Tages in der Form von Paul Richard, dem sie ungefähr 1908 in Montmorency begegnete, bei den Schwestern von Morisset, in deren Obhut sie ihren Sohn gegeben hatte. Sie kam oft dorthin, zu den liebenswürdigen Schwestern, mit denen sie sich bestens verstand, und spielte gemäß ihrer alten Leidenschaft Tennis. Paul Richard spielte ebenfalls Tennis. Er war ein außergewöhnlich intelligenter Mann, ein “Philosoph”, der übrigens seine letzten Tage als Professor an einer bekannten amerikanischen Universität verbringen sollte. Außerdem war er Rechtsanwalt. Interessanter aber ist – und hier staunen wir stets über die Fäden dieser schwindelerregenden Angelegenheit, die wir “Schicksal” nennen –, daß zu Beginn des Jahres 1910, aus den banalsten oder vielleicht sogar ironischsten Gründen, sofern man es aus den großen Weltperspektiven heraus betrachtete, Paul Richard nach Pondicherry reisen mußte, um sich am Wahlkampf eines gewissen Bluysen zu beteiligen, eines denkwürdigen Abgeordneten oder Anwärters auf den Abgeordnetenposten der französischen Nationalversammlung. Und in Pondicherry begegnete er Sri Aurobindo, der sich gerade dort niedergelassen hatte. Dank Richard und in dessen Begleitung sollte Mirra 1914 Sri Aurobindo aufsuchen und dabei entdecken, daß er kein anderer war als jener, dem sie fast täglich im “Visionsgewand” begegnete und den sie schließlich “Krishna” nannte, da sie ihn für eine Hindu-Gottheit hielt. Wir könnten uns ausgiebig über diese schwindelerregenden Mäander des Schicksals wundern, das ein “beliebiges” Individuum und einen “beliebigen” Vorwand wie diese Tennispartie in Montmorency aufgreift, um seine mächtigen Fäden zu knüpfen und seine Revolutionen vorzubereiten. Wenn alles ein “Zufall” ist, dann ist dieses ganze Universum ein phantastischer verhexter Chronometer, auf die Sekunde genau. Und wenn nichts ein Zufall ist, dann ist es ein anderer phantastischer Chronometer, der keineswegs verhexter ist als die Bewegung eines einzigen Bewußtseins, das sich überall gleichzeitig auf das Atom genau bewegt und das vielleicht nur darauf wartet, daß wir aus unserer eigenen Verhexung herauskommen, um sich überall frei mit uns zu bewegen und überall seine Millionen Fäden zu erkennen, die alles miteinander verknüpfen, den geringsten Flug eines vorbeiziehenden Vogels, die winzigste unnütze Geste und den weiten Atem, der ein Zeitalter erwecken wird. Es ist alles derselbe Atem. Und es war derselbe Paul Richard, der das außergewöhnlich Neue an Sri Aurobindos Erfahrungen begriff und diesen drängte, sie Schwarz auf Weiß als “Philosophie” niederzuschreiben. So wurde 1914 die Zeitschrift Arya gegründet, in die Sri Aurobindo Tag für Tag sein sechstausend Seiten umfassendes geschriebenes Werk einfließen ließ – manchmal arbeitete er sogar an vier oder fünf Schriften gleichzeitig –, die Mirra und Paul Richard ins Französische übersetzten. Aber wir greifen vor.
Mirra begann also, mehr über Sri Aurobindo zu erfahren. Besonders frappierend fand sie gewisse Ähnlichkeiten mit Theons Lehre, aber Richards Worte waren noch zu sehr von seinen eigenen Beifügungen und Interpretationen gefärbt, als daß Mirra wirklich erfassen konnte, was dahinter lag. 1910 heiratete sie Richard und bezog die rue du Val-de-Grâce, nicht weit vom Jardin de Luxembourg oberhalb des Quartier Latin. Sie war zweiunddreißig Jahre alt. Ihre Ehe dauerte bis 1920, mit langen Umwegen über Japan und Indien, bevor sie sich endgültig in Pondicherry niederließ: Zehn Jahre intensiver mentaler Studien führten mich… zu Sri Aurobindo. Eine mentale Entwicklung, die umfassender nicht hätte sein können: Studium aller Philosophien, aller Ideenjonglierereien, bis ins letzte Detail – in die Systeme eindringen, sie verstehen. “Eindringen”, das war in der Tat Mutters Art, auf allen Ebenen. Etwas verstehen bedeutete für sie, es zu leben, und so widmete sie sich der Philosophie ebenso gründlich wie der Malerei, der Musik, dem Okkultismus oder der Wahrheit des Wesens. Mit anderen Worten, eine mentale Entwicklung, in der man bereits begriffen hat, daß alle Ideen wahr sind und es eine Synthese zu machen gilt… und daß jenseits der synthese etwas liegt, das strahlend und wahr ist. Dieses “jenseits der Synthese” bedeutet eine weitere noch zu vollziehende Etappe der menschlichen Entwicklung, denn alle unsere Synkretismen verlieren sich zu guter Letzt in einem mentalen Sumpf ohne wirkliche Kraft zur Transformation des Lebens. Mirra liebte das Konkrete: Eine Erklärung hat nur in dem Maße Bedeutung, wie sie euch Kraft gibt, auf die erklärte Sache einzuwirken; zu was sonst ist sie nütze146? sagte sie in ihrer erfrischenden Einfachheit. Wirklich, das Denken ist eine so vage Sache, so weit von der Wahrheit entfernt… Da ist es eigentlich an der Zeit, praktisch zu sein und zu sagen: Gut, ich akzeptiere diesen Gedanken, wenn er meiner Weiterentwicklung hilft. Wenn ihr aber glaubt, er sei die absolute Wahrheit, dann könnt ihr sicher sein, euch zu irren, weil kein einziger Gedanke die absolute Wahrheit ist. Solange er euch hilft, Fortschritte zu machen, behaltet ihn; wenn er sich aber zersetzt und nichts mehr bewirkt, dann laßt ihn fallen und versucht, einen anderen zu finden, der euch ein Stück weiter bringt147.
Seltsame Begegnung von Philosophie und Offenherzigkeit, die ein wenig an Andersens dreistes Kind erinnert, das mit dem Finger auf den pompösen König deutete: “Aber er ist nackt!”
Vielleicht ist das Mental gerade so wie dieser mit nicht vorhandenem Gold herausgeputzte König, den niemand als nackt zu entlarven wagt aus Furcht, alle nackt vorzufinden.
Denn vor dieser Nacktheit haben wir Angst.
Die Schwierigkeit mit dem Mental liegt in der Tat darin, daß wir es noch nicht ausreichend erforscht haben. Wir haben eine gewisse Zwischenschicht des Mentals kultiviert oder vielmehr endlos wiedergekäut, die sehr sperrig zu werden beginnt und sich in alle möglichen Richtungen verzerrt wie in den letzten Tagen der “fotografischen Malerei” vor der endgültigen Zergliederung der Kubisten – und das bezeichnen wir als “Kultur”, genau jenen berühmten König, den niemand als nackt zu erklären wagt, diesen glänzenden Trapezkünstler, der sich durch die Lüfte schwingt… in der Erleuchtung der Flutlichter. Das Mental erstreckt sich aber noch auf andere Schichten, sowohl darüber als auch darunter. Darüber liegt der Bereich, aus dem die “Inspirationen” stammen, die reinen und universellen Quellen des Mentals; darunter die endlosen Schichten, welche die gesamte Entstehung des Mentals im Laufe der Evolution verkörpern, bis hinunter zur allertiefsten Schicht, dem ersten Mental in der Materie, das Sri Aurobindo das “Körpermental” und Mutter das “Zellmental” nennen wird – es birgt das Geheimnis unserer Zukunft (die neue “Verständnisebene”) und wahrscheinlich den Schlüssel zu unserer nächsten Mutation. Doch wie immer offenbart sich das Zutiefstliegende als letztes, das Primitive oder Ursprüngliche taucht als letztes aus dem Gewirr auf. Um zum Alleruntersten zu gelangen, müssen wir den ganzen Weg durchlaufen haben – darin besteht die mühsame Evolutionsgeschichte unseres Aufstiegs. Doch von unserem alten Schwung weitergetragen, verbleiben wir auf einem verstümmelten Niveau, einer Zwischenebene des Mentals, die unaufhörlich ihren alten Kokon spinnt und sich in alle Richtungen dreht und wendet, ihre alten Zimbeln klirren läßt und mit ihrem Geigenbogen auf abgenutzten Ideen herumkratzt – denn nichts ist abgenutzter als Ideen – und ihre Winzigkeit mit schallenden Worten bläht, die von den eigenen Mauern widerhallen. Es ist das vermauerte Mental, das überall seinem eigenen Echo lauscht. Mirra nannte es die Welt der mentalen Konstruktionen. Und wenn es uns zufällig einmal glücken sollte, die Mauer zu durchbrechen, wie den wenigen Privilegierten, die Zugang zu den reinen und unmittelbaren Quellen der Inspiration haben – eben jene, die uns erfreuen, weil sie eine freiere Luft, einen anderen Rhythmus in unseren Käfig hauchen –, würden wir als erstes neue Zimbeln daraus basteln, die sich ebenso schnell abnutzen, wie sie erklingen, um schließlich als eine weitere Idee in diesem ganzen Lärm unterzugehen. Selbst jene, die nach oben stiegen und uns flüchtige und rasch verklungene Einfallsblitze vermittelten, entschwanden in immer ätherischere strahlende und weite Regionen, in denen es äußerst schwierig wurde, einen ungebrochenen und für unser schwerfälliges Mental zugänglichen Rhythmus hinabzubringen; und schließlich schienen sie sich wie Eremiten dort oben in einem Bereich zu verlieren, wo jeder Wunsch nach irgendeinem Ausdruck versiegt und man nur noch in dieser weiten Schneestille verharren möchte, in der alles so klar ist, daß es nichts mehr auszudrücken gibt. Eine Art Nirvana des Mentals. Und stets diese äußerste Nichtigkeit, ein noch so blasses Abbild oder einen Zipfel Rhythmus in diesen Käfig, diese enorme Konstruktion des menschlichen Mentals hinabbringen zu wollen, einen Lichtblitz, der nicht sofort von der Flut der Ideen verschluckt und vernichtet wird und machtlos in der blendenden Undurchsichtigkeit des Mentals versumpft. Schnell entdeckte Mirra, daß auch hier die Rettung unten, in diesem Mental der Materie zu finden ist, wo das Denken sich in etwas anderes verwandelt, das zugleich eine Kraft und eine Vision ist: ein direktes Verstehen, das automatisch tut und eine eigenartige Ansteckungskraft besitzt – während Ideen nur gegeneinanderprallen und endlos diskutiert werden, ohne je etwas zu ändern oder zu bewirken.
Aber um dorthin zu gelangen, mußte der Mechanismus erst auseinandergenommen werden. Für Mirra war das sehr einfach, weil die Gedanken sichtbar waren. Worte und Ideen waren sichtbar. Je nach dem Inhalt bildeten sie mehr oder weniger farbige und leuchtende Wirbel und Spiralen, eine Art Geräusch – mehr oder weniger stimmig entsprechend der Beschaffenheit des Lichts oder des Rhythmus –, das sich in Englisch, Französisch oder Italienisch kleidete. Sie konnte sogar einen gewissen Schweden gut verstehen, dessen Sprache sie überhaupt nicht kannte, und sich völlig Unbekannten gegenüber verständlich machen, nur durch die Bewußtseinsschwingung. Sie drang direkt zu dem vor, was das Mental in alle Farben und Rhythmen kleidet: Bewußtsein, Shakti. Aber dieses Bündel von Ideen, die Ansammlung, die wir um uns legen oder auf dem Buckel schleppen und als unsere “Lebensanschauung” bezeichnen, unser Ideal womöglich, unsere Religion, unsere Philosophie des Daseins, all dieser mehr oder weniger zusammenhängende, mehr oder weniger lichtvolle, mehr oder weniger starre und ausdruckskräftige Plunder, den wir nur schwerlich definieren können, ohne ganze Bände oder eine Menge Worte zu gebrauchen, die sich unaufhörlich widersprechen – wie einfach war das alles für Mirra: es ergab “Konstruktionen”. In einer Sekunde war es erkannt. Das ist wirklich eine Art Sehen, das jedem zu wünschen wäre, denn es würde uns von einer ganzen Anzahl von Gefängnissen genesen lassen, die uns sehr geräumig, luftig und “ideal” vorkommen. Dabei handelt es sich keineswegs um “Hellseherei”, wie man versucht sein könnte zu glauben: es ist etwas ganz anderes, sehr viel einfacher, sehr viel zugänglicher – materieller –, auf das wir später zurückkommen werden. Etwas, das mit der “neuen Verständnisebene” zu tun hat. Konstruktionen in allen Farben und Formen mit einem scharfen und durchdringenden Blick betrachtet – ja, der allen Anschein durchdringt, um die wahre Substanz zu berühren – ein geradezu humoristisches Auge, und diese Konstruktionen bringen graphisch, bildhaft und mit unfehlbarem Pinselstrich genau die wirkliche Mischung zum Ausdruck, die wir nur mit Mühe abstrakt definieren können. Eine bildhafte Übersetzung der Gedanken: Ideen, die kleine graziöse Kapellen bilden oder Schneehütten, Tempel, Sümpfe, alte, rissige oder in allen Farben glänzende Mauern, Stockwerke über Stockwerke wie traurige graue Mietshäuser, Rattenlöcher, kleine geschwungene japanische Dachflügel, durchbrochene Trennwände wie arabische Flechtgitter und manchmal ein einsamer Turm, verschlossen wie eine Faust, oder monumentales und erstickendes gotisches Mauerwerk… Es ist endlos und so vielfältig wie die Welt selbst, aber es bleibt eine Konstruktion – Mauern. Eine mehr oder weniger luftdurchlässige Glashaube, die uns umgibt, uns festigt und uns den Eindruck des bequemen “zu Hause” verleiht. Das ist unsere Weltanschauung. Wir leben unter alledem und wissen es nicht. Aber wenn es von außen, durch dieses Auge betrachtet wird, dann wird es klar, und alle Einzelheiten erklären mit unglaublicher und humorvoller Präzision die Lage: die Beschaffenheit des Gesteins, die Farben, die Anordnung, die Komplikationen, die Anhäufungen, die Ausmaße – Treppen, so viele Treppen, die endlos auf- und abführen! Und manchmal treten Gedanken auch in Form von Gewändern auf: prachtvolle oder zerlumpte, saubere oder schmutzige, zugeknöpfte oder unglaubliche – eine ganze Auswahl von Aufmachungen. Man sieht, und alles erklärt sich von selbst, wie Mutter sagte.
Dann beginnt die Welt der Ideen einem durchsichtigen Buch zu gleichen. Du kannst zwar behaupten: “Ja, es ist der freie Wille” oder “es ist Zen-Meditation” oder “es ist die Rettung der Welt”, doch es ist ganz einfach eine mittelalterliche, von plätschernden Gräben umsäumte Festung oder vielleicht ein kleiner Strahl silbernen Lichts inmitten einer toten Betonstadt. Und manchmal ist es nur Wind, der leere Kalebassen rüttelt. “Aber der Lichtstrahl ist bezaubernd, die Kalebasse ist aus rosarot geädertem Opal, und die Festung hat Flügelerker.” All das ist schön und nett… aber es rettet überhaupt nichts. Um unser Thema etwas bildhafter zu erläutern, wollen wir unter Hunderten von Beispielen zwei zitieren. Das eine betrifft Mutters Besuch im “Hause” eines traditionellen und von den besten Moralvorstellungen der Welt geleiteten Spiritualisten – dem Anschein nach ist alles tadellos, aber aus dieser Sicht gesehen wird es viel amüsanter. Vielleicht sollten wir sie die “Sicht des Lächelns der Materie” nennen… ihr Lächeln über unser mentales Repertoire. Es war sein Haus, erzählte Mutter, und es war sehr kompliziert hineinzukommen. Ich wiederholte ein Mantra, als X kam. Er machte eine äußerst vorwurfsvolle Miene! Dann roch er an meinen Händen: “Es ist eine schlechte Angewohnheit, Parfüm zu gebrauchen. Man kann kein spirituelles Leben führen, wenn man Parfüm benutzt.” (Mutter benutzte sogar Lippenstift… welche Frivolität!) Da schaute ich ihn an und dachte: “Mein Gott, wie kann er nur so rückständig sein!” Aber es ärgerte mich, deshalb sagte ich: “Gut, ich gehe.” Als ich (nach einigen komplizierten Umwegen) die Tür erreichte, fragte er mich: “Ist es wahr, daß Sie verheiratet waren und geschieden sind?” Da, sagte Mutter lachend, überkam mich eine Art Zorn, und ich antwortete ihm: “Oh, sogar zweimal!” und damit verließ ich das Haus. Vor der Haustür hockte ein kleines Eichhörnchen und machte mir freundliche Zeichen. Da sagte ich mir: “Sieh, hier ist jemand, der besser versteht!”… Dabei wäre es völlig falsch zu glauben, der untraditionelle Nicht-Spiritualist lebe in einem angenehmeren Haus, denn in beiden Fällen lagern Steine auf unseren Köpfen und Schutzwälle um uns herum, seien sie weiß oder schwarz, dafür oder dagegen. In dieser Welt bedeutet jede Idee einen mehr oder weniger dekorativen Backstein.
Das andere Beispiel stammt aus einer persönlichen Erfahrung. Es war, als ich zum ersten Mal das “Lächeln der Materie” kostete. Ich kannte einen Mann mit großer spiritueller Macht, er hatte viele Schüler, die besten Absichten der Welt und sehr umfassende, durch strenge Disziplin erarbeitete Kenntnisse des Tantrismus. Nennen wir ihn X. An jenem Tag befand ich mich (in dieser Vision) an einem Ort der Erde, der mitten im Himmel war. Ich stand mit beiden Füßen auf der Erde, und ringsum erstreckte sich der Himmel nach allen Seiten, eine unermeßliche Landschaft aus Licht, in der ich eine sehr erfrischende Luft genoß. Darin sah ich plötzlich X auftauchen und gewahrte neben ihm eine Art Turm aus Zement, ungefähr drei Meter im Durchmesser und sieben Meter hoch. Harter, grauer Zement. X stieg in den Turm (eine Wendeltreppe führte hinauf) und lud mich ein, ihm zu folgen. Es war sein “Haus”. Er stieg in den Zementturm, um die Milchstraße zu betrachten… aus sieben Meter Höhe! Ich lehnte dankend ab, da ich ja vom Erdboden aus genügend erfrischenden Himmel ringsum vorfand. Das war in Kilos an Zement gerechnet das auf den Kubikmeter genaue Maß seiner Stunden Disziplin. So strecken wir unsere Türme in die stets gegenwärtige und immer frische Fülle des Himmels. Ich weiß nicht, ob sich in sieben Meter Höhe – aus Zement, gotisch oder exotisch – die Galaxien besser drehen. Wie dem auch sei…
Mirra jedenfalls machte sich daran, der Reihe nach die Weltreligionen zu inspizieren. Systematische, detaillierte und vergleichende “Religionsgeschichte” war ihr erstes Studienfach mit Richard. Aber wie erstaunt war sie da! Denn alle diese Erfahrungen auf der Höhe des Bewußtseins oder in der Tiefe des Herzens hatte sie auf ganz natürliche Weise gemacht, warum also all dieses feierliche und dogmatische Brimborium daraufladen? Immer und überall erkannte sie mit unterschiedlichen Worten oder Formen, mit mehr oder weniger dicken und farbigen Backsteinen den gleichen Erfahrungskern, mehr oder weniger vollständig, mehr oder weniger umfassend – aber warum um Himmels willen all diese Komplikationen! Jeder ergreift einen kleinen Zipfel und macht daraus sein Ganzes… Alle! Ich würde gerne wissen, wer imstande ist, das Ganze zu erfassen148? Und sie fügte hinzu: In genau diesem Punkt irren sich sämtliche Religionen – alle – sie wollen den Ausdruck einer Erfahrung standardisieren und sie allen als unfehlbare Wahrheit aufzwingen. Die Erfahrung ist wahr, in sich vollständig, überzeugend: für den, der sie erlebte. Die Art, wie er sie zum Ausdruck brachte, war ausgezeichnet: für ihn. Aber sie anderen aufzwingen zu wollen, ist ein grundlegender Irrtum, der ganz verheerende Folgen hat149, aus dem einfachen Grund, daß jedes Individuum eine spezielle Manifestation im Universum darstellt, infolgedessen muß sein wahrer Weg ein einzigartiger sein150. Mirra erwähnte oft das Paradox eines berühmten materialistischen Doktrinärs, der genug Humor besaß, um auszurufen: Thank God, He made me an atheist! (“Gott sei Dank, Er machte aus mir einen Atheisten!”) Solange es Religionen gibt, sagte sie, wird der Atheismus als ihr Gegengewicht notwendig sein151. Nicht daß der materialistische Doktrinär weniger Backsteine auf seinem Kopf und eine weniger erstickende Struktur als andere trägt, auch müssen wir keine “Synthese” oder sogar eine “Vereinigung der Religionen” zustande bringen, als würden diese tausend vereinigten Strukturen eine weniger erdrückende Atmosphäre schaffen: Das Zeitalter der Religionen ist vorbei, sagte Mutter. Es ist veraltet und vorüber; jetzt bedarf es einer außer- und suprareligiösen Wahrnehmung. Man könnte ebensogut sagen “einer außer- und supramaterialistischen Wahrnehmung”, etwas, das endlich über diese abwegige alte Dichotomie hinausgeht, die weder die Realität des Geistes noch die der Materie ist, sondern nur eine kleine vergitterte Dachluke des Mentals in einem Zwischenbereich.
Mirra liebte die freie Luft.
Ihr Studium beschränkte sich aber nicht nur auf Religionen, auch politische und soziale Systeme wurden durchgesehen, Philosophien in allen Farben, Übungen und Disziplinen aller Spiritualitäten, also die höheren Ebenen des Mentals. Wir können sie uns vorstellen in dem hübschen Haus in der rue du Val-de-Grâce mit seinem kleinen Garten und mit Efeu bewachsenen Mauern, dem Salon mit Bücherregalen an allen Wänden, auch hier ein großer Flügel, nebenan der Jardin de Luxembourg und ringsum das Summen des Quartier Latin. Dort empfing sie fast jeden Abend Madame David-Neel, die gerade von ihrer ersten Reise aus dem fernen Osten zurückgekehrt war und bald als Bettelmönch verkleidet “die erste Frau, die Lhasa betrat”, sein sollte. Mirra hörte vom Bahaismus, vom Taoismus, betrachtete alles, lauschte allem, untersuchte die Disziplinen der Meditation, das buddhistische Dhyana, die buddhistische Entsagung, doch in Wirklichkeit habe ich, was Entsagung betrifft, nie viele Erfahrungen gemacht – denn um zu entsagen, muß man an den Dingen hängen, und da war immer dieser Durst, dieser drang, weiter zu gehen, höher, es besser zu machen, etwas besseres zu finden. Statt des Gefühls der Entsagung hatte ich da eher den Eindruck, etwas Lästiges loszuwerden. Sie praktizierte die buddhistische Konzentration sogar bis in die Logen der Opéra-Comique – seltsamer Ort, aber dann waren Massenets musikalische Ausstrahlungen nichts besonders Erhabenes, und schließlich geschah Mirras Meditation überall. Die Trennung zwischen Leben und Geist, zwischen innen und außen erschien ihr immer wie eine katastrophale Verzerrung, und alle Meditationsübungen waren vergeblich, weil sie nichts am Leben änderten: Sie bilden sich ein, die Fähigkeit, sich in eine Ecke zu setzen und zu meditieren, sei ein Zeichen spirituellen Lebens152! Ja, man setzt sich in eine Ecke, und sobald man aus seiner Meditation herauskommt, verliert man auch schon die geistige Ruhe153. Gleich zu Beginn stieß sie auf die sehr mächtige und sehr schmerzvolle Entdeckung, die all jene machten, die lange die innere Erfahrung praktizierten, die das Licht berührten, in das Unendliche vorstießen, ihren Geist befreiten, in der Erleuchtung lebten – der man tausend Namen geben kann, obgleich sie doch immer dieses absolute Das ist, wie ein wundervolles Dahinsegeln –, und die dann unten das gleiche alte unveränderte Biest wiederfinden, das kein bißchen göttlicher ist als das des unverklärten Nachbarn, als hätten sie dreißig Jahre lang in einem Traum gelebt – und es ist ein Traum. And this too was a dream, rief Sri Aurobindo aus.
Asketische Stimmen einsamer Seher riefen
Von Bergesgipfeln oder Flußufern…
Suchten des Himmels Ruhe oder des Geistes außerweltlichen Frieden.
In bewegungslosen Körpern wie Statuen starr,
In ekstatischer Auflösung ihrer wachenden Gedanken versunken,
Saßen schlafende Seelen,
Auch dies war ein Traum154.
Seit vier- oder fünftausend Jahren hat die Welt nicht aufgehört, mit Heiligen und Asketen und “befreiten Yogis” zu träumen, die kein einziges Atom des Schmutzes unserer universellen Misere beseitigen konnten: Sie legen ihr äußeres Wesen wie einen Mantel ab und lassen ihn in einer Ecke liegen: “Geh weg, belästige mich nicht, bleib ruhig, du störst mich!” Daraufhin versinken sie in Kontemplation (ihre “Meditation”, ihre “tiefe” Erfahrung), dann tauchen sie wieder daraus auf, ziehen ihren Mantel wieder an, der sich nicht verändert hat, der vielleicht noch schmutziger ist als zuvor, und bleiben genau so, wie sie auch ohne Meditation waren155… Je bewegungsloser es ist, desto glücklicher sind sie. Sie könnten so bis in alle Ewigkeit meditieren, ohne daß dies irgend etwas am Universum oder an ihnen selbst ändern würde156. Ohne Zweifel haben sie Frieden. Einen Frieden wie in einem Kasten, nannte sie das.
Für Mirra lag die Lösung anderswo. Sie suchte die Lösung. Ja, dieser glückselige “Kasten” stellt noch ein schwieriges Problem dar, genauso handfest wie die menschlichen Gedankengebäude – vielleicht noch härter. Aber es ist dasselbe mit der ganzen Unerbittlichkeit der “endlich entdeckten” Wahrheit. Es gibt nichts Härteres als eine in die Falle geratene Wahrheit. Ein unwiderlegbarer, unbezwingbarer Kasten. Der Kasten der Gipfel. Aber die Wahrheit ist wahrlich etwas anderes, etwas, das wir noch nicht entdeckt haben und das sich nur auf der Ebene der Materie entdecken läßt, dort wo sie von keinem Kasten, keinem Namen oder System mehr verhängt werden kann, wo sie gelebt wird, ganz natürlich, ganz einfach, so wie man atmet. Die Materie trügt nicht: sie ist. Und wenn sie nicht stimmt, stirbt sie ganz einfach. Da heißt es nicht “es ist wahr – es ist falsch”: wenn es falsch ist, wird es krank, wenn es wahr ist, trottet es, das ist alles. Wir wissen noch nicht, was das wahre Leben ist. Wir sind noch nicht einmal die wahre Materie: wir sind bloß im Kasten eingesperrte Materie. Die Frage stellt sich, ob alle diese wundervollen Verwirklichungen, mit denen man uns nun schon seit Jahrhunderten die Ohren behämmert, die Befreiungen und “Mukti”, die Lichtgipfel und weißen Unendlichkeiten nicht einfach derselbe obere Rand des Goldfischglases sind, wo das außer Atem geratene Mental seine eigene Verdunstung für die göttliche Wirklichkeit hält, ungefähr so wie ein Anästhesierter, der seine Betäubung auf dem Operationstisch für die höchste Wahrheit hielte. Manchmal haben wir den deutlichen Eindruck, daß es noch etwas sehr Radikales gibt, von dem wir überhaupt nichts verstanden haben. Ich sah auf äußerst konkrete Weise, sagte Mutter in den letzten Tagen ihres Lebens, daß alle Menschen, die glaubten, sie wüßten und hätten die Erfahrung gemacht… nun, sie waren sozusagen auf halbem Weg. Sowohl Mirra als auch Sri Aurobindo jenseits des Ozeans näherten sich tastend dieser radikalen Erfahrung oder vielmehr dieser Wurzel: anstatt in eine etwas vertrocknete Glückseligkeit157 zu entfliehen, wie sie sagte, im Inneren die Kraft herbeiführen, die zu siegen vermag158.
Aber um das zu erreichen, muß zuerst der “Mantel” gereinigt werden. Wenn wir die Materie ändern wollen, müssen wir selbstverständlich die Materie berühren. Das Geheimnis liegt nicht in den höheren Schichten des Mentals, sondern in genau der Dunkelheit, der wir entfliehen wollen. So sagte Sri Aurobindo:
Diese Dunkelheit verbirgt unsere höhere Bestimmung.
Der Kokon einer mächtigen und glorreichen Wahrheit
Zwängt das beflügelte Wunder in seine Hülle
Aus Furcht, es möge dem Gefängnis der Materie entfliehen
Und seine Schönheit an formlose Weite verschwenden,
Ins Mysterium des Unfaßbaren getaucht
Der Welt wunderbares Schicksal unerfüllt lassen159.
Mirra suchte noch immer den Mechanismus für die Veränderung. Wenn das Mental, unser tägliches Instrument, unser evolutionäres Erbe, nun einmal existiert, was ist dann seine Rolle?… In Tlemcen und bereits zuvor schon mehrmals hatte sie wohl dort oben, hoch oben eine völlig andere Bewußtseinswelt gesehen, die Sri Aurobindo “das Supramental” nennen wird und der Theon den barbarischen Namen “Pathetismus” gab (man fragt sich, warum eigentlich), eine Welt, die sie die Welt der Harmonie nannte, vielleicht weil sie alle Gegensätze zu vereinigen oder zu verschmelzen schien. Aber wie konnte man das herunterbringen, wie konnte man es in die Materie bringen? Ein Problem wie das des höheren Affen, der eines Tages zufällig eine bizarre kleine Welle auffing, die überhaupt nicht den Schwingungen des Lebens glich, und der nun “nachdenklich” zwischen zwei Ästen innehielt. Eine neue Welt ist wie etwas, das nicht existiert, eine Art Erfindung von nichts, nur etwas, das uns antreibt zu “erfinden” – man erfindet das, was da ist. Erst hinterher weiß man, daß es eine neue Welt ist. Unterdessen aber ist es einfach das Alltägliche, das tastet und manchmal in der Routine “seinen Ast verfehlt” – ein mißglückter Handgriff, eine plötzliche kleine Gedächtnislücke in der gewohnten Gymnastik – und man verharrt… nachdenklich. Diese unscheinbare “Nachdenklichkeit” ist vielleicht der Riß, durch den sich das Neue einschleicht. Eine neue Welt ist keine Verbesserung der alten Gesten, sondern eine Gedächtnislücke, ein Riß in der alten Seinsgewohnheit. Jetzt geht es um einen Riß im Mental. Wo liegt dieser Riß?
Tatsächlich stellten sich für Mirra die “Probleme” nie abstrakt, das ging gegen ihre Natur: sie schritt voran. Man geht weiter, dann sieht man schon, was geschieht. Aber sie beobachtete jeden ihrer Schritte mit derselben Intensität wie die Rinnsteine Thebens von vor dreitausendvierhundert Jahren. Etwas geschieht immer – alles hängt eben vom Drang zu “erfinden” ab oder vielleicht einfach vom Drang zu sein, nennen wir es, wie wir wollen, es ist jedenfalls ein Drang. Die Erfindung selbst drängt uns zu ihrer Erfindung. Etwas Brennendes. Ein Feuer, das man überall in sich trägt, das die Dinge bewirkt oder “geschehen” läßt. Wenn wir nur unsere alte Routine in uns tragen, geschieht nur die Routine. Das ist einfach und offensichtlich. Die gesamte Welt ist ein “Nichts”, das man zum Geschehen bringt. Während es geschieht, ist es immer wie “nichts” – ein Augenblick des Innehaltens, eine verpaßte Minute –, dieses Nichts ist wie das einzige Etwas. Aber es ist ein Nichts mit einem Feuer darin. Wenn man die Zukunft wachsen lassen will, muß man dieses brennende Nichts wachsen lassen. Die ständige, ununterbrochene, intensive, brennende Aspiration in unerschütterlicher Gelassenheit160.
Kurz, es gilt, das “Programm” zu ändern. Und wenn die Zukunft irgendwo auf der Ebene der Zelle liegt, müssen wir zuerst aus dem mentalen Programm herauskommen, bevor wir hoffen können, das zellulare Programm zu verlassen. Die ungeheure Überfüllung durch das animalische Programm mit seinem endlosen Pulsieren und Reagieren auf alles, was sich regt, fühlt, vibriert, der ständige Ruf und die Wachsamkeit angesichts des Ansturms des Lebens weicht der noch ungeheureren Überfüllung des mentalen Ansturms, der im Gegenteil nichts anderem als nur sich selbst zu antworten scheint, wie ein unaufhörliches Echo, das hin- und herprallt, widerhallt und weiterspringt und sich weltweit im Kreis dreht. In alledem ist nichts von euch selbst, sagte Mutter, es kommt von überall her und geht überall hin161. Weil wir eine gewisse Anzahl von Schwingungen im Flug erhaschen, die wir anhäufen und zu kleinen Backsteinen mehr oder weniger respektabler Gedanken gerinnen lassen und sie auf unsere eigene Weise zusammensetzen und versetzen, um dieses oder jenes Gedankengebäude daraus zu machen, behaupten wir, es sei “unser” Gedanke, “unser” Gebäude. Aber es ist ein Gebäude aus jedermanns Backsteinen. Es gehört uns ebensowenig wie der Südwind oder der vorüberziehende Duft des Jasmins. Wir ergreifen es einfach, wie Mutter es ausdrückt, im Vorbeigehen. Das Tier tut nichts anderes, wenn es den Wind schnuppert, es nimmt lediglich Kontakt auf mit einem anderen Milieu. Und schließlich tun alle Organismen von oben bis unten auf der evolutionären Stufenleiter dasselbe, egal ob sie mit einer einfachen osmotischen Membrane oder einem Gehirn ausgestattet sind: sie saugen die Umwelt auf, sie empfangen, was da ist – sie sind Empfangsorgane. Wir erschaffen ebensowenig das Denken wie die Biene den Honig – aber es gibt Honig und Honig, das ist alles. Alles hängt nur von der Beschaffenheit unseres Empfangs ab und von der Ebene, auf die wir uns einstellen. Die gesamte Evolutionsgeschichte besteht lediglich in der Verbesserung oder Erweiterung der Empfangsfähigkeit. Das wahre Mental in uns, sagte Sri Aurobindo, ist das universelle Mental; das individuelle Mental ist nur eine Projektion an der Oberfläche… eine Anzeigetafel oder ein Verbindungsschalter162. Wenn wir bei unseren Zangen, Membranen oder Hirnlappen verbleiben, kultivieren wir sozusagen das Telefon, anstatt das, was sich am anderen Ende der Leitung befindet. Das Besondere des Menschen liegt nicht in seinen Werken oder seinen mehr oder weniger angenehmen “Honig”-Sekretionen, sondern in seiner Fähigkeit, neue Empfangsebenen zu entdecken. Seine Antenne ist nicht unveränderlich in ein und dieselbe Richtung fixiert, auch wenn es eine mentale Richtung wäre. Unseren Glauben ändern hieße, die Mittel für den Zweck zu halten, das Instrument für das Ziel – die “Kultur” für den Endzweck des Menschen. Der Mensch ist nicht hoffnungslos dazu verurteilt, der Magen eines gewissen Honigs zu sein, den wir vielleicht langsam widerlich finden.
Mirra jedenfalls war übersättigt von dieser Art Gedankenflut, die euer Gehirn durchströmt, dann das Gehirn eines anderen und das Gehirn einer Menge163. Schon 1911 notierte sie lakonisch: Wir sind das Resultat aller unserer Ahnen und werden getrieben vom blinden und willkürlichen Willen unserer Zeitgenossen164. Sie fand es völlig inakzeptabel, von dieser enormen mentalen Bedingtheit manövriert zu werden wie Bienen oder sogar höhere Tiziane: Erschien euch das nie unerträglich, fragte sie die Kinder im Ashram, daß äußere Willenskräfte einen Einfluß auf euch ausüben können? Nein?… Aber meine Kinder, das beschäftigte mich, als ich fünf war! Und ihr seid schon lange nicht mehr fünf Jahre alt165… Aus dem “Programm” herauskommen, ja, um jeden Preis! Die erste Bedingung dafür heißt, den ganzen Tumult zum Schweigen zu bringen. Im Gedankengewimmel kann man nichts sehen und nichts verstehen – ebensogut könnte man versuchen, in einem von Kieselsteinen beworfenen Tümpel voller ineinanderschlagender Wellen klar zu sehen. “Werde zum Spiegel”, war ihr erster Spruch. Im klaren Spiegel sieht man, woher es kommt, wohin es geht. Man beginnt das große Spiel der Welt zu sehen. Man merkt sogar, daß mit dem Denken aufzuhören, eine weit höhere Leistung ist, als endlos Gedanken abrollen zu lassen – und es setzt eine viel größere Entwicklung voraus166.
Mentales Schweigen (oder eher mentale Transparenz, gemäß ihrem Lieblingswort) bedeutet den ersten Riß im Panzer, der unsere Zukunft verstellt. Es ist das menschliche Äquivalent der geistesabwesenden Minute des Affen zwischen zwei Ästen, die das Kommen des Homo sapiens vorbereitete. “Nachdenklich” sein war die Lücke in der alten Gewohnheit, Affe zu sein. Nicht-nachdenklich sein ist die erste Lücke in der Gewohnheit des Mensch-Seins und der Riß, durch den sich die neue Welt einschleichen kann. Das Mental ist das Äquivalent der alten Kiemen, die uns hindern, die neue Luft zu atmen.
Aber Kiemen können sich in Lungen verwandeln.
In der Evolution bereitet jedes Stadium das nächste vor oder enthält das nächste, und wir wüßten in der Tat gerne, wo die unnötige Stufe wäre – das Mental inbegriffen. Es gibt keinen Irrtum in der Evolution, aber es gibt Nachzügler der Evolution, das sind sozusagen die Triumphierenden eines gewissen Stadiums, die sich an ihre Gipfel klammern – und im Begriff sind, eine stationäre Spezies zu werden. Aber durch den Druck ihres eigenen Verlangens zu wachsen überwindet die Natur auch hier die natürliche Trägheit der Spezies. Immer treibt uns die Erfindung zur Erfindung ihrer selbst. So können wir am Ende des mentalen Wegs zur “logischen” Notwendigkeit gelangen, in den anderen Zustand überzugehen, wir können sogar ahnen, daß dieser nächste Zustand “nicht-denkend” sein muß, können sogar das Verlangen spüren, aus dieser unermüdlich klappernden, surrenden Mechanik herauszukommen, und können versuchen, das Mental auf mentale Weise zu stoppen. Das tun im allgemeinen die Meditierenden: sie packen das Mental mit dem Mental und versuchen heroisch, sich zu erwürgen – für ein paar Minuten. Sobald sie den Griff lockern, fängt es wieder von vorne an. Der höhere Affe, der diese nachdenklichen kleinen Schimmer entdeckte und versuchen wollte, sie herbeizuführen, indem er so lange um den Ast wirbelte, bis ihm schwindlig wurde, irrte sich gewiß. Nicht mit seinen Muskeln erreicht er den anderen Zustand, ebensowenig wie wir mit der Anstrengung unserer mentalen Muskeln die Stille erlangen. Schon die Tatsache, es zu versuchen, macht Lärm167, bemerkte Mutter. Immer und überall ist die Notwendigkeit der Hebel des Übergangs. Es ist erstaunlich einfach. Das zu Entdeckende drängt innerlich: diesen Drang müssen wir erfassen, und da es noch ein Drang nach “nichts” ist – wäre es “etwas”, dann wäre es ja bereits getan und erfaßt –, müssen wir dieses Gar-Nichts als die einzige höchst handfeste Sache betrachten und uns entschließen, sie zu fassen zu kriegen. Was kann der Affe schon vom Superaffen wissen? Überhaupt nichts. Und was wissen wir vom Übermenschen? Überhaupt nichts. Im Gegenteil, wenn wir anfingen, ihn uns vorzustellen, würden wir im selben alten Mechanismus fortfahren und ihn lediglich um eine weitere Stufe aufbauschen: eine mentale Akrobatik vollführen wie der Affe an seinem Ast. Nietzsche tat nichts anderes, mit genialen Geistesblitzen. Dieser so reine innere Drang, die wachsende Flamme, dieses Loch aus Nichts, das sich mit Feuer füllt durch das Verlangen, etwas zu sein – ein Storch, ein Pferd, was auch immer –, der Drang herauszukommen aus diesem denkenden, knirschenden, endlos schwatzenden Zweibeiner, dieser Drang, den wir überall in uns tragen, mit jedem Schritt, jedem Pochen des Herzens, er wächst, er verschlingt alles, erfüllt alles mit seinem Feuer aus Nichts, das endlich etwas ist, und was sonst könnten wir wollen, welch anderes Verlangen haben als diesen Drang ohne Namen, ohne Form, ohne Mehr, ohne Weniger, solange es nur brennt – er verbrennt alles: Ideen, Gedanken, die Zukunft, die Vergangenheit, morgen und Millionen Jahre. Was macht es schon aus, solange nur diese einzige Sekunde brennt! Das ist der Hebel. Es ist die Stille-aus-Feuer. Es verbrennt alles, was hineingerät: Sünden, Tugenden, Hohes, Niedriges, den Übermenschen und die gewöhnlichen Menschen. Es ist das Nichts aus Feuer, der Anfang von etwas, das kompakte Nicht-Denken, das im schieren Ersticken der alten Haut alle Hindernisse aus dem Weg räumt.
Dann tauchen wir auf.
In dieser Stille – nicht die Stille “wie in einem Kasten”, sondern ein lebendiges, aktives, “gezieltes” Schweigen, eine Stille, die keine vier Wände mehr braucht, die in der Menschenmenge und auf dem Marktplatz inmitten Millionen denkender menschlicher Stampfmaschinen einhergeht wie in einer unbewegten weiten Steppe, einer unermeßlichen Transparenz von allem – in dieser Stille wird die Welt klar. Wir sind klar, und alles ist klar. In seiner wahren Ablaufweise erscheint das Mental wie ein unerschöpfliches Spiel von Vibrationen, die sich verkleiden, färben, verstricken und anhäufen und verschachteln. Man kann den Rhythmus direkt sehen, den Ton hören, man lauscht den weiten Wellen, die tiefer unten die kleinen Gedanken, die kleine Musik und dergleichen anderes bilden werden – das ganze “kreative”, diskutierende und sich endlos wiederholende Tohuwabohu. Man steht in einer vollkommenen Stille, und alle Gedanken kommen automatisch, wenn es notwendig ist. Man steht im großen Strom, und alle Gesten ergeben sich automatisch, wenn es notwendig ist. Man lebt im Bewußtsein, fließt mit der mächtigen Shakti. Dann stellt man fest, daß man außerhalb seines Gehirns denken kann168, sehr gut sogar, und ohne daran zu denken! Und daß das Denken nur ein Überbleibsel von unten ist, ein ausführendes Instrument169, um in der Materie zu vollbringen, was man im Bewußtsein gesehen, im Bewußtsein erfahren hat: Ein immer offenerer, immer breiterer Kanal, wie sie es nannte170, um die transformierenden Kräfte in die Materie einfließen zu lassen. Man hat die Zwischenschicht verlassen, die alten Kiemen hinter sich gelassen, die dazu dienten, den Sauerstoff zu destillieren, jetzt atmet man unmittelbar die reine Luft des Bewußtseins.
Die äußeren Kiemen, sagen die Physiologen, verwandeln sich zuerst in interne Kiemen, dann in Lungen.
Zwischen den beiden Polen der Existenz, dem leuchtenden und dem dunklen, sagte Sri Aurobindo, ist das Mental lediglich eine Zwischenherrschaft in der Wirklichkeit171.
In dieser mentalen Transparenz wird Mirra jedoch eine weitere, tiefere Schicht entdecken, die unter dem Lärm der ersteren gründlich verborgen liegt und die sie nicht so leicht durchbrechen wird. Es handelt sich um das “physische Mental”. Die letzte Schranke vor dem zellularen Mental, unserem nächsten evolutionären Geheimnis: Befreiung, ja, und zwar genetisch. Sie wird Jahre brauchen und Sri Aurobindos Gegenwart, um diese Hürde zu überwinden.
Aber der Weg des Hinabstiegs stand offen.
Langsam verabschiedete sich Mirra von der westlichen Welt.
Sie hatte den Weg bis zum Ende seiner Möglichkeiten durchlaufen, hatte seltene Gipfel und geheime Kräfte erlangt, deren andere sich um ihres persönlichen Friedens oder Ruhmes willen bemächtigt hätten, sie hatte die gesamte Spanne der Kultur berührt und Noten, aus denen andere Symphonien komponiert hätten, um der Sammlung menschlicher Verwirklichungen ein weiteres Genie hinzuzufügen. Was sie interessierte, war die menschliche Verwirklichung, die Spezies, der gesamte menschliche Block. Sie schritt auf dem Boulevard St. Michel einher wie jedermann, aber immer mit diesem intensiven Blick. Sie befaßte sich weiterhin mit Theons “kosmischer Revue”: Ich suchte die Druckerei, korrigierte die Bögen – machte die ganze Arbeit für lange Zeit. In der Tat, fünf Jahre lang. Sie übersetzte sogar die Erfahrungen ins Französische, die Theons Frau im Zustand der Trance ihrer englischen Sekretärin diktierte: Die Initiation in Form von Kurzgeschichten. Aber sie interessierte sich für die Geschichte, und alles übrige fiel langsam von ihr ab wie ein überflüssiges altes Gewand einer “Sache”, die sie unbehindert lebte, frei von initiierenden Mauern oder spirituellen Konstruktionen. Und schließlich verschwand Theon eines Tages spurlos auf ebenso mysteriöse Weise, wie er aufgetaucht war. Alma war von den Felsen der Insel Wight gestürzt, als sie in Trance über die Klippen wandelte… Ein “Unfall”, der keiner war; zweifellos hatte sie gesehen, daß Theon nicht dazu bestimmt war, diese neue Welt herabzubringen, und so hatte sie keinen Grund weiterzuleben. Ohne sie hatte Theon seine Basis verloren. Er war nur noch ein alter Atlantide einer überholten Welt, aber dennoch zu groß, um sich mit der Rolle eines Wundermachers zufriedenzugeben. Er wußte, daß er nicht zum Erfolg bestimmt war, sondern nur gekommen war, um den Weg bis zu einem gewissen Stadium vorzubereiten172, wird Sri Aurobindo später sagen. Vielleicht werden wir ihn eines Tages wiedersehen, ohne Toga, vielleicht in Lumpen, um die Revolution unter den letzten Nachzüglern der alten Welt zu entfachen.
Sie hatte begonnen, ein “Tagebuch” zu führen, in dem sie ihre Erfahrungen, ihre Hoffnungen, ihre Gebete für die Zukunft zum Ausdruck brachte – sie schien nur an die Zukunft zu denken, sie war wie besessen davon: Jeden Augenblick müssen wir die Vergangenheit abschütteln, damit sie wie Staub wegfällt und den unberührten Weg nicht beschmutzt173… So entstanden die “Gebete und Meditationen”, die sie 1911 begonnen hatte. Warum all dieser Lärm, dieser ganze Aufruhr, dieses sinnlose und leere Treiben? Warum dieser Wirbel, der die Menschen wie einen vom Sturm aufgescheuchten Mückenschwarm fortreißt174?… Oh, ein reines, makelloses Kristall sein, das Deinen göttlichen Willen durchläßt, ohne ihn zu überschatten, zu färben oder zu entstellen… Alle Herzen der Menschen schlagen in meinem Herzen, alle ihre Gedanken schwingen in meinem Denken. Die geringste Aspiration des gefügigen Tieres oder der bescheidenen Pflanze vereinigt sich mit meiner unermeßlichen Aspiration175… Wir wollen in vollständiger und unaufhörlicher Bemühung vorangehen wie eine steigende und unbändige Flut, die alle Hindernisse überwindet, alle Barrieren durchbricht, alle Schleier lüftet176… zur Eroberung der wundervollen Geheimnisse des Unbekannten177… Diese göttliche Welt Deines unwandelbaren Bereichs reiner Liebe und unteilbarer Einheit muß in direkte Verbindung gebracht werden mit der göttlichen Welt aller anderen Bereiche bis hin zum Materiellsten, dort, wo Du das Zentrum und die Substanz selbst eines jeden Atoms bist178.
Die Zelle, das Atom: das war der Kern des Problems, und nicht die kosmischen Gipfel.
Sie hatte sogar mehrere kleine “Gruppen” gebildet (eine davon hieß Idee), denen sie das erste Stammeln und eine Art erste Vision der Zukunft zu vermitteln versuchte: Das allgemein anzustrebende Ziel ist die Ankunft der universellen Harmonie (mit anderen Worten das “Supramental”), sagte sie schon 1912… die Verwirklichung der menschlichen Einheit (bereits vor Sri Aurobindo)… die Gründung einer idealen Gesellschaft an einem für die Entfaltung der neuen Spezies günstigen Ort (die Ankündigung des Ashrams in Pondicherry und das Ziel Aurovilles)… die Erde mit einer oder mehreren ihr noch versiegelten Quellen in Verbindung bringen179. Ja, die “supramentale” Quelle, diese “Harmonie”, dieses noch namenlose Etwas, das sie wie das Herz der Zukunft pochen fühlte – aber wie es entsiegeln? Wer wird die Tore dieser verschlossenen Schleusen öffnen180? Überall trug sie ihre Frage, ihren Ruf in sich, als müßte dieser Ruf die Antwort erzwingen (er war es vielleicht schon, der Paul Richard an ihrer Seite auftauchen ließ, um sie zu Sri Aurobindo zu führen). Einige erste merkwürdige Vorfälle machten sich dennoch überall bemerkbar, im Bus, in der Straßenbahn, an tausend völlig banalen Orten: Kinder trennten sich unvermittelt von ihrer Mutter und klammerten sich buchstäblich an Mirra, gequälte Menschen fühlten sich plötzlich erleichtert, Miseren hier oder dort schienen sich in nichts aufzulösen. Einmal beobachtete ich in einem Bus einen Mann, der vor Kummer weinte. Ihm war anzusehen, daß er äußerst unglücklich war. Ich rührte mich nicht und ließ mir nichts anmerken, ich sah aber diese “Kraft” auf den Mann übergehen, und dann entspannte sich sein Gesicht nach und nach, alles besänftigte sich, und er wurde ruhig. Dies geschah mehrmals… Etwas keineswegs Menschliches kam und wirkte völlig ruhig durch mich (ich kümmerte mich nicht einmal darum), und es bewirkte das. Das wirkte durch ihren Körper, ohne daß sie es wollte, als habe diese mentale Durchsichtigkeit den Zugang zum Körper freigelegt: Etwas ergreift den Körper, oh, eine so warme und sanfte Schwingung und zugleich so ungeheuer mächtig!
Sie tastete sich in etwas sehr Neuem voran, das sie nicht recht verstand und das um so deutlicher aufzutreten schien, je mehr sich die Durchsichtigkeit entfaltete – als ob man “nichts” sein müsse, vollkommen nichts, damit der andere Strom durchfließen kann: Die geringste Schwingung in dieser vollkommen reinen und ruhigen Atmosphäre ist ein Hindernis181, notierte sie bereits 1912. Tatsächlich können wir uns gut vorstellen, daß ein höherer Affe, wenn er eine einzige mentale Vibration durchlassen wollte, zum entsprechenden “Nichts” in der Affenwelt werden mußte. Hier ist aber interessant, daß der Verbindungspunkt mit den neuen Kräften nicht das Mental ist sondern der Körper. Der Körper ist die Brücke. Jeder neue evolutionäre “Höhepunkt”, jede neue Stufe ist durch eine Veränderung des Verbindungspunktes gekennzeichnet. Wir sagen “Höhepunkt”, wir sagen “neue Kräfte”, aber das liegt an der Unzulänglichkeit unserer Sprache – der Höhepunkt ist immer da! Es wird lediglich eine neue Schicht entrümpelt, die das aufleuchten läßt, was schon immer da war. Ein Vorhang schiebt sich zur Seite. Wir sind voller aufeinandergehäufter Schichten, und langsam reinigen wir sie, angefangen bei der äußersten oder “höchsten” bis zur alleruntersten, dem Kern der Sache: der Materie. Je tiefer wir in die dichteren Schichten hinabdringen, desto mächtiger und direkter wird die Kraft – denn wir nähern uns dem Ursprung. Die höchste Verbindung am Ende findet dort statt, wo alles anfing: Zu was wäre der Mensch nütze, wäre er nicht dazu geschaffen, eine Brücke zu schlagen zwischen Dem, was ewig ist, und der ganzen dunklen und schmerzvollen Unwissenheit der materiellen Welt? Der Mensch ist das Bindeglied zwischen Dem, was sein soll, und dem, was ist, er ist der über den Abgrund geworfene Steg182. Und Mirra fragte sich in ihren “Gebeten und Meditationen”: Wann nur werde ich mich vollständig genug vergessen haben, um nur noch ein von den Kräften durchwirktes Instrument zu sein, die es zu manifestieren gilt183?
Da war etwas zu manifestieren, oder vielleicht manifestierte es sich.
Sie war auch immer weniger “Mirra”: sie war eine andere Person geworden, die nicht wirklich “jemand” war – ein in einen Hautsack eingeschlossenes Individuum –, sondern ein Bewußtsein, das immer mehr die Welt zu werden schien, so wie sie ein Kind, ein Python, die Geranien in den Tuilerien oder ein gewisser Baum in Fontainebleau zu werden vermochte – genau das gleiche Ding –, als ob sich das Bewußtsein in dem Maße erweiterte und die Kräfte hindurchgingen, wie die Person selbst verschwand oder die Transparenz sich entwickelte. Sie setzte indessen ihr Leben wie jedermann fort, führte ein ebenso gesellschaftliches Leben wie jedermann, begegnete selbst Anatole France, dessen feine Ironie sie teilte (diese beständige Weigerung, sich so schrecklich ernst zu nehmen – wie gut wird sie Sri Aurobindos Humor verstehen), und den sie fragte, ob sein Aufruhr der Engel, den sie besonders liebte, ihm nicht von Theons Ideen inspiriert worden war. Aber sie befand sich bereits inmitten eines anderen, unendlich tiefgründigeren Aufruhrs als alle diese alten religiösen Geschichten, etwas, das sich auf der Ebene ihres Körpers zu ereignen und sie mit dem eigentlichen Körper der Erde zu verbinden schien… als könne man nicht ein Teilchen der Materie berühren, ohne dabei an die gesamte Materie zu rühren: Ich nehme ständig und auf präzise Weise die universelle Einheit wahr, die eine absolute Wechselbeziehung aller Handlungen bestimmt184, notierte sie zu jener Zeit. Das heißt, “präzise” in der materiellen Tatsache und nicht in den Rauchwolken des Mentals. Ein stummer Aufruhr begann in der Erde zu vibrieren und verbreitete seine Erdbebenwelle vom Tal des Yangtze bis nach Agadir (1911): Die Erde liegt in unseren Armen wie ein krankes Kind, das geheilt werden muß185. Schon damals…
Aber vor achtzig Jahren begann etwas sehr Neues auf der Erde.
Dem Anschein nach könnten wir glauben, die Welt sei in eine Million chaotischer Erfahrungen zerstoben, die sie allerorts und bis in den verborgensten Winkel unserer engen Grenzen zerreißen, sogar bis in unsere Herzen hinein – nichts und niemand entkommt: alles ist ein einziges Stück Materie! Wir könnten denken, daß das große neue Weltereignis erst im letzten Jahrzehnt aufgekommen sei, aber der erste Schock, die erste Welle, das Epizentrum des Phänomens ging eigenartigerweise zu Beginn des Jahrhunderts von Asien aus; von daher entspringt alles: der Rest ist eine zunehmende Verstärkung und Übertreibung dieses Anfangs. Drei Revolutionen hatten ihren Ausgangspunkt in Asien. Und Mirra kam mit allen dreien in Berührung…, wenn auch manchmal unter ziemlich eigenartigen Umständen. Der Stoß ging von Indien aus: im Jahr 1893 schrieb Sri Aurobindo seinen ersten revolutionären Artikel, und um die Jahrhundertwende, 14 Jahre vor Gandhi186, war Sri Aurobindo bereits der unbestrittene “führende Revolutionär”, “der gefährlichste Mann, mit dem wir es zu tun haben”, schrieb Lord Minto, Indiens Vizekönig, während die Bomben explodierten. Mirra stand seit 1904 mit Indien in Verbindung. Alsdann in China, wo ebenfalls um die Jahrhundertwende chinesische Rebellen die europäischen Gesandtschaften Pekings belagerten: die berühmte “Boxerrebellion” und der Ausbruch der “geheimen Gesellschaften”, deren Anführer sich ihre Inspiration aus Frankreich holten, was die Gründung des Kuomintang, die Aufstände im Tal des Yangtze 1911 und schließlich den Zusammenbruch der Mandschurischen Dynastie 1912 zur Folge hatte. Mirra begegnete in Paris einem dieser chinesischen Militanten. Schließlich (oder gleichzeitig) in Rußland, wo die Japaner 1904 die russische Flotte vor Port Arthur torpedierten, was die ersten Wogen der Revolution auslöste: 1905 die Ermordung des Großherzogs Serge in Moskau, die Unterdrückung revolutionärer Studenten und ihre Verbannung nach Sibirien unter der Rute des unerbittlichen Stolypin. Mirra begegnete 1907 in Paris einem dieser Studenten, der den Repressalien Nikolaus II entgangen war. Drei Revolutionen entflammten, die das Gesicht der Welt verändern sollten. Und dann zuletzt die Schliche Wilhelms II in Europa, was die Entsendung eines deutschen Kanonenbootes vor Agadir – unmittelbar vor den Augen Englands und Frankreichs – zur Folge hatte und schließlich das Bersten des gewaltigen elektrischen Bogens beschleunigte, der auf merkwürdige Weise die Unruhen des Yangtze-Tales mit den Unruhen in Europa, Rußland und Indien verband. Der Materie-Monolith war in Bewegung geraten. Vielleicht hatte das Ganze sich zu bewegen begonnen, als Mirra in Paris und Sri Aurobindo in Kalkutta anfingen, in ihre eigene Materie einzudringen, um die Schichten der alten evolutionären Welt zu reinigen und die neue “Quelle” freizulegen. Ein einziger großer Körper im Zustand der Transformation.
Langsam öffnete sich eine Schleuse.
Nun ereignete sich 1906 in Tlemcen ein sonderbarer Vorfall. Im Verlauf ihrer Erforschung der Bewußtseinsebenen im Umfeld der Erde (das, was man ihre “Zukunft” nennt, die nur zukünftig ist wegen der Dickschichtigkeit, die es zu durchqueren gilt), sah Mirra etwas, oder vielmehr wurde ihr etwas gesagt, das sie sorgsam mitsamt Datum notierte (und Gott weiß, sie war weit davon entfernt, sich mit China zu befassen – wo sie doch nicht einmal genau wußte, was Indien war): In genau fünf Jahren wird die Revolution [in China] stattfinden. Das wird die erste, die Transformation ankündigende Bewegung der Erde sein. Und genau im Oktober 1911 provozierte der Kuomintang die uns bekannten Unruhen, und kurz danach brach die Mandschurische Dynastie zusammen. Aber diese Ereignisse, die uns heute in ihrem wahren Ausmaß bekannt sind, waren damals nur vage Gerüchte, die Meere überqueren mußten und Monate brauchten, bis sie weniger bekannt wurden als die neueste Rede des ehrenwerten Abgeordneten des Départements Lot-et-Garonne. Und Mirra selbst wußte nichts von alledem, als sie aus irgendeinem “Zufall” – ebenso mysteriös wie alles übrige – in Paris (wir wissen weder wie noch genau wann) einem Mitglied einer chinesischen Geheimorganisation begegnete (ja, wie im Spionageroman), der sie über die jüngsten Ereignisse in Wuhan informierte, und zwar unter noch merkwürdigeren Umständen als das andere: Ohne zu wissen warum, machte Mirra vor diesem Mann eine gewisse Geste (die eine Faust über der anderen), und genau das war das Erkennungszeichen der besagten Geheimorganisation (tatsächlich befinden wir uns mitten im Roman, aber Mutters Leben ist der erstaunlichste Roman, den es gibt). Da er sich in Gegenwart eines anderen Mitglieds der Organisation wähnte, berichtete der Mann alle Einzelheiten über das, was gerade in China geschah. Plötzlich erinnerte sich Mirra ihrer Notiz von vor fünf Jahren.
Das ließ sie aufhorchen.
Es sah aus, als wollten die Umstände, daß sie informiert sei. Daß sie unwillkürlich diese Geste vollzog, erstaunt uns nicht. Mirra war schon seit langem auf ganz natürliche Weise fähig, sich in jedermann wie in sich selbst hineinzuversetzen, auch ohne es zu wollen, und Dinge zu tun, auch ohne zu wissen warum – die Gestik zwang sich ihr einfach auf; sie gehorchte längst nicht mehr der mentalen Mechanik. Aber was uns wiederum aufhorchen läßt, ist, warum gerade China? Die zukünftige, zweifelsohne nahe bevorstehende Geschichte wird uns darüber aufklären, warum “die erste, die Transformation ankündigende Bewegung der Erde” in diesem Land stattfinden sollte. Wir wissen es nicht. Wir können lediglich die Tatsache zur Kenntnis nehmen. Liegt dort der Knoten? Tatsache jedenfalls ist, daß um die Jahrhundertwende drei Revolutionen ausbrachen, die das Gesicht der Welt veränderten. Etwas hatte begonnen, von dem alles übrige heute nur die Folge und Entwicklung ist.
Was hatte begonnen?
Der Anschein kann leicht täuschen. Wir sehen Kommunismus hier und Sozialismus dort und Kapitalismus anderswo – hundertfünfzig Nationen zerreißen sich, und eine jede stößt ihren Schlachtruf aus, kämpft gegen Armut, kämpft gegen Rassendiskriminierung der einen oder anderen Hautfarbe, für Recht, Freiheit, Erdöl und chemische Düngemittel, für und gegen alles, was auch immer wir wollen: es ist die Herrschaft des Für und Wider, der Wahrheit und Lüge, des Guten und Bösen, und ein jeder ist im Besitz der Wahrheit, ein jeder schwingt seine Parole, verdammt die Wahrheit eines anderen, der die Wahrheit des dritten verdammt – “Wahrheit” überall wie eine enorme stinkende Leiche, die jeder zur Schau stellt, in Rundfunk und Fernsehen ausstrahlt und in sechshundertfünfzig unfehlbaren und höchst wahrheitsgemäßen Sprachen drucken läßt. Alles ist wahr, und alles ist falsch. Es herrscht die Wahrheit der Lüge oder die Lüge der Wahrheit. Es herrscht das Ja-Nein, das Gut-Böse, das Dafür-Dagegen, das riesige mentale Babel von drei Milliarden achthundertfünfzig Millionen Menschen. Es ist die Zeit der unzähligen Heilmittel: gegen Krebs, gegen Rezession, gegen Armut, für Regen oder schönes Wetter. Wir erfinden alles mögliche, um es in der nächsten Minute gleich wieder wegzuerfinden, und alles fängt wieder von vorne an im Riesenkessel. Es ist immer neu und immer gleich. Heute ist es hier krank, morgen dort, und die ganze Welt ist krank. Es ist die große mentale Krankheit, die auf ihr Ende zugeht. Es ist die massive mentale Abwertung – von der niemand spricht, die aber überall in Form von tausend “Kulturen” aufschreit, deren Worte nichts mehr besagen, deren Ideen nichts mehr besagen, deren Wahrheiten ebensowenig besagen wie ihre Lügen, und das Ganze ist wie ein ungeheurer Betrug, geschmückt mit einer Million Wahrheiten, die bis ins kleinste Dorf im Himalaja aus den Lautsprechern dröhnen – hypnotisierend, betäubend, berauschend vor lauter Worten, verdummend vor lauter Ideen. Es ist das Ende des Mentals. Das Denken erklärt sich selbst für null und nichtig. Das ist der Anfang von etwas anderem. Wir befinden uns in der Zeit des großen “Herrschaftswechsels”, sagte sie, die mentale Herrschaft der Intelligenz wird durch die spirituelle Führung des Bewußtseins ersetzt.
Es ist die Zeit des Supramentals.
Alle tun genau dasselbe, in tausend Sprachen und unter tausend Etiketten, ob rechts oder links, gelb, rot oder schwarz, christlich, moslemisch, marxistisch oder atheistisch. Alle sind im Begriff, unter dem unerträglichen inneren und äußeren Druck des Bewußtseins in ein neues evolutionäres Stadium umzuschwenken. Alle Für und alle Wider gehen dorthin, alle Ja und alle Nein fallen nicht mehr ins Gewicht als das erste Knurren des Branchiosaurus zu Beginn der Steinkohlezeit – sei es nun auf chinesisch, amerikanisch oder hochdeutsch. Wir werden auf den Grund des Goldfischglases gezerrt, gehen alle auf den Ausgang des Mentals zu. Die Natur hätte kein besseres Mittel erfinden können, weder Pest noch Erdbeben – sie dreht einfach die Schraube des Mentals fester oder läßt es sie vielmehr selbst drehen, bis es vollständig zerquetscht ist. Das war es, was um die Jahrhundertwende begonnen hatte. Es ist weder eine chinesische noch eine russische Revolution sondern eine Revolution des Bewußtseins. Und sämtliche Revolutionen brechen nur aus, um diese einzige Revolution voranzutreiben. Alle Miseren sind nur dazu da, diese einzige Befreiung zu beschleunigen. Alle Lügen sind nur dazu da, diese einzige Wahrheit zu erzwingen. Jeder geht genau dahin, und jeder arbeitet dafür, ob er es will oder nicht, in Weiß oder Schwarz, ob falsch oder wahr, das ist völlig gleich: Es ist sehr einfach, sagte Mutter, die gesamte Menschheit folgt einer Evolution, einer Evolutionskurve, und es gibt Zeitalter – ganz bestimmte Zeitalter –, in denen eine gewisse Erfahrung geradezu universell wird, mit anderen Worten, sie wird weltweit, erfaßt die gesamte Welt. Unter unterschiedlichen Namen, Etiketten und Worten setzt sich beinahe die gleiche Erfahrung fort. Die alten Erfahrungen verschwinden, obgleich sie sich noch festklammern und für eine Weile Aussehen und Beschaffenheit einiger neuer Dinge verändern. Aber das ist nur wie ein Überbleibsel. Die ganze neue Bewegung geht auf eine Erfahrung zu, die so allgemein wird wie nur möglich, denn sie nützt nur, wenn sie allgemein ist. Bleibt sie lokal, ist sie wie ein Pilz, der das allgemeinmenschliche Bewußtsein nicht befruchtet187. Wir befinden uns mitten in der weltweiten Erfahrung des Bewußtseins, so wie andere die weltweite Erfahrung der gewaltigen Gebirgsbildung oder die weltweite Erfahrung der Lungenatmung durchmachten, und alle unsere heftigen Zuckungen sind nur das langsame Entrümpeln des evolutionären Balastes. Das Ende jedes Evolutionsstadiums, sagte Sri Aurobindo 1910, ist im allgemeinen gekennzeichnet durch eine gewaltige Zunahme all dessen, was aus der Evolution ausscheiden muß188.
1914 steht vor der Tür.
Sie war sich dieser “Transformationsbewegung der Erde” intensiv bewußt zu einer Zeit, als Frankreich noch den Tschad zu erobern suchte. Die Wissenschaft triumphierte überall, man würde alles heilen, es war lediglich eine Frage der Erfindung. “Wir haben im Himmel Sterne ausgelöscht, die sich nie mehr entzünden werden”, rief ein beredter Abgeordneter aus, und in der Tat waren die Sterne wirklich aus dem Himmel gefallen und steckten völlig in der Materie – nur vermutlich nicht in der von den Materialisten vorgesehenen Materie. Aber nach wie vor glaubt die halbe Welt, nichts Besseres tun zu können als den Westen zu imitieren: westliche Technologie, westliche Industrie, westlicher “Lebensstandard” – die Rettung durch die Maschine. Mirra glaubte nicht daran, ebensowenig Sri Aurobindo, der bereits den roten Abend des Westens voraussah und seine Landsleute eindringlich (aber vergeblich) ermahnte, sich der einzig wahren Erfindung ihrer selbst zuzuwenden. Die wissenschaftliche, rationelle, industrielle, pseudo-demokratische Zivilisation des Westens steht vor ihrer Auflösung, schrieb er, für uns wäre es jetzt eine wahnwitzige Absurdität, blind auf diesem sinkenden Fundament aufzubauen189. Die Maschine aber rollt unerschütterlich voran. Sie schmückt die ganze Erde, und die “Mittellosen” sehen in ihr die einzige Rettung. Vielleicht aber war der Maschinenkoloß im Haushalt der Natur dennoch notwendig aus Gründen, die der Mensch nicht voraussah: schließlich ist er das sicherste Mittel, die gesamte Erde zu einem einzigen Bündel zusammenzuschnüren und sie in die Lage der völligen Auslieferung an einige lockere Schrauben zu versetzen, die eines Tages die ganze Menschheit mit einem Schlag vor den phantastischen totalen Zusammenbruch dieses Symbols des Mentals stellen wird. Ein Kind wird kommen und sie zerstören190, sagte Sri Aurobindo vor 1914. Es wird ungeheuer einfach sein: keiner hätte je daran gedacht. Ein weltweiter Haufen Rost. Dann wird man zur vergessenen Erfindung übergehen; man wird auf diese Erfindung reduziert sein. Die ungeheure Reaktion des Materiekultes, sagte Mutter, hat hauptsächlich dazu gedient, sie zu behämmern, sie weniger unbewußt ihrer selbst zu machen: er hat das Bewußtsein in die Materie zurückgezwungen. Vielleicht war all das eine ausreichende Vorbereitung, daß jetzt die Stunde der umfassenden Manifestation kommen kann?
Diese “Manifestation” ließ ihr keine Ruhe. Mit anderen Worten, der Anfang des neuen Bewußtseins. Dieses Wort tauchte seit 1913 mit wachsender Eindringlichkeit immer wieder in ihrem “Tagebuch” auf: Die Stunde Deiner Manifestation ist gekommen191… Aber sie wußte nicht einmal, wer Sri Aurobindo wirklich war, sie war allein und klopfte an alle Türen, zerlegte alle Mechanismen, seien sie religiös, sozial oder politisch, als müsse sie erst alle Lösungen erschöpfen, bevor sie die richtige Tür erstürmen konnte. Als hätte ihr Suchen selbst jene Umstände bewirkt, die sie auf das Schiff nach Pondicherry führten… zum Wahlkampf von Richard, der übrigens fest entschlossen war, diesmal höchstpersönlich Abgeordneter des französischen Indiens zu werden (er wurde jämmerlich geschlagen) – ausgerechnet sie, die schon vor 1914 nicht an Demokratie glaubte. Noch eine dieser Türen, die sie versperrt fand: Alle menschlichen Organisationen basieren auf: der sichtbaren Tatsache (die eine Lüge ist), der öffentlichen Meinung (eine weitere Lüge) und dem Moralempfinden (eine dritte Lüge!), folglich… Mit ihrer entwaffnenden Einfachheit, die geradewegs ins Herz der Dinge trifft, fragte sie: Ja, eine Weltorganisation ist notwendig, fragt sich nur, durch wen? Es müßten zumindest Leute sein, die ein Weltbewußtsein haben! So ist es. Überall und von allen Seiten stieß sie auf das Problem “Bewußtsein”. Die Regierungen lösen einander ab, die Staatsformen lösen einander ab, die Jahrhunderte lösen einander ab, aber die menschliche Misere bleibt in jämmerlicher Weise gleich… Nur eine Transformation, ein Erwachen des menschlichen Bewußtseins kann eine wahre Verbesserung der menschlichen Bedingungen herbeiführen192.
Sie brauchte nur anzusehen, was sich vor ihren Augen in Paris abspielte: Welch mentale Atmosphäre in einer Stadt wie Paris herrscht, mit Millionen denkenden Wesen – und was für Gedanken! Man stelle sich bloß diese wimmelnde, bewegte Masse vor, dieses unentwirrbare Durcheinander. Es scheint zunächst, als könne man nichts unterscheiden, doch trotz aller widersprüchlichen Tendenzen, Wünsche und Meinungen stellt sich eine gewisse Einigung, eine Identität zwischen all diesen Schwingungen ein, denn sie alle, von nur wenigen Ausnahmen abgesehen, sind Ausdruck von: Habgier. Alle Gedanken der Intellektuellen und Künstler, die nach Beachtung, Erfolg und Ehre dürsten, drücken Habgier aus. Alle Gedanken der Regierenden und Beamten, die nach mehr Macht und Einfluß streben, drücken Habgier aus. Alle Gedanken von Tausenden von Angestellten und Arbeitern, von sämtlichen Unterdrückten, Erfolglosen und Erniedrigten, die für eine Besserung ihrer traurigen Existenz kämpfen, drücken Habgier aus. Alle, ob arm oder reich, mächtig oder schwach, privilegiert oder erfolglos, intellektuell oder unwissend, sie alle wollen Gold, immer mehr Gold, um ihre Habgier zu befriedigen193. Das war 1912. Wir wissen nicht, ob sich die Lage seitdem verbessert hat oder ob sie unter anderen Breitengraden anders ist, aber was in aller Welt kann sich ändern, solange sich dieses Bewußtsein nicht geändert hat? Welche Unmengen von Penizillin oder Institutionen werden je diese Armut heilen? Oder welches Heer von Polizisten und immer mehr Polizisten?
Manchmal wandte sie sich sogar gegen ihren Bruder Matteo, der sein Studium an der Ingenieurhochschule beendet und seinen Beruf aufgenommen hatte, der aber besondere Fähigkeiten zu haben schien – auch er –, denn ihm wurden gewisse Erfahrungen zuteil, die er aber nicht wahrhaben wollte, da sie nicht mit seiner Idee vom “Wohl der Welt” in Einklang zu bringen waren: Mit achtzehn Jahren, so erzählte Mutter, als er sich auf die Aufnahmeprüfung der Ingenieurhochschule vorbereitete, überquerte er eines Tages die Seine (ich glaube es war auf der Pont des Arts), da fühlte er auf halbem Weg, wie plötzlich etwas von oben in ihn eindrang, das ihn so sehr lähmte, daß er wie versteinert stehen blieb, und da vernahm er etwas, das nicht direkt eine Stimme war, das sich aber sehr klar in ihm ausdrückte: “Wenn du willst, kannst du ein Gott werden.” (So übertrug es sich auf sein Bewußtsein – es war einfach ein höheres Bewußtsein). Er sagte mir, es hätte ihn völlig in Besitz genommen und bewegungsunfähig gemacht – eine so ungeheure und intensiv leuchtende Macht: “Wenn du willst, kannst du ein Gott werden”, woraufhin er, noch ganz im Zustand der Erfahrung, augenblicklich antwortete: “Nein, ich möchte der Menschheit dienen” – und weg war es. Er war natürlich vorsichtig genug, kein einziges Wort davon meiner Mutter gegenüber zu erwähnen, aber wir beide standen uns sehr nahe, und so erzählte er es mir. Da sagte ich ihm: “Du bist doch ein Idiot!”… Aber nichts hat er verstanden. Er war doch ein intelligenter, fähiger Mann; er wurde Gouverneur, ein ziemlich glänzender Gouverneur, in mehreren Ländern. Aber nichts verstanden… Er konnte sich nichts Besseres vorstellen als “anderen zu helfen” – Philanthropie – das war der Grund, warum er Gouverneur wurde. Er hatte als Absolvent der Ingenieurschule die Wahl zwischen mehreren Posten gehabt, und ganz bewußt wählte er den Kolonialposten, denn er dachte, damit “den zurückgebliebenen Rassen zum Fortschritt verhelfen zu können” – so ein Unsinn. Bereits mit sechzehneinhalb Jahren… genug, um einige Friedensnobelpreisträger erschaudern zu lassen. Übrigens hielten die Einheimischen des Kongos den Gouverneur Matteo für eine Art Christus: nie hatten sie ähnliche Selbstlosigkeit zu Gesicht bekommen, die Annalen bekunden es. Doch man mag sich fragen, ob unsere Brüder aus dem Kongo, das heute auch einen anderen Namen trägt, deshalb fortgeschrittener sind, was Wohlbefinden, Weisheit und Schönheit des Lebens betrifft… Wir handeln unter einer hartnäckigen Illusion, und je moralischer und wohlwollender sie ist, desto härter wird sie – regelrechter spiritueller Beton. Vielleicht werden uns diese “humanitären” Wunder eines Tages ebenso überholt vorkommen, wie die Eroberung des Tschad. So gibt es eine ganze Reihe von heiligen Mythen, die, wie wir langsam merken, nur dazu dienten, unser eigenes Bewußtsein, unser eigenes Wesen und unser eigenes Gutes zu schmieden – oder auch nicht. die verhältnisse, in denen die menschen auf der erde leben, sind das resultat ihres bewusstseinszustandes, sagte sie. die verhältnisse ändern zu wollen, ohne das bewusstsein zu ändern, ist eine vergebliche schimäre194. In diesem einfachen Satz steckt das ganze Problem der Welt und die ganze Ungeheuerlichkeit der Illusion, die uns seit der ersten Lokomotive vorantreibt. Wie könnt ihr überhaupt etwas ändern, ohne erst euch selbst geändert zu haben? Es ist ziemlich kindisch zu sagen: ich eröffne ein Wohnheim, einen Kindergarten, ich spende den Armen Suppe, predige Erkenntnis, verbreite Religion… Das geschieht doch nur, weil ihr euch für besser haltet als die anderen und glaubt, besser als sie zu wissen, was sie zu sein oder zu tun haben. Genau das ist gemeint mit “der Menschheit dienen”. Wollt ihr das alles weitermachen? Viel geändert hat es jedenfalls nicht… Ihr könnt Millionen von Krankenhäusern eröffnen, das wird die Leute nicht davon abhalten, krank zu werden. Im Gegenteil, sie erhalten alle nötigen Einrichtungen dazu… Eigentlich besteht die Menschheit, die euch in erster Linie betrifft, aus euch selbst. Ihr wollt die Schmerzen lindern, aber solange ihr nicht die Fähigkeit zu leiden in eine Gewißheit des Glücklichseins verwandelt habt, wird sich die Welt nicht ändern. Es wird immer das gleiche sein, man dreht sich im Kreise – eine Zivilisation folgt der anderen, eine Katastrophe folgt der anderen, aber die Sache selbst ändert sich nicht, denn etwas fehlt, etwas ist nicht da, und dieses Etwas ist Bewußtsein. Das ist alles195.
“Die Fähigkeit zu leiden verwandeln…”
Ja, das war für sie bereits die brennende Frage. Dieses leidende Etwas in der Tiefe des Menschen, unter allen möglichen Gewändern, allen möglichen Vokabularen, allen möglichen Glaubens- und Hoffnungsbekenntnissen. Dieses etwas wie ein Todesruf, das sich vorübergehend in die eine oder andere Religion hüllt, in die eine oder andere Rettung, in einen roten, schwarzen oder blauen “Ismus”, in ein sozialistisches oder himmlisches Paradies, um seinen tiefen Schmerz auszutricksen – endlose intellektuelle, sentimentale, patriotische oder religiöse Zwischenspiele, Tausende von Zwischenspielen zwischen diesem innersten Schmerz und dem Tod: der Todesschmerz vielleicht, der seit dem ersten Atemzug der Erde in der Tiefe pocht, das Leben, das sich verurteilt weiß, ein Knotenpunkt des Schmerzes, wo beide fest umschlungen sind, als brauchte das Leben den Tod, damit es sein vollständiges Geheimnis fände, als brauchte der Tod das Leben, damit er seine finstere Weigerung umwandle, damit sich beide in einen dritten Zustand verwandeln, der das Leben sein wird. Diese Fähigkeit zu leiden im Innersten ist der Schrei unseres nackten Geheimnisses. Dieser einzigen Sache heißt es gegenüberzutreten, ohne Maske, ohne Tricks, ohne Gut, ohne Böse, ohne all den Flitterkram, in den wir es zu kleiden versuchen, nur um es zu vergessen – vergebens. Wir müssen etwas Radikales finden, und unser Schmerz selbst ist unser Mittel. Am Ende des Jahrhunderts, nach der ungeheuren Explosion der Hoffnung auf eine Maschine, die alles retten würde, der ungeheuren Explosion der Brüderlichkeit, die sich auf eine Ideologie menschlicher Besserung stützt, werden wir weder in den Zusammenbruch noch in die Niederlage geführt, sondern nähern uns vielleicht der wahren Frage, dem Kern eines “Besseren”, das wir nicht voraussahen, wo der alte Schmerz, befreit von seinen falschen Hoffnungen und seinen falschen Himmeln und seinen falschen Verbesserungen, endlich auf seine Frage heruntergebrannt, umgewandelt, reduziert wurde und das neue Leben aus seinem sterblichen Kokon befreien wird. Aber als erstes muß all dieses “Bessere” zusammenbrechen, als erstes gilt es, sich vom alten, spirituellen und humanitären und religiösen und wissenschaftlichen Beton zu befreien – von all den mentalen Konstruktionen, die unter dem Deckmantel der Scheinrettungen das einzige Etwas gefangen hielten, das keiner Rettung bedarf, weil es nicht sterben kann, und keiner Maschinen bedarf, weil es die Kraft ist. “Wenn doch jeder sein Bestes täte”, sagen sie. Aber dieses Beste ist völlig wertlos! rief Mutter aus. Wenn sich nicht alles ändert, wird sich nichts ändern. Gerade dieses Beste muß sich ändern196.
Und letztlich ändert sich nichts, solange der Tod nicht geändert wird.
Mirra hatte die Runde aller Mechanismen erschöpft, oder wir könnten es eher die Runde der alten Gräber nennen, und nirgendwo blieb noch eine Tür, außer einer einzigen in der Stille des Herzens: Die wahre, progressive Evolution, diejenige, die den Menschen zu seinem berechtigten Glück führt, liegt in keinem äußeren Mittel materieller Verbesserung oder sozialer Transformation. Nur die individuelle, innere und tiefgreifende Vervollkommnung bewirkt den wirklichen Fortschritt und kann den gegenwärtigen Zustand der Dinge völlig verändern197, schrieb sie 1912. Alle unsere “Verbesserungen” nützen vom Standpunkt des nächsten Evolutionsstadiums aus betrachtet nicht mehr als die verbesserten Purzelbäume des Affen im Wald des Pleistozäns – es sei denn, sie dienen als Vorwand, um unser eigenes Bewußtsein zu entwickeln. Aber sie sind nur ein Vorwand. Aus eben diesen Gründen hatte auch Sri Aurobindo sich von der revolutionären Aktion zurückgezogen, obgleich alle erwarteten, daß er die Führung des politischen Schicksals Indiens übernähme – und dieser Rücktritt wurde ihm sehr übel genommen, niemand verstand. Die Verfechter der Tat denken, daß mit Hilfe eines immer neuen Ansturms des Intellekts und der menschlichen Energie alles in Ordnung gebracht werden könne, schrieb er, die aktuelle Weltlage ist nach einer in der Geschichte unvergleichbaren Entwicklung des Intellekts und einem phantastischen Energieaufwand ein auffallender Beweis für die Leere der Illusion, auf die sie sich stützen. Der Yoga geht von dem Prinzip aus, daß die wahre Lebensgrundlage nur durch eine Änderung des Bewußtseins entdeckt werden kann: von innen nach außen; so lautet in der Tat das Gesetz. Aber “innen” bedeutet nicht knapp einige Zentimeter unter der Oberfläche… Wir haben die Wahl, im alten Tohuwabohu steckenzubleiben in der Hoffnung, zufällig auf irgendeine Entdeckung zu stoßen, oder aber einen Schritt zurückzutreten und das Licht innen zu suchen, bis wir das Göttliche entdecken und es außen wie innen gestalten können198.
Mirra hatte zwar den Schlüssel zum Inneren gefunden, aber sie besaß noch nicht den Schlüssel zur Transformation. Gerade einen Monat, bevor sie sich in Richtung Indien an Bord begab, notierte sie: Welcher höheren Pracht als jeder schon vorausgegangenen, welchen Wunders an Glorie und Licht bedarf es, um diese Wesen aus der schrecklichen Verwirrung herauszuziehen, in die sie das Stadtleben und die sogenannten Zivilisationen hineingeworfen haben199!
Wenn alles gesagt und getan, gesehen und verstanden ist, bleibt nur noch zu lieben. Vielleicht ist das die allerletzte Tür. Nur genügt dies nicht: Der eine sagte, “ich bringe die Liebe”, der andere sagte, “ich bringe den Frieden”, wieder ein anderer sagte, “ich bringe die Befreiung”, woraufhin innerlich eine kleine Änderung stattfand und etwas im Inneren des Bewußtseins erwachte, während sich außen jedoch alles gleichblieb. Genau darin liegt das Fiasko200… Die Liebe allein, so wie Christus sie predigte, konnte die Menschen nicht transformieren. Die Kraft allein, so wie Mohammed sie predigte, konnte die Menschen nicht transformieren – weit davon entfernt. Das ist der Grund, warum das Bewußtsein, das jetzt am Werk ist, um die Menschheit zu transformieren, die Kraft und die Liebe vereint, und derjenige, der diese Transformation verwirklichen soll, wird mit der Kraft der göttlichen Liebe auf die Erde kommen201. Hinter ihrer Ironie, ihrem schelmischen Lachen, ihrem ungestümen und nach Fortschritt dürstenden Herzen war Mirra, Mutter, vielleicht als erstes und vor allem Liebe: Wie ein unermeßlicher Mantel der Liebe sein und die ganze Erde umhüllen und alle Herzen durchdringen202… Aber eine Liebe, die zu verstehen uns äußerst schwer fällt, weil sie wie mit einem Schwert bewaffnet ist – bis zu jenem Tag, da auch dieses Schwert in der Nacktheit der letzten Tage schmelzen wird und eine so umfassende, so transparente und so ungeheuer mächtige Liebe erstrahlen läßt, daß sie für den Körper fast erdrückend wird – eine Liebe, die das Schwierigste von uns verlangt und uns manchmal im Übelsten unserer selbst überrascht und uns mit einer solchen Zärtlichkeit wiederbegegnet, als würden wir uns schon seit jeher kennen, genau hier, mitten im Kern dieser brennenden Frage, die wie die Frage der Erde in uns ist: Weißt du nicht, daß die erhabensten Kräfte der Ausdehnung sich in die undurchsichtigsten Schleier der Materie zu kleiden suchen203? sagte sie 1910. Dank des Schlimmsten kann das Beste gefunden werden, und Dank des Besten kann das Schlimmste transformiert werden204. Genau hier findet man Mutter wieder, hier beginnt man das Geheimnis der mächtigen Liebe zu berühren, als entzünde sich im tiefsten Schmerz der Materie ein Schrei, so zerreißend, so nackt, so wehrlos, daß er plötzlich zu reinem Feuer wird, das einfach sagt: ich liebe, ich liebe… das ist alles, und es ist von erdrückender Macht. Hier strahlt Mutter für immer. Als sei Mutter die Liebe im Innersten der Materie, als sei Mirra der erste stolpernde Schritt der Materie auf der Suche, was sie wirklich ist. Sie eröffnete das Zeitalter des göttlichen Materialismus.
Drüben in Pondicherry hatte Sri Aurobindo bereits diesen Schrei ausgestoßen: Ich suche einen Materialismus, der die Materie anerkennen und sich ihrer bedienen wird, ohne ihr Sklave zu sein205.
Am 7. März 1914 begab sie sich an Bord der Kaga Maru nach 36 Jahren des abendländischen Materialismus.
… die Mutter ist Sri Aurobindos Kraft206.
Sri Aurobindo
Der, den wir gestern sahen, ist auf der Erde207.
So einfach notierte sie ihre Begegnung am 29. März 1914. Genau wie in meiner Vision. Nein, es war keine Hindu-Gottheit, es war Sri Aurobindo. Sie hatte eine so zärtliche Art, diesen Namen auszusprechen – Schri Aurobin’do. Tausende Male habe ich ihn aus ihrem Mund vernommen, und jedesmal, auch 59 Jahre später, war es dieselbe Liebe, vermischt mit Zärtlichkeit und Verehrung, eine winzige sekundenlange Pause mitten im Satz, ein unmerkliches Lächeln ihrer halbgeschlossenen Augen, und man fühlte Sri Aurobindo, zugegen, in einer Hülle hellblauen, fast weißen Lichts, weiß-blau und sehr leuchtend. Nie sprach sie diesen Namen auf irgendeine gewöhnliche Weise aus. Es war wie ein Mantra… Es war Schri Aurobin’do, so präsent, als seien sie miteinander verschmolzen, und mal war sie im Vordergrund, mal war er es. Er war von einer so umfassenden, so “verstehenden” Sanftheit: Mit Sri Aurobindo hatte man immer das Gefühl, in eine Unendlichkeit einzutreten, so sanft, so sanft! Es war immer… wie etwas, das “soft” war, ich weiß nicht. Es waren Schwingungen, die einen immer weit und sanft werden ließen. Man hatte den Eindruck, etwas Grenzenloses zu berühren. Ja, grenzenlos. Es hörte nicht irgendwo auf, man wurde auf immensen Schneeflügeln hinweggetragen, weit von sich selbst – vielleicht zum eigenen reinen Selbst. Für eine Sekunde schloß sie die Augen, sprach diesen Namen aus, und schon war es da. Immer. Ein Name, der eine Erfahrung verkörpert, der die Kraft einer Erfahrung in sich birgt. Genau das ist das Mantra. Schri Aurobin’do…
Beim ersten Mal wollte sie ihm alleine begegnen. Sie waren (ein Zufall?) in Dhanushkodi gelandet, tief im Süden, in der Nähe des großen Tempels von Rameshwaram, dessen hohe violette Türme sich inmitten der weißen Dünen abzeichneten, der Tempel des ersten Avatars des mentalen Menschen – und seiner Gemahlin Sita, die bei lebendigem Leib von der Erde, die sie liebte, verschlungen wurde –, vielleicht begrüßte sie dort diese weit zurückliegende Geschichte der Vergangenheit, bevor sie der Zukunft begegnete. Schon spürte sie dieses Etwas, das man in der Atmosphäre dieses Landes einatmet. Sie nahmen einen Zug und erreichten Pondicherry am Morgen. Sie sah nichts, ihr Blick war nach innen gekehrt. Wir stellen sie uns vor mit ihrem Tüllschleier, der ihr langes, offenes, schlicht in der Mitte geteiltes Haar bedeckte, und eine sehr weiße Hand, die den Schleier vor den jähen Böen des Seewindes schützte. Am Nachmittag des 29. März schritt sie allein auf das große, ein wenig vom Monsun mitgenommene Haus mit Säulen zu, vermutlich mit pochendem Herzen in dieser Stille gewisser Augenblicke im Leben, wo man weiß, ohne zu wissen. Rue François Martin Nr. 41. Ein großes Tor mit Kapitellen, geschmückt von einer überhängenden Quisqualis-Liane, die sie später “Treue” nannte. Dahinter eine offene Tür, ein vernachlässigter Hof, auf dem einige Bananenstauden und Unkraut wuchsen. Im Erdgeschoß eine Veranda mit ihren Säulen und rechts eine Treppe: Ich stieg diese Treppe hinauf, und er stand am oberen Absatz und erwartete mich. Genau wie in meiner Vision. Auf die gleiche Weise gekleidet, mit der gleichen Haltung, im Profil, den Kopf etwas erhoben. Er wandte mir seinen Kopf zu, und in seinen Augen sah ich, daß er es war. Da trafen die beiden Dinge zusammen, die innere Erfahrung vereinigte sich mit der äußeren Erfahrung, und es kam zur Verschmelzung, zum entscheidenden Schock.
Und nichts geschieht im kosmischen Spiel
Als nur zu seiner Stunde und am vorgesehenen Ort208.
Wir wandeln ständig auf zwei Wegen, dem äußeren und dem inneren, und schreiten blindlings auf dem ersteren voran, weben eine Million “Zufälle” wie zu einem absurden kubistischen Bild, stolpern in diese und jene Schmerzen, in diese und jene Freuden und Begegnungen mit unerklärten und unerklärbaren Gebärden, während in uns ein Wanderer das gesamte Bild kennt und sämtliche Fäden, sämtliche früheren und nie verlorenen Begegnungen und unvollendeten Gesten, bis zu dem Tag, da die beiden Wanderer sich begegnen: der innere Weg wird zum äußeren Weg, und alles ist eine ewige Begegnung. Ein Bewußtsein durchwandert sein ewiges Bild und erkennt nach und nach seine eigene Gesamtheit wieder. Die einzigen Minuten der Erinnerung in einem Leben sind diese Augenblicke, wo die beiden Wege sich treffen: ein kleiner Schock innen, das Wiedererkennen eines Punktes des unermeßlichen Bildes, und für einen Augenblick befindet man sich wieder auf dem großen, ewigen Weg – eine Sekunde des Zusammentreffens. Es ist das. Alles übrige ist die zufällige Eintönigkeit, in der nichts geschieht, weil sich im Leben nichts ereignet außer auf diesem Weg und in diesen einzigen Sekunden des Zusammentreffens. Die Punkte des Zusammentreffens sind das genaue Maß unseres Bewußtseins. Für manche trifft alles zusammen, jede Geste und jede Begegnung. Für sie ist das gesamte Universum bis in sein winzigstes Detail eine einzigartige Begegnung. Das sind diejenigen, die das große ewige Werk fortführen und gemeinsam von Leben zu Leben zurückkehren, um eine immer größere Anzahl kleiner Punkte zu erwecken, die sich des großen Zusammentreffens bewußt werden. Dergestalt ist die supramentale Sicht, das Bewußtsein des nächsten Zyklus, dergestalt ist der lange Weg von Mutter und Sri Aurobindo – durch vergessene Zeitalter und unzählige Bewußtseinsetappen. Zwischen Mutters Weg und meinem besteht kein Unterschied, schrieb Sri Aurobindo; wir haben und hatten immer denselben Weg: den, der zur supramentalen Wandlung und zur göttlichen Verwirklichung führt. Es war nicht erst am Ende, sondern von Anfang an derselbe Weg209. Und sie sagte: Seit dem Beginn der Erdgeschichte lenkte Sri Aurobindo in der einen oder anderen Form, unter dem einen oder anderen Namen immer die bedeutenden Veränderungen der Erde210. Sie sind, was wir die Pioniere der Evolution nennen könnten. Ihre Begegnung war das Zeichen, daß die neue Manifestation stattfinden wird: Die Stunde ist gekommen, schrieb Mutter in ihr Tagebuch, die neue Manifestation ist gewiß, die neue Manifestation ist nahe… Diese Stunde des Menschen und der Erde ist die schönste aller Stunden211. Die Stunde der Erde… Wie sehr sie immer an die Erde dachte, an die Schönheit der Erde, die Erhabenheit der Erde, die Verwirklichung der Erde! Mutter – sie war vielleicht die Sehnsucht der Erde in einem kleinen Körper: Gewähre, daß meine Sehnsucht intensiv genug sei, überall eine ähnliche Sehnsucht zu erwecken212! betete sie. Ja, diesen unwiderstehlichen Drang. Nichts anderes zählt. Das ist alles. Nur das213. Das supramentale Werk des Endes bestand bereits am Anfang der großen Reise, es ist das Feuer der Sehnsucht, das von Körper zu Körper brennt, sich mehr und mehr ausbreitet, sich mehr und mehr seiner selbst erinnert, bis es seine volle Gesamtheit und seinen Sonnenkörper berührt. Es ist die Reise der in der Unbewußtheit des Atoms eingeschlossenen Shakti zur vollbewußten Shakti in jeder Zelle des Körpers.
Dergestalt ist das Mysterium der Shakti.
Wir sprechen von Atomkraft, von der Kraft der Natur, von elektrischer, spiritueller oder intellektueller Kraft, aber es gibt nur eine Kraft und keine zwei. Es gibt unterschiedliche Grade oder Helligkeiten, unterschiedliche Intensitäten einer einzigen Strömung, die diese oder jene Schwingung annimmt, je nach dem Milieu, das sie durchquert. Seit Jahrhunderten und Zeitaltern stieg diese Kraft an, baute immer komplexere Instrumente, bedeckte sich mit dem einen oder anderen Panzer, wollte in unaufhörlicher Aspiration immer mehr Raum, immer mehr Licht, immer mehr Erde und immer mehr Körper umfassen, stieg unaufhaltsam an bis zu einer unsäglichen Gesamtheit ihrer selbst. Sie errichtete Fallen über Fallen, um mehr und mehr ihrer Gesamtheit aufzunehmen, sie erfand die Liebe, um Wesen an Wesen und die Millionen Arten an ihre Erde zu binden – sie ist die Liebe selbst, ein im Inneren brennendes Feuer, der Drang, immer mehr zu sein, immer mehr zu umfassen, zu leben und überall und in allem zu leben. Sie säte Galaxien aus, so wie zahllose Tiere und vor nur wenigen Augenblicken den Menschen. Mit dem Menschen hat sie den bewußten Knoten ihrer Evolution erreicht. Doch sie wollte noch immer und noch mehr wachsen, sowohl durch die Sinne und das Herz als auch durch den Geist; sie wollte die Welt immer mehr in ihr unermeßliches Netz des Liebesfeuers einbeziehen, erobern und beherrschen, sie entschwand sogar mit ihren Asketen und Heiligen in den Wolken und löste sich für einige Sekunden in ihren Andachten auf, um wieder anderswo aufzutauchen und ihre alte Eroberung immer von neuem zu beginnen. Sie ist die immerwährende Flamme, der Drang zu sein, der nicht innehalten kann, solange er nicht alles und immer mehr geworden ist. Begierde, Böses nennen sie die einen, die sie zu vernichten suchen, um endlich in namenlosen Frieden einzukehren; Intelligenz, Macht nennen sie die anderen, die sie an ihre Maschinen zu spannen versuchen, um sich schließlich selbst unter dem Gewicht ihrer eigenen Erfindung zu vernichten. Sie aber zerstört alle Fallen, die sie selbst errichtete, bricht Menschen und Konstruktionen, die sie selbst erschuf, vernichtet die Intelligenz, vernichtet den Geist, vernichtet die Begierde gar, wann immer diese sie an einen Pflock spannen, sie knetet und formt ihren irdischen Teig immer von neuem, bis er sein eigenes Geheimnis findet – sie ist die Shakti, der Antrieb der Welten, die Verwirklichung, ohne sie lebt nichts und atmet nichts. Sie ist das Feuer des Atoms und das Feuer des Yogis. Sie ist der sich ständig in Leben auflösende Tod, das zu einer Million neuer Galaxien zerberstende Nirvana, nur um sie wiederzufinden; Paradiese werden zunichte, Arten werden zunichte, Millionen von Maschinen und Tricks und Fallen und Erfindungen werden zunichte, nur um sie endlos wiederzufinden. Nichts kann dieses Feuer löschen. Doch von Zeitalter zu Zeitalter kennen einige ihr Geheimnis. Aber auch dieses Geheimnis zerstört sie und vergräbt es solange, bis Alles bereit ist, ihr Geheimnis zu leben und zu gestalten; denn sie ist Eins in Millionen Formen, sie ist die Mutter der Welten, und alles ist gleichermaßen ihr Kind.
Sri Aurobindo kannte ihr Geheimnis. Mutter kannte ihr Geheimnis. Sie kamen wieder zusammen, weil die Stunde gekommen war, die große Erfahrung noch einmal zu wagen – und wer weiß, ob nicht jene “anderen Male” nur deshalb zu einer Myriade blinkender Sterne zerbarsten, um dieses eine Mal wieder daraus zu schmieden.
Denn das Mysterium der Shakti wiederholt sich in jedem Wesen, in jedem Universum, in Sri Aurobindo, in Mutter – die Stunde der Welt beginnt bei unserer eigenen kleinen Stunde. Man gewinnt sie oder verliert sie. Jeder muß das Mysterium der Shakti entdecken und ihr Geheimnis erobern. Die Welt stöhnt unter dem Ansturm ihres Feuers. Sie zermartert die Sinne, zermartert das Herz, zermartert den Verstand, wirbelt Ideen, Leidenschaften, Miseren auf; sie ist das unablässige Feuer. Alle Disziplinen, Wissenschaft, Moral, Religionen und Gesetze suchen das Feuer anzuhalten, jede auf ihrer eigenen Ebene – doch sie zerbricht alle Fesseln, vereitelt alle Gesetze, findet sich nackt wieder und führt ihren Feuertanz fort, auch wenn wir meinen, die Weisheit erfaßt zu haben. Sie macht alle Weisheiten zunichte, so wie eines Tages unsere Maschinen, wie die alten Ruinen am Ufer des Nils. Sie sucht das, was über unsere Weisheiten hinausgeht und gewaltiger ist als unsere Maschinen, wahrer als alle unsere Tempel; sie sucht ihr Geheimnis in jedem von uns. Von ihrem Feuer verschlungen sagten drei Jahrtausende Indiens Nein214. Von ihrer Flamme hypnotisiert sagten einige Jahrhunderte des Westens Ja. Aber weder das Ja noch das Nein konnten das Geheimnis finden. Die einen entschwanden in die sogenannte Freiheit, und sie verloren die Materie; die anderen blieben in der sogenannten Materie stecken, und sie verloren die Freiheit – aber weder diese Materie noch jene Freiheit waren wahr, keine von beiden enthielt das vollständige Geheimnis. Wenn wir die Shakti nach oben ziehen, verdunstet sie und zerbricht diesen Körper, der ihr nichts mehr nützt; wenn wir sie nach unten ziehen, versinkt sie im Schlamm und vernichtet ebenfalls diesen Körper, der sie fesselt. Keiner besaß das Geheimnis des Körpers – sie wird ihre Körper immer wieder vernichten, bis das Geheimnis gefunden ist.
Ich betrachtete die Welt und verlor das Selbst
Und als ich das Selbst fand, verlor ich die Welt,
Verlor meine anderen Selbst und den Körper Gottes,
Das Band zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen,
Die Brücke zwischen dem Schein und der Wahrheit215.
Denn der Körper ist die Brücke. Der Körper ist das letzte Versteck der Wahrheit, der Ort, wo die vollständige Shakti ihre ruhelose Flamme in etwas anderes verwandelt, ihre weiße Freiheit und ihre schwarze Misere in etwas anderes verwandelt, wo sie ihren Tod in das göttliche Leben verwandelt. Vielleicht verwandelt sich dort sogar “Gott” in etwas anderes. “In eine blinde Finsternis treten diejenigen ein”, sagen die Upanischaden, “die dem Unwissen folgen; aber in eine noch größere Finsternis treten jene, die sich dem Wissen allein widmen216.”
Dennoch scheint die Gefahr genau in der entgegengesetzten Richtung zu lauern. Eine finstere Shakti regiert die Welt. Und wenn es wahr ist, daß in Indien und in einigen begnadeteren Zeitaltern die Frau als das lebende Symbol der Shakti galt (Rama und Sita, Shiva und Parvati, Leonardo da Vinci und Mona Lisa, Sri Aurobindo und die Mutter), so weil die Frau in Wahrheit die Shakti ist, die schöpferische Kraft, die Basis des Lebens, und ohne sie keine wirkliche Schöpfung sich verkörpern kann: Sie ist es, die das Bewußtsein in die Materie herabbringt, die die Materie organisiert, die die ruhelosen Gedanken des Mannes fixiert und konkretisiert und seine freien Räume in Formen drängt, sie ist der wahrhaft sehnende Körper der Erde – in unserem Zeitalter wurde sie zum Sexsymbol infolge eines ungeheuren Abstiegs, der genau dem Abstieg von allem anderen entspricht, eine weitere, ebenso radikale Abwertung wie die des Mentals. Es besteht kaum die Gefahr, daß die Shakti der Welt in den Höhen verdunstet, sie versinkt eher ganz unten im Schlamm – und zwar aus einem ausgezeichneten Grund, denn die Natur weiß immer sehr genau, was sie tut. Wie sonderbar, daß wir ständig höheren oder niederen Prinzipien zu gehorchen glauben, sei es der Willkür des Himmels oder der des Schlammes, und doch nur die Papageien des Mentals sind, während uns unendlich gewaltigere Kräfte als die eigenen in eine unerwartete Richtung ziehen und uns alles Nötige tun lassen aus “Gründen”, die den Worten, die wir verwenden, vollkommen fremd sind. An dem Tag, wo wir aus dem Mental auftauchen, werden wir ebenso verwundert sein, wie Gulliver es im Land der Houyhnhnms war.
Indische Annalen sahen vor einigen Jahrtausenden diesen Abstieg genau voraus, und zwar in einer vierfachen Kaskade von vier aufeinanderfolgenden “Zeitaltern” oder Yugas: das Zeitalter der Denker oder der um die Wahrheit Wissenden (Brahmanen), das Zeitalter der Ritter oder Krieger (Kshatrias), das Zeitalter der Kaufleute oder des Bürgertums (Vaishyas) und schließlich unser eigenes Zeitalter der Arbeiter (Shudras) oder vielmehr der Diener des Egos, der Maschine, des Sex, des Komforts. Das Zeitalter der “kleinen, unsauberen Körper”, ksudra deha sanskara-barjitah, sagt wörtlich das Vishnu Purana217. Mit jedem Zeitalter stieg die Shakti von Zentrum zu Zentrum tiefer hinab: vom Zentrum der Intelligenz zum Zentrum des Herzens, dann zum Zentrum des Bauches und schließlich zum Zentrum des Geschlechts – das heißt zum Zentrum der Materie. Wir sind dort hinabgestiegen, weil dort in der Materie die evolutionäre Arbeit unseres Zeitalters zu leisten ist: das Kali Yuga, das Schwarze Zeitalter218. Wir können das vernunftmäßig, moralisch und ästhetisch bedauern, aber die Natur kümmert sich weder um unsere Vernunft noch um unsere Moral. Sie argumentiert nicht: sie handelt. Sie drängt uns in ein neues Zeitalter – denn es wurde gesagt, daß auf dieses qualvolle aber kurze Zeitalter, das jedoch wie kein anderes mit einer überwältigenden Gnade beschenkt ist, ein neues Zeitalter der Wahrheit, Satya Yuga, folgen soll… oder aber ein allgemeiner Zerfall, eine Einschmelzung, um die ewige Erfahrung, die sie vollziehen will, ein anderes Mal, unter anderen, vielleicht gnädigeren Galaxien zu versuchen.
Wir sind dorthin gekommen, weil zweifellos das Geschlecht eines der Schlüssel des Geheimnisses des Körpers ist, und die Beherrschung des Geschlechtstriebes ist die, wie Sri Aurobindo sagt, unerläßliche219 Voraussetzung für die Manifestation der neuen evolutionären Kraft, der supramentalen Kraft im Körper. Wie immer ist auch hier der höchste Widerstand zugleich der höchste Hebel. Warum?… Es ist nutzlos, hierfür abstrakte Gründe anzuführen, wir müssen die Sache in Angriff nehmen, um zu verstehen, was sie verbirgt – solange wir es nicht probieren, können wir es nicht verstehen. Wir täuschen uns nur selbst, wir geben Herz, Ideen, Gefühle vor, tausend Masken und wunderbare “Gründe”, um das zu verdecken, was wir behalten möchten. Aber es ist offensichtlich: wenn die neue Shakti im Körper strahlen soll, ohne ihn mit ihrer Gewalt zu zerbrechen, bedarf es einer Transparenz dort, einer Weite dort, genauso wie dies im Mental notwendig ist, um die ersten Strahlen des Bewußtseins oder zumindest eine klare Idee durchsickern zu lassen. Der alte Schlamm kann nicht mit der neuen Kraft koexistieren, und dennoch zwingt dieser selbe Schlamm gerade durch seinen Widerstand, seine Enge und Dicke eine entsprechende Kraft, sich zu manifestieren. Der Damm sammelt die notwendige Kraft, um den Damm zu überwinden. Aber er kann auch brechen. Der Yoga des Hinabstiegs ist ein schwieriger, gefährlicher Yoga, sowohl für die Individuen als auch für die Erde. Er ist eine Herausforderung für alle und eine Herausforderung für die Erde, aber er kann nicht durchgeführt werden, ohne sich die Hände schmutzig zu machen: wir stoßen uns und fallen, doch gerade der Schwung unseres Falls gibt uns die Kraft zum Weiterspringen. Dieser Yoga verlangt eine absolute Aufrichtigkeit, um Mutters Schlüsselwort zu gebrauchen; der geringste Selbstbetrug kann unheilvolle Folgen haben. Aber die kleinste aufrichtige Öffnung kann überwältigende Resultate bewirken. Es ist die Zeit der unendlichen Gnade und zugleich des unerbittlichen Schwertes. Es ist die Stunde des Alles oder Nichts, der immensen Fortschritte oder gigantischen Zusammenbrüche in Individuen, in Nationen, im Herzen und auf der ganzen Erde. Keiner vermag der Revolution zu entgehen: es ist eine einzige große Revolution. Die ungeheure Revolution des neuen Bewußtseins. Wir überwinden den Damm… oder nicht. In diesem äußerst schwierigen Werk hat die Frau, die ursprüngliche Shakti, ihre entscheidende Aufgabe zu erfüllen – vorausgesetzt, sie versteht ihre wahre Aufgabe als Schöpferin und Inspiration, die nichts mit den veralteten und frivolen, literarischen, ästhetischen oder ehelichen Mythen zu tun hat, sondern mit einer neuen Welt, einem neuen Körper, der schwierig zu gebären ist, schwierig selber zu kennen, schwierig zu erobern, weil er Schritt für Schritt erobert werden muß, in der bescheidensten Materie und unscheinbarsten Geste, in jeder Minute. In jeder Minute ist es entweder das oder die alte Welt des “verbesserten” Affen. Da gibt es keinen Kompromiß, sagte Mutter, es ist nicht wie eine Genesung nach einer Krankheit: Wir müssen welten wechseln220.
Dies ist das außergewöhnlichste Abenteuer aller Zeiten – es gibt keine Kontinente zu entdecken, keinen Vasco da Gama: eine vollkommen unbekannte Welt in unserem eigenen Körper, das bewußte Gestalten eines Wesens, das noch nicht auf der Erde existiert, sozusagen die Erfindung einer neuen Bewußtseinsweise und einer neuen Art der Wahrnehmung. Alle alten Organe müssen durch andere ersetzt werden, eine andere Sehweise, ein anderer Tastsinn, andere Arten der Kommunikation – eine andere Erde. Und letztlich eine andere Materie. Das Verlassen des alten genetischen Programms. Nicht einmal die höheren Affen hatten einen so tiefgreifenden Übergang zu bewältigen, als es darum ging, die erste Idee in Gang zu setzen. Aber, ob wir es wollen oder nicht, wir stecken mitten drin, im Übergang. Dies ist eine der bedeutendsten Etappen seit dem Steinzeitalter.
Gelingt es oder gelingt es nicht?
Ich weiß mit absoluter Gewißheit, sagte Sri Aurobindo, daß das Supramental eine Wahrheit ist, sein Kommen ist unvermeidlich aufgrund der Beschaffenheit der Dinge selbst. Die Frage liegt im Wann und Wie. Auch dies ist irgendwo dort oben entschieden und vorherbestimmt, aber hier wird es mitten im finsteren Konflikt widerstreitender Kräfte ausgefochten… Mein Glaube und Wille sind für das jetzt221.
Dies ist die Bedeutung von Mutters und Sri Aurobindos Begegnung an jenem 29. März 1914, wie zur Stunde Null der Evolution.
Mutter hielt sich genau ein Jahr lang in Pondicherry auf, bis zum Februar 1915, bevor sie noch einmal nach Europa zurückkehrte, um dort ein letztes Jahr zu verbringen, dem ein langer Umweg über Japan von vier Jahren gemeinsam mit Richard folgte – Jahre der Hölle –, um 1920 endgültig zu Sri Aurobindo zurückzukehren. Oft habe ich mich gefragt, warum sie nicht sofort bei ihm blieb – ohne diesen langen schmerzvollen Umweg… Aber Mutter ist diejenige, die alle Wege erschöpft, alle Schwierigkeiten berührt, um sie in ihr Bewußtsein aufzunehmen: was man nicht ertragen hat, kann man nicht transformieren.
Du wirst alle Dinge ertragen, damit alle Dinge sich ändern222
Wie weit sind wir hier von den asketischen Formen des Yoga entfernt, die alles Dunkle ablehnen, um in ihrem reinen Licht zu thronen – um ein Herrscher über nichts zu werden, wie Mutter es nannte. Doch wie es scheint, beruht der Yoga des Hinabstiegs darauf, alles Gift zu schlucken, eines nach dem anderen, um durch genau die Kraft, die zerstören will, stärker zu werden. Den Schwierigkeiten zu entfliehen, um sie zu besiegen, ist keine Lösung – obwohl das sehr verlockend ist. Bei denen, die das spirituelle Leben suchen, sagt etwas: “Oh, ganz allein unter einem Baum sitzen zu können, versunken in Meditation, nicht mehr versucht sein zu sprechen, zu handeln, wie schön muß das sein!”… Doch der wahre Sieg muß im Leben errungen werden. Man muß es verstehen, in allen Situationen allein mit dem Ewigen und Unendlichen zu sein. Man muß verstehen, in jeder Handlung frei zu sein mit dem Höchsten. Dies ist der wahre Sieg223. Und Sri Aurobindo sagte: Wir werden unsere Verwirklichung mit genau der Beute bereichern, die wir den uns widersetzenden Kräften entreißen224. Wenn wir diese kleine Gymnastik praktisch durchführen, beginnen wir eine wunderbare Wahrheit zu berühren, denn überall und bei den kleinsten Gelegenheiten sehen wir, daß es kein Atom an Mißgeschick in der Welt gibt, kein Staubkorn “Böses”, keinen einzigen “Feind”, und daß alles dazu dient, uns zu zwingen, überall das Wahre, das Reine, das Freie zu finden – eine Riesenverschwörung des Lichtes –, unsere eigene Shakti zu gestalten, um weiter zu erobern, immer weiter, bis zur letzten Wurzel des “Bösen”, zur letzten Maske:
Eine Unsterblichkeit verkappt unter dem Mantel des Todes225.
Die Eroberung des Todes beginnt gleich an der nächsten Straßenecke.
Das große Wunder von Sri Aurobindos und Mutters Yoga besteht darin, daß er uns das vollkommen Positive in allem entdecken läßt, den Tod miteingeschlossen. Das gesamte Leben wird bis in die kleinste Einzelheit höchst positiv, sinnvoll – kein einziges Ding ist “dagegen”. Das “Falsche” existiert nur, wenn wir es falsch nehmen. Es ist unglaublich einfach – wie Mutter, wie Sri Aurobindo.
Dieser Yoga sah übrigens nach gar nichts aus, wenn man das Leben um 1914 oberflächlich betrachtet; alles war so natürlich, daß es nicht nach Yoga aussah, oder vielleicht war alles Yoga, wie die Luft, die wir atmen. Sri Aurobindo war von einem halben Dutzend Jungen umgeben, von denen die meisten ihrem “Anführer” aus Bengalen ins Exil gefolgt waren und eigentlich jeden Moment darauf warteten, zur Revolution zurückzukehren – nicht einer ahnte, daß er mitten in der Revolution stand. Sri Aurobindo handelte immer, ohne daß man es ihm ansah: er hatte es schon während der Revolution vorgezogen, im Hintergrund zu bleiben, und es bedurfte schließlich der “Bombenaffäre” und seiner letzten Verhaftung, um ihn als “das Gehirn dahinter” kenntlich zu machen. Er lachte nie, außer in großen schallenden Ausbrüchen wie ein Gott, er erhob nie die Stimme, und er ließ jeden machen, wie er wollte – aber still wandte er seinen Willen daran, die Dinge so geschehen zu lassen, wie er sie sah. Sein scheinbares Nicht-Eingreifen war so ausgeprägt, daß eines Tages ein Schüler ihn fragte: “Aber wenn jemand vor Ihren Augen ertränke, würden Sie dann nicht doch eingreifen? – Nein, nur wenn er mich dazu auffordert. Er verstand vollkommen, daß es nichts nützt, die Umstände zu ändern, wenn die Leute sich nicht innerlich ändern wollen: man rettet sie vor dem Ertrinken, und bei der nächsten Gelegenheit ertränken sie sich wieder. Für Sri Aurobindo lag das Problem anderswo, zentraler. Aber wenn man ihn rief, wenn man ihn um die geringste Kleinigkeit bat, antwortete er augenblicklich, wie ein Orkan – ohne daß es danach aussah (und er tut es weiterhin). Nein, Sri Aurobindo glich nichts Bekanntem. Die Spatzen bauten ihr Nest über der Tür zu seinem Zimmer: er machte einen Umweg, um die Spatzen nicht zu stören – und so war es. Für Sri Aurobindo war alles gleich, alles hatte den gleichen Wert, nichts war mehr oder weniger, alles war von absoluter Bedeutung: die Spatzen, der Vizekönig von Indien oder die Revolution, es war alles genau das gleiche, weil er die Revolution in jedem Augenblick, in jeder Geste, mit jedem Schritt durchführte. Wenn die Revolution nicht beim Spatz beginnt, dann beginnt sie tatsächlich nirgendwo. Wenn wir dieses Geheimnis begreifen, sind wir dem wahren Umsturz der Welt sehr nahe.
So verharrte er nicht sitzend in Meditation und erteilte keinen Segen: er verrichtete seine Arbeit, ging auf und ab – acht Stunden am Tag, auf seiner Veranda, um das Bewußtsein in die Materie zu bringen. Er fand, daß das Gehen der Meditation Energie verlieh. Kurz, es war eine physische Meditation, die nach nichts aussah. Eine Meditation des Körpers. Gehen war ein Yoga, Essen war ein Yoga, alles war ein Yoga: Das ganze Leben ist Yoga, lautete bald die Widmung zu seinem ersten Buch, The Synthesis of Yoga. Aus diesem Grund war nach außen hin nichts zu sehen, weil der Yoga überall war, wie das Leben. Die “Jungen” gingen ein und aus wie Wasser in einer Mühle, diskutierten über Politik oder das letzte Fußballspiel – ihre bevorzugte, wenn nicht Hauptbeschäftigung, zusammen mit den Jugendlichen des Pondicherry “Sportclubs”. Sri Aurobindo war der Gefährte, der Freund; wollten sie etwas lernen, fragten sie ihn, denn sie waren jung und hatten wegen der Revolution nicht viel Zeit gehabt, auf die Universität zu gehen – man konnte ihn alles fragen. Einige wollten Sprachen lernen, zum Beispiel Französisch, und so wählte er L’Avare und begann geradewegs bei Molière: es lag dort mitten in einem der Bücherstapel, die auf Sanskrit, Englisch, Deutsch oder Italienisch in allen Ecken seines Zimmers standen, bis an sein Feldbett – sie waren zu arm, um auch nur einen Schrank zu besitzen. Oder er lehrte einen unter ihnen, der ein besonderes Interesse für Literatur zeigte, Griechisch und Latein (Antigone, Medea, Äneas) und Italienisch: es war Nolini, Sri Aurobindos ältester Schüler, der später Generalsekretär des Ashrams wurde. Die Jungen hielten sich übrigens nicht für “Schüler”, und Sri Aurobindo suchte nicht, irgend etwas zu lehren, außer wenn man ihn darum bat. Ein Ashram kam nicht in Frage, denn Sri Aurobindo wollte dieses Wort nicht hören, und sein Yoga hatte nichts besonders “Ashram-artiges” an sich. Doch etwas in Sri Aurobindo, das sie sich nicht erklären konnten, öffnete ihre Herzen und ihr Bewußtsein. Was ihn betraf, so widmete er sich, wenn er nicht gerade auf und ab ging oder ihre Fragen beantwortete, der Lektüre des Rig-Veda im vedischen Original. Er entdeckte den Rig-Veda mit verwunderter Begeisterung, fand er doch darin alle Erfahrungen wieder, die er zuvor ganz spontan in Kalkutta gemacht hatte, mitten in seiner revolutionären Aktivität – wie Mirra mitten im Künstlerleben. Er entdeckte Das Geheimnis des Veda. Er, der seine ganze Jugend im Westen verbracht und Englisch gelernt hatte, bevor er mit seiner eigenen Muttersprache in Berührung kam.
Gelassen lebte er den Rig-Veda mitten im “Lager”, wie die Jungen es nannten. Tatsächlich lebten sie, seit er 1910 mit gefälschtem Paß in Pondicherry eingetroffen war, ein “Bohemeleben”, wie Nolini es später bezeichnete226, zogen von einem Haus ins nächste – je nach den Finanzen – viermal hintereinander, bis sie in den vornehmen aber etwas verkommenen “Palast” gelangten, das Guest House im europäischen Viertel, das Sri Aurobindo würdig genug fand, zu Ehren der Richards für die kolossale Summe von 35 Rupien zu mieten. Er entsandte sogar ein SOS nach Kalkutta und bat um Geld, damit er die Miete bezahlen konnte. Sie duschten sich unter dem Wasserhahn im Hof, und da Sri Aurobindo als letzter an die Reihe kam, hatte er das Recht auf das einzige durchnäßte Handtuch, das bereits den sechs anderen vor ihm gedient hatte. Die Elektrizität war gerade am Tag zuvor installiert worden, andernfalls gab es eine einzige Kerze, die für Sri Aurobindos Gebrauch reserviert war, da er die widersprüchlichsten Gewohnheiten hatte und nachts las, tagsüber auf und ab ging und man weiß nicht genau wann und wie auf seinem Feldbett schlief. Die anderen schliefen auf einer Matte ohne Kopfkissen, und selbstverständlich hatte niemand ein Moskitonetz, von einem Ventilator ganz zu schweigen. Sie aßen, wie sie konnten, indem die Jungen der Reihe nach kochten, ein jeder gemäß seiner Spezialität: einer bereitete Reis zu, ein anderer getrocknete Erbsen, und das war wohl alles, mit etwas Gemüse und Pimenten, so Gott wollte. Sri Aurobindo war nicht schwierig – er verblieb 23 Tage, ohne zu essen, “um zu sehen”; denn schon konfrontierte ihn das Problem der Energieaufnahme (ein Problem, das Mutter bis zum Ende beschäftigen wird), und er suchte in seinem Körper herauszufinden, wie man die ganze animalische Funktion ändern könnte, ohne die Materie aufzulösen: Als ich ungefähr 23 Tage lang im “Chetti House” [Sri Aurobindos erstes Haus in Pondicherry] fastete, hatte ich das Problem beinahe gelöst. Ich konnte wie gewöhnlich acht Stunden am Tag gehen. Ich führte meine mentale Arbeit und Sadhana [Yogadisziplin] wie üblich fort und fühlte mich am Ende der 23 Tage nicht im geringsten schwach. Doch das Gewebe begann zu schwinden, und ich konnte den Schlüssel nicht finden, um die reduzierte Materie im Körper wieder zu ersetzen. Als ich das Fasten abbrach, folgte ich nicht den üblichen Regeln derer, die länger fasten, indem sie mit kleinen Mengen Nahrung wieder beginnen und diese langsam erhöhen. Ich begann mit der gleichen Menge, die ich zuvor gewohnt war, zu mir zu nehmen227. Sri Aurobindo verstieß wie Mutter gegen alle Regeln, die physiologischen inbegriffen; und all das hinderte ihn nicht, dicke Zigarren zu rauchen – nicht sehr yogisch (Flor de Spencer, bitte schön!). Aber er hörte mit dem Rauchen über Nacht auf, als er bemerkte, daß der Zigarrenrauch Mutter störte. Kurzum ein Yogi-Gentleman-Terrorist und ein Gelehrter – vollkommen illegal und unmedizinisch. Aber sobald man sich ihm näherte, in seinen einfachen, weißen Dhoti gekleidet (ein Ende über die linke Schulter seines unbedeckten Oberkörpers geworfen), konnte keiner es vermeiden, ihn mit “Sir” anzusprechen und sich zu verneigen vor etwas so ruhig Souveränem, dem ein unbewegliches Feuer innewohnte.
Schließlich verschmolz dieses Feuer zu unendlichem Blau.
Dann gab es sogar Spione. Sie wurden gut bewacht. Die britische Regierung hatte ein ganzes Haus in Pondicherry gemietet, um eine Truppe anglo-indischer Polizisten in Zivil unterzubringen, einzig zu dem Zweck, abwechselnd Sri Aurobindos Tür zu bewachen und alle Fakten und Gesten zu notieren, die Namen der Besucher zu registrieren… und die unwahrscheinlichsten Geschichten zu erfinden, um ihre Beschattung zu rechtfertigen und die Legende des “gefährlichen Terroristen” aufrecht zu erhalten. Sogar unter den sechs “Schülern” gab es einen Spion, der sich, als er herausfand, daß Sri Aurobindo “auch” Yogi war, von Panik ergriffen zu dessen Füßen warf. Sri Aurobindo lächelte nur ruhig; dies war ihm vollkommen gleichgültig: ein Spion, das war ein Mensch auf zwei Beinen wie jeder andere, und wer würde schon dem Rig-Veda nachspionieren? Sie versteckten sogar gebührend gefälschte “geheime Landkarten” mit “kompromittierenden” Briefen im Brunnen, woraufhin die Engländer die Franzosen freundlich baten, “Nachforschungen” anzustellen, ob denn nichts im Brunnen versteckt sei (mit allen Mitteln versuchte die britische Regierung, seine Auslieferung zu bewirken). Der Polizeikommissar erschien mit weißen Handschuhen, gefolgt von einem Kommando Sepoys, entdeckte die Dokumente, durchsuchte die Zimmer und kam schließlich zu Sri Aurobindos Tisch – dem einzigen Tisch –, um darauf nur griechische und lateinische Bücher vorzufinden… und kehrte mit zum Himmel erhobenen Armen zurück: “Er kann Griechisch! Er kann Latein!” So ein Mann konnte unmöglich Bomben fabrizieren. Und Molière lachte irgendwo zwischen dem Rig-Veda und Aristophanes. Das ganze Leben war da versammelt.
So war es bis zu Mutters Ankunft.
Er war zweiundvierzig, sie war sechsunddreißig. Am Tag nach ihrer ersten Begegnung besuchte sie ihn wieder, aber diesmal war Richard zugegen. Noch einmal stieg sie die Treppe hinauf, hielt den Schleier über ihrem langen, offenen Haar fest. Er wartete oben auf der großen Veranda. Dort stand nur ein kleiner Tisch, kaum einen Meter breit, mit einem blauen Baumwolltuch bedeckt. Es war der gleiche Tisch, auf dem er bald in einem Zug die fünftausend Seiten seines ersten geschriebenen Werkes tippen wird. Ein harter Holzstuhl mit gerader Lehne und noch einige andere, kaum bequemere Stühle, die am Tag zuvor zu Ehren der Gäste gemietet worden waren. Und die hohen Stucksäulen, der bereits sengende Himmel. Er fing an, sich mit Richard über den Krieg zu unterhalten; er wußte schon im März, daß der Krieg ausbrechen würde (es geschah im August). Er wußte viele Dinge in seiner weitblickenden Stille; die kleinen mentalen Grenzen existierten nicht mehr. Ich saß dort auf der Veranda. Vor ihm stand ein Tisch, und Richard saß ihm gegenüber. Sie begannen ein Gespräch. Ich saß zu seinen Füßen, ganz klein mit dem Tisch vor mir, der mir gerade bis zur Stirn reichte und mich ein wenig abschirmte… Ich sagte nichts, dachte nichts, versuchte nichts, wollte nichts – ich saß einfach neben ihm. Als ich eine halbe Stunde später aufstand, hatte er die Stille in meinen Kopf gebracht: das war alles, ohne daß ich ihn darum gebeten hätte, vielleicht sogar ohne daß er es versuchte… Ich hatte es versucht, oh, jahrelang hatte ich versucht, diese Stille im Kopf zu erlangen – vergebens. Ich hatte Übungen über Übungen gemacht, alles mögliche, sogar “Pranayama” – nur damit es endlich schweige! Ich konnte den Körper verlassen (das war nicht schwierig), aber innen drehte es weiter seine Kreise… Und nun waren alle mentalen Konstruktionen weg, alle mentalen, spekulativen Strukturen waren weg – die Leere. Eine so friedliche, so helle Leere!… Daraufhin verhielt ich mich sehr still, um es nicht zu stören. Ich sagte kein Wort, ich hütete mich zu denken und hielt es fest, ganz fest umfaßt – und sagte mir: “Mache, daß es bleibt, mache, daß es bleibt, mache, daß es bleibt…!” Oh, wie glücklich ich war! Das war wirklich die Belohnung all meiner Bemühungen. Nichts! Ich wußte nichts mehr, ich verstand nichts mehr, in meinem Kopf war keine einzige Idee mehr. Alles, was ich erarbeitet hatte, mit all meinen Erfahrungen und so vielen Jahren bewußten und unbewußten Yogas, ein ganzes Leben gelebter, klassifizierter, organisierter Erfahrung (oh, welch Monument!) peng! das alles fiel zu Boden. Es war wundervoll… Alles war weg, vollkommen weg, weiß! Als wäre ich neugeboren… Dann langsam, langsam, als fiele es tropfenweise, bildete sich etwas Neues. Aber das hatte keine Grenzen, keine… es war weit wie das Universum, und es war wunderbar still und hell. Hier im Kopf war nichts, nur über dem Kopf. Von dort oben begann es, alles zu sehen. Und nie hat es mich wieder verlassen – als Beweis für Sri Aurobindos Kraft ist das unvergleichlich. Ein Wunder. Es hat mich nie wieder verlassen; ich war in Japan, unternahm viele Dinge, hatte alle möglichen, sogar die unangenehmsten Abenteuer, aber es verließ mich nie – still, still, still…
Und das alles, während er sich mit Richard unterhielt, ohne daß er es auch nur versuchte. Mit anderen Worten, eine Kraft, die direkt von Materie zu Materie, von Körper zu Körper wirkt, ohne durch das Mental zu gehen. Wie eine Ansteckung. Das ist die supramentale Kraft.
Aber das Wort “Supramental” ist irreführend, denn wir stellen uns darunter eine Super-Intuition, eine Super-Weite des Bewußtseins, eine Super-Kraft vor, sozusagen eine Verherrlichung der Kräfte menschlicher Intelligenz – doch das ist es ganz und gar nicht. Es ist die natürliche Kraft selbst. Es ist das Bewußtsein der Materie selbst oder das in der Materie direkt, automatisch und spontan wirkende Bewußtsein. Wir können das Wirken dieser Kraft im Vogel, im Tier, überall in der Natur um uns herum beobachten; es lenkt den Flug des Vogels zu seinem unfehlbaren Ziel, es lenkt die Bewegung des kleinen Tieres zu seinem genauen Bedürfnis, es lenkt die Bewegung des Atoms in seiner sicheren Gravitation – alles ist exakt und bis auf das Elektron genau, präzise bis auf das Millionstel eines Meridians. Es ist eine Vollkommenheit an Präzision. Wir nennen es “Instinkt” oder die “Naturgesetze”, denn wir versehen alles mit Etiketten und glauben das Mysterium zu bannen, indem wir es der Taufe der Wissenschaft unterziehen, und es fehlte nicht viel – oder nichts – und wir würden behaupten, es wäre das totale “Unbewußte”, also in anderen Worten ein kompletter Schwachsinn, der fähig wäre, Werke perfekter Intelligenz zu vollbringen. Wie aber dieses Unbewußte das fertig bringt, wissen wir nicht, doch mit dem Wort “Instinkt” wird alles erklärt; und mit dem Wort “Gesetz” wird alles natürlich – oh, ja, es ist vollkommen natürlich und alles ist natürlich, außer uns. Und alles ist vollkommen bewußt, außer uns, und vollkommen präzise, außer uns. Wir sind in Wirklichkeit auf dem Weg, gerade dieses Bewußtsein und diese Präzision wiederzuerlangen, die im Herzen des kleinen Tieres und im Zentrum des Atoms zu finden ist. Nur, anstatt eine “unbewußte” Kraft zu sein, in dem Sinne, daß dem Instrument die Kraft, die es vorantreibt, unbekannt ist (der Vogel weiß nichts von der Bewegung, die ihn zu den Tropen treibt oder zur Kalkwand, um die Schale seines Eies zu bilden), wird es eine bewußte Kraft sein, eine bewußte Bewegung und ein Instrument, das die Kraft kennt, in diese Kraft einwilligt, um sie bewußt zur Wirkung zu bringen oder bewußt durch sich wirken zu lassen. Das Bewußtsein im Inneren ist bewußt, und das unbewußte Instrument wird sich dessen bewußt, was schon immer da war. Anstatt eines langen evolutionären Verlaufs und einer langen Kurve, in der das Bewußtsein durch immer komplexere Instrumente und letztlich durch eine mentale Schale wirken mußte, wo es sich als getrenntes Individuum mit allen Entstellungen und Schwächen des mentalen Milieus wahrnahm, wird sich dieses gleiche Bewußtsein – das jetzt inhärent ist, “involved”, wie Sri Aurobindo sagt, den Zellen und Elektronen innewohnend, verborgen hinter dem Leben und dem Mental – am Ende der Kurve direkt, unmittelbar und allmächtig in einem Instrument ausdrücken, das es fließen läßt, ohne es zu entstellen, im Besitz der individuellen Freude zu wissen, was geschieht, wie es geschieht, wohin es geht und warum – und zwar überall gleichzeitig, denn das Bewußtsein ist eins, und die Materie ist eins. Dieses unfehlbare Bewußtsein nennt Sri Aurobindo das Wahrheits-Bewußtsein (weil es automatisch wahr ist) oder das Supramental: Selbst in der Blindheit der Materie, sagte er, gibt es Zeichen eines geheimen Bewußtseins, das in seinem verborgenen Wesensgrund sieht und die Kraft besitzt, gemäß seiner Sicht zu handeln, und dies mit unfehlbarer, seiner Natur innewohnender Unmittelbarkeit… das Zielbewußte des Elans und der Funktionsweisen der unbewußten, materiellen Energie können wir auf die Gegenwart eines innewohnenden, automatischen Bewußtseins zurückführen, das sich nicht mehr wie das Mental der Gedanken bedient… Dieses umfassende und spontan erleuchtete Wahrheits-Bewußtsein, das wir dem Supramental zuordnen, ist diese gleiche Wirklichkeit, die in einem höchsten Stadium der Evolution zutage treten wird – endlich entwickelt, statt völlig involviert wie in der Materie oder nur teilweise und unvollkommen entwickelt wie im Leben und im Mental und deshalb Irrtümern und Unvollkommenheiten unterworfen – endlich im Besitz seiner eigenen natürlichen Fülle und Vollkommenheit, automatisch erleuchtet und unfehlbar228. Es ist “das bewußte Eine in allen Dingen”, sagen die Veden. Die Evolution ist das Ergebnis einer Involution, nur was bereits innen ist, kann hervortreten. Wenn das Bewußtsein nicht in der Tiefe des Atoms existierte, könnte es nie hervorkommen, denn nichts kann aus dem Nichts entstehen – ohne Samen keine Frucht –, und das Bewußtsein kann nicht die Frucht des Unbewußten sein. Am Ende der Wanderung finden wir genau das wieder, was in seiner Reinheit dort, im Herzen des ersten Atoms war.
Das ganze Problem liegt in dieser “Reinheit”.
Das erste, worüber Sri Aurobindo mit Mutter sprach, war selbstverständlich dieses Supramental; er war gerade dabei, in den Veden seine ersten erstaunlichen Bestätigungen zu entdecken, er wußte selbst nicht genau, wie all das vor sich ging, es war wie im “Dschungel”, sagte er: Unser Yoga ist wie ein neuer Pfad, den man sich im Dschungel heraushaut; in dieser Region hat es noch nie einen Weg gegeben. Ich hatte selbst große Schwierigkeiten229… Für uns ist alles einfach und deutlich erklärt, der Weg steht offen, wenn man sich aber mitten im Urwald Amazoniens befindet, der auf keiner Karte existiert, weiß man zunächst weder, was dieses Amazonien ist, noch, ob man sich nach rechts oder links wenden soll, nicht einmal, ob Peru dort unten überhaupt existiert, ob der Orinoko zum Weg gehört und ob man sich letztlich nicht im Kreis dreht – man geht voran ins Nirgendwo. Erst hinterher kann man dann sagen: das ist die Quelle des Amazonas, oder das ist das Wahrheits-Bewußtsein, solange man aber darin steckt, ist es die Finsternis, die sich nur in dem Maße erhellt, wie man vorangeht. Man geht im “Nichts”, man erfindet das Amazonien – nur der unsichtbare Kompaß innen lenkt unsere Schritte wie den Vogel zu seiner unsichtbaren Lagune, zehntausend Kilometer entfernt. Aber man muß rein sein, damit der Kompaß funktioniert, man darf keine Ideen eindringen lassen, die uns tausend andere mögliche Wege suggerieren wollen – man muß sehr still sein. Man muß auf das innere Amazonien horchen, das zum äußeren Amazonien führt, oder besser, das das Amazonien entstehen läßt, während man vorangeht. Ambulando solvitur war Sri Aurobindos Lieblingsmaxime: “Das Problem wird im Gehen gelöst.” Und er ging. Er war still und ließ die mächtige Shakti durch sich fließen: Hingabe, völlige Losgelöstheit oder, in anderen Worten, vollkommene Transparenz ist die einzige Macht. Wenn wir aber unterwegs anfangen, einen netten kleinen Bois de Boulogne aufzubauen, sperren wir uns selbst in unserem Bois de Boulogne ein – die Mauern wachsen unverzüglich und geradezu zauberhaft, sobald wir nur an sie denken; wir müssen wirklich den Mut haben, im Nichts zu gehen, uns von nichts einsperren zu lassen, nicht einmal von den höchsten Herrlichkeiten oder was uns als solche erscheinen mag. Eine neue Welt ist eine Welt, die nicht existiert, oder sie existiert nur dort draußen in der Zukunft, wenn die Landkarte gezeichnet ist; dennoch gehen wir ständig darin, sie ist es, die jeden unserer Schritte lenkt in ihrer unsichtbaren, innewohnenden Saat. Wir können also verstehen, daß Sri Aurobindo eine gewisse Erleichterung empfunden haben muß, endlich mit jemandem sprechen zu können, der ihn verstand; er war nicht mehr allein mit den sechs- oder siebentausend Jahre alten Veden als einzigem Gefährten. Aber ja, ich weiß! rief Mutter lächelnd aus, als er ihr zum ersten Mal von der supramentalen Schöpfung erzählte: Ich sah sie dort oben! Es entsprach ihren eigenen Erfahrungen in Tlemcen und davor in Paris.
Hier führt die Sprache uns wieder irre, denn unsere ganze Sprechweise besteht aus “oben” und “unten”, aus “Zukunft” und “Vergangenheit”, eine dreidimensionale Sprache, um eine Welt zu beschreiben, die niemals dreidimensional war, genausowenig wie die Sonne je irgendwo “aufgeht”. Nur wir drehen uns, wir machen eine Reise in unserem Bewußtsein. Dieses Supramental war tatsächlich “dort oben”, am Ende der Reise, so vollständig wie das Amazonien, und jahrelang werden Sri Aurobindo und Mutter vom “Herabstieg” des Supramentals auf die Erde sprechen. Sie werden das Supramental auf die Erde “herabziehen”, bis zu einem gewissen Tag im Jahr 1956, als es endlich “herabkam”. Sie sind durch ein Supramental gereist, das die ganze Zeit existierte – wie das Amazonien – und zum Supramental wurde, während sie voranschritten. Das ist Pionierarbeit. Eines Tages wird das Supramental eingezeichnet und ganz natürlich sein, so wie das Mental gut organisiert und natürlich ist. Aber diese Reise des Bewußtseins spielt sich nicht im brasilianischen Urwald ab, sondern vollzieht sich durch die dichten Schichten unseres Wesens, die in Wirklichkeit die Schichten von jedermann sind; es ist eine Reise, die uns mit etwas verbindet, das schon immer da war, nur verschleiert durch Ideen, Gefühle, jahrtausendealte Gewohnheiten zu sein, zu leben und zu fühlen, abgelagerte Schichten über Schichten bis hinab in die Tiefe unserer Zellen – ja, eine Reise durch Jahrtausende – und am Ende ist es plötzlich das “Supramental”, wenn alles bis zum letzten kleinen Elektronenmantel durchquert worden ist, wenn alles durchsichtig und rein geworden ist. Dann verbindet sich das “Oben” mit dem “Unten”, die “Zukunft” kehrt in die “Gegenwart” ein, die Landkarte ist gezeichnet, und das Amazonien liegt sichtbar vor uns ausgebreitet – wir sind darin. Es ist transparent und offenkundig. Das “Dort” wird zum “Hier”. Wir leben im immer Gegenwärtigen, involviert im Herzen des Atoms, das sich bei jedem Schritt der Wanderung entfaltet und insgeheim jeden Schritt auf dem Weg lenkt. Sri Aurobindo und Mutter sind diejenigen, die erstmals die Verbindung herstellten. Aber noch war das “Supramental” eine Art Nichts, “dort-hoch-oben” in der Zukunftsvision, auf geheimnisvolle Weise in den Zellen des Körpers wahrgenommen (wie Sri Aurobindo und Mutter es tastend in ihrem Körper wahrzunehmen begannen), und dazwischen lag eine ganze undurchsichtige Welt. Zwischen diesen beiden Welten mußte Reinheit und Durchsichtigkeit geschaffen werden, so wie eines Tages der Affe in seinen Affengewohnheiten rein und transparent sein mußte, um die erste mentale Schwingung durchzulassen, ohne daß sie vom alten Affenmechanismus verschluckt wurde. Hier ist jedoch nicht nur eine Stufe der Entwicklung zu klären, sondern radikal sämtliche Evolutionsstufen bis zum Urmechanismus des Lebens in der Materie. Letztendlich ist immer dieselbe Kraft am Werk: durch das Mental, das Herz, den Körper oder den Kieselstein. Je nach den durchquerten Ebenen nennen wir es mentale Kraft, vitale Kraft, Atomkraft; und in der Tat nimmt sie eine mentale, vitale oder atomare Schwingung an und ist dennoch immer und jedesmal eine einzige Kraft, die supramentale Shakti, die durch verschiedene Klärungen ihrer selbst wirkt. Am Ende treffen wir wieder auf die reine Shakti des Anfangs. 1913 definierte Sri Aurobindo die Voraussetzungen des supramentalen Yogas in einem Brief an einen Schüler in Kalkutta folgendermaßen: Ein ruhiges Herz, ein klares Mental und ungestörte Nerven sind die allererste Notwendigkeit für die Vervollkommnung unseres Yogas230. Das bedeutet Transparenz auf allen Ebenen. Dies war, was Mutter bereits “die Klärung der Materie” nannte.
Die merkwürdigste aller Erfahrungen ist nämlich, plötzlich ganz dumm zu entdecken, daß der Körper mehr weiß als wir und daß er eine außergewöhnliche Sicht hat und vielleicht im Besitz einer ganz einfachen und ungeheuren Kraft ist, die nur durch unsere mentale Gewohnheit verschleiert wird. Eine “Erleuchtung” des Körpers. Vielleicht genau das Entzücken des Hominiden, als er merkte, wie er in einer Sekunde des Nachdenkens den ersten Bogen fabrizierte. Eine Kraft des Körpers. Ein direktes Wissen der Materie.
Das war die eigentliche Erfahrung, die Sri Aurobindo in Kalkutta gemacht hatte: jenseits des Nirvana. Am Ende des Kreises stoßen wir wieder auf den Anfang der Dinge.
Die wahre Befreiung liegt im Körper.
… der, den ich mit
Sri Aurobindo begann…
Zweiter Teil. Der Weg des Hinabstiegs…
15. Kapitel: Ein umgedrehter Vulkan
Sri Aurobindo drang tastend in den supramentalen Dschungel vor. Was er tat, wissen wir nicht wirklich, nur in Bruchstücken. Er, der so viel geschrieben hatte, Tausende von Briefen und Seiten, und auch nicht abgeneigt war, sich ausführlich mit Richard und der ersten Gruppe von Schülern zu unterhalten, sprach nie über die praktischen Geheimnisse des Körpers – vermutlich, weil ihn niemand verstanden hätte, oder vielleicht eher, weil es nichts nützt zu “erklären”: Auf der Ebene des Körpers muß man leben und fühlen, man kann die Shakti des Körpers nicht lehren wie Geometrie oder die Wege des Nirvanas; jeder muß vorangehen, vielleicht muß sogar jeder seinen eigenen Weg erfinden, denn jeder Körper ist anders, die Widerstände des einen sind nicht die des anderen. Ich erlebte eine der größten Überraschungen meines Lebens, als Mutter mir eines Tages im Jahr 1962 schlichtweg sagte: Sri Aurobindo ist gegangen, ohne sein Geheimnis zu enthüllen. Das bedeutet, wir müssen Mutters einsamen Yoga abwarten, um Sri Aurobindos Geheimnis wiederzuentdecken und zu erfahren, was er wirklich tat. Und so war es, Sri Aurobindo zwang nie etwas auf, man könnte sogar sagen, daß er nichts lehrte; er setzte einfach die tiefliegenden materiellen, physiologischen Mechanismen in Bewegung, die sodann stumm und unsichtbar im Körper eines jeden und im Körper der Erde zu wirken begannen, um eines Tages unerwartet aus dem Inneren all derer aufzutauchen, die bereit sind. Kurz, er setzte die Wahrheit der Materie in Bewegung, damit diese selbst die Arbeit übernehme – genau das geschah, als Sri Aurobindo sich mit Richard unterhielt: Auch ohne daß er es versuchte hätte, einfach durch die materielle Ausstrahlung seiner Gegenwart, war von innen heraus die Stille in Mutter eingetreten. Er hatte weder eine spezielle Konzentration noch einen besonderen Willen angewandt, wie es alle Yogis zu tun pflegen, sondern ließ die Materie sozusagen für sich selbst sprechen; Mutter war von Sri Aurobindos ansteckender Stille erfaßt worden. Diese “Ansteckung” ist der fundamentale Schlüssel des Wirkens der supramentalen Kraft. Es ist nicht etwas, das von außen aufgezwungen wird (darin liegt das alte Versagen aller Mächte), sondern etwas, das innen erwacht und innen von sich aus will. Tatsächlich könnten wir auf die Gefahr, paradox zu erscheinen, vielleicht sagen, das Supramental sei das einzige auf der Welt, das keine “Macht” darstellt: es ist die Wahrheit der Materie, die kann, weil sie ist – automatisch, einfach und natürlich. Es ist das Natürliche par excellence. Sein ist Macht. In Sri Aurobindos Materie herrschte Stille, und sie wirkte automatisch auf jede Materie, die fähig war zu antworten. Alle anderen Mächte scheitern, weil sie von außen aufgezwungen werden und versagen, sobald der Zwang aufhört, wie wir bereits sagten. Einzig was ist, ist unzerstörbar. Und das Erstaunlichste ist, daß einzig die Materie diese Kraft des Seins rein zu besitzen scheint – sämtliche Kräfte auf allen anderen Ebenen schwanken, kommen und gehen, blenden, machen Wunder und zerfallen zu Staub. Diese aber ist unveränderlich. Als wäre der Körper der Ort der äußersten Stabilität. Wenn der Körper erst einmal verstanden hat, dann hat er für immer verstanden, er vergißt nie wieder. Aber er selber muß verstehen. Deshalb sind Lehren vergeblich. Nur eine materielle Ansteckung vermag. Sri Aurobindo und Mutter werden der Erde die große supramentale Ansteckung geben. Aus diesem Grund sagte Mutter: Das, was Sri Aurobindo in der Weltgeschichte darstellt, ist keine Lehre, nicht einmal eine Offenbarung, sondern eine entscheidende aktion direkt vom Höchsten231. Ob wir nun an das “Höchste” oder an Sri Aurobindo glauben oder nicht, ist von geringer Bedeutung – Sri Aurobindo hat keinerlei Bedürfnis, ein neuer Gott in der Sammlung der Menschheitsretter zu werden –, und wenn wir alle unsere Glaubenslehren abwarten müßten, bevor die Erde sich änderte, könnten wir noch Jahrtausende warten, denn das Mental glaubt, wird wieder ungläubig, glaubt von neuem, und entwischt wieder anderswohin auf dem großen Jahrmarkt der Ideen. Die Materie braucht nicht zu glauben: für sie ist fühlen glauben. Sri Aurobindo wirkte direkt in der Materie. Vielleicht arbeitete er daran, daß die Materie an sich selbst glaubt.
Wie ging er das an?
Er ging es zuerst in seiner eigenen Materie an, und hiervon sind uns einige Fragmente oder äußere Anhaltspunkte erhalten geblieben. In einem Brief von 1912 an einen Schüler in Kalkutta sprach er von seiner Arbeit, die darin bestand, Immunität gegen Krankheiten zu erlangen. Nicht daß Sri Aurobindo darum besorgt gewesen wäre, sich persönlich vor Krankheiten zu schützen, es gab in Sri Aurobindo sehr wenig von einer “Person”, doch Krankheiten sind die Lügen der Materie, eine Trübung, genau wie mentale Dummheit, und er sagte: Ich arbeite derzeit mit Erfolg an dem Versuch, sie [diese Immunität] zu vervollkommnen und zu testen, indem ich sie anomalen Bedingungen aussetze232. Die einzige Art, an der Materie zu arbeiten, ist, sie reagieren zu lassen: einen Schnupfen oder Zahnschmerzen bearbeitet man ebenso, wie man im Mental die verstaubten Seiten der Phänomenologie des Geistes in Angriff nimmt oder einen Wirbel von Gefühlsreaktionen verarbeitet. Anstatt eine Aspirintablette zu verschlingen, studiert man zum Beispiel, welche Bewegung die Gehirnzellen entspannt. Das ist ganz ähnlich wie in der praktischen Chemie: diese Vibration hat jenen Effekt, jene Haltung neutralisiert oder kristallisiert, und jene andere wiederum erhellt alles, wie ein Tropfen Sodiumhydrat in einer Jodtinktur. Man wiederholt das Experiment solange, bis es klar, präzise und unmittelbar wird und in die zellulare Substanz eingedrungen ist. “In die Substanz eindringen” bedeutet in der Tat immer “die Substanz klären”, denn in Wirklichkeit ist hier nichts hineinzubringen, eher sind alle möglichen evolutionären Ablagerungen auszuscheiden: darunter ist es rein, natürlich und automatisch mächtig. Die wahre Natürlichkeit ist die höchste Heilung von allem: Da gibt es nichts aufzuzwingen, es ist, und es ist automatisch das, was es sein soll. Diese Wiederherstellung der reinen Materie, der wahren Materie (oder der wahren Physis, wie Sri Aurobindo sie nannte) wird der höchste Triumph der Transformation sein. Aber bis dahin müssen Schichten über Schichten von Ablagerungen entrümpelt werden. Wir wissen nicht, was diese “anomalen Bedingungen” waren, denen sich Sri Aurobindo aussetzte, wahrscheinlich waren sie ebenso unscheinbar wie ein Schnupfen (es gibt nichts “Unscheinbareres” als diesen supramentalen Yoga – es ist alles, was man will, und sieht nach nichts aus, man kann es jeden Moment erhaschen, während man mit dem Nachbarn redet oder sich an einer Treppenstufe stößt – es ist der unsichtbarste Yoga, den es gibt). Immerhin wissen wir soviel, daß er mit der Nahrung experimentierte, mit Fasten (wie wir sahen), mit dem Schlaf und sogar mit Rauschgift (letzteres weiß Gott nicht, um “Erfahrungen zu haben”, sondern das Gegenteil einer Erfahrung, das heißt die Beherrschung der Nerven und die Klarheit der Reflexe unter einer massiven Dosis von Haschisch oder Opium zu bewahren – er versuchte beides –, die jeden anderen flachgelegt oder ins Nirvana befördert hätte). “Experimentieren” war sein Lieblingswort: Tag und Nacht, über Jahre und Jahre hindurch, habe ich experimentiert, gewissenhafter, als ein Wissenschaftler seine Theorie oder Methode auf der physischen Ebene testet233. Als eines Tages sein rechtes Auge rot und geschwollen war, ließ einer seiner Schüler die Bemerkung fallen, daß es wohl der Rauch seiner Zigarre sein müsse – “wartet”, antwortete er (und wir wissen nicht, ob er aus lauter Schalk eine neue Zigarre anzündete) und begann auf und ab zu gehen; zwei Stunden später war das Auge völlig weiß, klar und nicht mehr geschwollen. Wir würden uns aber gänzlich irren zu glauben, Sri Aurobindo habe nach der Art der Heilpraktiker oder Yogis eine mentale oder vitale Kraft angewandt und sich besonders auf sein Auge konzentriert: im Rhythmus seiner Schritte stellte er den natürlichen Fluß der Shakti wieder her. Er gewöhnte seine Zellen daran, ausschließlich dem Einfluß der reinen Shakti zu antworten – ein gewaltiges Programm. Dieses Programm setzte er sechsunddreißig Jahre lang fort. Die angestrebte Wirkungsweise der supramentalen Kraft, schrieb er, ist keine Beeinflussung der Physis, um ihr außergewöhnliche Fähigkeiten zu verleihen, sondern ein Ein-und Durchdringen234 , das sie vollständig in eine supramentalisierte Physis verwandelt235. Mit anderen Worten, eine reine Physis, befreit von all ihren evolutionären Ablagerungen und Entstellungen und mit ihren normalen Kräften ausgestattet. Denn wahrhaftig in jedem Partikel, jedem Atom, jedem Molekül, in jeder Zelle der Materie lebt und wirkt verborgen und unbekannt die gesamte Allwissenheit des Ewigen und die gesamte Allmacht des Unendlichen236.
Dieses ganze Arbeitsfeld an seiner eigenen Materie war aber nur die Vorbereitung für die Arbeit an der Materie der Erde. Tatsächlich zeigt die Erfahrung, daß die beiden nicht zu trennen sind: es gibt nicht “deine” Materie und “meine” Materie, es gibt nur eine Materie. Die Trennung unter unserer Schädeldecke ist die ungeheuerlichste Illusion, die je auf diesem guten Evolutionsfeld erfunden wurde. Die Sadhana [die Arbeit an sich selbst] muß sich zunächst auf Dinge richten, die keine Bedeutung haben, erst danach auf das Leben, notierte er 1914 in einem Brief237. Von einer einfachen Erkältung kann man sehr wohl zur Schlacht an der Marne übergehen. Wir scheinen zu scherzen, aber keiner oder nur sehr wenige sind fähig, die kompakte Genauigkeit des großen irdischen Feldes zu verstehen, und welche weltweiten Auswirkungen eine kleine reine Schwingung hier in diesem Klumpen Materie hat – aber um dies zu sehen, bedarf es ungetrübter Augen. Bereits in einem Brief von 1913 stellte Sri Aurobindo sein Programm in vier Punkten folgendermaßen auf: Was ich zu erreichen suche, ist das normale Wirken der Siddhis [Fähigkeiten oder Kräfte] im Leben, das heißt 1) die Wahrnehmung von Gedanken, Gefühlen und Ereignissen in anderen Wesen und an anderen Orten überall auf der Welt, ohne sich verbaler Informationen oder anderer Daten zu bedienen; 2) die Übermittlung ausgewählter Ideen und Gefühle an andere (Individuen, Gruppen, Nationen) lediglich durch die Übertragung der Willenskraft; 3) der stille Druck, damit sie den übermittelten Gefühlen oder Ideen entsprechend handeln; 4) das Bestimmen von Ereignissen, Handlungen und Resultaten von Handlungen überall auf der Welt durch die reine, stille Willenskraft… Im 1., 2. und selbst dem 3. Punkt bin ich jetzt im großen und ganzen erfolgreich, obwohl die Wirkung dieser Fähigkeiten noch nicht vollkommen geordnet ist. Nur im 4. spüre ich einen ernsthaften Widerstand. Zusammenfassend sagte er im selben Brief, es ist der Versuch, das Wissen und die Kraft auf Ereignisse und Situationen in der ganzen Welt zu übertragen, ohne auf physische Mittel zurückgreifen zu müssen238.
Es mag uns vielleicht schwerfallen zu verstehen, wie man von einer Veranda, auf der man auf und ab geht, während die Shakti durch den Körper fließt, zur großen Weltszene übergehen kann. Aber es ist wie bereits gesagt ganz einfach: wenn man selbst klar ist, dann ist alles klar. Es gibt kein “Du” dort drüben: alles ist vollkommen hier, ebenso deutlich wie das Pulsieren des eigenen Körpers – und wenn es hier fließt, dann fließt es auch dort. Nur muß man klar sein, und vor allem darf es kein getrenntes “Ich” mehr geben. Das Ich ist die große Chinesische Mauer. Solange es “Ich” gibt, ist kein Platz für den Rest der Welt. Das ist der erste Panzer, der zerbrochen werden muß, um zu verstehen und um ein wenig von der Welt in unser Bewußtsein und möglicherweise in unseren eigenen Körper einbeziehen zu können. Dann begreifen wir, daß mit dem Heilen eines geschwollenen Auges auch ein Geschwür auf irgendeinem anderen Ort der Erde geheilt werden kann – in Serbien oder Bengalen –, wenn die Umstände es erfordern. Sri Aurobindo hatte den Punkt erreicht, wo das physische “Ich” (das “Ich” des Körpers) verschwinden mußte, damit die Arbeit an seiner eigenen Materie in die gesamte Materie fließen konnte. Es beginnt mit der Beseitigung des Ichs im Kopf (das ist das Schwierigste), dann in den Reaktionen und den Gefühlen, und schließlich im Körper. Man kann sagen, daß meine subjektive Sadhana ihr endgültiges Siegel und eine Art Krönung erreicht hat, schrieb er 1913, dank einer anhaltenden Verwirklichung und einem über längere Stunden dauernden Verweilen im Parabrahman [die höchste Einheit – oder die höchste Transparenz, wenn man so will]. Seitdem ist der Egoismus in mir in allen Teilen meines Wesens gestorben, außer im physischen Selbst, das auf eine weitere Verwirklichung wartet, bevor es vollkommen frei sein wird von den gelegentlichen Besuchen oder äußeren Berührungen der alten getrennten Existenz239.
Jetzt blieb nur noch die “objektive” Sadhana. Das war der Zeitpunkt, als Mutter eintraf. Eines Tages, als ein Schüler ihn fragte, wie das Supramental im Körper die Erde ändern könne, antwortete er einfach: Wenn das Supramental in unsere Physis herabkommt, bedeutet dies, daß es in die Materie herabgekommen ist240. Und mit seinem typischen Humor sagte er: Ihr werdet zumindest zugeben müssen, daß etwas Materie in mir steckt, und ihr könnt kaum bestreiten, daß die Materie in mir mit der allgemeinen Materie verbunden ist oder sich sogar in Kontinuität mit ihr befindet (trotz Quantentheorie241).
Doch gleichzeitig entdeckte Sri Aurobindo die Kehrseite der Einheit der Materie: man gelangt überall hin, man ist überall… ja, aber man schluckt auch alles. Sie [die Kraft] versucht sich in mir zu verwirklichen, so schnell es die Schwächen meines Mentals und Körpers zulassen, aber auch – und das ist wichtig – so schnell es die Mängel meiner näheren Freunde und Helfer erlauben, schrieb er im Juni 1914, denn sie alle müssen spirituell von mir aufgenommen werden und können meine eigene Entwicklung verzögern. Ich komme voran, aber bei jeder neuen Etappe muß ich zurückgehen und eine neue Last an Unvollkommenheiten von außen empfangen242. Dies sollte bis zum Ende das große Problem für Mutter und Sri Aurobindo sein.
Sie besuchte ihn jeden Tag, nachmittags gegen halb fünf. Sie wohnte nicht weit entfernt in einem kleinen Haus mit Terrasse, neben dem Regierungspalast. Es war in der Rue Dupleix. Von ihrer Terrasse aus konnte sie Sri Aurobindos Zimmer sehen. Sie kam, bereitete schweigend eine Tasse Tee oder Kakao für Sri Aurobindo zu, während die anderen zu ihrem Fußballspiel gingen. Seit ihrer Ankunft hatte sich das Haus unmerklich verändert, das eine Handtuch hatte sich vermehrt, weniger Staub lag auf den Bücherstapeln, die in allen Ecken bis zu den Stühlen der Besucher verstreut lagen. Sie schaute nach dem Rechten, und so konnte Sri Aurobindo seinen Lieblingstee etwas öfter trinken: einen sehr starken Tee, zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht… falls jemand daran dachte, ihm welchen zuzubereiten. Er bat nie um etwas, das war eine absolute Regel, und er behandelte jeden wie seinesgleichen. Als er einmal einen jungen Tamilstudenten, der sich ihnen angeschlossen hatte (es war Amrita, der zukünftige Schatzmeister des Ashrams), versehentlich mit dem Fuß stieß, erhob er sich in höflich britischer Manier von seinem Stuhl und verbeugte sich: I beg your pardon, “ich bitte Sie um Verzeihung!” Die etwas wilde Bande, die ihn umgab – und respektierte und liebte, denn wer konnte nicht dieses “Etwas” in Sri Aurobindo fühlen – begann zu merken, daß Mutter sich in seiner Gegenwart nie auf einen Stuhl setzte, sondern immer auf den Boden zu seinen Füßen, und so wurden sie sich langsam bewußt, daß ihr “Anführer” noch etwas anderes war. Sie ahnten keinen Augenblick, was Sri Aurobindo schweigend in ihnen bewirkte, und daß sie, ohne es zu wissen, in den Yoga eingetreten waren und daß Sri Aurobindo durch sie und ihre Fußballspielerei oder literarischen Interessen auf eine ganze Jugend einwirkte. Und wie? Das können wir nur verstehen, wenn wir begreifen, daß jeder Mensch eine Zusammenfassung der Welt ist, und sobald ein Punkt des Ganzen berührt wird, alle Punkte der gleichen Kategorie überall auf der Welt berührt werden: Jeder einzelne repräsentiert einen Typus der Menschheit, und wenn ein Typus erobert ist, bedeutet das einen großen Sieg für die Arbeit243. Alles hängt zusammen, wir werden es nie genug verstehen. Bereits 1913 schrieb er einem Schüler in Kalkutta: Ich habe nun auch den zweiten Teil meiner Arbeit begonnen, der darin besteht, Menschen für das neue Zeitalter vorzubereiten, indem ich die Siddhis [Kräfte], die ich erhalte, den Erwählten übermittle. Von diesem Standpunkt aus gesehen, ist unsere kleine Kolonie hier eine Art Saatbeet – ein Labor. Das, was ich hier ausarbeite, wird anschließend draußen verbreitet244.
All dies verlief in vollkommener Stille, man könnte beinahe sagen, in völliger Unwissenheit von Seiten der “Laborsubjekte”, und gerade dieses Unwissen war für Sri Aurobindo der größte Vorteil und die beste Voraussetzung für die Wirksamkeit seiner Arbeit: die “Schüler” hielten sich nicht für solche und wußten nicht, daß sie Yoga praktizierten, und so bauten sie nicht ständig ihre “Ideen” über den Yoga zwischen sich und Sri Aurobindo auf – der größte Widerstand ist wahrhaftig unsere eigene Idee von den Dingen; wir errichten unmittelbar Mauern, und in drei Minuten stellen wir eine ganze Liste auf: “Das darf man tun und das nicht”, “dies ist erlaubt, das ist verboten”, “dies ist yogisch, das ist es nicht”. Da kann nichts mehr durchdringen. Wir glauben, wir tun nichts und können nichts tun, solange wir nicht “verstanden” haben, doch der Großteil der Entwicklung findet dann statt, wenn wir nichts verstehen, ohne zu wissen suchen, und dabei hierhin und dorthin stolpern und im Unbekannten auf die Nase fallen. Wenn wir “verstanden” haben, sind wir von unserem Verständnis eingemauert. Dann erfordert es Hammerschläge, um unsere heiligen Ideen wieder aufzulösen – sie sind härter als unsere Teufelsideen. Die Teufelsideen haben wenigstens die Demut zu wissen, daß sie töricht sind. Bereits 1914, in einem Brief an einen Schüler in Chandernagor, der sich für tantrische Disziplinen interessierte, machte Sri Aurobindo eine außerordentlich erleuchtete Bemerkung, die nach nichts aussah: Wenn die Kraft, die ich jetzt entwickele, ihre Vollendung erreicht, wird sie fähig sein, ihre Wirkungen automatisch zu erzielen, durch jede beliebige methode245 (die Betonung ist von Sri Aurobindo). Sogar durch Fußball. Wir behaupten “dies gehört dazu, und jenes gehört nicht dazu”, “dies ist eine Erfahrung, und jenes ist keine Erfahrung” – aber alles ist die Erfahrung! Alles gehört dazu, alles führt zum Ziel, die Materie selbst transformiert sich durch jedes gewählte Mittel. Nur unsere mentale Erziehung täuscht uns. Wir glauben uns selbst und allem zum Trotz, das nächste Stadium der Evolution werde durch den Intellekt erreicht, und es handele sich um eine Art Super-Intellekt, aber die Realität der Evolution liegt nicht dort! Selbst wenn wir nichts verstehen und niemand auf der Welt irgend etwas versteht, hindert dies den Menschen dennoch nicht daran, zum nächsten Typus überzugehen, wie ja auch alle Schreie der alten Säugetiere das Kommen des menschlichen Typus nicht verhindern konnten. Es ist ein Yoga für das Leben und nur für das Leben246, rief Sri Aurobindo eines Tages aus, als er wieder einmal gefragt wurde, ob er sich nicht zurückgezogen habe, um irgendeine Seligkeit zu erlangen. Nur das Mental erfindet sich Seligkeiten, das Mental fabriziert Disziplinen, das Mental errichtet Paradiese und Mühlen (und auch Höllen), aber das Leben ist ganz und gar nicht selig nach millionenstündigem Meditieren und kilometerlanger Disziplin.
Eine Kraft, die “fähig sein wird, ihre Wirkungen automatisch zu erzielen”… Dieses Wort “automatisch” erscheint zwischen 1912 und 1914 oft von seiner Feder. Sri Aurobindo mußte demnach einen ziemlich universellen Mechanismus berührt haben, einen sehr zentralen Punkt.
Am 1. August brach der Krieg aus.
Der deutsche Kreuzer Emden kam bis in die Wasser vor Pondicherry und schoß einige Granaten über Madras, als müsse Sri Aurobindo das selbst sehen.
Fünfzehn Tage später, an seinem zweiundvierzigsten Geburtstag, brachte Sri Aurobindo die erste Nummer des Arya heraus – er, der nichts lehren wollte –, und innerhalb von sieben Jahren schrieb er Tag für Tag in einem Zug fast sein gesamtes Werk, mehr als fünftausend Seiten, ließ den Ruf nach der Neuen Evolution über die Welt strömen, während das dunkle Brodeln der alten bestialischen Evolution über Europa wütete, sich auf der ganzen Welt ausbreitete und auch sechzig Jahre später kaum zu wüten aufhört, als sei gleichzeitig mit dieser allmächtigen und automatischen Kraft im Herzen “eines jeden Partikels, eines jeden Atoms, eines jeden Moleküls, einer jeden Zelle der Materie” eine bestimmte dunkle, universelle Sprungfeder, eine bestimmte äußerste Finsternis berührt worden – als wäre wahrhaftig die Wurzel des Todes berührt worden. Der große langsame Tod des Todes begann. 1913, ein Jahr zuvor, sprach Sri Aurobindo in einem Brief an den Schüler in Chandernagor, der ihn während seiner Flucht aufgenommen hatte, von einer yogischen Sadhana zur Wiedererlangung des Satya Yuga, des Zeitalters der Wahrheit, und er fügte hinzu: Diese Arbeit muß jetzt beginnen, sie wird aber erst am Ende des Kali Yuga vollendet sein247. Für die ganze Welt bedeutet dies einen Weg des Abstiegs… hinab zur äußersten Sprungfeder. Man kann nicht einen Punkt der Materie berühren, ohne die ganze Materie zu berühren. Man kann den Tod nicht vernichten, ohne in jedem Bewußtsein, in jeder Gruppe, in jeder Nation, das zu vernichten, was die Wurzel des Todes ausmacht. Das, was sich draußen erhebt und draußen wütet und sich draußen überall ausbreitet, ist genau das, was während Jahrtausenden so warm und geborgen unter unseren Weisheiten und Moralvorstellungen, unseren Religionen und Rettungen lebte. Der Dieb wurde jetzt aus seinem zentralen Versteck hervorgejagt, er rennt von Tür zu Tür und fuchtelt mit seinen Bomben und seinem Terror – aber er ist verloren, er kann sich nirgendwo mehr verstecken, es gibt keine Weisheiten mehr, ihm Unterschlupf zu gewähren, keine Scheinwahrheiten mehr, ihn zu schminken: er ist nackt, und er selbst ist der Entsetzte; überall sät er sein großes Werk der Nacktheit und Durchsichtigkeit, bis nichts mehr stehen bleibt, kein versteckter Riß, keine einzige geistige Konstruktion. Dann wird leuchten, was ist.
Das erste Buch, das von seiner Schreibmaschine fließen wird, ist Das Geheimnis des Veda. Hier traf der Anfang des Zyklus mit dem Ende zusammen, das Geheimnis des Anfangs fand sich am Ende wieder. “Mit ihrem Schrei durchbrachen unsere Väter die starken und widerstrebenden Plätze [die unterbewußte Festung der panis oder Diebe der Wahrheit], mit ihrem Schrei zerschmetterten sie den Gebirgsfelsen [den Panzer der Materie]… fanden jene Wahrheit, eben jene Sonne, die in der Dunkelheit harrt…” (I.71.2, III.39.5) “Der Berg brach entzwei, der Himmel vollendete sich” (V.45).
Das Hohe begegnet dem Tiefen, alles ist ein einziger Plan248.
Langsam entstand die Verbindung durch die Schichten der Finsternis, wie auch durch das Unterbewußtsein der Deutschen und sämtlicher Völker, eines nach dem anderen, bis zum Felsengrund, diesem Wahrheitsbewußtsein in der Tiefe der Materie, das die vedischen Rishis “Sonne der Wahrheit”, Savita, nannten, wie die Sonne des Atoms. Philosophie! Im Vertrauen möchte ich Ihnen sagen, daß ich nie, nie, nie ein Philosoph war249… rief Sri Aurobindo aus, als jemand von seinem “philosophischen” Werk sprach: The Life Divine [Das Göttliche Leben] ist keine Philosophie, sondern eine tatsache. Es enthält das, was ich verwirklicht und gesehen habe250. Sieben Jahre lang wird er die “Tatsache” in die Welt strömen lassen, so wie die vedischen Rishis den Gebirgsfelsen mit ihrem “Schrei” behämmerten.
Er hatte übrigens eine eigenartige Weise zu schreiben. Er tippte alles direkt auf seiner tragbaren Remington, ohne einen Fehler – mindestens vierundsechzig Seiten jeden Monat, die die Mutter persönlich zur Modern Press brachte, pünktlich am 15. des Monats. Er las die Korrekturfahnen selbst und verrichtete die ganze Arbeit. “Gewöhnlich traf ich ihn vor seiner Schreibmaschine an,” erzählte sein jüngerer Bruder, Barin, der ihn gerade besuchte, “wie er seine Ideen und Gedanken dahintippte, anstatt sie zu schreiben… Er hatte es sich zur Regel gemacht, jeden Druckbogen fünfmal durchzusehen. In Sri Aurobindo war nichts von diesen lockeren Gewohnheiten, die Dinge auf schäbige Weise zu tun, wie sonst überall in Indien. Er schrieb und arbeitete immer mit unendlicher Sorgfalt und Geduld, sein Handeln entsprang einer reinen, klaren Energie – stetig, geduldig, ohne die geringste Spur von Trägheit oder Hast251.” Selbst Barin, der von nichts wußte (er war der “Bombenhersteller” und von den Engländern auf die Andamanen verbannt worden), konnte nicht anders, als diese “helle Energie” zu bemerken. Aber merkwürdig ist, daß er nicht “ein” Buch nach dem anderen “dahintippte”: er hatte drei Bücher gleichzeitig angefangen – die erste Nummer des Arya enthielt den Anfang von The Secret of the Veda, The Life Divine und The Synthesis of Yoga (allein die beiden letzten Bücher sollten jedes mehr als tausend Seiten lang sein). Daraufhin begann er fünf und sogar sechs Bücher gleichzeitig zu schreiben. Kein Schriftsteller auf der Welt, der auch nur ein wenig weiß, was es heißt zu schreiben, kann sich ein solches Phänomen vorstellen – was das allein an Organisation des Bewußtseins bedeutet, um nur vom äußeren Aspekt der Sache zu sprechen. Selbst wenn wir alle Genies der Welt aneinanderreihen, können wir uns schwerlich vorstellen, wie Plato Phaidros, Der Staat, Die Gesetze und wer weiß was sonst noch gleichzeitig schriebe, oder wie Goethe den Faust, Wilhelm Meister und anderes zur gleichen Zeit zustande brächte. Darüber hinaus schrieb Sri Aurobindo gleichzeitig noch Gedichte und Theaterstücke, die er nicht im Arya veröffentlichte, ganz zu schweigen von seiner umfangreichen Korrespondenz. Nein, das ist nicht die Leistung eines menschlichen Genies, nicht einmal eines übermenschlichen – es handelt sich überhaupt nicht um Genie: hier wirkte eine andere Art von Bewußtsein. Er ließ Stille in seinen Kopf eintreten, erzählte Mutter, und setzte sich an seine Schreibmaschine, dann kam von oben, von höheren Regionen, alles, was geschrieben werden sollte, vollkommen fertig herab, er brauchte nur seine Finger auf der Schreibmaschine zu bewegen: es wurde übertragen252.
Aber das Phänomen ist weitaus interessanter, als man sich vorstellen kann, denn dieses “von oben” ist noch eine Redensart, um sich Kindern verständlich zu machen; wenn wir “von oben” sagen, haben wir noch lange nicht erklärt, wie ein menschliches, das heißt ein mentales Bewußtsein zehntausend Fäden und eine gewisse Anzahl von Sätzen gleichzeitig ziehen kann, und zwar in logischer, zusammenhängender Reihenfolge und noch dazu, ohne sich seines Gehirns zu bedienen! Was ordnet diese Totalität an Wissen oder Inspiration?… “Da oben” ist es ein vollständiges Ganzes, eine homogene Masse kompakten Lichts, man sieht es sehr deutlich, sobald man mit den sogenannten höheren Regionen in Verbindung tritt; es gleicht einer enormen Sphäre aus lebendiger Licht-Elektrizität; aber in die Materie muß es Satz für Satz sickern, es sei denn, man ist wie der Gott Ganesh mit mehreren Armen ausgestattet. Es kommt eins nach dem anderen, außer man verfügt über ein halbes Dutzend gleichzeitig arbeitender Gehirne – und in Sri Aurobindos Fall arbeitete das Gehirn nicht einmal. Wir reden von “Inspiration”, das ist schön und gut, aber die Inspiration benützt etwas: wie zwängt man einen Wirbelwind in einen Trichter? Und welcher Trichter? Noch dazu ein logischer Trichter, denn Sri Aurobindo richtete sich noch immer an Wesen, die mit einem Mental ausgestattet waren: um ihren mentalen Panzer zu sprengen, tat er all das. Mutter gibt eine Antwort auf unsere Frage, aber die Antwort ist vielleicht noch mysteriöser als die Frage, denn sie stellt alles wieder in Frage: Sri Aurobindos Bewußtsein war oben, im Supramental [wieder dieses berühmte “oben”, das in Wahrheit nichts besagt], und diese Art Bewußtsein in seinen Händen formte die Worte. Er wurde sich der Worte erst bewußt, als sie sich bildeten253. Und Mutter fügte hinzu: Vom intellektuellen Standpunkt aus ist der Arya perfekt: Klarheit, Ordnung, Logik. Dennoch hat das Mental nichts damit zu tun. Was also hatte etwas damit zu tun? – Ja, die Hände! Als es sich auf das Blatt Papier in seiner Schreibmaschine übertrug, “erfuhr” er sozusagen, was er gerade schrieb. Das Bewußtsein in seinen Händen, das materielle Bewußtsein, das Bewußtsein der körperlichen Materie leistete die ganze Arbeit. Sri Aurobindo war vollkommen still und transparent, und so drang die Materie ebenso direkt durch den philosophischen Dschungel, wie der sibirische Vogel sich geradewegs auf seine exotische Lagune zubewegt, ohne Umwege und ohne die Strecke je zuvor durchflogen zu haben – seine Flügel aber kennen den Weg sehr gut. Wir können von “Chromosomen” sprechen, falls es uns tröstet, das Problem um einige Generationen zurückzuverlegen. Aber es kommt dennoch ein Augenblick, wo wir mit dem Problem konfrontiert werden. Ein Augenblick, wo wir ganz einfach mit der Materie konfrontiert werden, einem Wissen in der Materie, einem Bewußtsein in der Materie, das ebensogut vollendete Philosophie wie kleine Vögel oder Erdbeben hervorbringen kann, mit einer sekundengenauen Präzision und einer unsere Genies allesamt übertreffenden Intelligenz. Das ist das Wahrheits-Bewußtsein. “Dort oben” bezeichnet einfach die Dicke der zu durchquerenden Schichten (die mentale Schicht hat ihre ganz besondere Dicke), aber wenn alles geklärt ist, “begegnet das Hohe dem Tiefen, alles ist ein einziger Plan”. Im Herzen der Materie bebt ein Orkan von Licht und einige andere noch unbekannte Lieder, die uns für immer über unsere Galeerenarbeit des Mentals hinwegtrösten werden.
Auf diese Weise schrieb Sri Aurobindo neunzehn Bände in einem Zug, in sieben Jahren, und behämmerte die Welt mit seinem Schrei der Wahrheit.
Ein umgedrehter Vulkan, sagte Mutter.
Den Schlußpunkt unter seine “Lehre” setzte Sri Aurobindo, indem er ganz schlicht erklärte, mit seiner so ruhigen Stimme, die Ewigkeiten zu durchqueren schien wie ein Fluß ohne Hast, seiner selbst so sicher, schon so sehr dort, so weit voraus, wie auch Mutter in ihrem Zyklon weit vorausstürmte: Das Supramental bliebe bestehen, auch wenn der ganze Arya ausradiert würde oder nie geschrieben worden wäre254.
Denn das Supramental ist eine evolutionäre Tatsache, ebenso unvermeidlich wie die Entstehung der Pflanzen und Tiere auf der Erde, und selbst wenn niemand daran glaubt, geht doch jeder dorthin. Es ist in der Tat das erste Mal auf der Erde, daß einer von denen, die wir als die “Pioniere” der Evolution bezeichnen, kam, um zu handeln, den Weg zu öffnen, nicht um zu lehren, zu predigen, zu offenbaren. Hier öffnet sich der Weg im Körper und nicht in den Gedanken. Wenn er sich erst einmal in einem menschlichen Körper öffnet, dann öffnet er sich automatisch im Körper der Erde. Daran werden alle Worte nichts ändern. Aber wir können verstehen, sei es auch nur mit unserem Mental, und wir können den Verlauf der Evolution beschleunigen – die Misere verkürzen. Wer weiß, vielleicht werden wir sogar ein ganz neues Interesse an der Welt entdecken und in einer Vielzahl mikroskopischer, materieller Einzelheiten sehen können, wie sich der ungeheure Übergang vollzieht, den die vorangegangenen Arten in Unwissenheit durchmachen mußten. Aber dieses Mal findet ein viel gewaltigerer Übergang statt als jener vom Affen zum Menschen, denn es geht darum, aus der animalischen Evolution herauszutreten: nicht mehr die Materie wird durch aufeinanderfolgende Versuche neue Formen erzeugen, sondern das Bewußtsein selbst wird seine eigenen Formen direkt hervorbringen: dieses in der Materie vergrabene Bewußtsein, das so viele Millionen Jahre und unzählige Instrumente brauchte, um in einem menschlichen Körper zu erblühen. Statt eines Gehirns wird es sich etwas anderem bedienen. Das, was jetzt stattfindet, ist die Schöpfung dieses “anderen Etwas” – da gibt es nichts zu lehren, nichts zu glauben, da gibt es nur zu sehen. Aber wir müssen in die richtige Richtung schauen. Dann wird unser Gehirn seine Aufgabe als Beobachter nützlich erfüllen können – seine wahre Funktion in der Evolution –, bis wir radikal in eine andere Form übergehen. Sri Aurobindos Tausende von Seiten sind im Grunde eine Einladung, uns am Schauspiel zu erfreuen, statt hin- und hergeschleudert zu werden, ohne etwas zu verstehen, und die alten Risse ausbessern zu wollen, die so unverbesserlich sind wie ein Erdbeben. Wir befinden uns im großen Beben des Bewußtseins in der Materie. Als ein Student aus Kalkutta ihn fragte, ob er nicht zu ihnen zurückkehren würde, um “Menschen heranzubilden” – “wir brauchen Menschen” – antwortete Sri Aurobindo: Ich habe meinen Teil geleistet, Menschen heranzubilden, und das ist etwas, das jetzt jeder tun kann, die Natur sorgt selber überall auf der Welt dafür… Meine jetzige Arbeit besteht nicht darin, Menschen heranzubilden sondern den göttlichen Menschen255.
Diesen göttlichen Menschen, der nur das erste Stadium des Übergangs zu dem “anderen Etwas” sein wird (sozusagen das erste Subjekt, das sich selbst oder seinen Körper der Erfahrung zur Verfügung stellt), nannte Sri Aurobindo ebenfalls nach dem vedischen Ausdruck “aryan” (daher der Name Arya seiner Revue), denn zur Zeit der Veden waren die arischen Völker diejenigen, die sich einer besonderen Art Kultur ihrer selbst unterzogen256… Sri Aurobindo betonte sehr, daß der “Arier” in erster Linie ein Selbsteroberer sei (die Wurzel ar bedeutet pflügen, kämpfen): Der Arier ist derjenige, der kämpft und alles überwindet, was in ihm und außerhalb seiner selbst dem menschlichen Fortschritt widersteht. Die Selbstüberwindung ist das oberste Gesetz seiner Natur257. Tatsächlich geht es um eine sehr schwierige Eroberung in unserer eigenen Materie, gegen tausendjährige Gewohnheiten der Evolution. Das ist ein Yoga geschaffen für Eroberer und Helden. Das ganze Ausmaß des Problems breitet Mutter klar vor uns aus, die wie immer direkt ins Herz der Frage dringt: zur Eroberung des Todes. Denn sie sagt: Der Tod ist keine unvermeidliche Sache, er ist ein Unfall, der sich bis heute immer wieder ereignet hat (der sich jedenfalls allem Anschein nach bis heute immer wieder ereignet hat), aber wir haben es uns in den Kopf gesetzt und unseren Willen darauf gerichtet, diesen Unfall zu besiegen und zu überwinden. Das ist jedoch ein so schrecklicher, ein so ungeheurer Kampf gegen alle Naturgesetze, gegen alle kollektiven Suggestionen, gegen alle Gewohnheiten der Erde, daß es besser ist, dieses Kampffeld gar nicht zu betreten, wenn man nicht ein erstklassiger Krieger ist, den nichts erschreckt. Man muß ein absolut unerschütterlicher Held sein, denn bei jedem Schritt, in jeder Sekunde gilt es, eine Schlacht gegen alles Bestehende zu liefern. Folglich ist es nicht sehr angenehm. Sogar auf individueller Ebene ist es ein Kampf gegen sich selbst, denn wenn ihr wollt, daß euer physisches Bewußtsein einen Zustand erreicht, der die physische Unsterblichkeit erlaubt, müßt ihr bedingungslos frei sein von allem, was jetzt das physische Bewußtsein darstellt. Das bedeutet einen Kampf in jeder Sekunde. Alle Gefühle, alle Wahrnehmungen, alle Reflexe, alle Anziehungen, alle Abneigungen, alles, was existiert, alles, was den Stoff unseres physischen Lebens ausmacht, muß überwunden, transformiert und von sämtlichen Gewohnheiten befreit werden. Das ist ein Kampf in jeder Sekunde gegen Tausende und Abertausende von Feinden258. Sri Aurobindo zählte in seiner ersten Nummer des Arya die drei Eroberungen des Ariers folgendermaßen auf: Er triumphiert über die Materie und den Körper und akzeptiert nicht wie der gewöhnliche Mensch deren Trägheit, deren Gewicht, deren sterbliche Routine und Grenzen… Er triumphiert über das Leben und die vitalen Energien, indem er es ablehnt, von ihren Begierden dominiert und von Leidenschaften versklavt zu sein… Er triumphiert über das Mental und dessen Gewohnheiten; er lebt nicht in einem Schneckenhaus des Unwissens und ererbter Vorurteile, Allgemeinideen und angenehmer Ansichten259… Ein ganzes Programm.
In einem seit zweitausendfünfhundert Jahren dem Ideal der ekstatischen Beschauung hingegebenen Land führte Sri Aurobindo mit seinem auf die Umwandlung der Materie gerichteten Yoga gleichsam das Schwert ein, wie er es auch den pazifistischen Kongreß-Abgeordneten gebracht hatte, welche die Unabhängigkeit mit politischen Reden zu erreichen suchten. Er übertrug die “bewaffnete Revolution” auf seinen Yoga, er suchte die “Unabhängigkeit” bis in den Körper. Die “Gewaltfreiheit”, die man als das höchste Allheilmittel pries, sehen wir heute auch in Indien nicht verwirklicht, und die verdrängte Gewaltsamkeit springt uns an die Kehle, quillt in reines Linnen gekleidet aus den Tiefen dunkler Eingeweide, nur weil wir nicht den Mut hatten, weit genug hinabzusteigen, um den Krieg dort zu führen. Nein, was Indien befreite, war nicht der bloße Verzicht auf äußere Gewalt, es war die von Sri Aurobindo in Bewegung gesetzte Kraft am Anfang des Jahrhunderts… Es gibt keinen wahren Frieden, solange das Herz des Menschen den Frieden nicht verdient: das Gesetz Vishnus [der König der Liebe] kann den Sieg erst davontragen, wenn die Schuld an Rudra [Gott der Zerstörung] zurückerstattet wurde. Sich also abwenden, um einer noch nicht entwickelten Menschheit das Gesetz der Einheit und Liebe zu predigen? Gewiß, Erzieher der Liebe und Einheit muß es geben, denn auf diesem Weg wird die höchste Erlösung kommen. Aber solange der Zeitgeist im Menschen nicht bereit ist, kann das Innere und Höchste nicht die Oberhand über die augenblickliche und äußere Realität gewinnen. Christus und Buddha kamen und gingen, aber es ist noch immer Rudra, der die Welt im Griff hält. Unterdessen ruft das ungestüm fortschreitende Mühen der Menschheit, gequält und unterdrückt von Mächten, die von der egoistischen Kraft profitieren und ihr dienen, nach dem Schwert des Helden und den Worten des Propheten des Kampfes260.
Als sein Ashram noch nicht einmal gegründet war, während des großen Krieges, erklärte Sri Aurobindo: Ich brauche starke Menschen, keine gefühlsduseligen Kinder261. In der Tat müssen wir wie gehärteter Stahl sein, um in das Geheimnis des Körpers hinabzusteigen.
Eine völlige Unbewegtheit. Nichts regte sich in Sri Aurobindo, kein Beben der Gedanken, keine einzige emotionale Vibration – Sri Aurobindo war die vollständige Unpersönlichkeit, wie die Luft eines hohen Berges, rein, kristallklar. Und innen dieser Vulkan. Ein unbewegter Vulkan. Wahrhaftig die Vereinigung zweier Pole: absoluter Dynamismus in absoluter Unbewegtheit, als ob der Dynamismus selbst aus dieser Bewegungslosigkeit hervorginge; denn dergestalt ist das supramentale Bewußtsein: alle Gegensätze wandeln sich zu etwas Drittem, das ihre wahre Kraft ist.
Wie weit er sah!… Im Januar 1910, kurz vor seiner Flucht nach Chandernagor, zu einer Zeit, da Europa und die Welt noch im Halbschlaf lagen, die chinesische Revolution nicht einmal begonnen hatte, die Zaren noch stark waren, Wilhelm II heimlich irgendwelche “kolonialen Abfindungen” suchte und Eduard VII, der “Friedensstifter”, auf seinem kaiserlichen Thron Indiens saß (wirklich, wenn man sich die Liste historischer “Friedensstifter” anschaut, fragt man sich, wie es überhaupt je zu irgendeinem Krieg kommen konnte), machte Sri Aurobindo diese erstaunliche Erklärung oder vielmehr diese Vorhersage gegenüber einem verwunderten Korrespondenten der wöchentlichen Zeitschrift “India”: Seit 1907 leben wir in einem neuen Zeitalter, das für Indien voller Hoffnung ist. Nicht nur Indien, sondern die ganze Welt wird plötzliche Umwälzungen und revolutionäre Änderungen sehen. Das Hohe wird niedrig und das Niedrige hoch werden. Die Unterdrückten und Besitzlosen werden erhoben sein. Die Nationen und die Menschheit werden von einem neuen Bewußtsein und einem neuen Denken animiert sein, neue Bemühungen werden gemacht, um neue Ziele zu erreichen. Inmitten dieser revolutionären Änderungen wird Indien frei werden262. Siebenunddreißig Jahre später sollte es frei sein. Welch eigenartiges Feuer brannte in ihm? Zu dieser Zeit unterzeichnete er alle Briefe mit dem Namen Kali, der Kriegerin der Welten, der mächtigen Mutter, die das Feuer der Welt und der Menschenherzen schürt, denn sie liebt die Menschen, aber nicht in ihrem engen Tugendhaft-Sein oder makellosem Weiß, sondern in der aufrichtigen Wahrheit ihrer Herzen und in einer Größe, die weiter ist als alle unsere Humanismen. Denn die Mutter, sie, die in Indien die Mutter, die Shakti genannt wird, sie, der Sri Aurobindo in seinem Handeln, in seinen Werken, sowie in seiner Stille diente und die er verehrte, sie ist in Wahrheit die eigentliche Kraft, das mächtige Feuer, das die Welten zur höchsten Vollendung ihrer Evolution bewegt. Ohne sie können wir jahrtausendelang meditieren und demokratische und elektronische Paradiese erfinden und uns ad infinitum und ad nauseam im Kreis drehen… bis sie unsere Paradiese und unsere Tugenden und unsere Winzigkeit zerbricht, um uns zu zwingen, das göttliche Leben auf der Erde und den göttlichen Menschen in einem Körper zu schaffen. In ihr ist eine unwiderstehliche Intensität, die ungeheure Leidenschaft einer verwirklichenden Kraft, eine göttliche Gewalt, die vorwärtsstürmend alle Grenzen, alle Hindernisse überwindet. Ihre ganze Göttlichkeit bricht im Sturm der glorreichen Handlung aus; sie ist für Geschwindigkeit, für den sofort wirksamen Verlauf, den direkten und raschen Schlag, den frontalen Ansturm, der alles vor sich hinwegfegt… Denn sie ist die Kriegerin der Welten und weicht vor keiner Schlacht zurück… Unbändig ist ihr Geist, hoch und weit wie der Flug des Adlers reichen ihre Schau und ihr Wille; ihre Schritte sind geschwind auf dem hinaufsteigenden Pfad, und ihre Hände sind zum Schlagen und zum Retten ausgestreckt. Denn sie ist auch die Mutter, und ihre Liebe ist ebenso intensiv wie ihr Zorn… So wie ihre Wut furchtbar ist für den Feind und die Heftigkeit ihres Druckes schmerzhaft für den Schwachen und Ängstlichen, so wird sie geliebt und geehrt von den Großen, den Starken, den Edlen, denn sie fühlen, daß ihre Schläge den Widerstand ihrer Materie hämmern und zu vollkommener Energie und Wahrheit transformieren… Ohne sie würde das, was in einem Tag vollbracht wird, Jahrhunderte dauern; ohne sie mag die Wonne umfassend und tief oder sanft und zart und schön sein, aber sie verlöre die flammende Freude ihrer äußersten Intensitäten… Deshalb ist die siegreiche Kraft des Göttlichen mit ihr, und durch die Gnade ihres Feuers und ihrer Leidenschaft, ihrer Geschwindigkeit kann die große Vollendung jetzt stattfinden und nicht erst nach dem Grab263.
Sie ist die Kraft, die immer das größtmögliche Gute aus einem scheinbar Bösen hervorbringt264, sagte er in einer der ersten Nummern des Arya, zum selben Zeitpunkt, als sich in Europa der mörderische Stellungskrieg abspielte. Dieser kleine, so einfache Satz enthält eine ganze Welt – die ganze Welt vielleicht. Jeder kann diese Realität in seinem eigenen Bewußtsein nachprüfen. Geblendet vom Äußeren, vom Kampf, von der Notwendigkeit zu wählen und zu handeln, meistens falsch zu wählen und zu handeln, und noch öfter zu irren und Fehler zu machen, manchmal sogar Schmerz zuzufügen und zu zerstören, sehen wir nicht, wie in jedem Augenblick und in der geringsten Einzelheit jeder unserer Irrtümer die geheime Tür eines unerwarteten Guten war, jeder falsche Schritt einen notwendigen Fortschritt brachte, wie jeder Schmerz, jede Dunkelheit ein umfassenderes Licht, ein klares Feld vorbereiteten und wie alles in einer unermeßlichen, schrecklichen aber früchtebringenden Verschwörung heimlich, unerschütterlich und sorgfältig unsere eigene Erweiterung und die Erweiterung der Welt plante. Manchmal hält man dann eine Sekunde lang inne, der Spiegel wendet sich, und man sieht alles von der anderen Seite – die dunkle Hälfte der Wahrheit265, sagte Sri Aurobindo. “Er wurde Wissen und Unwissen, er wurde Wahrheit und Unwahrheit”, sagt die Upanischade266 – und man sieht, wie alles bis in die kleinste Einzelheit eine einzige Wahrheit in Bewegung ist, ein einziges Gutes, das sich vollendet, eine einzige wunderbare Kraft, die fortwährend umgestaltet, fortwährend befreit, die jeden Tropfen Gift in seinen Nektar verwandelt… wenn wir es nur verstehen, in die richtige Richtung zu blicken. Sri Aurobindo ist wahrhaftig derjenige, der kam, um uns zu sagen, wie man in die richtige Richtung blickt. Dort ist das Licht in der Dunkelheit, die Hoffnung überall, das Positive in allem, der Sinn von allem. Alles ist darin enthalten: kein Atom entgeht diesem totalen Sinn, kein Schatten des Schmerzes bleibt ohne sein tiefes Licht, kein Irrweg ohne seine unfehlbare Richtung. Es ist die unermüdliche Umwandlung. Es ist die Wahrheit, die alles in ihre Arme schließt, denn alles ist sie auf dem Wege zu sich selbst: die Unwahrheit ist eine Erfindung unserer Augen, das Böse ist eine Erfindung unserer Augen wie der Schmerz, und in Wirklichkeit ist der einzige Schmerz nur der, nicht in die richtige Richtung zu blicken, denn könnten wir eine einzige Sekunde lang sehen, was die Welt wirklich ist, frei von unserer falschen Sicht von Gut und Böse, Ja und Nein, dann wären wir für immer geheilt, und die Welt, ohne auch nur eine Sekunde dieser gegenwärtigen grausamen und dunklen Minute zu ändern, wäre vollkommen anders. Ein Lügenschleier verdeckt eine unvorstellbar schöne Realität. Vielleicht der Schleier des Mentals. Sri Aurobindo ist derjenige, der entschleiert. Sri Aurobindo bedeutet die Änderung unserer Sicht der Welt. Sri Aurobindo ist die Schau des Ganzen, das Umfassen von allem. Und diejenige, der er dient, ist die große Umwandlerin, die unsere unermüdlichen Torheiten nimmt und sie unermüdlich in ihren Gehalt an Licht verwandelt, unsere unermüdlichen Fehltritte in ihre unerschütterliche Richtung, unsere unermüdlichen Miseren in die einzige Kraft, die uns eines Tages mit dem Mut erfüllen wird, den Spiegel zu zerschlagen und die Freude der Welt zu wagen, weil wir gesehen haben, was wirklich ist. Sri Aurobindo kam, nicht um eine Hoffnung zu bringen, sondern eine Gewißheit der Herrlichkeit, der die Welt entgegengeht. Die Welt ist kein unglücklicher Zufall, sie ist etwas Wundervolles, das seinem Ausdruck entgegengeht.
Nein, Sri Aurobindo ist keine “Lehre” – keine Lehre! rief Mutter aus, sie, die so sehr fürchtete, daß eine neue Religion aus Sri Aurobindos und ihren eigenen Worten entstehen würden: Die Menschen sind so verrückt, daß sie jede beliebige Sache in eine Religion verwandeln können… Ich will keine Religion, Schluß mit den Religionen! – eine andere Art des Sehens. Der große Übergang zur nächsten Spezies fängt mit einem Blick an. Von einer Spezies zur anderen überzugehen, besteht nicht in einer Strukturänderung sondern in der Bewußtseinsänderung: die Raupe und der Schmetterling betrachten ein und dieselbe Welt. Und sobald einige wenige Individuen anfangen, auf die andere Art zu sehen, wird die große Ansteckung der supramentalen Sicht beginnen; dann werden wir aus dem Alptraum des Mentals herauskommen, wir werden anders atmen, und wir werden unsere Welt anders bauen, weil wir sie anders sehen werden. Schließlich wird das Bewußtsein selber diesen Körper übernehmen, um ihn neu zu gestalten entsprechend seiner Sicht der unsterblichen Schönheit.
Somit werden wir nirgends yogische oder spirituelle Schemen in Sri Aurobindo finden: alles ist Teil seines Yogas, es gibt nicht nur eine Richtung, sondern Millionen von Richtungen und Sinn auf allen Seiten, sei es oben, unten, rechts oder links, und jeder Schritt ist ein Teil des Weges – alles ist der Weg. Aber wir müssen sehen. Was man Sri Aurobindo immer vorwarf, sagte Mutter, war, daß er uns nicht sagte: tue dies oder jenes. Doch das war genau, was mich spüren ließ, daß hier die Wahrheit liegt! Die Menschen sind unfähig zu leben, ohne die Dinge auf ein mentales System zu reduzieren, aber sobald etwas mechanisiert wird, ist es vorbei. Diese Mechanisierung mag sehr gut sein, für den, der sie fand – es war sein Schema. Aber es ist nur für ihn gut. Ich ziehe es vor, keinerlei Schemata zu haben! Nachdem er diese Tausenden von Seiten im Arya geschrieben hatte, pflegte Sri Aurobindo seinen Schülern zu sagen, er habe all das niemals in der Absicht geschrieben, sie etwas zu “lehren”, sondern um ihr Mental zu beruhigen. Hat sich das Mental einmal beruhigt, kann man zur Handlung schreiten – zur wahren mikroskopischen Sicht in jedem Augenblick, um den Sinn des Ganzen ausfindig zu machen.
In diesem Zeitalter, in dem wir in Wolframhelmen auf toten Monden einherschreiten und die Planeten auf vorberechneten Bahnen umstreifen, in dem sich sogar die Zukunft als eine Wahl zwischen dem einen mehr oder weniger verschlingenden Mechanismus oder einem anderen präsentiert, lädt uns Sri Aurobindo wirklich ganz einfach zu unserem eigenen Abenteuer in unserem eigenen Körper und in den Chromosomen der Spezies ein. Nein, nein, nein! keine großen Probleme! rief Mutter aus. Sri Aurobindo kam, um der Welt zu sagen, daß der Mensch nicht die letzte Schöpfung ist, daß es eine andere Schöpfung gibt – und er sagte dies nicht, weil er es wußte: er sagte es, weil er es spürte. Und er begann, es zu verwirklichen. Wohlgemerkt kann es in seiner Einfachheit von sehr großer Schönheit sein, eine Schönheit, die diejenigen verstehen können, die Kummer haben, die diejenigen fühlen können, die des Lebens müde sind, diejenigen, deren Köpfe von all diesen Vernunftgründen und Dogmen zerspringen, diejenigen, die es müde sind, zu viel und zu gründlich zu denken – ich selbst bin die erste, nichts ermüdet mich mehr als Philosophen!
Sri Aurobindo schrieb 1915 in einem Brief: Meine gegenwärtige “Lehre” ist, daß die Welt sich auf einen neuen Fortschritt, eine neue Evolution vorbereitet. Welche Rasse oder welches Land auch immer die Linie dieser neuen Evolution erfaßt und verwirklicht, wird der Führer der Menschheit sein. Er dachte dabei wohl an Indien, wenn es nicht bloß die europäische Politik nachahmt, aber er dachte auch an Frankreich, dem er sich “wie einer zweiten Heimat” verbunden fühlte. Im Hinblick auf seine intellektuelle und geistige Fähigkeit, sagte Mutter, wird Frankreich an dem Tag, da es wirklich spirituell berührt wird, etwas Außergewöhnliches sein. Sri Aurobindo liebte Frankreich sehr. Ich selber bin dort geboren – das hat gewiß einen Grund. In meinem Fall weiß ich recht gut warum: es war notwendig in Anbetracht der Kultur, des klaren, präzisen Denkens, der Verfeinerung der Gedanken, des Geschmacks und der Geistesklarheit – es gibt kein zweites solches Land auf der Welt. Es gibt keines. Sri Aurobindo liebte Frankreich aus demselben Grund sehr. Er sagte, daß er während seiner ganzen Zeit in England Frankreich viel mehr liebte als England!… Das hat einen Grund.
Vielleicht wird Frankreich oder ein anderes Land fähig sein, den Grund herauszufinden, und “die Linie” dieser neuen Evolution erfassen.
Dann finden wir vielleicht das wieder, was wir seit einer gewissen Revolution vergessen haben, die das Antlitz Europas veränderte und die wahrhaftig das erste ferne Glockengeläute der neuen Welt war. Denn es scheint einleuchtend, daß das Land der klaren Intelligenz das erste sei, genügend Klarheit zu haben, um den veralteten König des Mentals zu entthronen und die Revolution des Bewußtseins zu beginnen.
Das Gesicht der Welt wäre verwandelt.
Ein einziges Volk, das den Mut hätte, gegen das Mental und gegen alle seine Mittel und Institutionen in Streik zu treten.
Als er den Arya lancierte, sah Sri Aurobindo tausend Exemplare für Indien voraus, und er suchte 250 Abonnenten in Frankreich.
16. Kapitel: Eine einzige kleine reine Zelle
Sie besuchte ihn jeden Nachmittag auf der großen Veranda des Guest-House, und er lehrte sie Sanskrit; wir können sie uns vorstellen, über diese schönen, wie von Kraft erfüllten Schriftzeichen gebeugt, und die Stille zwischen ihnen beiden. Oder praktische Mitteilungen; Mutter war immer praktisch, alles übrige bedurfte keiner Worte. Sie hatte mit Sri Aurobindos “Jungen” und einigen Fußballspielern des “Sportclubs”, jungen Tamilen aus Pondicherry, eine kleine Gruppe geformt: L’Idée Nouvelle. Die neue Idee. Man kann sich kaum einen bescheideneren Anfang für dieses “Labor” vorstellen, und wie erstaunlich muß es gewesen sein zu sehen, wie Sri Aurobindo, der revolutionäre Anführer – der nur ein Wort hätte zu sagen brauchen, um ganz Indien hinter sich zu haben und Millionen von Menschen bereit, seinen Anweisungen zu gehorchen –, sich über diese Handvoll Jungen beugte, die “wie jedermann” waren. Vielleicht ist dies eine weitere der Illusionen, die wir zerstören müssen, um auf die “andere Art sehen” zu dürfen: dieses Unterscheiden zwischen “großen” und “kleinen” Dingen. Wir erkennen nicht, wie sehr alles absolut wichtig ist und wie die geringste Geste durch die Welt widerzuhallen vermag, wenn sie vollkommen die Geste ist – wenn sie ist. Das Leben spielt sich überhaupt nicht so ab, wie wir es denken, da ist eine völlig andere Art zu erlernen: die eine Art. Dann erkennen wir, daß ein Punkt, der hier in dieser Banalität leuchtet, das einzig Leuchtende ist inmitten einer Million über die Welt verstreuter verzweifelter Gebärden und Hunderten großartigen Ereignissen, die nur ein vorüberwehender Windhauch sind. Wir wissen nicht, was zählt. Wir wandern in einem großen Wald, dessen Zeichen wir nicht kennen, und wir ahnen nicht, ob der kleine Kieselstein dort nicht womöglich der erste Anhaltspunkt eines unvorstellbaren Schatzes ist – könnten wir uns den Schatz vorstellen, wäre er schon da. Wir wandeln die ganze Zeit auf dem Schatz, aber nur in seltenen Augenblicken sind wir uns dessen bewußt. Wenn uns das immerzu bewußt ist, werden wir eine neue Welt betreten, die dennoch die gleiche sein wird. Sri Aurobindo und Mutter ließen eine Handvoll ganz “gewöhnlicher” Jungen die Kieselsteine der neuen Welt entdecken – aber jedermann ist unendlich gewöhnlich; außergewöhnliche Leute sind nur in der alten Welt außergewöhnlich, wie die hübschen Ming-Vasen der mentalen Dynastie. Der Schatz der neuen Welt steckt im Allergewöhnlichsten, das lediglich noch nicht außergewöhnlich ist. Merkwürdigerweise reagierten die Christen des Pondicherry “Sportclubs” am besten, besser als die einheimischen Hindus, bemerkte Nolini267 – so manche geheiligte Vasen sind zu zerbrechen, bevor wir ein Anrecht auf das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen erhalten.
Auch Neuigkeiten vom Krieg. Es ist eigenartig, wie mehrere Dinge, die in meinem Kopf hämmerten, sich später verwirklichten, als ich die Idee völlig fallengelassen hatte, erzählte Sri Aurobindo einem Schüler. Ich hatte die Idee, daß Frankreich Elsaß-Lothringen wieder zurückgewinnen müsse. Es war geradezu eine fixe Idee in mir, und als ich aufhörte, daran zu denken, ergab es sich268. Ja, Sri Aurobindo liebte Frankreich, und er, der nie etwas von seinen früheren Leben verlauten ließ (wenn man ihn fragte, was er in seinen früheren Leben tat, antwortete er lakonisch: carrying on the evolution269 – “die Evolution weiterführen”), erzählte Mutter, daß er ein französisches früheres Leben gehabt habe und daß die französische Sprache ihm wie eine spontane Erinnerung gekommen sei. So ging sie jeden Tag, um “die Depesche” an der Tür des Regierungsgebäudes zu lesen. Sri Aurobindo war von Landkarten umgeben; er folgte Schritt für Schritt dem Vorstoß Moltkes an der Marne. Als die Deutschen auf Paris zumarschierten, sagte er, fühlte ich, wie etwas in mir sagte: “Es darf nicht sein, daß sie Paris nehmen!” Und während ich eine Landkarte studierte, fühlte ich beinahe den Ort, wo sie gestoppt werden würden270. Das gleiche wird er auch während des Zweiten Weltkrieges tun. Er “fühlte”: die Landkarte unter seinen Fingerspitzen war wirklich die Marne unter seinem Finger, in einem Körper, der nicht mehr vor kleinen physischen Grenzen haltmachte und sehr gut mit der Kontinuität der Materie vertraut war. Es bleibt uns noch, dieses enorme Wahngebilde von der Trennung der Körper zu zerstören, um die Welt auf eine andere Weise sehen und berühren zu dürfen – wir sind noch wie Neulinge der Materie, wir wissen nicht, was uns noch alles zu entdecken bleibt, wenn wir erst einmal aufhören, vergeblich an unseren Maschinen herumzudrehen, die uns nur unsere eigenen Mauern näherbringen. 1914 notierte Mutter ebenfalls in ihrem Tagebuch: Die Arbeit an der Substanz der Körperzellen ist wahrnehmbar: Sobald sie von einer großen Kraftmenge durchdrungen werden, scheinen sie sich auszudehnen und leichter zu werden. Aber das Gehirn ist noch schwerfällig und eingeschlafen271… Fünfzig Jahre später machte Mutter mir gegenüber dieselbe Bemerkung: Die Gehirnzellen bleiben die am wenigsten empfänglichen, beinahe die undurchlässigsten, als hätten sie von allen Zellen die meiste Mühe, sich zu universalisieren, während die anderen sich spontan überall ausbreiten. Wahrscheinlich weil die Gehirnzellen besonders “mentalisiert” und von der mentalen Substanz überdeckt und durchdrungen wurden, während die anderen Zellen, die sozusagen “natürlicher” sind, die Einheit der Materie sehr direkt wahrnehmen. Wie Sri Aurobindo begann sie sich überall auszubreiten: Es scheint mir, als habe ich keine Grenzen mehr, notierte sie nur einige Tage, nachdem sie von Sri Aurobindo die mentale Stille erhalten hatte, ich habe keine Wahrnehmung des Körpers, der Empfindungen, der Gefühle oder Gedanken mehr… Eine klare, reine, stille Unermeßlichkeit ganz von Liebe und Licht durchdrungen und von einer unsäglichen Glückseligkeit erfüllt ist das einzige, was mir im Augenblick als mein Selbst erscheint272. In welchem Ausmaß das Mental eine Mauer ist, werden wir nie genug erkennen. Wir leben buchstäblich unter einer künstlichen Haube, die uns von der gesamten Welt abtrennt – das ist wahrscheinlich der Grund, warum wir so viele Maschinen erfinden mußten, um das zu ersetzen, was eine kleine Zelle sehr direkt und ganz natürlich weiß… und auf sehr liebenswürdige Weise. Ohne Komplikationen. Im Grunde müssen wir noch lernen zu leben. Es gibt im Körper unvorstellbare und unbekannte Schätze273.
Wenn wir aber denken, Mutter und Sri Aurobindo hätten übernatürliche Kräfte, wären wir völlig abseits der Tatsachen – sie benutzten die menschlichsten Kräfte, die es gibt, aber ein klares Menschliches. Als es vollkommen klar geworden war, war es überhaupt keine “Kraft” mehr, sondern ganz einfach das Sein, wie die reine Liebe. Allmächtig. Unendlich. Das entfaltete Amazonien, der natürliche Schatz überall.
Das Leben ging ganz “banal” weiter. Sie hatte sogar die Idee gehabt, einen Laden zu eröffnen, um Sri Aurobindos chronischem Geldmangel abzuhelfen, den Aryan Stores, ein wahrer Trödelladen in der Mitte des Marktes, rue Dupleix, wo einer der Jungen mit Enthusiasmus trockene Erbsen nebst Seife, Kosmetikartikeln und sogar Kleidern verkaufte, die im liebenswerten Staub von Pondicherry an einer Schnur baumelten. Sie sollten damit übrigens kein Vermögen erwerben, da der brave Junge es nicht lassen konnte, aus Mitleid auf Kredit zu verkaufen, ohne sein Kapital je wieder zurückzubekommen – welches darüber hinaus Mutters Kapital war. Aber Sri Aurobindo betrachtete das Ganze wie alles übrige, wie die Schlacht an der Marne, während Mutter ihre ersten Erfahrungen mit geschäftlicher und finanzieller Organisation machte, die mit dem zukünftigen Ashram ein beträchtliches Ausmaß annehmen sollte. Sie konnte einen Genius für Geschäfte haben wie für Musik oder den Umgang mit Regen und Stürmen – für sie war alles dasselbe: es handelte sich um zu beherrschende Kräfte, und die Kräfte des Geldes mußten beherrscht und transformiert werden wie alle anderen Kräfte vom Geschlecht bis zum Nirvana. Nichts lag “außerhalb”. Durch einen Laden kann man ebensogut auf die Welt des Geldes einwirken, wie man durch eine Landkarte auf ein Schlachtfeld wirkt – der Magier aus früherer Zeit tat nichts anderes, als er ein Stück Fingernagel seines Feindes nahm, um diesem einen Fluch aufzuerlegen. Der Teil enthält das Ganze. Um an der Welt zu arbeiten, bedarf es keiner “großen Dinge”, aber es bedarf reiner Instrumente – und selbst ihre “Unreinheit” ist Teil der allgemeinen Arbeit und Richtigstellung, wie die Dummheit des Seife-Trockenerbsen-Unterhosen-Verkäufers. Mutter und Sri Aurobindo werden eine Menge anderer Dummheiten zu “berichtigen” haben… Oh! eine bescheidene Arbeit, sehr bescheiden, man darf nicht größenwahnsinnig sein, wird Mutter immer wiederholen. Sri Aurobindo hörte sich die Berichte oder vielleicht die Geschichten des Aryan Stores an, während er die Probedrucke des Arya korrigierte und “Das Göttliche Leben” zu Ende schrieb – das göttliche Leben beginnt bei der ersten berichtigten Dummheit, und Gott weiß, es gibt Millionen davon jeden Tag in unseren Worten, Gesten und Blicken, es wimmelt geradezu von Ungenauigkeiten, die das reine Fließen der Shakti verhindern – der Vogel macht keine ungenaue Bewegung, er geht geradewegs auf sein Ziel zu. Oder es konnte geschehen, daß Sri Aurobindo seine Schreibmaschine verließ, um Amrita, den jungen Tamil-Schüler zurechtzuweisen, der den Schriftsetzer der Modern Press ausschimpfen wollte, weil dieser etwas betrunken und wie immer verspätet mit den Korrekturbögen erschien: Sie haben nicht das Recht, in sein persönliches Leben einzugreifen, protestierte Sri Aurobindo. Er ist vollkommen frei zu trinken. Er hat lediglich die Termine des Vertrags einzuhalten und die Korrekturbögen regelmäßig abzuliefern274. Sehr typisch für Sri Aurobindo: kein Eingreifen. Seit einigen tausend Jahren verteilen die Puritaner ihre guten Ratschläge auf der Welt – aber es erfordert wirklich etwas anderes, damit die Dinge sich ändern. Sri Aurobindo änderte das Innere, er ging geradewegs zur Materie – in aller Stille. Er ging dorthin, wo die Zelle auf die exakte Schwingung antwortet, diejenige, die der Arya in seine Hände fließen ließ. Eine kleine reine Zelle in einem einzigen Winkel der Materie, ja, das vermag die Welt zu ändern. Alles übrige ist ein riesiges Gedankengebäude, von dem man keinen einzigen Faden berühren kann, ohne in eine Million Fäden verwickelt zu werden, die alle gleich klebrig sind vor lauter Lügen – im Mental ist alles verlogen, sogar die Wahrheit lügt. Und die “Lichtbringer” sind genauso klebrig von Lügen wie die anderen. Eine einzige… kleine… reine… Zelle. Das ist alles. Die Kraft ist in den unbewußten Tiefen der Materie zugegen als die unwiderstehlich Heilende275… trug Mutter 1914 in ihrem Tagebuch ein.
Sie begann ungeduldig zu werden. Nein, Mutter war nicht – oder noch nicht – wie Sri Aurobindo: sie war der Orkan, der alles auf seinem Pfad wegfegen möchte. Sie sah diesen Planeten leiden, sie sah die niedergemetzelten Menschen hier und dort, die schändliche Lüge überall, sogar in Richard mit seinen noblen Philosophien, und sie hatte das Geheimnis der Heilung berührt, gefühlt, gesehen, hier in der Materie: Die unermeßliche Allmacht Deiner Kraft ist hier, bereit sich zu manifestieren, sie erwartet und schafft die günstige Stunde, die günstige Gelegenheit276… Am liebsten hätte sie das ihrer eigenen Materie entrissen, um die Stunde zu beschleunigen: Aber warum schonst Du die Animalität des Körpers? Ist es notwendig, ihm Zeit zu lassen, sich an die wunderbare Komplexität, die mächtige Unendlichkeit Deiner Kraft anzupassen? Ist es Dein Wille, der es vorzieht, sanft und geduldig zu sein, nichts überstürzen zu wollen, sondern den Elementen die Muße zu lassen, sich anzupassen… Ich will damit sagen: Ist es besser so, oder ist es nicht anders möglich? Ist es eine besondere Unfähigkeit, die Du nachsichtig duldest, oder ist es ein allgemeines Gesetz, ein unvermeidlicher Teil all dessen, was transformiert werden muß277? Noch wußte sie nicht, welche Welt man berührt, wenn man eine einzige kleine Zelle berührt, und wie man durch die gesamte Materie wirken muß, um wirklich und vollständig berechtigt zu sein, eine einzige kleine Zelle zu ändern. Nein, sie wußte überhaupt noch nicht, welchen langen, dunklen Weg sie öffnen sollte, Schritt für Schritt, Tod für Tod, wie winzige, aufeinanderfolgende Tode in ihrem eigenen Körper, um der Welt den Weg weit offenzulegen. Warum soviel Nachgiebigkeit? Wir müssen entweder triumphieren oder zugrundegehen! Sieg, Sieg, Sieg! Wir wollen den Sieg der Transformation278! Und sie fragte: Wirst Du eine plötzlich durchschlagende Transformation herbeiführen, oder wird es noch ein langsamer Vorgang sein, in dem Zelle für Zelle ihrer Nacht und ihren Grenzen entrissen werden muß279? Noch wußte sie nicht, was sie noch neunundfünfzig Jahre lang alles durchmachen mußte, sie, die mich eines Tages im Jahr 1973 fragte: Wieviele Jahre noch bis zu meinem hundertsten Geburtstag? – “Fünf Jahre, liebe Mutter” sagte ich. – Fünf Jahre dieser Hölle! Neunundfünfzig Jahre dieses unaufhörlichen Orkans, der unermüdlich gegen die Türen der Materie stieß… bis zu dem Tag, wo sie die Hände vollständig öffnete, nichts mehr wollte, nichts mehr vermochte… Was Du willst, was Du willst… Und vielleicht öffnete sich in diesem Augenblick die Tür. Sie hatte das Ende ihres furchtbaren Amazoniens erreicht, der Weg war gebahnt, der Orkan hatte sich gelegt. Es war hier.
Wenn es darum geht, von der Amphibie zum Säugetier überzugehen, muß weder die Philosophie der Amphibie noch ihre Moralität geändert werden sondern ihre Zelle.
Wir müssen die neue Form entdecken, welche die Manifestation ermöglicht280. Dies war am 18. Juni 1914. Vielleicht war es zum ersten Mal auf der Welt, daß ein mit einem menschlichen Körper ausgestattetes Wesen jemals von der gewollten Transformation der Spezies sprach. Mutter ist die außergewöhnliche Geschichte dieser Wandlung der Spezies. Das ist unglaublicher als Jules Verne, tiefgründiger als Dante, mysteriöser als alle noch unentdeckten Planeten – oder vielleicht ist es ein anderer Planet in diesem Planeten. Ein Mysterium, das wir noch gemeinsam entziffern müssen. Denn in Wahrheit wissen wir nicht, was das Mysterium ist, wüßten wir es, wäre die neue Welt hier sichtbar. Vielleicht ist dieses Buch ein verzweifelter Versuch, das Mysterium sichtbar zu machen: die neue Welt herbeizubeschwören, so wie die Rishis von einst das Gebirge mit ihrem Schrei behämmerten.
Unser aller Schrei.
Wir müssen die Spezies ändern, oder wir gehen zugrunde.
Wir müssen den Schlüssel zur Neuen Welt finden.
Wieder schritt sie durch die alte Pforte mit ihrer Liane der “Treue”, doch diesmal war es, um fortzugehen. Es war der 22. Februar 1915. Sie sollte erst fünf Jahre später wieder zurückkehren. Eine bittere Einsamkeit… mit gesenktem Kopf in eine Hölle der Finsternis gestürzt281. Richard wurde einberufen, das war der äußere Grund dieser plötzlichen Abreise, aber wer war Richard? Es lag mir stets fern, mich zu beklagen, und auch jetzt möchte ich nicht auf Einzelheiten eingehen, äußerte sie in einem Brief an ihren Sohn zehn Jahre später282. Mutter gehörte nicht zu denen, die “irgend jemandem” begegnen: ihr ganzes Leben war eine Arbeit an diesem oder jenem Element, und was nützt es, von der “Transformation der Welt” zu sprechen, wenn man nicht einmal fähig ist, seine nächste Umgebung zu transformieren? In einem gewissen Ausmaß hatte sie Theon und die ziemlich ungeheure Macht, die er repräsentierte, transformiert, aber Richard war schwerer zu fassen – den Blitz kann man fangen, wer aber kann eine Krake fassen? Die mentale Krake mit ihren tausend Fangarmen, die sich in alles einschleichen. Sie hätte in aller Ruhe bei Sri Aurobindo bleiben können: Keine Flucht vor der Welt! Die Last der Dunkelheit und Häßlichkeit muß bis zum Ende getragen werden283, notierte sie an Bord der Kamo Maru. Sie wurde krank, ernsthaft krank (eine allgemeine Nervenentzündung), kaum daß der Suezkanal durchquert war. Während der kommenden fünf Jahre ging sie von einer tödlichen Krankheit zur nächsten, unerschrocken, unbeugsam. Als sie nach Pondicherry zurückgekehrt war, schrieb sie ihrem Sohn: Ich gab mir nicht mehr viele Monate zu leben. Diese so rasche Schwächung kam hauptsächlich von einer beinahe völligen Erschöpfung der Nerven aufgrund des nahezu höllischen Lebens, das ich während vieler Jahre bis zum November 1920 führte284. Sie blieb genau ein Jahr in Frankreich, wo sie genug Kraft fand, Verwundete zu pflegen – sie mußte alle Wunden der Welt berühren, um sie heilen zu können –, und ihre Nächte, wie sie uns erzählte, mit Träumen verbrachte, in denen sie Gärten voller Schlangen durchquerte. Die Schlangen bedeuten alle üblen und entstellten Gedanken. Sie beschuldigte sich selbst geradezu unerbittlich: Die Materie muß rigoros behämmert werden, um fähig zu sein, das göttliche Licht voll zu manifestieren285. Dies war ihre Art alles anzunehmen: Jedes Ding, jedes Wesen, jede Krankheit, jede Schwierigkeit war eine Gelegenheit, an ihrer eigenen Materie zu arbeiten, indem sie die Schwierigkeiten in ihren Körper aufnahm. Alles, was Mutter tat, war physisch. Sie beschuldigte nie “andere”: sie beschuldigte ihren eigenen Körper – vielleicht weil alles langsam ihr eigener Körper zu werden begann. Das Wesen erweitert sich zunehmend und methodisch, notierte sie während einer Erfahrung im Jahre 1915, alle Barrieren zerbrechen, alle Hindernisse werden niedergerissen, um eine an Immensität und Intensität unaufhörlich wachsende Kraft zu enthalten und zu manifestieren; es war wie eine zunehmende Erweiterung der Zellen, bis zur vollständigen Identifikation mit der Erde286… Jahre später erzählte sie mir: Ich erinnere mich sehr gut, daß beim Ausbruch des Krieges – des ersten Krieges – jeder Teil meines Körpers, einer nach dem anderen [Mutter berührte ihre Beine, Arme, Brust], oder manchmal derselbe Teil mehrmals, Schlachtfelder repräsentierte – ich sah, fühlte und lebte es. Jedesmal war es… recht eigenartig, ich brauchte nur sitzen zu bleiben und zu schauen: ich sah alles in meinem Körper hier, da, dort – alles, was sich ereignete. Während es stattfand, konzentrierte ich die göttliche Kraft darauf, damit alles (all dieser Schmerz, all dieses Leid, all das) die Vorbereitung der Erde beschleunige – im Grunde die Herabkunft der Kraft. Jede von Mutters und Sri Aurobindos “Krankheiten” entsprach einer der Krankheiten der Erde.
Von Pondicherry schrieb Sri Aurobindo der Mutter: Es ist eine sonderbare Weltlage, die Definition des Chaos selbst, wo die äußere Form der alten Welt an der Oberfläche scheinbar intakt bleibt… Und er stellte folgende Frage: Handelt es sich um ein Chaos des allmählichen Zerfalls oder um eine neue Geburt? Das ist der Punkt, der tagtäglich ausgefochten wird, ohne sich bis jetzt einer Entscheidung zu nähern287. Sechzig Jahre später schien es, als habe die Welt den Weg des “allmählichen Zerfalls” eingeschlagen, aber wer wußte im Jahre 1915, mit Ausnahme von Sri Aurobindo, daß die Welt nie wieder in ihre alte Form zurückkehren würde und daß ein unwiderruflicher Vorgang stattfand? Indessen machten sich alle daran, ihre kleine Welt so schnell wie möglich wieder aufzubauen (ah, die Folies-Bergères!). Aber wieweit sind sich die Menschen selbst heute eigentlich bewußt, daß die alte Welt tot ist? Sie stopfen eine Leiche mit Penizillin und mit den Gesetzen des Geldverkehrs. Was Sri Aurobindo vermutlich nicht wußte, war, daß der Zerfall so langsam und der Kampf so lange dauern würde: Alles Innere ist reif oder im Reifen, schrieb er Mutter, aber es ist wie ein Nahkampf, in dem keine Seite einen sehr merkbaren Vorstoß machen kann (ein wenig wie der europäische Stellungskrieg), die spirituelle Kraft übt einen Druck gegen den Widerstand der physischen Welt aus, und dieser Widerstand macht durch mehr oder weniger erfolgreiche Gegenangriffe jeden Zentimeter des Gebiets streitig… Ohne die Kraft und das Ananda [die Freude] im Inneren wäre es eine aufreibende und widerliche Arbeit288. Drei Tage später notierte Mutter wie ein Echo in ihr Tagebuch: Die Himmel wurden endgültig erobert, und nichts und niemand hätte die Macht, sie mir zu nehmen. Aber die Eroberung der Erde steht noch aus289… Wie Sri Aurobindo sagte, müssen wir “gemäß der vedischen Formel «die Erde und den Himmel gleich und eins» machen290.”
Die erste Runde des Kampfes sollte fünfunddreißig Jahre dauern, bis zu jenem Tag im Jahre 1950, an dem Sri Aurobindo… fast hätte ich gesagt “erlag”, aber als ich Mutter dieses Wort im Jahre 1962 aus dem Entwurf für das Buch “Sri Aurobindo oder das Abenteuer des Bewußtseins” vorlas, erwiderte sie sofort: Er erlag nicht! Es war keineswegs so, daß er nicht anders konnte, nicht die Schwierigkeit der Arbeit zwang ihn zum Weggehen, es war… etwas anderes. Vielleicht wird uns die “zweite Runde” das Geheimnis seines Weggangs enthüllen, denn das Weggehen des einen und das Weggehen des anderen haben den gleichen Grund – aber in Wirklichkeit ist dieses Wort “Weggang” sinnlos; vielleicht liegt das Geheimnis des Todes hier, offensichtlich vor unseren Augen, wir müssen es nur offensichtlich machen. Das ist wie die kleinen Kieselsteine im Urwald: man weiß nicht, welcher zählt, man kann darauf herumlaufen, ohne zu wissen, daß es Gold ist. In der Tat sind die “Pioniere” diejenigen, die uns das immer vorhandene Gold zeigen: es offensichtlich machen.
Im März 1916 ging Mutter an Bord des letzten Schiffes, das in Richtung Fernost reiste – das darauffolgende wurde versenkt. Richard, ein wahrer Experte wundervoller Vorwände, hatte sich ausmustern und nach Japan entsenden lassen. Warum, wissen wir nicht. Aber auch hier ist alles ein Vorwand, wie der Wahlkampf in Pondicherry – eine unfehlbare Hand lenkt unser Schicksal und bedient sich der unwahrscheinlichsten Vorwände, um seine Fäden zu knüpfen. Auch hier gibt es viele kleine wunderbare Kieselsteine, die wir nicht einmal sehen, denn würden wir die Kostbarkeit eines einzigen davon erkennen, könnten wir vielleicht den ganzen Schatz erfassen. Die Welt ist ein unaufhörliches und offensichtliches Wunder. Vielleicht ist die Evolution die langsame Entdeckung der Offensichtlichkeit. Vier Jahre in Japan. Zwei tödliche Krankheiten. Wahrhaftig, die Materie wurde “behämmert”. Die Photographien aus Japan zeigen sie uns sehr blaß, immer im Kimono – denn Mutter war jene, die allen Nationen angehörte – aber mit zwei kleinen gespannten Falten an den Mundwinkeln, die ersten Falten, und wer weiß, welcher Schmerz dahintersteckte… Dennoch lachte sie, sie lachte immer, sie zählte ihre tödlichen Krankheiten auf und machte sich über sich selbst lustig; oh, wie sie sich lustig machte! Ich sah sie aus zig Schlaganfällen mit diesem Jungmädchenlachen kommen, das ihre Backen aufblies – sie war die personifizierte Herausforderung – Mutter war eine ständige Herausforderung an alle und alles. Man mußte solide sein, um in ihrer Nähe leben zu können (oder vielleicht so wenig solide, daß man vollkommen ausgebreitet war wie die klare Unendlichkeit: die Festigkeit des Unendlichen). Ich verabscheue jegliches Drama. Ich will nicht tragisch sein, lieber mache ich mich über alles lustig, als tragisch zu sein! Eine erste Epidemie während des Krieges in Japan hatte Hunderte und Tausende von Toten gefordert, auf der Straße liefen die Leute mit einer Maske über dem Mund umher, und Richards Stimme ertönte im Hintergrund: “Aber was ist denn das für eine Krankheit, was ist es? Sie, die in die okkulten Geheimnisse eingeweiht sind, was steckt dahinter? Was ist das nur?… Lassen Sie sich doch anstecken!” erzählte uns Mutter lachend: sie nahm die Straßenbahn, durchquerte Tokyo und kam mit der Krankheit nach Hause. Sie nahm keine Medikamente, sie bekämpfte lediglich die dahinterstehenden Kräfte. In der Tat mußte sie ihre Kraft mit Krankheit und Tod üben, weil dies ihr Schlachtfeld sein wird, bis zum Ende. Sie überlebte es – “ein Wunder”, wie sie sagen, aber “Wunder” sind nur die Kehrseite unseres medizinischen Aberglaubens: beide Seiten sind ein und derselbe ungeheure Aberglaube. Es bleibt das Offensichtliche von “etwas” zu entdecken. Vielleicht liegt die Heilung einfach und ebenfalls in der Entdeckung des Offensichtlichen. Wenn wir wirklich “sehen”, wird sich die gesamte Lüge auflösen. Die Macht der Lüge liegt nur in unserer falschen Sicht. Auch die Lüge des Todes, auch die Lüge der Krankheiten. Aber es ist ein langer Weg, und Mutter lernte ihn Schritt für Schritt. Sie mußte langsam den Tod abtragen. Dann eine Tuberkulose, die erst in Sri Aurobindos Nähe wirklich heilen sollte: aber Sri Aurobindo war die ganze Zeit gegenwärtig, als ich nicht bei ihm war. Wer könnte die Verbindung dieser beiden Wesen je beschreiben?… Dennoch sprachen sie kaum miteinander, es wäre falsch zu glauben, Sri Aurobindo und Mutter hätten in den dreißig Jahren ihres Zusammenseins viele Worte gewechselt – und dennoch war zwischen ihnen alles augenblicklich gewußt, in Tokyo oder im Zimmer nebenan. “Wortlose Telegrafie” nannte sie es lachend. Der einzige Grund, warum die Leute keine Telegrafie ohne Worte haben können, besteht darin, daß sie ihre Instrumente ungenügend abstimmen291! Noch viele Dinge müssen “abgestimmt” werden, bevor wir unsere Raumschiffe verschrotten.
All dies hinderte sie nicht daran, sich an Japans Schönheit zu erquicken: Während der vier Jahre in Japan kam ich aus dem Staunen nicht heraus292, zunächst die Architektur, Häuser, die vollkommen mit der Landschaft zu verschmelzen scheinen… nicht wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht, und immer die Natur, ihre alte Komplizin, das geheime Verständnis zwischen ihnen, die stumme Kommunikation zwischen ihnen, wie mit den Wesen, wie mit allem – Mutter floß überall. In Tokyo hatte ich einen Garten, erzählte sie den Kindern des Ashrams, und in dem Garten züchtete ich Gemüse. Jeden Morgen, nachdem ich die Beete gegossen hatte, ging ich durch die Reihen, um zu wählen, welche Pflanzen ich zum Essen pflücken würde. Stellt euch vor, einige sagten mir: “nein, nein, nein…”, und andere, die ich von weitem sah, riefen mich und sagten: “nimm mich, nimm mich, nimm mich…” So war es ganz einfach. Ich suchte nach denen, die genommen werden wollten, und berührte nie die, die es nicht wollten… Ich liebte meine Pflanzen sehr, ich kümmerte mich um sie, gab beim Gießen, beim Unkrautjäten viel Bewußtsein hinein293. Gemüse, Blumen, Katzen, alles war ihr Arbeitsfeld (was die Katzen betraf, erklärte sie lachend, habe sie versucht, diese einer umgekehrten Metempsychose294 zu unterziehen). Gab es etwas, mit dem sie sich nicht befaßt hätte? (Manchmal sind wir geneigt zu vergessen, daß die Evolution alles ist, was sich entwickelt, nicht nur der Mensch.) Indessen versuchte sie auch, den Menschen oder besser gesagt den Frauen Japans ein wenig Bewußtsein einzuflößen, und ermahnte sie, nicht nur wie die Hasen Kinder in die Welt zu setzen, sondern bewußte Schöpfung295 zu betreiben, oder mit anderen Worten, willentlich ein außergewöhnliches Wesen zu bilden, indem sie sich selbst mit harmonischen und außergewöhnlichen Bewußtseinsschwingungen umgaben – das Kind ernährt sich von den Gedanken seiner Mutter ebenso wie von ihrem Blut –, denn, bemerkte sie mit dem Humor, der sie nie verließ: Der Übermensch wird von einer Frau geboren werden, das ist eine große, unbestreitbare Wahrheit!… Das wahre Gebiet der Frau ist spirituell. Wir vergessen es all zu oft296. Sogar Tagore, der in dieser Zeit Japan besuchte, war von Mutters klarer Sicht frappiert und lud sie ein, zu ihm zu kommen, um die Erziehung seines Ashrams in Shantiniketan zu organisieren – doch sie interessierte der Ashram der Welt.
In ihren “Gesprächen mit den Frauen Japans” verkündete sie 1916 auf prophetische Weise das Kommen von Sri Aurobindo und die Zeichen, an denen man die Ankunft des Neuen Zeitalters erkennen kann: Kein einziges Zeichen wird die aufklären, deren Augen geschlossen bleiben. Für jene aber, deren Blick klar ist, wird die Dunkelheit selbst zum Zeichen. Wissen sie denn nicht, daß sich die Nacht mit dem Nahen der Morgenröte verfinstert? Wir werden aber jedem ein Unterscheidungsmerkmal zeigen: Wenn alles in Bewegung gerät und erschüttert wird, wenn ein Schauder die Völker ergreift, der jene erweckt, die Jahrhunderte lang in tiefem Schlaf versunken waren, und der die Throne bedroht, wenn das, was unveränderlich schien, zu schwanken beginnt, wenn die stolzesten und solidesten Bauten auf ihren Fundamenten beben und einzustürzen drohen, weil das eigentliche Fundament der Dinge versetzt wurde, dann kann man die Ankunft desjenigen erkennen, dessen übermenschliche Schritte die Erde zittern lassen297.
Der Aufenthalt in Japan, von dem wir wenig wissen, oder es vorziehen, wenig zu sagen, ging zur gleichen Zeit zu Ende wie ihre eigene Kraft. Richard philosophierte wie üblich. Vielleicht träumte er davon, unterstützt von Mutters Kraft ein mentaler Übermensch zu werden, so wie Theon davon geträumt hatte, ein vitaler Übermensch zu sein. Doch Theon fehlte es nicht an Größe. Es ist eine seltsame Erfahrung zu entdecken, wie unsere Gedankengebäude uns manchmal buchstäblich dekorieren, so elegant, so raffiniert und oft sogar von einem Schein aus Licht umgeben, die Wahrheit und Schönheit für die Welt wollend, wenn nötig sogar die Wahrheit predigend, sich darunter aber lediglich ein menschliches Ego verbirgt, das sich genauso der Wahrheit bemächtigte, wie es sich der Lüge bemächtigt hätte: das ist seine Art, sich selbst zu nähren und zu wuchern. Berührt man aber die hübsche Festung nur ein wenig, dann kommt es zum Vorschein und zeigt seine Krallen. Wie klar Sri Aurobindo und Mutter das sahen, wie sehr sie wußten, daß die Lösung unmöglich dort in diesem Mental zu finden ist. Dort ist selbst die Wahrheit verdorben. Es kann ewig philosophieren, seine Moral, sein Licht oder sogar seine yogische Disziplin und Strenge, Zen-Meditationen und Kontemplationen in allen Farben darüberlegen, es ist völlig gleich: es ist “ich”, das frißt. Und solange dieses “ich” frißt, wird es sich einen Tag, eine Minute oder zwanzig Jahre später, wenn seine Wahrheit nicht mehr so nahrhaft ist, in sein “Gegenteil” verkehren. Und die Komödie geht weiter. Das Mental ist der große Mystifizierer. Wir erinnern uns jener köstlichen Geschichte über Sri Aurobindo, als er Gandhis Sohn empfing, der schockiert war, weil er Sri Aurobindo mit einer Zigarre im Mund antraf und ausrief: “Was, Sie sind vom Rauchen abhängig? Sie, ein Yogi?” Sri Aurobindo antwortete augenblicklich: Was! Sie sind vom Nichtrauchen abhängig?… Und das sagt alles, sehr einfach. Etwas muß sich radikal ändern. Wenn unsere letzten Wahrheiten zusammengebrochen sind, wenn die Hände nackt sind, befreit von ihrem Tabak oder Anti-Tabak, ihrer Gewalt oder Gewaltlosigkeit, ihrem Göttlichen oder Ungöttlichen, dann werden wir leise eine leichte Luft zu atmen beginnen, die nach nichts aussieht und vielleicht die Wahrheit von allem ist. Denselben Frauen in Japan sagte Mutter: Die Zivilisation, die jetzt im Begriff ist, auf so dramatische Weise zu enden, basierte auf der mentalen Macht, auf einer mentalen Handhabung des Lebens und der Materie… Der Weg der Übermenschlichkeit wird sich dem Menschen öffnen, wenn er mutig erklärt, daß alles, was er bis jetzt aufgebaut hat – den Intellekt inbegriffen, auf den er mit Recht und doch so vergeblich stolz ist –, nicht mehr genügt und daß seine Hauptsorge es von nun an sein wird, eine größere innere Kraft zu entfalten, zu entdecken und freizusetzen298. Vielleicht hatte Mutter in Japan und mit Richard die vollkommene Nutzlosigkeit erkannt, das Mental bekehren zu wollen, genau das, was bereits alle “Weltretter” einer nach dem anderen versucht hatten: man muß die Wurzeln zu fassen bekommen, dann ändert sich alles übrige automatisch. Sri Aurobindo hatte das von Anfang an verstanden: Ich bin nicht hier, um irgend jemanden zu bekehren299.
Eine kleine, reine Zelle.
Die vier Jahre gingen zu Ende, erzählte Mutter, und es kam die absolute innere Gewißheit, daß nichts zu machen war, daß es unmöglich war [Richard zu bekehren], unmöglich auf diese Weise. Da war nichts zu machen. In äußerster Konzentration bat ich den Herrn: “Ich hatte Dir geschworen, es zu tun, ich sagte Dir sogar: selbst wenn ich in die Hölle hinabsteigen muß, um es zu erreichen, dann gehe ich eben in die Hölle, um es zu erreichen. Jetzt sage mir, was soll ich tun…?” Offenbar war die Kraft da, denn plötzlich wurde alles in mir unbewegt, das ganze äußere Wesen war vollkommen immobilisiert, und ich hatte eine Vision des Höchsten… schöner als die der Gita. Eine Vision des Höchsten. Dann nahm mich diese Vision buchstäblich in die Arme, sie drehte sich nach Westen, das heißt nach Indien und präsentierte mich, und ich sah, daß dort am anderen Ende Sri Aurobindo war. Es war… Ich fühlte ihn physisch. Ich sah, sah – meine Augen waren geschlossen, aber ich sah… unbeschreiblich. Es war, als habe sich diese Unermeßlichkeit auf ein ziemlich riesenhaftes Wesen reduziert. Es hob mich wie einen Strohhalm empor und präsentierte mich. Kein Wort, nichts weiter, nur das. Dann verschwand alles… Am nächsten Morgen begann ich meine Rückkehr nach Indien vorzubereiten.
Die letzte in Oiwake datierte Seite ihres Tagebuches lautet einfach: Nichts bleibt von dieser Vergangenheit als eine ungeheure Liebe, die mir ein reines Kinderherz und den leichten und freien Gedanken eines Gottes verleiht300.
Die Enkelin von Mira Ismalun, die Paris mit ihrem himmelblauen, tief in die Stirn gedrückten Tarbusch erstürmte hatte, beendete somit ihre Reise, die Schülerin des überwältigenden Theon, die Freundin von Rouault, Rodin, Matisse, die geduldige Studentin aller mentalen und spirituellen Akrobatik, die mathematische Schwester Matteos, die Musikerin einer großen blauen Note wird ihre Last nun Sri Aurobindo zu Füßen legen, um eine noch schwerere Bürde auf sich zu nehmen, denn dort, wo es kein “ich” mehr gibt, ist die ganze Welt zugegen.
Auf dem Rückweg im Jahr 1920 machte Mutter Zwischenstation in China, berührte chinesischen Boden (wir wissen nicht, wo), um die Atmosphäre aufzunehmen, wie sie sagte… In demselben Augenblick, als Mao Tse-tung, fünfzehn Jahre jünger als sie, sein erstes geschriebenes Werk beendete, “Die große Einheit der Volksmassen”, und die erste chinesische kommunistische Zelle gründete. Ist es ein Zufall?… So berührte sie auch das – zweimal. Welcher evolutionäre Knoten liegt dort verborgen?… Welcher Ansturm der Kräfte?
Sie stürmte auf eine kleine reine Zelle zu.
“Wir lebten ein Jahr lang zusammen”, erzählte ein älterer japanischer Gentleman namens Ohkawa. “Jeden Abend meditierten wir eine Stunde gemeinsam. Ich übte Zen, und sie übten Yoga… In ihren Augen war ein Licht wie das Anbrechen des großen Morgens der Welt… Sie hatte einen Willen, der Berge versetzte, und einen Intellekt so scharf wie die Schneide eines Schwertes. Ihr Denken war die Klarheit selbst und ihre Entschiedenheit fester als die Wurzeln der Rieseneiche… Als Künstlerin konnte sie Bilder von erlesener Schönheit malen, als Musikerin bezauberte sie meine Seele, sobald sie auf der Orgel oder der Gitarre spielte; als Gelehrte vermochte sie neue Himmel und eine neue Erde, eine andere Kosmogonie zu formulieren. Ich weiß nicht, was Mirra nicht wurde oder zu werden fähig war… Sie war schön in westlichen Kleidern und noch schöner, wenn sie einen Kimono trug. Könnte ich sie jetzt sehen, würde ich bestimmt sagen, daß sie ebenso schön ist im indischen Sari… Wie könnte ich, der ich im Herzen des Fujiyama lebte, das Ausmaß ihres Feuers und die Dimension ihres Lichtes beschreiben301!”
18. Kapitel: Der Sprung ins Physische
Der 24. April 1920.
Ich fühlte Sri Aurobindos Atmosphäre (fühlte sie auf ganz materielle Weise) schon zehn Meilen vor der Küste – Seemeilen, nicht Kilometer! Plötzlich war es sehr konkret: eine reine, leichte, leichte Atmosphäre, die einen emporhob.
Noch einmal durchschritt sie die alte Pforte mit der Girlande der “Treue” und erklomm die Stufen der von Säulen umgebenen breiten Veranda. Vor sechzehn Jahren hatte sie ihn zum ersten Mal im “Visionskleid” gesehen. Aber diese Vision wurde nie abgeschlossen, das Ende hatte nicht stattgefunden: Erst nach einer langen Reihe von Erfahrungen, einem zehnmonatigen Aufenthalt im Jahr 1914, fünf Jahren der Trennung und dann der Rückkehr nach Pondicherry trat schließlich bei der Wiederbegegnung, die im gleichen Haus auf die gleiche Weise stattfand, das Ende der Vision ein. In diesem Augenblick stand ich direkt neben ihm. Mein Kopf ruhte nicht auf seiner Schulter, sondern befand sich an der Stelle seiner Schultern – ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll: körperlich bestand kaum ein Kontakt. Wir standen in dieser Haltung nebeneinander, schauten zum offenen Fenster hinaus, und da fühlten wir gleichzeitig: “Jetzt wird die Verwirklichung stattfinden.” Es ist besiegelt, und die Verwirklichung wird stattfinden. Ich fühlte das in mich herabkommen, wie eine solide Masse, eine Gewißheit, dieselbe Gewißheit, die ich in meiner Vision gespürt hatte, und von diesem Augenblick an gab es nichts mehr zu sagen – nichts, Worte waren überflüssig. Wir wußten, es war das.
Das… das Göttliche, der Herr, das Höchste, das Supramental… oder was es auch sei – das nächste Stadium der Evolution, das andere Bewußtsein. Jedenfalls ist es das. Das Offenkundige. Ich nenne es “das höchste Bewußtsein”, weil ich nicht von “Gott” reden möchte. Das ist so voll von… das Wort selbst ist voller Falschheit. Das ist es nicht, sondern wir – sind das Göttliche, das sich selbst vergessen hat, und unsere Arbeit, die Arbeit besteht darin, die Verbindung wiederherzustellen – nennt es, wie ihr wollt, das ist unwichtig. Es ist die Vollkommenheit, die wir werden müssen, das ist alles. Es ist die Vollkommenheit, die Kraft, das Wissen, die wir werden müssen. Nennt es, wie ihr wollt, das ist mir vollkommen gleichgültig. Aber eine Aspiration muß man haben. Wir müssen aus diesem Sumpfloch, diesem Wahnsinn, dieser Unbewußtheit, diesem abscheulichen Defätismus herauskommen, der uns erdrückt, weil wir uns erdrücken lassen. Der allererste Defätismus ist der Tod. Das sagte sie 1972, ein Jahr vor ihrem Weggang.
Sie machten sich beide daran, “die Verbindung wiederherzustellen”, diesmal aber nicht um eines kleinen individuellen Heiles willen in einem Traum des Bewußtseins, das sich befreit glaubt, während der Rest verrottet, sondern die Verbindung hier in der Materie wiederherzustellen – das Offenkundige, den vollen Atem hier, die grenzenlose Weite hier, das unfehlbare Wissen hier wiederzuentdecken. Wie man darüber redet, hat keine Bedeutung, wichtig ist, dem Weg zu folgen,, eurem Weg, egal welchem Weg – ja, dahinzugelangen302. Wie der Vogel, das Elektron, der Donner, der Monsun: jedes in seiner eigenen Genauigkeit. Denn der ganze Schmerz der Welt beruht auf dieser Ungenauigkeit, die nicht weiß, was sie tut, warum sie es tut, wie sie es tun soll, auf dieser Unbewußtheit, dieser Ohnmacht, diesem Elend, das darin besteht, nicht den genauen Platz der Dinge, die genaue Rolle der Dinge, ihren Wert zu kennen: alles ist ein riesiges Ungefähr, und alles ist ein Schmerz, weil wir nichts so sehen, wie es ist, nichts so leben, wie es ist. So wie es ist, ist es einfach, das. Diese ungeheure Genauigkeit ist die Harmonie, die Fülle zu tun, was getan werden muß, zu sein, was man ist, sie ist die Liebe für alles, was ist, weil man überall das Wunderbare sieht, überall den Schatz sieht, die unvorstellbare Fürsorglichkeit durch eine Million Irrtümer und Fehler, die nie weder Irrtum noch Fehler waren, sondern die unerschütterlich gerade Linie eines Bewußtseins, das uns unaufhörlich zu unserer eigenen Gesamtheit des Bewußtseins führt. Das, endlich, rein. Unfehlbar – wie das Elektron, wie der Vogel, wie der Donner, aber in Millionen und Milliarden von Gewißheiten, die sich durch unseren Blick überall und überall gleichzeitig erblicken. Denn dergestalt ist das supramentale Bewußtsein. Wir können es ebenso das exakte Bewußtsein nennen. Es ist das, was die Verbindung wiederherstellt – die Verbindung mit allem. Mit dem, was ist. Der Mensch ist ein Übergangswesen: Wir sind das entstellende Zwischenglied zwischen der Reinheit der Tiere und der göttlichen Reinheit der Götter.
Sie ist zweiundvierzig, er achtundvierzig.
Die Verwirklichung beginnt.
Um die Wahrheit zu sagen, war das die erste Frage, die sich mir stellte, als ich Sri Aurobindo begegnete: Sollen wir seinem Yoga folgen, indem wir zuerst das Ziel erreichen und uns erst hinterher um die anderen kümmern, oder sollen wir sofort alle aufnehmen, die dieselbe Aspiration haben, und gemeinsam auf das Ziel zugehen?… Beide Möglichkeiten waren offen: entweder widmet man sich einer individuellen, intensiven Sadhana, indem man sich ganz von der Welt zurückzieht, das heißt, alle Kontakte mit den anderen abbricht, oder man läßt stattdessen die Gruppe auf spontane und natürliche Weise entstehen, sucht sie nicht, verhindert ihr Zustandekommen aber nicht, und macht sich gemeinsam auf den Weg303.
Hier liegt die ganze Frage der Welt.
Denn schließlich haben wir eine gewisse Vorstellung von der Welt. Wir sahen oder glaubten wenigstens gesehen zu haben, was das nächste Stadium, die unvermeidliche Entwicklung des menschlichen Bewußtseins sein wird; was aber meint die Evolution selbst dazu? Die Evolution, das heißt Peter, Dora, Hans – alle gehören dazu, selbst die kleinen Katzen und das Gemüse im Garten –, ganz zu schweigen von unserer eigenen Dummheit, die ebenfalls Teil der Evolution ist und die womöglich gar nicht geneigt ist, ihre bequeme Dummheit gegen Bewußtseinszustände einzutauschen, die ihr eher problematisch erscheinen. Es mangelte im Verlauf der Weltgeschichte nie an Gruppen menschlicher Pioniere (über die Pionieraffen wissen wir nichts), die ebenfalls bestrebt waren, die Evolution zu beschleunigen, und auf dem Scheiterhaufen landeten, wie das ergreifende Schicksal der Katharer bezeugt (siehe im Lexikon unter “häretische Sekten”) oder andere, die im Schlamm des Nils oder im Staub Bamyans spurlos verschwanden – die Häretiker von gestern sind womöglich die Orthodoxen von morgen, unterdessen ist es aber eine gescheiterte Evolution oder nur ein Tropfen im weiten Ozean der Evolution. Es gibt keinen Ausweg, die Evolution muß in ihrer Gesamtheit vorankommen, das ist der Grund, warum sie alle diejenigen, die eigene Wege gehen wollen, einfach vernichtet oder verbrennt. Aber immerhin, was für Außenseiter!… Mutter und Sri Aurobindo sahen das Problem jedenfalls mit schonungsloser Klarheit: Eure Vorstellung von dem, was sein soll, ist so unendlich weit entfernt von dem, was sein wird, daß ihr, auch wenn ihr es noch so global zu sehen versucht, dennoch einen so großen Teil des Universums hinter euch lassen würdet, daß es eine fast lineare Verwirklichung wäre, jedenfalls so klein und beschränkt, daß der größte Teil des Universums dabei unverändert bliebe. Aber selbst wenn eure Sicht weit und umfassend wäre, selbst wenn ihr euch etwas Globaleres vorstellen könntet und auf einem Weg voranginget, der bereit wäre – denn mit den Wegen verhält es sich wie mit den Wesen: manche sind bereit –, ohne auf die anderen zu warten, wenn ihr also etwas verwirklichen wollt, das der wirklichen Wahrheit, im Gegensatz zur aktuellen Weltlage, sehr nahe käme, was würde geschehen? – Der Zerfall eines gewissen Ganzen, ein Bruch nicht nur der Harmonie, sondern auch des Gleichgewichts, weil ein ganzer Teil der Schöpfung nicht folgen könnte. So hätten wir statt einer umfassenden Verwirklichung des Göttlichen eine unendlich kleine, lokale Verwirklichung, und nichts von dem, was letztlich getan werden muß, wäre vollbracht304.
Es ist klar, daß Mutter und Sri Aurobindo keineswegs die Absicht hatten, Superkatharer für steuerpflichtige Scheiterhaufen und bürokratische Inquisitionen des 20. Jahrhunderts zu werden, die sehr wohl eine evolutionäre Säuberung durchzuführen wissen. Doch wir verfallen immer wieder dem gleichen Irrtum: jeder tut seine Arbeit, auch der Henker, auch das Opfer. Und wer arbeitet letzten Endes, wenn nicht sie, immer und überall – jedoch aus Gründen, die unseren steuertariflichen und spirituellen Etiketten vollkommen fremd sind. Was ist also die Absicht?… Offensichtlich etwas Umfassendes. Mich interessiert die Erde, sagte Sri Aurobindo, und nicht die Welten jenseits um ihrer selbst willen; ich strebe nach einer Verwirklichung auf der Erde und nicht nach einer Flucht in entlegene Höhen305… Infolgedessen kam es nicht in Frage, sich allein einer “intensiven Sadhana” zu widmen, um nachher zurückzukehren und den komfortabel in seinem evolutionären Schlamm harrenden Rest aufzulesen – “nachher” kannst du nicht mehr. Dieses “nachher” ist eine ungeheure Illusion. Du gehst und meditierst hundertsieben Jahre lang, “legst den Mantel ab”, wie Mutter es nannte, aber nachher findest du die unterbewußten frenetischen Eindrücke wieder, die ihre hundertsiebenjährige Abstinenz schleunigst wieder wettmachen und dich mit einem Schlag vernichten. Schließlich steckt in uns allen der gleiche Schlamm, keiner kann dieser Tatsache entgehen. So nahmen Mutter und Sri Aurobindo den Mantel der Welt sofort auf sich: Die Entscheidung war ganz und gar keine mentale Wahl: sie erfolgte völlig spontan. Die Umstände trafen sich so, daß uns überhaupt keine Wahl blieb, denn die Gruppe bildete sich ganz natürlich und spontan und wurde so zur zwingenden Notwendigkeit. Da es nun einmal so begonnen hat, gibt es auch kein Zurück mehr, man muß diesen Weg konsequent bis zum Ende gehen306.
Auf diese Weise entstand der Ashram um die ersten Fußballspieler herum, denen sich bald einige Dutzend andere und mit den Jahren mehrere Hundert andere anschlossen. Der Mantel der Welt und die ganze Welt war zugegen, jede Art von Schlamm und jede Art von Licht, insgesamt alle für ein evolutionäres Labor notwendigen menschlichen Bestandteile: ein Versuch bewußter Evolution307, nannte es Sri Aurobindo bereits 1925. Mit anderen Worten war hier eine ganze Skala von Elementen, deren jedes einzelne bereit war, an seinem eigenen kleinen Stück Schlamm zu arbeiten. Aber genau hierin liegt die ganze Schwierigkeit, denn jedes dieser Elemente stürzt sich begeistert in das Labor, einzig und allein in der Hoffnung, sich über die gewöhnliche Dummheit erheben zu können, “Erfahrungen” zu erlangen, herrliche und wohltuende Weiten des Bewußtseins zu entdecken, woraufhin es aber beim ersten oder zweiten Versuch (des öfteren beim zweiten, nach einer anfänglichen Periode der Euphorie) ins genaue Gegenteil des Lichts plumpst – in einen Schlamm, der sich als um so klebriger erweist, je mehr man ihn zu ändern versucht. Es ist wirklich der Mantel der Welt, ohne daß auch nur eine Falte fehlt. Zur vollständigen Ausstattung des Labors bedarf es einer ganzen Auswahl unterschiedlichster menschlicher Typen, mit allen möglichen Reagenzgläsern und allen nur vorstellbaren Mischungen, damit der Versuch einer bewußten, beschleunigten Evolution gelingen kann. Mutter und Sri Aurobindo hatten das ebenfalls klar erkannt: Wenn man die Arbeit allein und zurückgezogen durchführen will, ist es vollkommen unmöglich, sie vollständig zu bewältigen, weil jedes physische Wesen, so vollständig es auch sein mag, dennoch partiell und begrenzt ist: es stellt nur ein Gesetz in der Welt dar. Dieses mag ein äußerst komplexes Gesetz sein, aber dennoch ist es nur ein einzelnes Gesetz308… Und Mutter stellte sich nicht außerhalb des Gesetzes – selbst Sri Aurobindo nicht –, sie sah das ganze Problem kristallklar, denn sie sah es nicht nur auf der psychologischen Ebene bestimmter kleiner idiosynkratischer Schlammzonen, sondern auf der körperlichen, physiologischen, wir könnten fast sagen “genetischen” Ebene: Jedes individuelle Wesen, selbst ein höheres Wesen, ein für eine ganz besondere Aufgabe geschaffenes Wesen, ist nur ein individuelles Wesen; das heißt, die transformation als ganzes kann nicht durch einen einzigen körper erlangt werden… Wenn eine allgemeine Wirkung erzielt werden soll, ist eine minimale Anzahl physischer Individuen erforderlich309. Denn die Transformation der schlammigen kleinen Ebenen des Unterbewußtseins stellt lediglich die erste Etappe des gesamten Evolutionsvorgangs dar: das Ziel ist die Transformation des Körpers, die Veränderung der Spezies. Es ist sinnlos zu sagen: “nachher – später”; nachher ist entweder sofort… oder überhaupt nicht, wir müssen den Stier der Evolution mit einem einzigen Griff und vollständig ergreifen: die letztliche Transformation steckt bereits in der ersten Sekunde, wo wir das Problem angehen. Wir gehen es richtig an oder falsch. Es ist in der Tat ein gefährliches Unternehmen, das ist nicht zu leugnen, und wir fragen uns, warum die Abenteuersucher sich damit begnügen, auf den Mond zu fliegen. Hier in unserem Inneren sind enorme Krater und stürmische Vietnams verborgen, die völlig unbekannt sind. Doch es ist gut möglich, daß die Kämpfenden draußen, sei es in Bangladesh oder Chile, auf physisch-mechanische und sehr unbewußte Weise das Phänomen nachvollziehen, das sich gerade im inneren Labor abspielt. Die ganze Welt geht voran, mit allen möglichen Mitteln, “durch jede beliebige Methode”, wie Sri Aurobindo liebenswürdig sagte. Der Unterschied ist, daß wir jetzt bewußte Evolution betreiben können: jeder einzelne “repräsentiert” in einem beschleunigten und kleineren Maße den großen äußeren Konflikt. In der Tat finden die wahren Vietnams unbestreitbar im Inneren statt, und vielleicht wirkt sich ein einziger unserer stillen Siege auf das gesamte evolutionäre Kampffeld aus – klar, denn es ist ein- und dasselbe Kampffeld! Eine einzige bereinigte Dummheit im Inneren ist ein ganzes Mekong-Delta wert. Eine kleine klare Zelle erhellt das ganze irdische Feld, bereitet die Transformation des großen Körpers vor und läßt sie näher rücken. Wir werden somit zu “repräsentativen” Wesen. Wenn es ein symbolisches Wesen gäbe… sagte Mutter, ein symbolisches Wesen, das die Kraft besäße (es gehört sehr viel Ausdauer dazu), repräsentativ all diese Störungen in sich zu enthalten und an dieser symbolischen Repräsentation zu arbeiten, würde das vielleicht dem Ganzen helfen.
So wird Sri Aurobindo noch dreißig und Mutter dreiundfünfzig Jahre lang dieses Symbol “repräsentieren” und die Kostproben aller nur möglichen Störungen in sich enthalten.
Aber noch einmal, Mutters Worten zufolge erfordert es “eine repräsentative Gruppe”: Ein einziges Wesen genügt nicht, ein einziges Gesetz genügt nicht, eine einzige Eigenschaft der Zelle genügt nicht (oder so scheint es zumindest, denn schließlich ist die Operation gerade erst im Gange, und wir kennen weder genau ihre Gesetze, noch wissen wir, ob ein winziges Atom nicht den Schlüssel zu allem übrigen in sich birgt – Kettenreaktionen gibt es jedenfalls). Aus diesem Grund, sagte sie den Kindern im Ashram, stellt jeder einzelne von euch, ohne es zu wissen oder ohne daß ihr euch eine klare Vorstellung davon machen könnt, eine der Schwierigkeiten dar, die er für die Transformation erobern muß. Insgesamt bedeutet das eine Menge Schwierigkeiten! Irgendwo habe ich sogar einmal geschrieben, daß es weit mehr ist als eine Schwierigkeit: jeder stellt eine unmöglichkeit dar, die gelöst werden muss. Alle diese Unmöglichkeiten zusammengenommen können in das Werk verwandelt werden. Es handelt sich nicht mehr um einzelne Schwierigkeiten, sondern um kollektive Schwierigkeiten – denn ihr macht den Yoga nicht für euch allein sondern für alle –, und zwar ohne es zu wollen, ganz automatisch310.
Das war die ursprüngliche Bedeutung dieses evolutionären Labors in Form des “Ashrams”.
Nein, der Ashram ist keine Einsiedelei: es ist ein repräsentativer Mikrokosmos der Welt – mit einem Licht, das der Dichte des zu transformierenden Schlammes entspricht. Beide sind in genauer Proportion vorhanden. Und, meine Güte, ein jeder kann seinen Blick entweder auf das eine… oder auf das andere richten.
Vielleicht ist es weder das eine noch das andere sondern ein drittes Etwas – das sehr zaghaft wächst.
Wird es wachsen… oder nicht?
Es wäre interessant zu sehen.
Aber die wahre Frage, die sich durch dieses kleine symbolische Feld für die ganze Welt stellt, lautet: Ist es für jetzt, oder wird es eine weitere mißlungene Evolution sein? Welcher Ansturm wird siegen, derjenige der kleinen Zelle oder der andere?
Als ich aus Japan zurückkehrte und wir zu arbeiten anfingen, hatte Sri Aurobindo das supramentale Licht in die mentale Welt herabgebracht, und er versuchte das Mental zu transformieren. “Merkwürdig”, sagte er mir, “das ist eine endlose Arbeit. Man hat den Eindruck, als sei nichts getan – alles wird getan und muß dennoch ständig wieder von vorne angefangen werden.” Woraufhin ich ihm meinen eigenen Eindruck vermittelte: das wird so lange dauern, bis die unterste ebene berührt wird. Tatsächlich hatte Mutter das vor kurzem mit Richard in Japan aufs Lebhafteste erfahren: das Mental ist ein regelrechter Aal oder vielleicht ein Chamäleon, es nimmt jede Farbe an, die wir wollen, je nach Geschmack oder den Umständen – und es ist wahr, in gewisser Weise hat es recht, denn das Mental ist geschaffen für was immer uns beliebt – alles hängt vom “uns” ab. Es ist nicht dazu geschaffen, die Wahrheit oder sonst etwas zu entdecken, sondern um Objekte zu ordnen – egal welche. Anstatt weiter im Mental zu arbeiten, stiegen wir dann beide fast unmittelbar (in ein, zwei Tagen war es geschafft) vom Mental (das Mental beließen wir so, wie es war, das heißt im vollen Licht, aber noch nicht auf permanente Weise transformiert) zum Vital311 hinab und von dort ziemlich schnell immer tiefer… Dann erreichten wir das Physische – und dort begann die ganze Schwierigkeit. Wir blieben aber nicht im Physischen, sondern drangen tiefer hinab ins Unterbewußte und von dort ins Unbewußte. Das Unbewußte ist das, was wir als den Weltanfang, die Grundlage der Materie bezeichnen können, dieses undefinierbare “Etwas”, auf dem sich alle Evolutionsschichten ablagern und aus dem alle Formen entkrochen, sozusagen das erste “Chromosom” der Welt – das, was sich mit all dem Rest der evolutionären Sammlung in der Tiefe unseres Körpers verbirgt. Auf diese Weise arbeiteten wir. Erst als ich ins Unbewußte hinabstieg, fand ich dort inmitten der Finsternis die göttliche Gegenwart… Die Erfahrung von Tlemcen wiederholte sich, “die Sonne in der Finsternis” oder “die schwarze Sonne” (Martanda) der Veden – wir könnten es in unserer rationalen Sprache auch das präzise Bewußtsein nennen, jenes, das das Atom, den Instinkt des Tieres bewegt – dieses kleine reine Gesetz, das alle Bewegungen der Natur lenkt. Sri Aurobindo nannte es das Wahrheits-Bewußtsein, das Supramental. Da stand ich plötzlich vor einer Öffnung, wie ein Gewölbe oder eine offene Grotte (natürlich sah es nur so aus), und dort erblickte ich ein Wesen aus regenbogenfarbigem Licht, das mit dem Kopf auf seinen Händen ruhend schlief: das Licht, von dem es umflutet war, leuchtete regenbogenfarbig… Regenbogenfarbig bedeutet in allen Farben, und das ist sehr wichtig, denn es handelt sich hier um ein Licht, dem wir noch öfters begegnen werden und das ganz besondere Eigenschaften oder eine ganz besondere Macht über die Kräfte der Auflösung hat (Krankheit, Tod, das finstere Nein in der Tiefe der Materie, das mit diesem Licht einherzugehen oder dessen Begleiterscheinung zu sein scheint). Mit “Licht” ist jedoch weder ein hellseherisches Märchen noch eine Erscheinung der Heiligen Therese gemeint, sondern eine Kraft – so wie es Atomkraft oder elektromagnetische Kraft gibt, gibt es auch noch andere Kräfte… oder vielleicht die andere Kraft, welche die reine Quelle all der anderen ist. Immer wieder kommen wir auf dasselbe zurück: es gibt nur eine Kraft und nur ein Licht, das sich verschiedenartig färbt oder trübt, je nach den Schichten, die es durchquert. Dieses regenbogenfarbige Licht wird uns vielleicht das Leben retten. Aber dann ereignete sich ein recht außergewöhnliches Phänomen: als ich dieses regenbogenfarbige Lichtwesen erblickte, öffnete es die Augen – es erwachte. Damit gab es das Zeichen für den Anfang der bewußten, erwachten Aktion. Das, was bis heute durch instinktive oder “natürliche” Schichten (oder weniger natürliche, wie unser Gehirn) drang, sollte nun direkt zur Oberfläche gelangen – zumindest war das der Versuch, das, was hinter der ganzen Arbeit auf dem Spiel stand. Wird es durchkommen… oder nicht? Und wie kann es zur bewußten Oberfläche der Welt vordringen, ohne alles zum Bersten zu bringen und all die säuberlich aufeinander gestapelten Schichten durcheinanderzuwirbeln? Wie kann dieses Licht direkt wirksam gemacht werden? Dieses regenbogenfarbige Licht, das sich sofort als ein schöpferisches Licht erweist, im Gegensatz zu den unzähligen kleinen sterblichen und zersetzenden Phänomenen, die alle anderen “Lichter” und Kräfte kennzeichnen?
Hier liegt das ganze Problem der Arbeit.
Die Verbindung mußte durch die Materie hergestellt werden. “Dort oben”, am obersten Ende der Leiter, in der weiten Transparenz des entwickelten Bewußtseins ist alles vollkommen supramental, weil es dort vollkommen klar ist; ganz “unten”, in der Tiefe der Materie (hinter der Materie, sozusagen) ist alles vollkommen supramental, weil es auch hier vollkommen rein ist. Zwischen den beiden aber liegen alle Grade der Unreinheit, alle mehr oder weniger dunklen oder hellen Zonen (von den hellen eher weniger), der ganze üppig wimmelnde evolutionäre Kompost, der sich auf diesem “Etwas” abgelagert hat, das ganz unten ebenso rein ist wie ganz oben – denn tatsächlich haben wir es mit derselben Sache zu tun, es ist dasselbe “Supramental” (wenn wir es so nennen wollen), stetig, ohne Unterbrechung von oben bis unten, voll und rund wie die Sonne, aber verschleiert, verschlossen, verfinstert von den dazwischenliegenden Schichten. Das individuelle Bewußtsein ist ganz oben wie ein weiter, durchsichtiger und leuchtender Vorhang, der dann in Silbergrau übergeht, in strohfarbenes Gelb, in immer tieferes Blau (in den diversen Schichten des Mentals), in immer tieferes Rot (im Solarplexus), in Smaragdgrün, ins Violett der Macht (in der Zone des Nabels und Pelvis), dann wird der Vorhang schlammig, dunkel bis vollkommen schwarz (in der Zone der Knie und Füße – es gibt sogar ein Zentrum unterhalb der Füße, sagte Mutter), und am unteren Ende des Vorhangs gelangt man unvermittelt wieder in das Reine, Transparente: dieses schillernende Regenbogenlicht, das wie die Vereinigung aller dazwischenliegenden Farben zu sein scheint. Wir müssen also den Vorhang wegziehen. Sri Aurobindo und Mutter nannten es “das Supramental herabbringen”, das Hohe mit dem Tiefen verbinden, wobei das eine wie das andere weder hoch noch tief ist, sondern die beiden Extreme des gesamten Bewußtseinsspektrums darstellen. Alte Traditionen stellten es symbolisch durch die Schlange dar, die sich in den Schwanz beißt. Wenn man, wie Mutter sagte, direkt zum Schwanz ginge, anstatt sich in höhere Himmel zu verflüchtigen, würde man dasselbe berühren, jedoch im Besitz einer transformierten und erleuchteten Materie anstatt diesem Nichts aus Licht. Die Frage ist nur: Wird sich die Materie transformieren lassen? Oder besser gesagt (und wir glauben es): Werden die dazwischenliegenden Schichten sich klären lassen? Denn die Materie als solche, die wirkliche Materie, ist unendlich viel reiner und gefügiger als alle dazwischenliegenden, dunkel schimmernden Schichten, mit denen wir endlos und wie es scheint mit Entzücken herumjonglieren.
Die “dazwischenliegenden Schichten” sind durch die ganze Mustersammlung dieses charmanten Evolutionslabors vertreten, das sich spontan um Mutter und Sri Aurobindo bildete oder an sie klebte, als hätte die ganze Erde – oder sagen wir eher die ganze Schwierigkeit der Erde – hier ein Stell-dich-ein getroffen. Langsam fangen wir an, das Vorhaben zu begreifen.
Dies war also der Sprung ins Physische312.
Äußerlich schien sich nichts geändert zu haben, außer daß mit Mutters Ankunft etwas Ordnung und Wohlbefinden ins Bohemeleben des Guest House eingezogen war. “Jeden Abend,” notierte Barin, Sri Aurobindos jüngerer Bruder, “kamen Paul und Mirra Richard zu Sri Aurobindo zu Besuch, um sich mit ihm über Yoga zu unterhalten und über die große Zukunft zu diskutieren, wenn der Mensch fähig sein wird, eine Brücke zwischen Materie und Geist zu schlagen, indem er sogar seinen Körper vergöttlicht… Niemand von uns ahnte damals, welch entscheidende Rolle diese ausländische Dame in Sri Aurobindos Sadhana spielen sollte… Sie war außergewöhnlich schön313.” Dann, als eines Tages ein Zyklon das Dach des Hauses, das sie am Meerufer bewohnte, wegzureißen drohte, bat Sri Aurobindo sie, zu ihm zu ziehen, und seit diesem Tag hat sie ihn nicht mehr verlassen. Das war am 24. November 1920. Paul Richard, “unfähig, dieses Leben der Selbsthingabe zu akzeptieren”, wie Barin berichtete, verschwand kurze Zeit danach. Zwei Jahre später zogen Sri Aurobindo und Mutter in das nicht weit entfernt liegende Gebäude des heutigen Ashrams, 9 rue de la Marine, mit seinen perlgrauen, in weiß gefaßten Mauern, seiner von Jasmin gekrönten Pforte, seinen Säulen, jenen alten, geräumigen und kühlen Kolonialhäusern ähnlich, die noch nicht rein zweckbetont gebaut waren. Jouveau-Debreuil, ein alter Archäologe aus Pondicherry, sagte, daß hier an dieser Stelle einst der vedische Rishi Agastya, der wie Sri Aurobindo aus dem Norden gekommen war, mit seiner Gefährtin Lopamudra vor siebentausend Jahren seinen Ashram gegründet hatte. Dieser Ort hieß Veda Puri, die Stadt des Veda. Wir wissen nicht, ob es genau dieselbe Stelle war, doch der Überlieferung zufolge befand sich tatsächlich in diesem Umkreis die Zufluchtsstätte jener ersten Rishis, die von der “Sonne der Wahrheit” unter dem Felsen des “Berges” sprachen. Die Wahrheit in der Tiefe der Materie. Und Lopamudras Worte klingen in unseren Ohren wie ein reines und in seiner Einfachheit so ergreifendes Echo: “Viele Herbste lang plagte ich mich Tag und Nacht, die Morgenröten altern mich. Das Alter läßt die Glorie unserer Körper schwinden” (Rig-Veda, I.179.1). Sie, die den “Nektar der Unsterblichkeit” suchte, wird sie ihn diesmal finden?
Die Vergöttlichung des Körpers.
Es ist die Zeit der “Abendgespräche” – noch konnte man Sri Aurobindos Stimme vernehmen, bevor er sich 1926 endgültig zurückzog. Inzwischen hatten sich ungefähr ein Dutzend Schüler um ihn versammelt (1926 waren es 24). “Man hatte immer das Gefühl,” notierte Purani, einer seiner ältesten Schüler, “als sei es die Stimme von jemandem, der nicht sein ganzes Wesen in seine Worte fließen ließ. Es lag eine gewisse Zurückhaltung in ihnen, und das, was sich hinter seinem Schweigen verbarg, war vielleicht bedeutender als alles, was gesagt wurde… Dennoch gab er gelegentlich seine persönliche Meinung über gewisse Probleme und Ereignisse kund. Aber selbst dann war es nie eine autoritäre Aussage. Meistens begnügte er sich mit einer logischen und geradezu unausweichlichen Schlußfolgerung, die er vollkommen unpersönlich zum Ausdruck brachte. Diese Unpersönlichkeit war ein so markanter Wesenszug seiner Persönlichkeit! Selbst wenn es darum ging, ein Telegramm oder einen Brief aufzugeben, erteilte er hierfür an keinen seiner Schüler irgendeinen Befehl, sondern machte lediglich, während er wie üblich durch den Speisesaal schritt, mit seinem Brief oder Telegramm mitten in der Gruppe halt, und sagte auf sehr freundliche aber völlig unpersönliche Art: «Ich nehme an, dies ist aufzugeben…» Seine bevorzugte Formulierung war: «es wurde getan» oder «es geschah», nie: «ich tat es314.»” Auch sein jüngerer Bruder Barin beobachtete die gleiche stille Zurückhaltung an Sri Aurobindo; nie etwas “Auffallendes”, nie eine Wunderdemonstration: “Seine ruhigen, verträumten Augen lösten sich selten aus der inneren Versunkenheit, nicht einmal in seinen äußerlichsten, ihn stark in Anspruch nehmenden Beschäftigungen… Sri Aurobindos Methode, den Yoga in den anderen zu erwecken, war damals so, wie sie auch jetzt ist: eine stille, diskrete Übermittlung seiner Kraft, die allmählich half, eine Tür im Suchenden zu öffnen315.”
Diese “Zurückhaltung” sollte Sri Aurobindo bis zum Schluß bewahren, er empfand eine vielleicht britische Abscheu vor allem, das nach Wunder aussah – Wunder, was sind das doch für aufdringlich schlechte Manieren! Ich bin nicht gekommen, um Wunder zu vollbringen, sondern um den Weg zu zeigen, Richtlinien zu geben und um auf diesem Weg zu einer großen inneren Wandlung unserer menschlichen Natur weiterzuhelfen316. In der Tat wollte er keine Wunder, sondern suchte das genaue Gegenteil des Wunders: das einzig Natürliche der Welt. Selbst auf die Gefahr hin, den neugierigen Besucher oder sogar seine Schüler zu enttäuschen: Sie hätten sich nur zufrieden gegeben, wenn man ihnen einen ganzen Packen zweifelhafter Wunder aufgetischt hätte, sagte er Mutter eines Tages. Wenn zufällig einige ihn baten, mit ihm meditieren zu dürfen, empfing er sie morgens auf der weiträumigen Veranda über dem Eingang des Ashrams, die er in jenen Tagen bewohnte, und erlaubte ihnen dort zu meditieren… “während er die Zeitung las”, notierte mit einem Anflug des Erstaunens Champaklal, der bis zum Schluß sein treuer Diener blieb317. Nein, er hatte es keineswegs nötig, die Augen zu schließen oder sich zu konzentrieren – was bedeutet, “sich zu konzentrieren”? Sich im Kopf zu konzentrieren? Sein Körper war konzentriert, sein Körper verfolgte den Yoga und strahlte den Yoga aus. “Der Sprung ins Physische” heißt, im Physischen zu leben. Wir hingegen leben nie im Physischen, sondern erleben die Materie durch das Mental, außer vielleicht ein paar glückliche Gärtner und Kunsthandwerker (aber selbst sie trotten meistens in ihrem Kopf herum, während sie ihre Rosen beschneiden oder Töpfe drehen). In das Physische hinabsteigen heißt tatsächlich als erstes, in die Trägheit und Dunkelheit hinabzusteigen, denn die Substanz ist so sehr daran gewöhnt worden, den Befehlen des Mentals zu gehorchen und vom Mental manipuliert zu werden, daß sie überhaupt nicht mehr fähig ist, selbständig zu leben: alles wurde von einer mentalen Kruste überdeckt, die nichts mehr durchsickern läßt. Wir sind Pioniere, die ihren Weg durch den Dschungel der niedrigen Prakriti [Natur] durchhauen müssen318. Langsam muß dem Körper wieder beigebracht werden, sein eigenes Leben zu leben, und das läßt sich nicht aus den Höhen des Mentals bewerkstelligen, sondern eher beim Heben von Wassereimern (Sri Aurobindos bevorzugte Übung im Gefängnis in Alipore) oder beim Treppensteigen oder sonst irgend etwas – das schließlich aufhört, “irgend etwas” zu sein, sondern anfängt, sein eigenes Leben zu leben, seine eigene Luft zu atmen, aus eigener Empfindsamkeit heraus zu fühlen. Eine andere Verfassung des physischen Bewußtseins319 war es, wonach Sri Aurobindo strebte und was er mit so viel Mühe seinen Schülern verständlich zu machen suchte, die unweigerlich in den traditionellen Vorstellungen des Yogas steckenblieben: das kosmische Bewußtsein und bla-bla-bla. Man kann sich ganz im kosmischen Selbst verschmolzen fühlen oder von ekstatischer Liebe und Ananda erfüllt sein, im allgemeinen hört man aber nicht auf, in den äußeren Teilen seiner Natur mit dem Intellekt zu denken – bestenfalls mit dem intuitiven Mental –, mit dem mentalen Willen zu wollen, an der vitalen Oberfläche Freude und Leid zu empfinden und im Körper physische Nöte und Schmerzen zu erleiden im Lebenskampf gegen Krankheiten und Tod320. Und immer wieder wird er seinen Schülern sagen: Unser Yoga hat nur dann Erfolg, wenn sich auch der äussere Mensch ändert. Das aber ist das Schwierigste von allem. Das kann nur durch eine Änderung der physischen Natur gelingen, durch eine Herabkunft des höchsten Lichts bis in die niedrigsten Teile der Natur. Denn hier wird die Schlacht ausgefochten… Doch der äußere Mensch klammert sich noch an seine alten Weisen, seine alten Muster, seine alten Gewohnheiten. Die meisten scheinen noch nicht einmal zur Notwendigkeit einer Änderung erwacht zu sein321. (Diese lakonische Feststellung stammt aus dem Jahr 1934, also vierzehn Jahre später, aber selbst vierzig Jahre später sollte die Lage kaum besser sein.) Es gibt eine gewisse Art des Treppensteigens, die einen ungeheuren Unterschied im Leben ausmachen kann.
Nur ist es nicht “auffällig”. Sri Aurobindos Yoga ist der unauffälligste Yoga, den es gibt, wir sagten es bereits. Aber wenn er erst einmal auffallen wird, dann wird er etwas anderes sein als nur ein paar nette Gedanken, die alle auf dem Friedhof enden: es wird eine veränderte Erde sein – sichtbar verändert. Aber keineswegs eine “hübsche Erde” aus der Sicht eines Super-Heiligen, nein, eine andere Erde, eine andere Materie. Unsere nächste Materie entsteht oder vielmehr offenbart sich durch die Auflösung einer Million kleiner Gewohnheiten… den kleinen Gewohnheiten, falsch zu sehen, falsch zu leben, falsch zu sein. Und was das kosmische Bewußtsein betrifft, es wird uns in der Materie zuteil, in jeder Minute und durch den kleinsten Kieselstein. Es ist höchste Zeit, daß wir aus dem alten kosmischen Betrug des Mentals herauskommen. Mao Tse-tungs “Große Einheit der Volksmassen” stellt vielleicht einen wahreren Schritt in Richtung Evolution dar, als alle unsere spirituellen Kritzeleien – nur, statt einer mechanischen, äußeren, repressiven Einheit, sollte es eine bewußte, innere und… lächelnde Einheit sein. Es geht darum zu wissen, woraus die kosmische Einheit erwachsen soll: aus unserer bereitwilligen Materie oder unserer erdrückten Materie? Das ist die Frage.
Der göttliche Materialismus oder der andere.
Wir kennen die Materie nicht. Sie ist das Offensichtlichste und zugleich Mysteriöseste, das es gibt. Haben wir den Körper erst einmal aus seiner mentalen Kruste befreit und vor allem die Materie von ihren tausend vitalen Schwingungen, die nur so beben vor lauter Reaktionen der Begierde, der Attraktionen, der Abneigungen, des Verlangens nach mehr oder weniger, nach ja oder nein (obgleich wir es hier nicht einmal mit dem wahren “Vital” zu tun haben, dem der Tiere, sondern noch immer mit dem Mental, das sich in die Materie eingeschlichen hat und darin lauert), sobald hier Klarheit geschaffen, der erste Dschungel gelichtet ist, wird das physische Bewußtsein, das Bewußtsein des Körpers freigesetzt: ein vollkommen autonomes Bewußtsein, sobald es von den beiden Thronräubern, Mental und Vital, befreit ist. Es ist ein Bewußtsein mit merkwürdigen Eigenschaften: Sobald dieses Bewußtsein in Kraft tritt, sagte Sri Aurobindo, fühlt man eine Ruhe wie etwas Solides, Substantielles, Etabliertes, wie ein unwandelbarer Block, den selbst der materiellste Stoß nicht zu erschüttern vermag und noch weniger ein mentaler oder vitaler Schock322. Diese Stabilität der Ruhe, man könnte fast sagen diese solide Unbewegtheit, die Sri Aurobindos charakteristischer Wesenszug war, stellt die Grundlage einer ungeheuren, der Erde noch unbekannten Kraft dar – wir wissen nichts von den Geheimnissen des Körpers, nichts von seinen unscheinbaren Wundern, wie Mutter sie nannte. Die mächtige Unbewegtheit eines unsterblichen Geistes323, schrieb Sri Aurobindo in einem seiner Bücher, und das beschreibt genau ihn selbst. Eine zellulare Unbewegtheit, die alles “einfriert”, alles neutralisiert, alles auflöst und die uns fast augenblicklich ahnen, erkennen oder sogar fühlen läßt, daß die Zellen in ihrem natürlichen, vom Mental unverdorbenen Zustand Krankheiten gegenüber unverwundbar sind; sie wollen keine Krankheit, sie wollen keine Störung, sie weisen dies als etwas ihnen Fremdes zurück oder brauchen es nicht einmal zurückzuweisen: die Krankheit kann die Barriere der Unbewegtheit nicht durchdringen. Die Zellen sind sich ihrer Unsterblichkeit bewußt. Als einziges Problem bleibt die Abnutzung, die diese Unbewegtheit zu zerstören vermag. Die Macht dieser körperlichen, zellularen Ruhe ist so außergewöhnlich, daß sie sogar auf die umgebenden materiellen Umstände einwirken kann: die innere Materie wirkt auf die äußere Materie, in vollkommener Kontinuität. Das frappierendste Beispiel dafür ereignete sich während des “großen Orkans” in Pondicherry (ich erinnere mich nicht mehr, in welchem Jahr, jedenfalls vor 1930). Mutter schilderte es mir folgendermaßen: In der Nacht des großen Orkans, als dieser ohrenbetäubende Lärm, diese heftigen Regengüsse über der ganzen Stadt ausbrachen, beschloß ich, in Sri Aurobindos Zimmer zu gehen, um ihm zu helfen, seine Fenster zu schließen. Ich öffnete seine Tür einen Spalt weit und fand ihn ruhig an seinem Schreibtisch sitzend, ins Schreiben vertieft. Sein Zimmer war von einem so massiven Frieden erfüllt, daß sich niemand hätte vorstellen können, draußen wüte ein Orkan. Die Fenster standen weit offen, und kein Tropfen Regen kam herein324. Nichts konnte eindringen. Nein, es ist gar nicht nötig, Wunder zu vollbringen – die Materie vollbringt ganz von allein ihre eigenen kleinen Wunder, wenn wir sie nur gewähren lassen. Aber noch bemerkenswerter ist, daß diese spontane Kraft der Materie (Sri Aurobindo tat nichts, er kümmerte sich überhaupt nicht um den Orkan) sogar auf Menschenmassen ausstrahlen und einwirken kann, was immerhin schwieriger erscheint, als auf einen Orkan (!), weil hier das Mental der Menschen mit ins Spiel tritt. Einmal, als sie von Unfällen und Angriffen sprachen, bemerkte Sri Aurobindo in seinem stets vollkommen neutralen Tonfall, der wie die Offensichtlichkeit einer Quelle klang und keiner Betonung bedurfte: Im Falle von Gewalttätigkeiten – bei einem Aufstand zum Beispiel – müßte ich vier oder fünf Tage lang konzentriert bleiben, um mich zu schützen325. Im Englischen sagte Sri Aurobindo wörtlich: “ich bin konzentriert” und nicht “ich konzentriere mich”. Ja, die Materie konzentrieren (was aber mehr Zeit in Anspruch nimmt als für einen Orkan und einer willkürlichen Handlung bedarf, weil die menschlichen Kräfte ganz und gar nicht natürlich sind). Wer hätte sich je vorstellen können, daß die Materie durch ihre eigene Ausstrahlung, ohne übermenschliche oder okkulte Kräfte wie jene, die Theon und alle Yogis anwandten, aus sich heraus imstande sei, eine unsichtbare Schranke zu errichten, die eine Menschenmasse aufhalten könnte, ohne daß sie wüßte warum? Doch es ist wahr, daß die Menschen immer Dinge tun, ohne zu wissen warum. Je mehr Erklärungen sie von sich geben, desto mehr entgeht es ihnen.
Einer kleinen Zelle aber entgeht es nicht.
Noch wissen wir nichts über die Materie.
Aber der Dschungel vertieft sich. Er gewährt uns entzückende, überraschende und allmächtige kleine Lichtungen, “einfach so”, als wäre nichts, dann plötzlich verschließt er sich wieder vor etwas Dichterem und noch Mysteriöserem: Es war nur, um uns immer weiter und tiefer in sein Mysterium zu “locken”, als wollte er, daß wir sein Mysterium fänden. Das Erstaunliche schon beim ersten Anlauf auf diesem… “Weg”, hätte ich beinahe gesagt – eher dieser Weglosigkeit – ist, daß er automatisch kleine Zeichen rechts und links auftauchen läßt, die alsbald von allen Seiten immer mehr anwachsen, als wolle sich das Geheimnis selbst einfangen lassen – aber es ist, wie die Materie, sehr komplex, und da gibt es Tausende von Zeichen und Umwegen und Fallen. Trotzdem ist es unglaublich einfach. Bis zum Schluß wird man den Eindruck nicht los, daß das Geheimnis transparent und dennoch ein totaler Dschungel ist… Die physische Ebene, sagte Sri Aurobindo in seinen “Abendgesprächen”, ist ein sehr widerspenstiges Ding, man muß sie bis ins einzelne ausarbeiten. Ihr arbeitet an einem Punkt und denkt, es sei getan; aber da taucht etwas anderes auf, und ihr müßt wieder von vorne anfangen. Es ist hier nicht wie im Mental oder Vital, wo die höhere Kraft leichter arbeiten kann. Außerdem kann man im Mental und im Vital ein Allgemeingesetz aufstellen und die Einzelheiten beiseite lassen; das Physische hingegen ist nicht so: es verlangt beständige Geduld und peinliche Genauigkeit326… Und Sri Aurobindo nannte ein Beispiel: Swami Brahmananda (aus Chandod) lebte bis zum Alter von dreihundert Jahren und war praktisch immun gegen die Wirkung des Alterns. Eines Tages stach er sich aber an einem rostigen Nagel, und er starb an dieser leichten Verletzung. Auf der physischen Ebene kann plötzlich etwas auftauchen, das ihr nicht ausgearbeitet habt, um euch zu zeigen, daß die Eroberung nicht vollständig war. Das ist der Grund, warum der Vorgang so lange dauert. Ihr müßt das höhere Bewußtsein in jedem atom des körpers etablieren, sonst kann es geschehen, daß etwas in den versteckten Tiefen eurem Blick entgeht, das aber den feindlichen Kräften bekannt ist, und so greifen sie euch genau an diesem schwachen Punkt an. Sie können ein Zusammentreffen von Umständen schaffen, die genau den Punkt, den ihr nicht ausgearbeitet habt, hervorspringen lassen, und bevor ihr etwas dagegen unternehmen könnt, geraten sie außer Kontrolle. In diesem Fall können sie euch vernichten327.
In jedem Atom…
Nichts ist getan, wenn nicht alles getan ist, sagte Mutter.
Tatsächlich kommt es uns beinahe so vor, als wolle der Dschungel uns in den Tod locken… und vielleicht will er das in der Tat; jedoch nicht, um uns zu vernichten, sondern weil dort das Geheimnis liegt. Er will, daß wir sein Geheimnis finden. Es gibt kein einziges Hindernis, das nicht letztlich der Schlüssel zu einer vollständigeren Entdeckung und umfassenderen Verwirklichung enthielte. Immer und überall liegt die Kunst darin, das Gift in Nektar umzuwandeln. Solange wir aber dem Gift noch mit Penizillin und Moral beizukommen versuchen, verstehen wir nichts und nie etwas von der Materie. Mit nackten Händen müssen wir uns ins Innere der Materie wagen, vor allem aber mit einem Feuer im Herzen, einem Glauben… der die Erinnerung der Seele ist328, wie Sri Aurobindo sagte. Etwas innen, das sich des gesamten, voll entfalteten und siegreichen Amazonien erinnert. Der Glaube ist das Amazonien selbst, das uns zu seiner eigenen Entdeckung führt.
Jetzt bleibt nur noch die materiellste Ebene, fügte Sri Aurobindo jenem Gespräch im Jahr 1924 hinzu, und das ist die gefährlichste. – “Warum gefährlich?” fragte der Schüler – Weil sie solide, kompakt ist und ihre eigene Substanz ablehnen oder sogar ganz aufgeben kann. Sie ist am wenigsten für Erklärungen offen; um sie zu lenken, bedarf es der höchsten göttlichen Kraft. Außerdem ist das ganze Samskara – die bestehende Prägung – des gesamten Universums gegen eure Bemühung329.
Es kommt ein Punkt, wo es nicht mehr ein Körper oder eine Materie ist, sondern der Körper der Welt, die universelle Materie. Es ist das Unterbewußte der Welt, das Unbewußte der Welt. Als könnte das Problem nicht für nur ein Individuum gelöst werden, sondern für die ganze Welt oder überhaupt nicht.
Gerade hier spielen die Muster des evolutionären Labors eine so bedeutende… und traurige Rolle.
19. Kapitel: Die erste Etappe. 1926 – 1950
“Seit Anfang November begann der Druck der höheren Kraft unerträglich zu werden330”, notierte ein Schüler. Man hatte es ihm nicht in den Mund gelegt. Es lastete auf ihren Köpfen. Vielleicht begann es sogar, auf dem Kopf der Erde zu lasten. Es war im Jahr 1926. Am 24. November gegen 17 Uhr ließ Mutter plötzlich alle Schüler zusammenrufen. Man rannte in alle Richtungen, um sie auf dem Boulevard, am Meer oder beim Fußballspiel aufzutreiben. Um sechs Uhr waren alle versammelt. Hinter Sri Aurobindos Stuhl oben auf der geräumigen Veranda hing ein Wandbehang aus schwarzer Seide, auf dem drei goldene Drachen abgebildet waren – chinesische Drachen –, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen. Sri Aurobindo hatte künstliche Szenarien nie gemocht, aber vielleicht spielt sich dennoch manchmal eine wahre Szene auf der Erde ab. Ich vermute, daß Mutter diesen Wandbehang von ihrem Aufenthalt aus China mitgebracht hatte. Wie dem auch sei, die Drachen symbolisierten etwas: Eine alte chinesische Prophezeiung gab kund, daß sich die Wahrheit auf der Erde offenbaren würde, wenn die drei Drachen – der Drache der Erde (Erde = Körper), der Drache des Mentals und der Drache des Himmels – sich begegnen. An jenem Tag war es vielleicht tatsächlich eine erste Begegnung der Materie mit dem “Himmel”. Dieses “Etwas”, das auf ihren Köpfen lastete. China hatte also wieder seine Nase bis in Sri Aurobindos Zimmer gesteckt und war in gewisser Weise bei dem Ereignis zugegen. Es mag ein purer Zufall gewesen sein, aber das Ende der sogenannten Zufälle ist noch nicht in Sicht. Wer weiß, ob China nicht den Drachen des Mentals darstellt?… Die Chinesen sind die intelligentesten Wesen. Sie jagen uns kalte Schauer über den Rücken. Um 18 Uhr kam Sri Aurobindo gefolgt von Mutter aus seinem Zimmer – wie immer diese maßvolle Gelassenheit seiner Gesten. Er hatte sich bereits sehr verändert (physisch verändert): ein Schüler, der vor kurzem zurückgekommen war, um ihn zu besuchen, hatte ausgerufen: “Aber was ist denn mit Ihnen geschehen!?” Sri Aurobindo, der Frage ausweichend, antwortete schelmisch: “Und Sie, was ist mit Ihnen geschehen?” woraufhin er jedoch eine einfache Antwort gab: Wenn das höhere Bewußtsein auf die mentale Ebene herabkommt, in das Vital und sogar unter das Vital dringt, dann findet im Nervensystem und sogar im physischen Wesen selber eine große Transformation statt331. Sri Aurobindos Hautfarbe hatte sich sichtlich erhellt. Bei ihm, der eher etwas dunkelhäutig war “wie ein gewöhnlicher Bengale”, notierte Purani, dieser ältere Schüler, “fand ich, daß die Farbe seiner Wangen apfelrosig war und sein ganzer Körper ein sehr weiches, cremefarbenes Licht ausstrahlte332”. Eine “beträchtliche” Veränderung! Aber das war noch nichts: nie werden wir wissen, nie werden wir sehen, wie Sri Aurobindo in der Zeit zwischen 1926 und 1950 war, als dieses cremefarbige Licht golden wurde, als ob es sichtbar für alle seinen ganzen Körper durchdringe; seine Statur hatte ihre ausgeprägten, asketischen Züge der zwanziger Jahre hinter sich gelassen und war von einer massiven Unbewegtheit erfüllt, als sei man plötzlich in den Himalaja eingetreten, aber in einen sehr sanften Himalaja, so weit, so kristallklar, daß man darin wie in einer Ewigkeit verschmelzen konnte, eine lebendige, massive Ewigkeit – oh, wer das Privileg hatte, da einzudringen, in diese Augen zu blicken – oder vielmehr von ihnen erblickt zu werden! Unergründliche Augen, die sich ebenfalls verändert hatten, vom feurigen Schwarz wie dem Kämpfer Kalis, zu goldenem Braun und zur schmelzenden Unendlichkeit, wo man nicht mehr wußte, ob es das Blau des Himmels oder gar keine Farbe mehr war, so weit war man darin entrückt, als ließe man sich sanft dahintreiben in die Ferne eines großen ewigen Landes, wo man für immer glücklich, für immer zu Hause war, rein und wahr für immer. Es war das, und das war alles. Nie werden wir diese sanfte Unendlichkeit wiedersehen, eingefangen von ein paar Zellen. Er ließ sich nie photographieren, außer im letzten Jahr, 1950, als er sich schon entschlossen hatte zu gehen, und da war es bereits ein Sri Aurobindo auf der anderen Seite, seine Materie zurücklassend – aber selbst diese Photographie werden wir nie in ihrer Reinheit zu Gesicht bekommen, denn ihr wurde ein photographischer Heiligenschein hinzugefügt, für die, die nicht sehen können. So geht es zu auf der Welt: post mortem versieht man euch mit einem Heiligenschein, wenn er aber lebendig zugegen ist, dann wird er als ziemlich “unerträglich” empfunden… außer für die, die es verstehen, darin zu verschmelzen. Wie sanft war es doch, hier zu schmelzen, hier den kleinen Pygmäen-Menschen zu vergessen, sich hier der einzigen Erinnerung wieder bewußt zu werden, die im Menschen lebt. Ich sah ihn nur einmal, aber das eine Mal ist wie das Leben. Danach weiß man, was es heißt zu lieben.
Um 18 Uhr kam er also aus seinem Zimmer, gefolgt von Mutter ganz klein und zart – sie war sehr klein, diese Mutter, sie wirkte so gebrechlich und war dennoch wie Blitz und Donner, man fühlte sich von ihr physisch von allen Seiten überragt, als ob sie sehr groß wäre. Aber das ist eine andere Geschichte (und es ist nicht “als ob”), eine lange Geschichte, die wir wahrheitsgetreu wiedergeben wollen – und die vollkommen wahrheitsgetreu sein wird. Nein, keine Glorienscheine: die reine Wahrheit ist wunderbarer als alle unsere Heiligennischen. Er setzte sich, sie nahm zu seiner rechten Seite auf einem kleinen Schemel Platz. Die Meditation dauerte ungefähr fünfundvierzig Minuten – unter den Drachen. Sie waren insgesamt vierundzwanzig. “Alle Anwesenden spürten eine Art Druck über dem Kopf. Die ganze Atmosphäre war wie von elektrischer Energie überladen… offensichtlich war ein neues Bewußtsein auf die Erde herabgekommen333”, notierte Purani. Und das ist alles.
Alle meine Zellen beben von herrlicher Flut hinweggefegt…
Starr wie ein Stein, unbeweglich gleich einem Berg oder einer Statue,
Unermeßlich fühlt sich mein Körper und trägt das Gewicht der Welt;
Schrecklich, die breite Herabkunft des Göttlichen in Glieder, die sterblich sind…
Die ganze Welt wird in eine einzige Einheit verwandelt334…
Das ist alles, was ein an jenem Tag geschriebenes Gedicht andeutet. Es war der Anfang der Öffnung der Zellen. Sri Aurobindo sagte lediglich: Ich habe euch gerufen, um euch mitzuteilen, daß ich mich von heute an für meine Sadhana zurückziehen werde und die Mutter die Fürsorge für alle übernehmen wird; an sie habt ihr euch zu wenden, sie wird mich vertreten, sie wird die ganze Arbeit übernehmen. Das war die offizielle Gründung des Ashrams. Von nun an wird man ihn nur noch dreimal im Jahr zu Gesicht bekommen (später vier), an den sogenannten Darshan-Tagen, an denen alle still an ihm vorbeigingen, um seinen Blick zu empfangen. Vierundzwanzig Jahre wird er in seinem Zimmer verbringen, to work things out335, wie er sich in seinem unübersetzbaren Englisch voller Euphemismen ausdrückte: “um die Dinge auszuarbeiten”, bis man ihn unten im Hof des Ashrams unter den Flamboyanten mit den gelben Blüten legte, dem Mutter den Namen “Dienst” gab:
Du wirst alle Dinge ertragen, damit alle Dinge sich ändern336
Als ich Mutter diese Zeile aus Savitri vorlas, fügte sie hinzu: Sogar den Tod, das ist der Grund, warum Sri Aurobindo seinen Körper verlassen hat.
Mußte er wirklich sterben, um den Tod zu ändern?… Den Tod ändern, was bedeutet das? Es sind noch so viele Mysterien in diesen zwei Leben zu enthüllen, daß wir vor diesen Zeilen stehen wie im Gebet.
Er hatte gesagt: “Sie wird alle Arbeit übernehmen.” Das ist aber nicht, was Mutter sagte: Er übertrug mir angeblich die ganze Verantwortung und hielt sich selbst im Hintergrund, doch er war es, der alles tat – ich bewegte mich bloß, ohne die geringste Verantwortung! Sie bewegte sich jedenfalls im Galopp. Sie schuf ein Leben von Grund auf, angefangen von der Bäckerei (schließlich mußten die Leute ja essen), den Gärten, der Wäscherei, der Werkstatt und dem Schuhmacher bis zu Ankauf, Reparatur und Wartung von Häusern – und all das lag über die ganze Stadt verstreut (von Anfang an, schon im Jahr 1920, noch bevor der Ashram gegründet war, hatte Sri Aurobindo klar gesagt: Meine Idee war, daß unser System sich innerhalb und nicht außerhalb der Gesellschaft entwickeln soll337…), mit allen Problemen, die diese so klebrige Mischung mit dem sogenannten “gewöhnlichen” Leben aufwirft. Es ging wirklich darum, das Leben eines jeden, Männer und Frauen gemischt, von Grund auf, voll und ganz aufzunehmen, um daraus ganz unauffällig etwas anderes zu machen, mitten in den bestehenden weltlichen Bedingungen. Die vier Wände eines Ashrams, nein, das kam überhaupt nicht in Frage – es gibt nichts, das einem Ashram weniger glich als dieser Ashram. Daher all die Schwierigkeiten, sowohl in den Leuten als auch in den äußeren Umständen. Es gibt kein bequemeres Dasein, als das des Asketen, der sich dem “spirituellen Leben” widmet und den Mantel abwirft, um sich auf seine Tugenden zu konzentrieren: er weiß im voraus, was ihn erwartet – eine Schale Reis, rein und einfach, ein paar Lumpen, eine Matte auf dem Boden (oder auch keine), das ist wundervoll, man hat sich von allem losgesagt und entdeckt nun mit Begeisterung die Freuden der Freiheit. Sobald man euch aber jedermanns Napf, jedermanns Kleider reicht, euch ein Dach über dem Kopf mit Garten und sogar eine Magd zur Verfügung stellt, dann werdet ihr bald anfangen, das Essen nicht genügend gesalzen, die Kleider schlecht gebügelt, den Garten vernachlässigt, die Magd verlogen und unerträglich zu finden: es knirscht und reibt auf allen Seiten. Mikroskopische, systematische und unermüdliche Reibereien von morgens bis abends und bis in die kleinsten Einzelheiten. Die Materie fängt an, euch zu ersticken. Mutter und Sri Aurobindo wußten ganz genau, was sie taten. Oh, es ist sehr angenehm, ein Held zu sein! Aber Heroismus auf der Ebene der gewöhnlichen Materie, Schritt für Schritt, ist unvorstellbar schwierig – was da nicht alles hochkommt, aus sämtlichen Winkeln und Ecken des Unterbewußten sprudelt es hervor: alte Gewohnheiten, ob ererbter, familiärer, kulinarischer oder selbst patriotischer Natur, vor nichts bleiben wir verschont; in jeder Sekunde, beim geringsten Anlaß tritt all das ganz nackt und lächerlich, äußerst trivial, eigensinnig und borstig zutage. Wie zermürbend das ist! Wie endlos! Dauernd ertappt man sich dabei, nicht so zu sein, wie man sein sollte. Jeden Augenblick stellt man fest, daß man die Dinge nie auf die richtige Weise tut. Es wimmelt und schwirrt nur so von alten Reaktionen, alten Anschauungen, dem ganzen alten, endlosen Gefasel des Mentals, den alten Schwingungen des Vitals; und tief unten murrt es, tief unten empört es sich und ist unzufrieden – die ganze Materie stöhnt und jammert und verweigert den Druck des Lichts oder sogar den schwachen Druck des Mentals, die Dinge auf eine weniger automatische, weniger unbewußte, weniger unklare Weise zu tun. Einen Rasierapparat zu nehmen und sich beim Rasieren jeder Geste bewußt zu sein, ist eine widerwärtige Aufgabe – es will nicht, es klebt und sträubt sich, als mache es sich über uns lustig. Überall stößt du gegen Mauern, in allem, was du tust, in allem, was du denkst, in allem, was du sagst. Wie trivial und gemein! So schwerfällig und widerspenstig ist die Materie – Jahrtausende der Materie und Hunderte von Urahnen kleben sich an jede kleinste Geste… Eine in jeder Minute bewußte, in jeder Minute klare, in jeder Minute genaue Materie? Nein, das ist keineswegs bequem. Das Bezeichnende an dieser physischen Welt ist, daß sie eine unermüdliche Wachsamkeit erfordert, sagte sie 1924 in einem Brief an ihren Sohn; die Eroberung des materiellen Reichs gestattet keine Schwäche, auch nicht für kurze Zeit; und die Schwäche eines einzigen Augenblicks hat fast immer verhängnisvolle Folgen, die in keinem Verhältnis zur Bedeutung und Dauer dieser Schwäche zu stehen scheinen338. Als enthielte ein Körnchen falscher Materie oder falscher materieller Reaktion wirklich den Keim der Vernichtung und des Todes! Im Mental hält man lange Reden, in der Materie aber pulsiert jede Sekunde entweder dem Leben oder dem Tod entgegen. Auf dieser Ebene ist die Wahl sehr einfach und äußerst radikal. Haben wir erst einmal unsere Augen vor diesen mikroskopisch kleinen Dingen geöffnet, dann berühren wir eine Kette von Ereignissen, die vom einfachen Ausrutschen auf dem Gehsteig bis zu großen Katastrophen reicht. Dann stoßen wir auf die ungeheure Komplizenschaft der Materie, für die es keinen Unterschied zwischen groß oder klein gibt, sondern hier geht es einfach um Leben und Tod, egal in welchem Maßstab und ununterbrochen. Das eine oder das andere. Nichts Halbes. Das evolutionäre Labor unterlag einer strengen mikroskopischen und unsichtbaren Disziplin. Denn wie soll sich die Materie jemals ändern, wenn sie nicht berührt wird?
Sie ging vom einen zum anderen, schaute in alle Ecken und Winkel und sah alle Einzelheiten: die Qualität des Mehls, die reparaturbedürftige Wand, das i-Tüpfelchen, das schmutzige Geschirr, das Wehweh des einen, die Empörung des anderen, die Streitereien der einen, die Dummheiten der anderen; sie reparierte, korrigierte, ermutigte leise oder richtete ihr direktes Licht auf jeden Punkt, lächelte und überströmte die Herzen mit ihrem Humor oder ihrer Sanftmut oder plötzlichen Weite, die sich wie das Azur in der Tiefe ihrer Augen auftat und alles fortriß, alles in einem triumphierenden Ausbruch der Freude wegfegte, oder diese Flut von Energie, die alle Widerstände niederriß und alles neu erstehen ließ – als könnte mit ihr das Leben in jedem Augenblick neu beginnen. Mutter war eine beständige Neu-Schöpfung. Man konnte in einer Sekunde wieder Kind werden, neu, unberührt, auch wenn man zwei Minuten später seine alten Dummheiten wieder einholt; sie aber fing unermüdlich wieder von vorne an, ebenso unermüdlich, wie man wieder zurückfiel. Alle meine Verwirklichungen wären sozusagen theoretisch geblieben, sagte Sri Aurobindo; erst Mutter zeigte mir den Weg zur praktischen Form339. Ja, Mutter war die Brücke zur universellen Materie – die Shakti in Aktion. Und das Labor wuchs und entwickelte sich. In einem Brief an ihren Sohn im Jahr 1930 berichtete sie: Wir sind inzwischen bei unserem einundzwanzigsten Haus; das angestellte Personal des Ashrams ist auf 60 oder 65 Personen angewachsen, und die Zahl der Mitglieder des Ashrams (die in Pondicherry lebenden Schüler Sri Aurobindos) schwankt zwischen 85 und 100; 5 Autos, 12 Fahrräder, vier Nähmaschinen, ein Dutzend Schreibmaschinen, mehrere Garagen, Autoreparaturwerkstätten, Elektriker, eine Bauabteilung, Schneiderwerkstätten (mit europäischen und indischen Schneidern, Stickerinnen usw.), eine mehrere tausend Bände umfassende Bibliothek mit Lesesaal, ein Photoatelier, Läden für Allgemeinartikel mit buntgemischter, allesamt aus Frankreich importierter Ware, große Blumen-, Gemüse- und Obstgärten, eine Molkerei usw.… Wie du siehst, ist es kein kleines Unternehmen. Und da all das unter meiner Aufsicht steht, kann ich wohl mit Recht sagen, daß ich voll beschäftigt bin340. Im Jahr 1950 sollten es bereits 741 Schüler sein. Ein Absolvent der École Polytechnique hatte sich ihnen angeschlossen (in der Tat verfolgte die École Polytechnique Mutter überall). Er war aus den Lamaklöstern der Mongolei gekommen, wo er sich, alles hinter sich lassend, auf der Suche nach der Wahrheit zurückgezogen hatte. Er wird einer der fähigsten und klarsten (und seltenen) Helfer in diesem Labor sein. Sri Aurobindo gab ihm den Namen Pavitra341, “der Reine”. Er war ein Chemiker von hohem Rang, und es scheint, daß er 1923 in den Laboratorien Japans, wo er kurz nach Mutters Abreise eingetroffen war, eine erstaunliche Möglichkeit entdeckt hatte, Atomenergie aus den meisten der gewöhnlichen Metalle freizusetzen (insbesondere aus Kupfer und Aluminium), was die Atombombe allen Geldbeuteln und allen Verrückten zugänglich gemacht hätte. Aber er vernichtete seine Papiere und zog sich in die mongolischen Lamaklöster zurück. Durch ihn verwandelte sich die Wissenschaft auf symbolische Weise in die Wissenschaft von morgen. Trotzdem quälte er sich genauso wie die anderen und verstand ebensowenig den sonderbaren Prozeß des umgekehrten Yogas, der ihm keine “Befreiung” erlaubte. Genau in dem Augenblick, als er die Barrieren überwinden und außerhalb seines Körpers Zutritt zu den unermeßlichen Weiten über ihm erlangen wollte, zog Mutter ihn wieder in den Körper hinein: “Anstatt mir zu helfen, mich selbst zu transzendieren,” rief er in einem Gespräch mit Sri Aurobindo aus, “fühlte ich, wie sie mich wieder ins physische Bewußtsein zurückholte!” Und Mutter gab die Antwort: Ja, die Arbeit besteht darin, die beiden Bewußtseinszustände zu verbinden, das bedeutet jedoch, das höhere Bewußtsein in den physischen Körper herabzubringen. Alles muß hier im natürlichen Bewußtsein gegenwärtig sein342. Wir können kaum ermessen, wie tiefgreifend die Revolution ist, die Sri Aurobindo und Mutter auf der Welt auslösten… In ihrer ruhigen und schelmischen Art fügte Mutter hinzu: Jedesmal, wenn Sie zu entwischen versuchen, werden Sie auf diese Weise zurückgeholt. Das war kategorisch; aber Mutter verstand es auch, kategorisch zu sein, und nicht von ungefähr. Er sollte Mutters rechter Arm werden.
Sie schonte sich selbst keine Sekunde lang. “Ihr Körper war zart”, bemerkte einer der Ärzte des Ashrams, “Nahrung und Schlaf waren vom medizinischen Standpunkt aus vollkommen unzureichend, um für ihre unbändige Vitalität aufzukommen343.” Aber Mutter und Sri Aurobindo waren allemal unmedizinisch, was sich von selbst versteht, eine gewisse Anzahl anderer Illegalitäten miteingeschlossen. Ich bin ein Atheist der Medizin! rief sie lachend aus. Es war wirklich ein wildes “Aufrühren” der Materie, wie sie es nannte, und das während zweiundzwanzig Stunden von den vierundzwanzig (sie schlief nur zwei Stunden nachts), Tag für Tag, ununterbrochen und bis in die mikroskopisch kleinsten Einzelheiten hinein, sechsunddreißig Jahre lang bis zu jenem Tag 1962, als sie sich zurückzog…, um das zu tun, was Sri Aurobindo im Begriff war zu tun. In voller Aktion, in der Anstrengung, im Vorangehen muß man Ruhe schöpfen344. Tatsächlich ist es charakteristisch für das Supramental, die Gegensätze zu verbinden: Ruhe und Bewegung usw.… Darin liegt eine außerordentliche praktische Lebensformel, die es zu finden gilt. Es gibt eine gewisse Art, die Shakti ohne Reibung durch die Zellen fließen zu lassen. Die Reibung verursacht Abnutzung, Müdigkeit und schließlich den Tod. Wir müssen eine kleine klare Zelle hervorbringen, die eine unendlich mächtigere Energiequelle sein wird als alle unsere Atombomben: Eine unerschöpfliche Energie, sagte sie. Gegen ein Uhr morgens ging sie ein letztes Mal in Sri Aurobindos Zimmer. Dort war ihr Hafen. Die übrige Zeit war sie von den Schülern buchstäblich verfolgt und fand weder Zeit zum Aufatmen noch ein paar Minuten Zuflucht, außer… in ihrem Badezimmer, wo keiner sie zu stören wagte, immerhin. Was geschah zwischen diesen beiden Wesen? – Stille und ein Blick. Wir lebten in wunderbarem Einklang miteinander, in der gleichen Schwingung… War da eine besondere Kraft, die herabkam, oder eine Öffnung oder eine supramentale Offenbarung, wußten wir es zur gleichen Zeit und in gleicher Weise. Wir brauchten es einander nicht einmal zu sagen – nur in Bezug auf die Folgen, die praktischen Auswirkungen auf die Arbeit wechselten wir manchmal ein oder zwei Worte. Das hatte ich nie mit irgend jemandem außer mit Sri Aurobindo.
Auf diese klare Weise verlief das Leben bis zu jenem schicksalhaften Tag im Jahr 1949, als Sri Aurobindo ihr sagte: One of us must go. Einer von uns muß gehen. In seinem ruhigen, neutralen Ton, wie einer, der sich nach der Uhrzeit erkundigt.
Was war geschehen?
Warum? Wieviele Male habe ich mich das seither gefragt… Auch noch im Jahr 1969 fragte sie sich das, zwanzig Jahre später. Natürlich könnte man immer Gründe dafür finden und geben, Mutter selbst deutete einige an, aber… Ein ziemlich furchterregendes “Aber” gilt es da auszugraben, denn die Antwort darauf könnte uns vielleicht das Schicksal der Welt enthüllen. Eine Niederlage?… Etwas anderes?… Er ist nicht gescheitert, sagte sie. Es war wirklich seine Wahl, daß es auf eine andere Weise getan werden müsse, weil er der Ansicht war, daß sich das Resultat so viel schneller einstellen würde. Man kann nicht von “scheitern” sprechen. Scheitern erweckt den Eindruck, es sei gegen seinen Willen geschehen, einfach wie ein Unfall. Es kann kein “Scheitern” sein.
Was war es dann?
“Warum? Wie oft habe ich mich das schon gefragt…”
We can’t both remain upon earth: “Wir können nicht beide auf der Erde bleiben…” War es notwendig, daß sich einer auf der anderen Seite befand? Aber auch sie ist auf die andere Seite gegangen – also? Wo ist die andere Seite, was ist diese “andere Seite”?… Hat diese Seite hier sich geändert?… Hat die andere Seite sich geändert?… Ist er vielleicht nicht mehr “auf der anderen Seite” – eine unglaubliche Vereinigung…? Etwas… Ein Rätsel, wie das der nächsten Erde. Wir müssen dieses Rätsel lösen, denn es zu lösen bedeutet vielleicht, es zu verwirklichen. Jemand, der sagen könnte: “Hier ist es”, und es wäre hier. Der Vorhang wäre geöffnet. Und wir würden sehen, daß er offen war. Aber was, wie?… Wir müssen sehen. Wir müssen finden. Es muß bereits hier sein, direkt vor unseren Augen, nur sehen wir es nicht. Wir sind es nicht gewohnt zu sehen. Eine gewisse Gewohnheit, eine gewisse Weise muß gefunden werden.
Etwas muß gefunden werden.
Um ein Uhr morgens, nach getaner Arbeit, saß sie zu seinen Füßen, endlich ruhig. Eine totale, totale, totale Sicherheit – dreißig Jahre lang… Nichts, nichts Unheilvolles konnte geschehen, weil er da war.
Dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück, fand dort die aus den Gärten gesandten Blumen auf großen Tabletten; sie sortierte und schnitt sie, steckte Rosen nach Farben geordnet in Vasen, bis zwei Uhr morgens, und “schlief” anschließend bis vier. Mit diesen Blumen sprach sie am nächsten Morgen in ihrer unermüdlichen Art zu den Schülern: “Aspiration”, “Flamme”, “Transparenz”, “Öffnung”, “Reinheit”, “Einfachheit”…
Flamme, Flamme! Es bedurfte einer so intensiven Flamme, damit das Werk gelingen konnte.
Ist es gelungen?
Wir müßten sehen. Wir müßten sehen können.
Vielleicht bedarf es der Flamme.
Sonst ist alles verloren. Aber es kann nicht verloren sein, denn er hatte gesagt: Mein Glaube und Wille sind für das jetzt… Ich habe nie einen starken und anhaltenden Willen für ein Geschehen auf der Welt empfunden, ohne daß es nicht schließlich eintrat, wenn auch verspätet, nach Niederlagen oder gar Katastrophen345. Das war im Jahr 1946, nach dem Krieg.
Noch eine Katastrophe?
Oder die innere Flamme, die Flamme, die die Zeit beschleunigt.
Was tat er hinter dem Vorhang?
Wir wissen in Wirklichkeit so wenig; wenn die Schüler darauf bestanden, daß er ihnen “sein” Supramental erkläre (nicht ohne einen gewissen Anflug von Zweifel, gemischt mit Glauben und Geschmack am Wunderbaren und dem uneingestandenen, tiefverwurzelten Mißtrauen der Materie, die sich wunderte, was ihr da wohl auf den Kopf fallen würde), lautete Sri Aurobindos geduldige Antwort: Was nützt es? Wieviel würde irgendeiner verstehen? Außerdem besteht die augenblickliche Aufgabe darin, das Supramental herabzubringen, und nicht, es zu erklären. Hat es sich erst einmal etabliert, wird es sich von selbst erklären – wenn nicht, dann nützt auch kein Erklären. In vergangenen Schriften habe ich einiges darüber gesagt, aber ohne irgend jemanden erfolgreich aufgeklärt zu haben. Warum also den Versuch wiederholen346? Es wird sich selbst erklären… und das ist wahr, ich bin überzeugt, daß es dabei ist, sich auf ganz unwiderstehliche Weise selbst zu erklären, wie ein Bulldozer, in allen Winkeln des Bewußtseins und der Welt. Was den Schülern damals entging, ist inzwischen fast für jedermann sichtbar geworden. Eine Schleuse hat sich geöffnet. Nun verstehen wir auch, warum Sri Aurobindo seinem geschriebenen Werk so wenig Bedeutung beimaß; denn erst 1939, das heißt mehr als zwanzig Jahre später, veröffentlichte er Das Göttliche Leben in Buchform, und auch nur, weil ein Verleger in Kalkutta ihn darum bat. “Welche Selbstverleugnung!” mögen wir mit unserem so menschlichen Bewußtsein denken, und in der Tat scheint es ziemlich unwahrscheinlich, daß viele Genies ihre Meisterwerke stillschweigend zwanzig Jahre lang in der Schublade ruhen lassen würden… Doch Sri Aurobindo sah so viel weiter, so viel tiefer, über seine Person hinaus: dieses Supramental mußte etabliert werden. Die supramentale Herabkunft bedeutet lediglich, daß eine höhere Macht hier im Bewußtsein der Erde als lebendige Kraft wirken wird, so wie das denkende Mental und das höhere Mental es bereits tun347. Die Schüler protestierten jedoch und sagten: “Aber wer kann Ihnen folgen? Nicht jeder ist fähig, Yoga zu praktizieren und die notwendige Anstrengung der Reinigung aufzubringen [mit einem Seufzer]”. Worauf Sri Aurobindo antwortete: In der Tat tragen wir diese Bürde, um denen, die folgen, einen leichteren Weg zu sichern… ihnen gelten alle meine Bemühungen, die supramentale Kraft innerhalb eines meßbaren Zeitraums herabzubringen348. Dies geschah aber nicht in kleinen oder großen, säuberlich gebundenen Büchern mit Goldkanten; es mußte, und er wollte, daß es in die allgemeine Materie eindringe, daß der Mensch von morgen es genauso natürlich einatme, wie wir heute das Mental atmen (oder eher daran ersticken). Nur, statt eine neue Idee in der Luft aufzuschnappen, geht es hier um eine neue Schwingung. Was ist das?… Sie wird sich vermutlich (gewiß) von selbst erklären, doch würden wir gerne einige Schimmer ihres Wirkens erhaschen, trotz Sri Aurobindos “Zurückhaltung”; vielleicht würde es die Zeit beschleunigen – denn die Zeit drängt. Wahrscheinlich irren wir uns aber, und alles geht haargenau so, wie es zu gehen hat. Sagen wir also, daß uns das Privileg offensteht, dem Evolutionsübergang bewußt beizuwohnen, anstatt wie das Seidenäffchen von einem knacksenden Ast zum anderen zu hüpfen, ohne irgend etwas zu verstehen. Über die Einzelheiten und Methode der letzten Etappen des Yogas, die in wenig bekannte und unerforschte Regionen vorstoßen, habe ich nichts öffentlich bekanntgegeben und habe im Moment auch nicht die Absicht, es zu tun349. Das war im Jahr 1935. Er tat es nie. Er ging, bevor er uns sagte, was er tat, stellte Mutter fest.
Dafür gab es einen Grund. Aber das ist für später.
Dennoch können wir uns in Sri Aurobindos Abenteuer begeben und in der Art von Conan Doyles “mein lieber Watson” nach Anzeichen suchen. Sind wir aber erst einmal bei Mutter angelangt, dann hilft uns auch kein Conan Doyle mehr, denn da stehen wir vor einer Aufgabe, die eher dem Entziffern von Hieroglyphen, der Kartographie des Urwaldes oder der Biologie gleichkommt, mit einer Prise Rudyard Kipling und Wells und einem kleinen Moglie, der aus seinem Zauber gar nicht mehr herauskommt… und noch etwas anderem, das vielleicht an Liebe und Prophezeiung grenzt, um das Geheimnis zu entreißen.
Wir brauchen das Geheimnis.
Der erste klare Hinweis auf den Mechanismus stammt aus einem Gespräch von 1923, als Sri Aurobindo sich noch nicht zurückgezogen hatte. “Können Sie uns etwas über den gegenwärtigen Stand Ihrer Sadhana sagen?” fragte Purani, ein charmanter älterer Schüler, der uns seither verlassen hat und dem wir die “Abendgespräche” verdanken. Sri Aurobindo antwortete (mit klarer aber leiser Stimme): Ich kann es weder als einen Zustand noch als eine Verfassung bezeichnen. Es ist eher eine komplexe Bewegung. Ich befasse mich derzeit damit, das Supramental in das physische Bewußtsein und sogar bis in die Regionen unterhalb des Materiellen herabzubringen. Das Physische ist von Natur aus träge und will nicht bewußt werden. Es leistet um so größeren Widerstand, weil es sich nicht ändern will. Man hat das Gefühl, “in der Erde zu graben”, wie der Veda sagt. Es geht buchstäblich darum, vom Supramental oben bis zum Supramental unten zu graben. Das Wesen ist bewußt geworden und befindet sich im Fluß einer ständigen Auf- und Abwärtsbewegung. Der Veda nennt es “die beiden Enden” – Kopf und Schwanz des Drachens, die das Bewußtsein vervollständigen und umfassen. Solange die Materie nicht supramentalisiert ist, können, wie ich feststelle, auch das Mental und das Vital nicht gänzlich supramentalisiert werden. Das Physische muß deshalb akzeptiert und transformiert werden… Ich versuche, das höchste Stratum des Supramentals in das physische Bewußtsein herabzubringen350. Diese Auf- und Abwärtsbewegung ist besonders spürbar für jene, die sich bereits ein wenig mit der Sache befaßt haben. Von seiner mentalen Hülle und den verschiedenen, mehr oder weniger niedrigen oder nützlichen Bindungen befreit, ist das Bewußtsein wie ein Kraftstrahl (Sri Aurobindo sagt “Bewußtseins-Kraft”), der sich frei durch den Körper bewegt, wie ein Strom mit veränderlichen Intensitäten und Dichten. Es ist wie ein Kraftbündel in Bewegung, es steigt und fällt, richtet sich nach außen oder nach innen, auf Leute oder Umstände oder auf innere Schwierigkeiten, die gelöst werden müssen, vergleichbar mit einer radioaktiven Ladung in der Strahlentherapie – es gibt kleine Ladungen und große Ladungen, je nach dem Evolutionsgrad. Die allgemeine Tendenz, wenn beide Füße fest in der erstickenden und dichten Materie stecken, ist jedoch, nach “oben” zu gehen, wie ein Ertrinkender auf der Suche nach ein wenig Sauerstoff in den helleren Ebenen des Bewußtseins, wo es sich freier atmen läßt – in der transparenten Höhe des Vorhangs, sozusagen. So geht man hin und her, steigt hinauf und hinab und bringt jedesmal einen winzigen Lichtfaden mit herab, der so schwach ist und ständig reißt – bis er schließlich zur Ebene der beiden in der Materie steckenden Füße hinabreicht. Ein wenig, wie wenn man Luftblasen im Schlamm macht. Aber nach und nach festigt sich der Faden, wird stärker und reißt nicht mehr so oft. Die Brücke ist entstanden. Zunächst ist es wie ein winziger schmaler Lichtspalt, der quer durch die geologischen Schichten reicht, vergleichbar mit dem, was wir zu sehen bekämen, wenn wir einem besonderen Lichtstrahl folgen könnten, der den Ozean (oder ein Fischglas) durchquert: als erstes durchdringt er die Oberfläche, dann flüssige, immer dunkler werdende Tiefen (im Mental), danach die ersten Ablagerungen auf dem Grund (im Vital), schließlich immer dickeren und schwereren Schlamm bis hinab zum Felsengrund. Je tiefer man “gräbt”, wie Sri Aurobindo und der Veda sich ausdrücken, desto reiner und kraftvoller muß der Strahl sein. Schließlich gräbt man nicht durch einen kleinen Körper, sondern durch den Körper der Welt. Der schmale Lichtspalt erweitert und verbreitert sich und senkt sich Schritt für Schritt in immer tiefere Schichten – “einfach so”, beim Hin- und Hergehen, beim Treppensteigen oder Zähneputzen. Es geschieht überall und ständig und ohne Zeremonien. Es gibt nichts, das weniger zeremoniell wäre. Aber je tiefer es dringt, desto mehr tut es weh. Und desto mehr fängt alles an zu wimmeln, wie ein Schlangennest oder Larvenschwarm, den der Lichtstrahl trifft. Die Welt wimmelt. Die ganze Welt wimmelt, rechts und links zetteln sich kleine Revolutionen an, ohne daß einer wüßte warum. Dies sind die kleinen Dasyus, wie der Veda sie nennt, die da herumtoben: die Höhlenbewohner in der Tiefe. Sie wollen ganz und gar keinen Sauerstoff, sie lieben keineswegs den Lichtstrahl: sie genießen ihren Schlamm, und nichts weiter! Und alles, was in dieses Höhlengewimmel einzudringen droht, ist ein unbarmherziger Schlächter und gefährlicher Feind für die Sicherheit des öffentlichen Schlammes.
So also sieht das Bild “im Querschnitt” aus, könnte man sagen.
Dennoch kommt der Augenblick, wo man das “Supramental unten”, auf dem tiefsten Grund des Loches berührt. Das gleiche Licht wie oben, die gleiche Kraft wie oben, die gleiche Transparenz, die ungeheure Präzision. Das ist “der Honigbrunnen unter dem Felsen”, von dem die Veden sprechen (II.24.4). Die ungeheure Aufgabe, die physischen Zellen dem göttlichen Licht zu öffnen351, sagte Sri Aurobindo schon bevor er sich 1926 zurückzog. Das ist der äußerst gefährliche Augenblick: entweder geht alles in die Brüche, oder es hält durch. Wird der Körper durchhalten? Wird die Erde durchhalten?… Das ist die Frage. Entweder wird alles unter dem “unerträglichen Druck” bersten, oder es läßt sich durchdringen, wird luftiger und paßt sich an. Das nannte Sri Aurobindo eine konzentrierte Evolution352.
Ja, er “arbeitete es aus”.
Weitere Hinweise finden wir in den Reaktionen des Labors selbst und in den wenigen Fragmenten, die Sri Aurobindos Feder entglitten.
Das Labor erwies sich als nicht besonders fähig, der Manipulation oder besser dem “Druck” standzuhalten. Als erstes zeigen sich die großen Fische an der Oberfläche; sie sind leicht erkennbar, und ihre langen Zähne sind nicht einmal so gefährlich, schließlich weiß man, daß es Zähne sind. Danach erscheint die ganze Brut klebriger, flacher Fische, die aus der Tiefe an die Oberfläche quellen und halberstickt umherzappeln. Sie kommen in Scharen… Wenn man sich innerhalb dieser Ebene befindet, anstatt darüber zu stehen und die Welt von oben, vom kosmischen Trapez aus zu betrachten, dann stellt sich ein merkwürdiges Phänomen ein: das Ersticken der Fischbrut fängt an, uns wie unser eigenes Ersticken vorzukommen, man ist es und ringt damit, als könne das Böse nur dann wirklich geheilt werden, wenn man es zur Gänze schluckt. Wie unerquicklich, wie übelriechend! Plötzlich ist man von den übelsten Gerüchen umgeben und wird zur Statur eines Zwerges reduziert, was einen ausrufen läßt: “Was, das ist Yoga! Was, das bin ich! Ist das…?” Es ist äußerst qualvoll. “Schließlich kam ich doch, um das kosmische Bewußtsein zu suchen und nicht diesen stinkenden Unsinn!” Aber ja, eine Million trivialen Unsinns macht den Schmerz, den großen Schmerz der Welt aus – die Haifische sind charmant, aber nicht durch sie droht uns in Wirklichkeit der Tod, sondern er steckt in den kleinen, unzähligen “Nichts”, die unser alltägliches Leben bevölkern, unsichtbar unter all unseren schönen Worten und aufgeblasenen Ideen. Und ständig die zermürbende Stimme der vedischen Asuras [Titanen und Dämonen]: “Du wirst es nicht schaffen, es ist ein hoffnungsloses Unternehmen, es ist zum Scheitern verurteilt, du vergeudest deine Zeit… Gehe doch lieber nach oben ins kosmische Bewußtsein!” So fängt es immer wieder von vorne an, Tag für Tag, ununterbrochen, Nacht für Nacht, pausenlos: “Entweder du oder ich – wer wird gewinnen?” Manchmal fühlt man sich wie die Ziege von Monsieur Seguin, die bei Sonnenaufgang verzehrt werden soll, und Horden kleiner, arglistiger Teufel flüstern uns immer wieder ins Ohr: “Du wirst aufgefressen werden, du wirst…” Es ist ein abscheulicher, zäher Kampf, man kann es nicht anders sagen. Wie gut können wir die Weisen und Heiligen verstehen, die sich alle wie die Hasen aus dem Staub machten und ins Paradies des Bewußtseins entflohen. Hier haben wir es mit dem Unterbewußtsein zu tun, das, was Sri Aurobindo das “Unter-Bewußte” nennt (dabei handelt es sich aber keineswegs um das, was unsere oberflächliche Psychologie darunter versteht), mit anderen Worten, die gesamte evolutionäre, vormenschliche Vergangenheit, alle Schichten, nicht nur die menschlichen sondern auch die animalischen und vegetativen, die sich bis auf den Grund unserer Zellen abgelagert haben. Es erfordert übermenschliche Anstrengung, notierte Sri Aurobindo, denn wenn man sich da hineinwagt, ist es eine Art unerforschter Kontinent. Die anderen Yogis sind bis zum Vital hinuntergegangen. Hätte man es mir vorher gezeigt, ich glaube, ich wäre weniger enthusiastisch gewesen353…
Die Schüler waren es kaum; nach der ersten Welle der Begeisterung bleibt man an mikroskopisch kleinen Unzufriedenheiten hängen, die reiben und reiben – alles ist mikroskopisch. Dennoch wurde die Arbeit für sie getan, das heißt, sie mußten nicht wirklich darum kämpfen (es war Sri Aurobindo, der die Schlacht führte), sie brauchten nur zu folgen, einzuwilligen und sich zu öffnen. Sich öffnen heißt, den Vorgang auf sich einwirken, die Schlacht geschehen zu lassen. Alle Fortschritte, die Sri Aurobindo erreichte, machte ich automatisch, bemerkte Mutter. Das ist das automatische Gesetz des Supramentals, doch damit es wirken kann, muß man dem Fortschritt bis zu einem gewissen Grad Einlaß gewähren – man muß sich auf die Seite des Strahls stellen und nicht auf die des Gewimmels. Wie es aber scheint, verbrachten sie ihre Zeit damit, Mauern zu errichten – oh, nicht oben: oben herrschte das schöne, poetisierende, spiritualisierende, schwadronierende Bewußtsein, voller Verehrung für den Meister. Unten aber… da war es etwas ganz anderes, etwas so Alltägliches, daß man es besser ignorierte, gar nicht hinschaute, um weit “über” dem Ganzen zu stehen – obgleich auch das nicht immer gelang. Schließlich wollte man “Erfahrungen” machen und Yoga praktizieren, damit einem “Erleuchtungen” zuteil wurden, damit Poesie oder Zeitungsartikel oder Inspirationen für ein Buch aus der Feder flossen, man wünschte sich Weiten des Lichts…, um darin zu schlafen. Tausende und Abertausende von Beschwerdebriefen an den Meister. Geduldig und unerschütterlich beantwortete er jeden einzelnen davon und versuchte, es ihnen verständlich zu machen: Der Druck, der Ruf richtet sich darauf, jenen Teil der Natur zu ändern, der direkt vom Unbewußten abhängt [als der Yoga bereits einen Grad tiefer, vom Unterbewußten zum Unbewußten vorgedrungen war], die starren Gewohnheiten, die automatischen Bewegungen, die mechanischen Wiederholungen der Natur, die unwillkürlichen Reaktionen auf das Leben, all das, was dem festgelegten Charakter des Menschen anzugehören scheint.… Was die Erfahrungen betrifft, sie sind schön und gut, das Dumme an ihnen ist nur, daß sie die Natur nicht zu ändern scheinen. Sie bereichern nur das Bewußtsein354. Es war nicht leicht, das zu akzeptieren, auch wenn man es in den höheren Bewußtseinsbereichen verstanden hatte. Darunter aber gärte, murrte es und war beleidigt und klammerte sich an tausend äußerst alltägliche Einzelheiten: keiner wollte sich von seiner kleinen Fischbrut trennen, und wenn nötig, machte man offen sein Recht auf Dunkelheit und Leid geltend. Wenn man diesen sagenhaften Briefwechsel zwischen Sri Aurobindo und seinen Schülern etwas näher betrachtet, dann zieht sich einem das Herz zusammen, man sieht, was er alles Tag für Tag ertragen und schlucken mußte – unnütze Fragen, Haarspaltereien, Engstirnigkeiten, Zank, Selbstmorddrohungen, Hungerstreiks, durch den Widerstand hervorgerufene Krankheiten – alles widerstrebte. Und falls zufällig jemand starb, wunderten sie sich, daß dieses trügerische Supramental sie nicht gegen den Tod immun gemacht hat. Wenn ich das menschliche Bewußtsein göttlich machen will, schrieb Sri Aurobindo an einen seiner Schüler, das Supramental, das Wahrheits-Bewußtsein, das Licht, die Kraft ins Physische herabbringen will, um es zu transformieren…, stoße ich auf heftige Ablehnung, Angst oder Unwillen – oder auf Zweifel, ob es möglich sei. Einerseits verlangt man, daß Krankheiten und all das aus der Welt geschafft werde, und andererseits wird die einzige Bedingung, unter der all diese Dinge aus der Welt geschafft werden können, gewaltsam zurückgewiesen355. Bis zum Schluß wird der Widerspruch dieser “einzigen Bedingung” bestehen. Das “automatische Gesetz” wirkte in die entgegengesetzte Richtung: Sri Aurobindo empfing automatisch sämtliche Unklarheiten der Schüler. Mutter bemerkte vielleicht mit einer Spur von Traurigkeit – obgleich Traurigkeit ihrer Natur immer fremd war: Selbst unter den Besten hier, unter denen, die nicht zögern würden, ihr Leben für eine große Sache aufs Spiel zu setzen, gibt es nicht einen, der bereit wäre, seine kleinen Gewohnheiten, seine kleinen Vorurteile, seine kleinen Schwächen, seine kleinen Annehmlichkeiten aufzugeben, um den endgültigen Sieg dadurch schneller zu erringen. Das ist eine Bilanz. Die kleinen Alltäglichkeiten sind am hartnäckigsten. Es wäre jedoch ein großer Irrtum zu glauben, diese Schüler seien besonders “schlecht” gewesen – wir müssen sogar festhalten, daß sie Engel waren im Vergleich zu denen, die nach ihnen kamen, als Mutter ihrerseits die ganze Last übernahm – sie waren genauso gut und schlecht wie jedermann: sie waren jedermann. Sie waren nicht “Schüler” sondern die Erde, die hier vertreten war – der Widerstand der Erde, der schlechte Wille der Erde, die Schwierigkeit der Erde: eine durchaus “repräsentative Gruppe”. Nicht eines jener Lichter, denen man anderswo begegnen mag, hätte die Probe bestanden, ohne in die gleichen Dummheiten zu verfallen. Es geht um die Dummheit der Erde, das Elend der Erde.
Das ist “die Arbeit eines Gottes”:
Ich grub lange und tief
Mitten im Horror von Schmutz und Schlamm
Ein Bett für des goldenen Flusses Lied,
Ein Heim für das unsterbliche Feuer.
Ich mühte mich und litt in der Materie Nacht,
Dem Menschen das Feuer zu bringen;
Aber der Hölle Haß und der Menschen Trotz
Sind mein Lohn seit dem Beginn der Welt…
Meine klaffenden Wunden sind tausend und eine
Und die Titanen-Könige überfallen mich…
Eine Stimme rief, “Gehe dorthin, wo noch keiner gegangen ist!
Grabe tiefer, tiefer noch
Bis zum unerbittlichen Felsengrund
Und poche an die schlüssellose Pforte…”
[Ich] tauchte in die blinden Alleen des Körpers hinab
Zu unterirdischen Mysterien.
Ich drang tief in das stumme, schaurige Herz der Erde
Und vernahm das Geläut ihrer schwarzen Messe.
Ich sah die Quelle ihrer Qual
Und die innere Ursache der Hölle356.
Drüben im Westen erhob sich unterdessen ein dunkles Grollen aus den blinden Tiefen der Erde. Schon bevor ein gewisser Maler Reichskanzler wurde, erkannte Sri Aurobindo die Gefahr. Seine Briefe verrieten an vielen Stellen seine wachsende Besorgnis. Er sah sehr deutlich, woher der Schlamm aufstieg, er konnte es in seinem eigenen Fleisch und Blut spüren, auch Mutter spürte es seit 1925 im eigenen Fleisch (war auch dies ein Zufall?), als sie von einer ernsthaften Venenentzündung befallen wurde, die sich durch eine allgemeine Infektion verschlimmerte: Zweimal in einer Nacht wollte mein Herz aufgeben, schrieb sie ihrem Sohn357. 1925 ist das Gründungsjahr der Nationalsozialistischen Partei. Die Beine stellen das Zentrum des Unterbewußten dar. Es kam hoch: eine heimtückische, schlammige Entzündung. Währenddessen gab sich Sri Aurobindo alle Mühe, seinen Schülern die Gefahr dieser brüllenden Horde358 begreiflich zu machen; die Schüler folgerten jedoch in ihrem Haß gegen die englischen Besetzer auf naive Weise, daß die Feinde unserer Feinde unsere Freunde sind – so wird selbst Mohandas K. Gandhi später einen offenen Brief an den britischen Parlamentsausschuß senden, um diesen zu ermahnen, Gewaltlosigkeit zu üben und keine Waffen gegen Hitler zu erheben…359 Sri Aurobindo schrieb wieder und wieder: Der Sieg der einen Seite (der Alliierten) würde den Weg für die evolutionären Kräfte offen lassen; der Sieg auf der anderen Seite hingegen würde die Menschheit zurückwerfen und schrecklich entwürdigen, im schlimmsten Falle könnte es sogar zum endgültigen Scheitern der Rasse kommen, wie auch andere Rassen in der vergangenen Evolution scheiterten und zugrunde gingen360. Er sagte kategorisch: dies würde die Vernichtung meines Werkes361 bedeuten. Im Jahr 1938, als man ihm ein Photo von Chamberlain und Hitler in München zeigte, sagte er, Chamberlain sieht aus wie eine Fliege vor einer Spinne, kurz bevor sie gefangen wird362. Das Spiel wurde langsam gefährlicher und unerbittlicher, oben in diesem stillen Zimmer. “Wann wird diese supramentale Herabkunft denn stattfinden?” fragten sie von allen Seiten – diese Herabkunft, gleich einem Mythos, an den man glaubte, ohne daran zu glauben, und sich wunderte, daß sie so lange auf sich warten ließ. “Wann wird es geschehen? Ist es für jetzt? Ist es möglich?” Hier, bereits 1925, sind die ersten klaren Zeichen erkenntlich, als läge das ganze Bild vor ihm ausgebreitet: Ich würde es nicht versuchen, wenn es nicht möglich wäre.… Alles hängt von Umständen außerhalb meiner selbst ab, antwortete er. Es bleibt zu sehen, ob die physische Ebene bereit ist, das Licht zu empfangen363… Natürlich, denn alles ist eine einzige Ebene! Wie könnte Sri Aurobindo diesen Strahl in seinen Körper herabbringen, ohne ihn nicht zugleich in den gesamten Körper herabzubringen? – Je mehr er versuchte, ihn in sich selbst herabzubringen, desto mehr fing alles an zu toben und sich heftig zu widersetzen, sowohl in seinen Schülern, als auch östlich des Rheins: Ich stelle fest, fuhr er fort, je mehr Licht und Kraft herabkommen, desto größer wird der Widerstand. Sie selbst [er sprach hier zu einem Schüler] können sehen, daß etwas von oben Druck ausübt. Ebenso können Sie den ungeheuren Widerstand erkennen364. “Bedeutet das,” fragte der Schüler, “daß die notwendige Atmosphäre geschaffen werden muß, um das Supramental auf die physische Ebene herabzubringen?” Darin besteht die ganze Bemühung. Sie sollten mithelfen und die notwendigen voraussetzungen schaffen, wenn Sie wollen, daß es diesmal gelingt365.
Der Druck wurde stärker, der Widerstand heftiger, die Zahl der Schüler nahm zu: 172 im Jahr 1938. Sri Aurobindo verstand das Problem sehr gut, kein einziges Mal protestierte er gegen die Verwirrungen des einen oder anderen – unermüdlich und geduldig fuhr er fort zu schreiben, um es ihnen verständlich zu machen, ihnen Kraft zu geben, ihre Schwierigkeiten aufzulösen. Er arbeitete an jedem einzelnen wie an einem kleinen Zipfel der Erde, und wie könnte man einen Zipfel abtrennen unter dem Vorwand, er sei nicht sehr angenehm? Dann müßte man die ganze Erde abtrennen! “Warum nicht das gesamte «Personal» entlassen, damit es schneller geht?” fragte ihn ein Schüler unschuldig, da doch das “Personal” sich widersetzte. Ich bin nicht Hitler, schrieb Sri Aurobindo zurück. Auf diese Weise können die Dinge nicht gelöst werden. Dann könnten Sie ebensogut Mutter und mich bitten, daß wir uns in den Himalaja zurückziehen366… Er ertrug alles, hatte für alles Verständnis und sagte nur diskret: “Ihr solltet helfen…” Ich glaube an ein gewisses Maß an Freiheit, die Freiheit, die Dinge von sich aus und auf die eigene Art zu finden, sogar die Freiheit, sich zu irren. Die Natur führt uns durch die verschiedensten Irrtümer und Absonderlichkeiten. Als die Natur den Menschen mit all seinen Fähigkeiten zum Guten und Bösen schuf, wußte sie sehr wohl, was sie tat367. Wir begreifen nichts von Sri Aurobindos unendlicher Weite, wenn wir nicht seine Gesamtschau verstehen, die keine Einzelheit ausließ, vernachlässigte oder verurteilte; alles war Teil der Arbeit, das “Böse” wie das “Gute”, und nichts war weder gut noch böse, sondern etwas anderes mußte dieser Substanz eingeflößt werden, die so verdeckt ist von all dem falschen Bösen und falschen Guten. Für ihn waren alle Schüler gut, die ganze Erde war gut, sie war sein Arbeitsfeld, das war alles. Würden wir nicht fürchten, paradox zu erscheinen, könnten wir sagen, daß die Schüler durch ihre Schwierigkeiten mithalfen. Und dann gab es ja auch diejenigen, die still in einer Ecke Geschirr spülten. Sie waren in Wirklichkeit der “Ashram”. “Aber warum leben Sie und Mutter nicht zuerst vollkommen in diesem Supramental? Für Sie beide ist das doch sehr einfach! Danach könnte es dann in die ganze Welt ausstrahlen?” Sie verstanden das Problem nicht, sie konnten es nicht als Ganzes sehen, und dennoch versuchte Sri Aurobindo es ihnen auf so klare Weise verständlich zu machen: Hätten wir von Anfang an im Supramental gelebt, dann hätte niemand sich uns nähern können… Es hätte keine Hoffnung auf irgendeinen Kontakt zwischen uns und der Erde und den Menschen gegeben. Bereits so, wie es jetzt ist, muß Mutter sich auf das niedere Bewußtsein der Schüler hinunterbegeben, statt in ihrem Bewußtsein zu bleiben, sonst fangen sie an zu jammern: “Wie weit entfernt Sie von uns sind, wie streng Sie sind, Sie lieben mich nicht usw368.”… Ein paar Tropfen dieses Strahls genügten, und schon fanden sie den Druck “unerträglich”. Was aber hätte der volle Katarakt ausgelöst? Schon so ächzte und stöhnte die ganze Erde. Was hätte es genützt, oben in einem Zimmer ganz allein strahlend und göttlich zu sein? Der ganze Schlamm mußte wohl oder übel angepackt werden, die ganze Erde mußte angepackt werden. Hierin liegt das ganze Problem, und es sollte auch Mutters Problem werden. Wenn man nicht die Geduld aufbringt, auf die anderen zu warten, verliert man den Kontakt und wird schließlich vollkommen “unerträglich”. Manches Licht ist zu hell für die Fischbrut, manche Kräfte sind unerträglich für die unklare menschliche Substanz: das löst sie auf. Mutter und Sri Aurobindo wollten schließlich nicht die Welt in einem strahlenden supramentalen Schlag auflösen. Meine Sadhana geschah nicht für mich selbst sondern für das irdische Bewußtsein369…
Sie gruben, gruben, reinigten.
Und der Druck nahm zu.
Sie begreifen nicht, daß ich der allgemeinen Korrespondenz sowie allen möglichen Berichten usw. zwölf Stunden widmen muß. Ich arbeite drei Stunden nachmittags und die ganze Nacht bis sechs Uhr morgens daran370. Das war 1933. Zehntausende von Briefen. Eine unvorstellbare Arbeit. Alle wiederholten dieselben Fragen, ihre kleinen Probleme, ihre großen Probleme, ihre einzigartigen Probleme. Sri Aurobindo antwortete unermüdlich, in dieser massiven Stille, die die Kraft fließen ließ; nichts ließ er unbeachtet, nichts war ihm zu klein oder zu dumm: durch jeden einzelnen und jeden Brief wirkte er auf einen menschlichen Typus, auf eine Bewußtseinskategorie, auf einen ganz bestimmten Aspekt der Schwierigkeit und des Widerstandes. Die Zellen seines Körpers absorbierten einen bestimmten Typus der Dunkelheit, “um daran zu arbeiten”. Wenn er zufällig nicht schnell genug antwortete, wurden sie ungeduldig: “Was ist mit meinem Manuskript geschehen? Macht es Winterschlaf?” Denn er hatte sich auch um die Gedichte und Literatur der Schüler zu kümmern… Selbst um ihren Schnupfen. Mein lieber Herr, antwortete Sri Aurobindo, wenn Sie mich in diesem Augenblick sehen würden, wie ich von morgens bis abends mit meiner Nase in Papieren stecke, um zu entziffern und zu entziffern, zu schreiben, schreiben, schreiben, dann wäre selbst das steinerne Herz eines Schülers gerührt, und Sie würden nicht von Manuskripten und Winterschlaf sprechen. Ich habe (im Moment jedenfalls) den Versuch aufgegeben, diese Flut von Korrespondenz zu reduzieren371. Das war 1936. Wenn Ihnen die Leute vier Briefe am Tag schreiben, in enger Schrift, bis zu zehn Seiten ohne die kleinste Lücke, und man zwanzig Briefe am Nachmittag und vierzig am Abend erhält (natürlich sind sie nicht alle so, aber trotzdem), dann wird das ein wenig zu, zu372… Das ging weiter so… bis er blind wurde. Aber selbst dann noch diktierte er unermüdlich. Sie machten ihm den Vorwurf, er würde dort oben in seinem supramentalen Traum leben, während die armen Menschen sich mit den “harten Realitäten des Lebens” auseinandersetzen müßten: Aber was für absonderliche Ideen sind das schon wieder! antwortete er geduldig. Ich sei mit einem supramentalen Temperament geboren und wüßte nichts von den harten Realitäten des Lebens! Guter Gott! Mein ganzes Leben war ein Kampf mit harten Realitäten, angefangen von Not und Hunger in England, ständigen Gefahren und ungeheuren Schwierigkeiten [während der Revolution], bis zu den weit größeren – inneren und äußeren – Schwierigkeiten, die hier in Pondicherry ständig auftauchen. Mein Leben war von früh auf eine Schlacht und ist es noch immer: Die Tatsache, daß ich diese Schlacht nun hier oben in meinem Zimmer und mit spirituellen Mitteln führe… macht keinen Unterschied. Aber selbstverständlich habe ich diese Dinge nicht herausposaunt, so mag es natürlich sein, nehme ich an, daß die anderen denken, ich würde Lotosblüten essend in einem erhabenen, zauberhaften Traumland leben, ohne mit den harten Tatsachen des Lebens oder der Natur konfrontiert zu werden. Was für eine Illusion trotz alledem373! Oder sie hielten ihm entgegen, er sei ein “Avatar”, eine Art Gott, der sich in einen Körper kleidete und “vorgab”, wie die Menschen zu leiden, jedoch nichts von ihrem Elend verstünde – “Heuchelei” sagte einer von ihnen buchstäblich. Sie glauben also, mir (ich möchte hier nicht von der Mutter sprechen) seien nie irgendwelche Zweifel oder Entmutigungen gekommen oder ich wäre nie derartigen Angriffen ausgesetzt gewesen? Ich habe alle Angriffe ertragen, die menschliche Wesen ertrugen, sonst könnte ich Ihnen nicht versichern: “Auch das kann bezwungen werden!”… Ich mußte an jedem Problem und jeder Bewußtseinsebene arbeiten, um sie zu meistern oder zu transformieren, und für jedes einzelne Problem und auf jeder Ebene mußte ich die höllischen Bedingungen auf mich nehmen, so wie sie waren, und ehrliche Arbeit leisten, ohne auf irgendwelche Wunder zurückzugreifen374.
Dann, eines Tages im Jahr 1942, als er noch nicht vollständig blind war, entglitt (vielleicht) ein Brief seiner Feder, in dem er sich zu entschuldigen bemühte, daß er die Korrespondenz wegen des Krieges und der Arbeit am Krieg vorübergehend unterbrechen mußte: Ich war gezwungen, diese Regel [nicht zu schreiben] aufzustellen, nicht aus persönlicher Vorliebe, Laune oder Abneigung, sondern weil die Korrespondenz den größten Teil meiner Zeit und Energie beanspruchte und die Gefahr bestand, daß meine wirkliche arbeit vernachlässigt oder ungetan bleibt, wenn ich nicht mein Programm ändere und mich ihr widme, zumal die praktischen Resultate der äußeren Arbeit [das heißt der Korrespondenz] sehr gering sind – man kann nicht behaupten, daß sie einen großen spirituellen Fortschritt im Ashram bewirkt hätten… Auch das ist eine Bilanz. Diese Tonnen an Korrespondenz – wozu? Mit dieser ihm so eigenen, erhabenen Zärtlichkeit fügte er hinzu: Trotzdem habe ich meine Regel gebrochen, und nur für Sie allein: ich sehe nicht, wie das als ein Mangel an Liebe oder steinharte Gleichgültigkeit bezeichnet werden kann375. Das war 1942. Er steckte mitten in seinem Kampf gegen den Nazismus, umgeben von Landkarten und Berichten von allen Kriegsfronten, Tag und Nacht. Dann ließ er sich wieder von der Korrespondenz in Beschlag nehmen, bis er noch einmal demjenigen gegenüber, der das Diktat abnahm, äußerte: “Meine Arbeit bleibt ungetan.” Das war 1945. “Er ließ lediglich diese Bemerkung fallen”, notierte sein Sekretär376, “und fuhr fort… bis 1949.” Siebzehn Jahre Korrespondenz.
Seine wirkliche Arbeit…
Und wie konnte er einen einzigen dieser Briefe ablehnen, ohne etwas von der Erde abzulehnen? Man mag einwenden: die Schüler hätten doch… Aber das waren keine “Schüler”! Hätte die Erde anders sein können? Sri Aurobindo nahm “die höllischen Bedingungen, so wie sie waren”, und arbeitete daran… “ehrlich”. Aber auch nur ein Brief weniger, ihm einen ganz kleinen Brief ersparen, – wem wäre das in den Sinn gekommen?
Jedes Atom, sagte er.
Trotzdem glichen die Schüler einer gierigen Wolfsmeute.
Seine wirkliche Arbeit… Er verrichtete sie nach seiner Korrespondenz in stundenlangem Auf- und Abgehen, bis er auch nicht mehr gehen konnte. Er behämmerte die Materie mit seinen Schritten – welches stille Verb, welches Sesam-öffne-Dich wiederholte er dabei? Als sein treuer Leibwächter das erste Mal ins Guest House kam, bemerkte er eine merkwürdige Unebenheit im Fußboden, die sich “einen viertel Zoll tief” durch die Veranda und die Zimmer zog: es waren Sri Aurobindos Fußspuren. Doch auch diese Fußspuren im Flur seines Zimmers im Ashram werden wir nicht mehr zu Gesicht bekommen – in dem hohen, ultramarinblau gekachelten Flur, in dem man Schwingungen wie von Luxor zu spüren glaubt –, denn eines Tages kamen sie mit einem Topf schwarzem Klebstoff und legten ein prächtiges Linoleum darüber. Oh, man mag sich empören, es bedauern, doch wer unter uns hat nicht irgendeinen barbarischen Winkel? Es ist nur eine andere Art von Barbarei, und wir erkennen sie nicht als solche, weil sie sich von derjenigen des Nachbars unterscheidet. Dieses geheime Einverständnis mit der Barbarei müßten wir bis ins kleinste Detail unermüdlich behämmern – die Barbarei ist mikroskopisch, in jeder Minute. Als er nicht mehr mit seinen Schritten hämmern konnte, saß er in dem großen, etwas verblaßten Sessel und schaute mit weit offenen oder halbgeschlossenen Augen stundenlang auf die Wand vor sich… bis auch diese Augen sich an einem 5. Dezember 1950 schlossen.
Eine Wand.
Von dieser wirklichen Arbeit habe ich hier und dort zwischen den Zeilen der Sturzflut ein paar spärliche Hinweise aufgestöbert: eine Mischung aus Fortschritt, Rückzug und Siegesrufen, gefolgt von langwieriger, unterirdischer Arbeit – die ganze Geschichte der Erde, einfach, nackt, in wenigen Zeilen ergreifend in ihrer Kürze:
März 1924: Das Gesetz der Erde muß geändert, eine neue Atmosphäre geschaffen werden. Es geht nicht einfach darum, Wissen, Macht usw. zu besitzen, sondern sie herabzubringen; die ganze Schwierigkeit besteht darin, sie herabfließen zu lassen377.
August 1925: Ich stelle fest, je mehr das Licht und die Kraft herabkommen, desto größer wird der Widerstand378.
August 1932: Ich weiß, daß die supramentale Herabkunft unvermeidlich ist. Aufgrund meiner Erfahrung bin ich zuversichtlich, daß der Moment jetzt sein kann und sein soll und nicht später… Aber selbst, wenn ich wüßte, daß er für später wäre, würde ich nicht vom Weg abweichen oder entmutigt sein oder in meiner Bemühung nachlassen. Früher hätte das vielleicht geschehen können, doch jetzt nicht mehr – nach der ganzen Strecke, die ich zurückgelegt habe… Ich beharre darauf, daß es jetzt, in diesem Leben geschehe und nicht in einem anderen Leben oder im Jenseits379.
Nov. 1933: Nein, das Supramental ist nicht in den Körper oder in die Materie herabgekommen – es hat lediglich den Punkt erreicht, wo eine solche Herabkunft nicht nur möglich sondern unvermeidlich geworden ist380.
Sept. 1934: Die supramentale Kraft kommt herab, sie hat aber noch nicht den Körper oder die Materie in Besitz genommen381.
Febr. 1935: Mögen alle Menschen mich wegen meiner Vermessenheit verspotten, wenn sie wollen, oder die Hölle über mich herfallen, wenn sie will – ich gehe weiter, bis ich siege oder zugrunde gehe382.
April 1935: Ich habe nicht die Absicht, das Supramental für mich allein zu verwirklichen… Wenn ich mich supramentalisiere, so ist das lediglich ein Schlüssel, um dem irdischen Bewußtsein die Türen des Supramentals zu öffnen383.
Mai 1935: (Schüler:) Wie es scheint, haben Sie einen Sieg davongetragen: einige sahen zinnoberrotes Licht um Mutter herum…
(Sri Aurobindo:) Danach aber kam der ganze Schlamm hoch, und es hörte auf… Gegenwärtig ist es die Revolte im Unterbewußten384.
August 1935: Jetzt habe ich endlich den Trick dieser ganzen verflixten Sache herausgefunden – wie ein wahrer Einstein habe ich die mathematische Formel der ganzen Affäre entdeckt (unverständlich für jeden außer für mich, wie bei Einstein) und arbeite sie nun Ziffer für Ziffer aus385.
August 1935: Was die Leute angeht (die Schüler), nein, sie schweben keineswegs im Supramental! Manche schwimmen im höheren Mental, andere schnellen dort hinauf, um alsbald wieder ins Unterbewußte hinunterzuplumpsen, sie pendeln zwischen Himmel und Hölle hin und her, hinauf in den Himmel und wieder zurück in die Hölle ad infinitum; andere kleben fest und zufrieden oder unzufrieden mitten im Schlamm; wieder andere sitzen im Schlamm und träumen und sehen Visionen; einige stecken mit den Beinen im Schlamm, während der Kopf in den Himmel ragt usw., usw., eine unendliche Vielfalt an Kombinationen, wobei viele sich überhaupt nirgendwo befinden386.
Nov. 1935: Ein Zipfel des Supramentals kommt herab, kommt herab… Im Moment ist es nur der Zipfel, aber wo ein Zipfel durchkommen kann, da muß auch das übrige folgen… Meine “Formel” arbeitet sich rasch aus… Es ist meine private und ganz spezielle Herabkunft… Nachdem der Versuch einer großen, allgemeinen Herabkunft lediglich einen gewaltigen Anstieg des unterbewußten Schlammes bewirkte, habe ich das aufgegeben387.
Sept. 1938: München.
24. Nov. 1938: Sri Aurobindo erlitt einen ernsthaften Beinbruch oberhalb des rechten Knies.
Dez. 1938: (Schüler:) Wann wird es herabkommen?
(Sri Aurobindo:) Wie kann es herabkommen? Je näher es kommt, desto größer wird der Widerstand dagegen…
(Schüler:) Haben Sie das Supramental erreicht?
(Sri Aurobindo:) Ich weiß, was das Supramental ist. Das physische Wesen hat Schimmer und blitzartige Erleuchtungen davon… Ich gebe mich jedoch nicht mit Teilen des Supramentals im physischen Bewußtsein zufrieden. Ich will seine ganze reine Masse herunterbringen, und das ist ein äußerst schwieriges Unterfangen388.
Januar 1939: Alles sah positiv aus, und es schien, als käme ich gut mit meiner Arbeit voran, dann geschah dieser Unfall [der Beinbruch]. Das deutet darauf hin, daß das Unterbewußte verändert werden muß, damit die Kraft der Wahrheit sich verkörpern kann; anschließend kann es sich dann Welle auf Welle in der ganzen Menschheit ausbreiten389.
Sept. 1939: Krieg.
August 1945: Ich persönlich bin dem Ziel nahe390.
9. April 1947: … den schwerfälligen Widerstand des Unbewußten erleichtern391…
15. Aug. 1947: Indiens Unabhängigkeit.
Juli 1948: Die Lage steht schlecht, verschlimmert sich, und in jedem Augenblick kann das Schlimmste eintreten oder Schlimmeres als das Schlimmste, falls das möglich ist – in der gegenwärtigen gestörten Welt scheint alles möglich zu sein… All das war notwendig, weil gewisse Tendenzen offen zutage treten und endgültig aus dem Weg geschafft werden mußten, wenn wirklich eine neue und bessere Welt geboren werden soll… das konnte nicht auf später verschoben werden… Die neue Welt, die wir anstreben, soll nicht dieselbe Beschaffenheit wie die alte aufweisen und sich nur im Muster von ihr unterscheiden: sie muß durch andere Mittel kommen – von innen und nicht von außen392.
1949: Erste russische Atomexplosion. Mao Tse-tung ruft die Volksrepublik China aus.
August 1949: (Eine Notiz von Sri Aurobindos Sekretär:) Fast die ganze Korrespondenz wurde jäh abgebrochen. Nur die Arbeit an Savitri wurde regelmäßig fortgeführt. Ich frage mich, ob er sich entschieden hatte, seinen Körper zu verlassen, und deshalb so in Eile war, sein Epos rechtzeitig zu vollenden393.
Ohne Datum: Nur die göttliche Liebe vermag die Last zu ertragen, die ich ertragen muß394…
Diese “mathematische Formel” würden wir gerne entziffern… Viele Dinge in den “blinden Alleen des Körpers” sind inzwischen verständlich geworden. Dennoch bleibt ein Geheimnis. Manchmal glaubt man es zu berühren, so einfach, so transparent, so überraschend ist es… und dann entgleitet es einem wieder wie ein Luftzug. Die Zukunft der Welt hängt an einem Nichts. Es wird um so mysteriöser, je transparenter es ist. Jedenfalls muß dieses Geheimnis gelüftet werden.
Er “persönlich” war dem Ziel nahe. Ich sah ihn supramental auf seinem Bett, sagte Mutter. Währenddessen lasen die anderen in seinem Zimmer die Zeitung und machten “Scherze” hinter seinem Rücken395 – bis Mutter eines Tages die ganzen Zeitungsstapel wegräumte. Er war dem Ziel nahe, aber die anderen, der Rest? Die anderen bauten ihre kleine Welt wieder auf, sie gründeten die UNO, machten Pläne: der Alptraum war vorbei – aber nicht für Sri Aurobindo und Mutter. Sie wußten. Sie sahen, was alles hervorkommen sollte: “Gewisse Tendenzen mußten offen zutage treten und endgültig aus dem Weg geschafft werden, wenn wirklich eine neue und bessere Welt geboren werden soll.”396 Das war im Jahr 1948. Dieses langsame und langwierige Aus-dem-Weg-Schaffen all dessen, was langsam von unten hochkommt – in allen Ecken, in allen Völkern, in jedem Bewußtsein, diese schwierige Katharsis des Unterbewußten, bevor die Kraft der Wahrheit sich “Welle auf Welle” ausbreiten konnte. All das lag vor ihm, der, die Augen halb geschlossen oder weit offen, in seinem hellgrünen Sessel saß, während sie spielten. Er schaute auf die Wand. Es gab eine Zeit, als Hitler überall triumphierte und es gewiß schien, daß das schwarze Joch des Asura [Dämonen] der ganzen Welt aufgezwungen würde; aber wo ist Hitler jetzt, und wo ist sein Reich? Berlin und Nürnberg bedeuten das Ende dieses schrecklichen Kapitels der Menschheitsgeschichte… Doch Sri Aurobindo fügte hinzu: Andere Dunkelheiten drohen, die Menschheit zu umschatten oder gar zu verschlingen… Das war 1946 – nach Hitler! Dennoch immer diese weitreichende, ruhige und unerschütterliche Sicht: Aber auch sie werden vorübergehen, wie der Alptraum Hitler vorüberging397. Aber wird er bis dahin durchhalten? Der Beinbruch war bereits ein erstes Alarmzeichen. Die anderen spielten, schickten Briefe über Briefe, und er diktierte und diktierte… Er “erleichterte das Unbewußte”. Auch Mutter sah, und mit dieser wundervollen kristallklaren Einfachheit – wie reines Gebirgswasser – sagte sie den Kindern: Hitler wurde vernichtet, denn hinter ihm stand eine ganze Nation und eine physische Macht, und hätte er gewonnen, so wäre das für die Menschheit eine Katastrophe gewesen, aber wir machen uns keine Illusionen… Der Tod des einen oder anderen [Stalin, Hitler] nützt nicht viel – er wandert lediglich woanders hin. Sie sind nur Formen. Es ist, als würdest du, mit einem bestimmten Hemd bekleidet, etwas sehr Schlimmes tun und danach dein Hemd abwerfen und sagen: “Von jetzt an, werde ich nichts Böses mehr tun!” – du tust es weiterhin, nur mit einem anderen Hemd!398 Es geht mit einem anderen Hemd weiter, der Tod ist keine Lösung! Sie sahen es nur zu deutlich, diese unsichtbare Transmigration der tödlichen Krankheit – bis man ihre Wurzel ausrottet. Die irdische Wurzel. Er betrachtete dies von seinem Sessel aus, bis zum letzten Atemzug drückte er gegen die Mauer.
Eine nackte, schwarze Mauer
Und dahinter
Der Himmel399
Etwas im irdischen Bewußtsein muß entwurzelt werden, ein finsteres Mysterium muß “ausgearbeitet” werden – und wie kindisch sind wir doch hier draußen mit unseren kleinen Allheilmitteln und diplomatischen Wundern… wie diese Kinder, die ihre Späße hinter seinem Sessel trieben. Was erfordert es, damit wir verstehen, daß unser Anteil am Mysterium und unser Anteil des Sieges oder der Niederlage hier in unserem Körper liegt? Der Tod ist winzig, der Tod findet in jedem Augenblick statt. Das Wunder der Erde liegt vielleicht in unseren Händen. Er schaute, er grub und grub, und je tiefer er grub, desto mehr Schlamm kam hoch. You ought to help… Ihr solltet helfen.
Bis zu jenem Tag, an dem er… was sah? Einer von uns muß gehen, wir können nicht beide auf der Erde bleiben. Sie reagierte heftig, wie eine verwundete Löwin. Ich erinnere mich so deutlich – ich sehe noch das Zimmer und alles vor mir, wie es war, als er mir sagte: “We can’t both remain upon earth.” Das war alles. Kein Wort mehr. Das war 1949, etwa zu Beginn des Jahres, kaum zwei Jahre vor seinem Weggang. Ich reagierte heftig. Ich setzte meine ganze Kraft daran, ihn am Weggehen zu hindern, und das bereitete ihm großen Schmerz, denn er wollte gehen, er hatte es entschieden – “er”: der höchste Herr hatte entschieden, daß er gehen wird. Warum?… Wieviele Male habe ich mich das gefragt? I am ready, I’ll go – ich bin bereit, ich werde gehen, und sie ließ ihren Sohn kommen, traf Vorkehrungen: “It can’t be you – Du kannst es nicht sein, denn nur Du bist imstande, die materielle Arbeit zu leisten.” Und das war alles. Mehr sagte er nicht. Er verbot mir, meinen Körper zu verlassen, das ist alles. Er sagte: Das ist ein absolutes Verbot, “you can’t, you must remain – Du darfst nicht, Du mußt bleiben!” Doch sie ließ nicht locker, sie kämpfte – wer kennt Mutters Orkan? Aber Sri Aurobindo war stärker als alle Orkane, er verschluckte sämtliche Orkane in seiner Unendlichkeit: “No, you can’t go, your body is better than mine – Du darfst nicht gehen, Dein Körper ist besser als meiner, Du kannst die Transformation besser ertragen als ich.” Ertragen… all die Kleinkriege tagein, tagaus in ihrem Körper erdulden zu müssen, all die kleinen Vietnams, die nicht sterben wollen, die links und rechts wieder nachwachsen, weil wir sie nicht im winzigen Tod an unserer eigenen Türschwelle entwurzeln wollen, sondern stattdessen in die Luft gaffen und zwanzig Gedanken vorbeigallopieren lassen – es gibt winzige Mongolenhorden, die ihre kleine Verwüstung anrichten und tagein, tagaus ihr hinterhältiges, tödliches Eindringen erzwingen, doch wir gehen gleichgültig daran vorbei, “was macht es schon aus!” Wir leben vollkommen am Mysterium vorbei… während wir uns mitten im Mysterium befinden. Dein Körper ist für die Arbeit unentbehrlich. Ohne Deinen Körper kann die Arbeit nicht getan werden. Daraufhin wurde nichts mehr darüber gesagt, der Orkan legte sich, das Leben schien seinen Lauf zu nehmen, als sei nichts geschehen. Mutter glaubte nicht, daß es möglich sei, sie wollte es nicht glauben.
Langsam machte sich die Krankheit bemerkbar. Seit 1948 waren gewisse Symptome von Diabetes aufgetreten – doch er klärte dies in wenigen Monaten und verdrängte die Krankheit. Sri Aurobindo konnte nicht krank sein, nichts konnte in diesen Körper eindringen, der fähig war, Orkane fernzuhalten, er war zu rein – hier waren die Zellen rein. Schon 1924 (und mit wieviel mehr Recht fünfundzwanzig Jahre später) sagte er, daß nur drei Dinge seinen Tod herbeiführen könnten: 1) eine brutale Überraschung und ein Unfall; 2) der Einfluß des Alterns; 3) meine eigene Wahl, falls ich erkenne, daß es diesmal nicht möglich ist, oder mir etwas gezeigt würde, was bewiese, daß es diesmal nicht möglich sei400. Hatte er also erkannt, daß es “diesmal nicht möglich ist”? Nein, das kann niemand glauben, denn das wäre, als verliere man den Glauben an die Zukunft der Welt. Auch haben wir es satt, die Dinge immer wieder bis in alle Ewigkeit hinauszuschieben – er selbst hat so oft gesagt: diesmal… diesmal… hic et nunc. Wir sind diese Paradiese-für-später leid. Was ist geschehen? War die Partie verloren? Er selbst hatte doch gesagt, “andere Dunkelheiten” würden genauso wie der Alptraum Hitler vorübergehen. Mutter blieb. Und Mutter ging auch. Nun ringen wir mit diesem Rätsel, als hinge es vom Verständnis eines Menschen ab. Könnten wir das Rätsel verstehen, dann wäre es getan. Zwölf Jahre vor ihrem Weggang hielt Mutter plötzlich auf der Türschwelle inne, drehte sich zu mir um und sagte mit diesem Diamantblick, dieser gelassenen, unerschütterlichen Stimme, als schaue sie dem Schicksal ins Auge, und mit dieser Autorität, als spräche sie mit der Stimme des Herrn selbst (wir hatten gerade über den Tod gesprochen): Eines jedenfalls steht fest: du darfst nie vergessen, daß wir das, was wir zu tun haben, tun werden, und zwar werden wir es zusammen tun, denn wir müssen es zusammen tun. Das ist alles – ob so oder so, auf diese oder die andere Weise, hat keine Bedeutung. Das ist eine Tatsache. Wir werden es zusammen tun, wir werden zusammen das Geheimnis herausfinden… So oder so.
Jetzt jedenfalls ist es “so”, auf die “andere Weise”.
Das Geheimnis bleibt bestehen.
Werden wir es am Ende kennen?
Ich begebe mich in dieses Buch wie durch den Tod.
1949 traten die Symptome von neuem auf. Er bat einfach: Sagt es Mutter. Und setzte seine Arbeit fort. Er wollte nicht, daß wir merken, daß er es willentlich tat, denn er wußte nur zu gut, daß ich, wenn ich auch nur einen Augenblick gewußt hätte, daß er es willentlich tat, so heftig reagiert hätte, daß er nicht hätte gehen können. Und so tat er dies… Er ertrug all das, als sei es eine Art Unbewußtheit, eine gewöhnliche “Krankheit”, nur damit wir nichts merken… Und er wußte, daß ich fähig war, willentlich meinen Körper zu verlassen. So sagte er nichts – sagte nichts bis zur letzten Minute. Sie wollte es nicht glauben. Fast unbändig setzte sie ihre Arbeit fort, die sich seit dem Krieg durch die Ankunft der ersten Kinder aus Kalkutta auf der Flucht vor den japanischen Bomben noch vermehrt hatte. Der Ashram erweiterte sich sprunghaft nach außen. 123 Kinder im Jahr 1950. Alles mußte neu organisiert werden, eine Schule war zu gründen, Lehrer und Sporterzieher mußten unterwiesen, die Flut der Unzufriedenheit der älteren Schüler gedämpft werden, die diese so wenig “yogische” Jugend und all die frivolen Gymnastikübungen vorwurfsvoll oder verständnislos betrachteten… Sie durchlebte all das mit einer Last im Herzen, einer stummen, uneingestandenen Besorgnis, und wann immer sie eine Minute stehlen konnte, floh sie in sein Zimmer, aber nur, um ihn immer von den einen oder anderen umgeben anzutreffen – die kleine privilegierte Gruppe, die sich seit dem Beinbruch und seiner allmählichen Erblindung um ihn geschart hatte. Es war immer jemand zwischen uns, bemerkte sie Jahre später mit einem Anflug von Traurigkeit, als sei die Wunde noch immer nicht geheilt. Einmal, nur ein einziges Mal, setzte sie sich zu ihm an den Tisch: Heute hatte ich noch keine Zeit zu essen… Sri Aurobindo lächelte. “Es war das erste und letzte Mal, daß wir sie zusammen essen sahen”, notierte der treue Champaklal401. Das war im August 1950, drei Monate vor Sri Aurobindos Weggang. Sie brachte ihm etwas Fruchtsaft, eine Schale Suppe, die wenige Nahrung, die er zu sich nahm… kämmte seine langen, weißen Haare, die wie hellgoldene Seide waren. Manchmal, mitten in einer Geste, den Kamm in der Hand, trat sie aus ihrem Körper heraus, während die anderen hinter ihr ihre Späße trieben: Wißt ihr, ich habe Augen hinten im Kopf402, sagte sie dann einfach. Immer war sie verspätet, immer wurde sie auf dem Weg tausendmal von dem einen oder anderen aufgehalten, von den zahllosen, mikroskopischen Schwierigkeiten, die es geduldig eine nach der anderen zu entwirren galt, in jedem Bewußtsein, in jeder winzigen Einzelheit der Materie – die unzähligen Fallen der Materie, die einen Unfall, eine Revolte oder eine plötzliche Verwüstung anrichten, nur weil man dieses kleine Stäubchen da übersehen hatte. Genau die gleichen Fallen, die auch er unermüdlich, Brief für Brief entwirrte und klärte. Es war eine hinterhältige, aufdringliche, winzige Horde, wie ein Ansturm des Todes verkleidet als tausend kleine Küchenschaben. Wir wissen nicht, was der Tod ist; wir glauben an große Schicksalsschläge, ohne jedoch die tausend winzigen Schläge wahrzunehmen, die der Tod sind. Dieser unendlich winzige Tod, den er immer wieder entwurzelte und der immer wieder nachwuchs… Manchmal entschlüpfte ihm ein Hilferuf: Ich spüre ein so großes Verlangen, daß die Schüler frei von diesen Konflikten und Zweifeln wären, denn solange die augenblickliche Lage mit diesen in allen Ecken und Enden tobenden Feuern und der aufgewirbelten Atmosphäre fortdauert, wird die Arbeit, die ich zu tun versuche, ständig gefährdet, und ich weiß nicht, wann sich die Herabkunft, um die ich mich bemühe, vollziehen wird. In der Tat, die Mutter und ich wenden neun Zehntel unserer Energie dazu auf, Streitigkeiten zu schlichten, die Schüler einigermaßen zufriedenzustellen usw.… Nur ein Zehntel geht in die wirkliche Arbeit, und im Falle von Mutter nicht einmal das. Das ist nicht genug403. Diese “wirkliche Arbeit” – nie getan, ständig von ihren liliputanischen Dummheiten behindert. Das war im Jahr 1934, doch sechzehn Jahre später war es noch immer das gleiche. Man könnte es folgendermaßen ausdrücken: die Welt war nicht bereit. Aber um die Wahrheit zu sagen, war es das Ganze um ihn herum, das nicht bereit war. Und als er das sah (ich verstand das erst nachher), erkannte er, daß es unendlich viel schneller ginge, wenn er nicht hier wäre… Und er hatte vollkommen recht – es ist wahr. Manchmal glauben wir, diese Worte zu verstehen. Die Leute um ihn herum, diese kleinen Symbole der gesamten Welt, wären nicht fähig gewesen, die Ladung (im elektrischen Sinne) auszuhalten. All die kleinen Küchenschaben innen wären explodiert und hätten den “großen” Tod draußen angerichtet. Die winzige unerbittliche unterirdische Horde mußte an den hellichten Tag hervorgescheucht werden und aus ihrem bequemen Versteck herausgejagt überall sichtbar wimmeln, damit der Strom sich Welle für Welle ausbreiten konnte, ohne diejenigen, die diese wimmelnde Horde trugen, zu zerbrechen. Sri Aurobindo zerstörte nie etwas – außer Mythen. Er konnte die Dinge nicht beschleunigen, ohne allzu großen Schaden um sich herum anzurichten. So ist er gegangen. Er ging, um den Schaden unterirdisch anzurichten.
An verschwommenen Grenzen, wo Leben und Materie sich begegnen…
Eine finstere, pygmäenhafte Welt
Wo diese unselige Magie ihren Ursprung nahm404.
Aber das ist eine andere Geschichte und vielleicht nicht die ganze Geschichte.
So lasen sie die Zeitung, schwatzten, trieben ihre kleinen Späße in den Ecken, stellten tausend unnütze Fragen, wenn er aus den langen unbewegten Stunden wiederauftauchte, in denen er die Wand anschaute – oder waren es die “verschwommenen Grenzen” des Lebens und der Materie? “Alles, was wir mit unseren nackten Augen sehen konnten”, notierte sein Sekretär, “war, daß er still in seinem breiten Sessel saß, die Augen weit offen, wie jedermann. Jedoch vergingen Stunden über Stunden auf diese Weise. Ab und zu änderte er seine Stellung, um bequemer zu sitzen, seine Augen bewegten sich ein wenig, und obgleich sie im allgemeinen die Wand vor ihm betrachteten, waren sie nie auf einen speziellen Punkt fixiert… Manchmal erstrahlte sein Gesicht in einem breiten Lächeln, ohne sichtbaren Grund, aber zu unserer großen Erheiterung, wie ein Kind, das im Schlaf lächelt. Doch es war ein wacher Schlaf, denn wenn wir das Zimmer durchquerten, erkannte er ungefähr unsere schattenhaften Bewegungen” [oh, wie wahr!]. “Von Zeit zu Zeit, wenn er ein Geräusch vernahm, das Mutters Kommen andeuten mochte, schaute er auf die Tür…” Er wartete immer auf Mutter, oh nein, es war kein Schlaf, nicht einmal ein “wacher Schlaf”, sie wußten nicht, was es war, sie verstanden überhaupt nichts. “Wenn er etwas wollte, schien seine Stimme aus einer tiefen Höhle zu kommen. Selten trafen wir ihn nach innen gekehrt, mit geschlossenen Augen an405.” Er diktierte seine endlosen Briefe stets mit einer Spur von Humor, der einzig mögliche Sauerstoff in diesem klebrigen Sumpf. Manchmal denke ich, es war eine Gnade, daß er sich das Bein brach, denn das erlaubte ihm, die Flut der Korrespondenz vorübergehend zu unterbrechen, um sich der Korrektur seines Werkes, Das Göttliche Leben, zu widmen, um das ein Verleger in Kalkutta ihn gebeten hatte. Es war das erste Mal seit fünfundzwanzig Jahren, daß er genug Muße fand, wieder einmal einen Blick in sein Werk zu werfen. Wenn man ihm Zeit gelassen hätte, hätte er auch die unvollendete Synthese des Yoga korrigiert und zu Ende geführt, und so könnten wir darin gewiß einige Schimmer seiner “mathematischen Formel” finden, doch seine Korrespondenten hatten anders entschieden – vielleicht hielt er es für wichtiger, sich mit all diesen kleinen Toden zu befassen, als seine Formel zu schreiben… die sich von selbst erklären wird, wie er sagte, sobald sie in Aktion tritt. Dennoch wird er Die Supramentale Manifestation auf der Erde diktieren, da Mutter ihn um einige Artikel für das Bulletin d’Éducation Physique gebeten hatte, das sie für die Kinder herausbrachte. Daraufhin wird er sich wieder von der Korrespondenz verschlingen lassen, bis zu jenem Tag im Jahr 1949, an dem er zum vierten Mal bemerkte: Meine wirkliche Arbeit bleibt ungetan (das erste Mal 1934, dann 1942, dann noch einmal 1945); schließlich das fünfte und letzte Mal im Oktober 1950, zwei Monate vor seinem Weggang – als sich die Korrespondenz und alles übrige von neuem durch seine Tür gestohlen hatte (literarische Artikel der Schüler, Gedichte usw.). Dann aber sagte er kategorisch: Ich finde keine Zeit, meine wirkliche Arbeit zu tun… Nehmen wir Savitri, ich möchte es bald beenden406, zum großen Schrecken seines Sekretärs, der Sri Aurobindo nie zuvor in Eile gesehen hatte. Er verstand nicht. Niemand verstand.
Es blieben ihm noch sechzig Tage zu leben.
Bis heute scheint in diesem hohen Zimmer mit den Stuckwänden etwas wie eine massive Ewigkeit zu herrschen, als hätten die Wände, das breite, nun leere Bett und selbst der verblaßte Teppich mit seinen meerblauen Blumen auf jadegrünem Grund seine Stille aufgenommen. Die Wanduhr steht auf 1 Uhr 26. Da ist auch ein großer Kalender, er zeigt den 5. Dezember. Ein Wandbehang zwischen seinem Zimmer und dem Bad bewegt sich sanft im Ostwind: zwei Silberdrachen auf blauer Seide. Alles ist so vollkommen unbewegt, so vollkommen sicher, als wäre es der sichere Ort der Welt. Hier kann man verweilen, und große Jahrhunderte ziehen vorüber wie sanfter Wind über Kornfelder. Eine süße Tiefe hinter diesem Frieden, wie die Tiefe seiner goldenen, kastanienbraunen Augen, halb geschlossen, mit wer weiß welchem unmerklichen, geradezu zärtlichen Lächeln im linken Auge, wenn man ein wenig länger hinter die Falten blickte. Er ist hier. Seine beiden Hände ruhen auf den Armlehnen des grünen Sessels, sein Oberkörper ist nackt, breit, glänzend, füllig und weich wie der eines Kindes, manchmal halbverdeckt von einem Dhoti, den er über die Schulter wirft. Seine bloßen Füße berühren den Teppich. Er diktiert, während er geradeaus vor sich blickt… in welche Zukunft? Seine Stimme ist “leise, gemessen, ruhig” – beinahe neutral, mit einem leichten englischen Akzent. Das Diktat fließt, ohne zu schwanken, wie ein langer, gleichmäßiger Fluß, der sich ins Meer ergießt, “manchmal vierhundert, fünfhundert Verszeilen hintereinander407”. Es ist Savitri408. Savitri, das er mehr als fünfzig Jahre lang korrigierte, revidierte und erweiterte. Sein Epos, seine Botschaft. Genau 23814 Verszeilen. Die Geschichte von Satyavan, Sohn des Königs Dyumatsena, vom Schicksal zum frühzeitigen Tod verurteilt, und Savitri, der Sonnenprinzessin, die in den Tod hinabsteigt, um ihren Geliebten zurückzuerobern. Die Leidenschaft einer Frau, die sich ganz allein in ihrer schrecklichen Stille gegen den Tod erhebt, schreibt er in einem Brief an seinen Bruder409. Die Geschichte von Mutter und Sri Aurobindo. Es ist die Legende der Mahabharata, Orpheus und Euridike im umgekehrten Sinne, jedoch mit der ganzen Kenntnis der unsichtbaren Welten und einer phantastischen Geographie dessen, was die Menschen “den Tod” nennen. Er korrigierte das Buch des Schicksals, das letzte, das er revidieren wollte. Zwanzig Tage später ist er gegangen. Und Mutter wird die langwierige Eroberung beginnen. Savitri ist das Epos des Sieges über den Tod, sagte sie. Er mußte sterben, aber warum? Sein Körper ist wie das Symbol von Millionen Körpern, die sterben – Satyavan ist die Seele der an den Tod geketteten Erde – er ist das Symbol der Erde, die immer wieder stirbt. Wird jemand in den Tod hinabsteigen, um die Erde ihrem Schicksal zu entreißen? Wird jemand den Schlüssel, den Durchgang dorthin und zurück finden und Satyavan ans Licht eines unsterblichen Tages zurückbringen? Wird die Erde vom Tod befreit werden? Alles ist darin gesagt, es ist erstaunlich wahrheitsgetreu… sagte sie, eine präzise Beschreibung Schritt für Schritt, Abschnitt für Abschnitt, Seite für Seite… Ein wundervolles Buch. Vielleicht sind alle Schlüssel und die “mathematische Formel” darin enthalten für die, die zu lesen verstehen. Winzige Schlüssel verbergen sich hinter einem Abschnitt. Man muß sie suchen, man muß danach graben. Die Erde hat nicht jeden Tag das Glück, ihr Geheimnis zu kennen. Er diktierte fließend, fehlerlos, unerschütterlich, die Augen auf die Stuckwand gerichtet. Er sah “das Ende des Todes410”, er sah die sonnenäugigen Söhne einer wundervollen Morgenröte411 hinter den Ruinen des eisernen Zeitalters hervorkommen.
Selbst wenn die feindliche Kraft sich an ihr Reich klammert
Und ihr Recht auf ewige Herrschaft fordert,
Selbst wenn der Mensch sein hohes spirituelles Schicksal zurückweist,
Wird dennoch die geheime Wahrheit in den Dingen siegen…
Und die Materie das Antlitz des Geistes offenbaren412.
Ist “die geheime Wahrheit in den Dingen”, dieses automatische Supramental in der Tiefe der Materie, nun in Kraft getreten? Oder wird sie bald in Kraft treten durch dieses Hinabtauchen des bewußten Geistes?
Er blickte auf das nahe Schicksal. Er sah Mutter, immer in Eile, immer verspätet, immer von der Meute überfallen. Sie kam, legte gegen vier Uhr morgens eine Girlande aus Jasmin auf sein Bett. Sie sprachen nicht miteinander, nur dieser Blick. Ein Orkan des Schmerzes wütete in ihr, eine wilde Ablehnung, es zuzulassen. Sie blickte ihn an wie eine Löwin mit dieser brennenden Glut in ihrem Herzen, sie, die sechsunddreißig Jahre zuvor gesagt hatte: “Er, den wir gestern sahen, ist auf der Erde413…” “Es genügt nicht, in den inneren Welten zu triumphieren, wir müssen bis in die materiellsten Welten triumphieren414…” Sogar im Tod. “Oh Herr, das Unwissen muß besiegt, die Illusion vertrieben werden; dieses schmerzliche Universum muß aus seinem grauenvollen Alptraum herauskommen, seinen schrecklichen Traum beenden415…” Durch diesen Körper schaute sie auf die ganze Erde. “Welche Pracht, gewaltiger als alles Vorangegangene, welch wundervolle Herrlichkeit, welches Licht sind notwendig, um die Wesen aus der entsetzlichen Absurdität herauszuziehen416…?” Dies sagte sie einen Monat, bevor sie ihm begegnet war – dieses Licht konnte nicht fortgehen. Oder was sonst? “Wie ein unendlich weiter Mantel der Liebe sein, die ganze Erde umhüllen, alle Herzen durchdringen417…” Sie hüllte ihn in ihre Liebe, sie hüllte die ganze Erde ein, die immer wieder stirbt und stirbt – sie wollte keinen Tod, für niemanden auf der Welt. Savitri ist das größte Liebesgedicht, das es gibt, wie Mutter, wie Sri Aurobindo, es ist die Ablehnung des Todes. Bis zu ihrem fünfundneunzigsten Lebensjahr sollte sie ihren Weg durch den Tod meißeln. Und was tut sie jetzt? Wird sie Satyavan zurückbringen? Oder ist die Partie verloren, wird die Erde immer sterben müssen?
Was geschah 1973? Was geschah 1950?
Er setzte die letzten Satzzeichen, achtete bis zum Schluß auf jede Einzelheit – das war seine Art, die Wahrheit in die Materie zu bringen. Wenn die Wahrheit nicht beim Strichpunkt beginnt, wo soll sie dann beginnen? Wie soll sie den Zugang zur Materie finden, wenn wir sie ihr nicht einflößen? “Jedes Wort mußte le mot juste sein, jede Verszeile perfekt,” notierte sein Sekretär, “jedes Satzzeichen einwandfrei. Eine Präposition wurde fünfmal geändert. Um ein Satzzeichen zu ändern, mußte manchmal ein ganzer Abschnitt vorgelesen werden418.” Dann, nach beendeter Arbeit, ging er ein wenig auf und ab, während der Wandbehang mit dem silbernen Drachen sich sanft im Wind bewegte. Alles war still und mächtig wie Luxor, friedlich wie ein unendlicher Himalaja in der Sanftheit des Abends. Keiner vermag je zu ahnen, welcher Friede das war! “Sei es Essen, Trinken, Gehen oder Sprechen – er tat es stets in einem langsamen, gemessenen Rhythmus, man hatte den Eindruck, daß jeder Augenblick bewußt und geweiht war419.” Manchmal legte er sich auf sein Bett, die Arme unter seinem Kopf gekreuzt, den Blick auf die Zimmerdecke gerichtet, und lächelte “wie ein Kind im Schlaf”. Bis zu jenem Tag, an dem das Buch des Schicksals vollendet war: Ah, it is finished? “Ah, es ist zu Ende?” fragte er mit dem Funken eines Lächelns im linken Auge (es ist eigenartig, das rechte Auge schien wie für immer auf die Ewigkeit gerichtet zu sein). “Was bleibt noch übrig?” – “Es bleibt das Buch des Todes und der Epilog,” antwortete sein Sekretär. Oh, that? We shall see about that later on… “Oh, das werden wir später sehen.”
Später stand vor der Tür. Es war der 10. November.
Es blieben noch fünfundzwanzig Tage.
Dann begann die “Krankheit” zu galoppieren. Er hätte seinen Körper durch einen einfachen Willensakt verlassen können, wie Mutter: den Atem nach oben ziehen und die Hülle verlassen. Doch er trug sie bis zum Ende, mit allen Schmerzen und sogar den medizinischen Torturen, “ohne auf Wunder zurückzugreifen” – ehrliche Arbeit. “Warum wenden Sie nicht Ihre Kraft an, um gesund zu werden?” fragte ihn sein Sekretär. No, antwortete er mit seiner ruhigen, neutralen aber sehr bestimmten Stimme. Sie trauten ihren Ohren nicht, sie waren sprachlos. Sie wiederholten die Frage ein zweites Mal: “Aber warum?” Kann es nicht erklären, you won’t understand. – Ihr würdet es nicht verstehen. Mutter erzählte uns später: Jedesmal, wenn ich in sein Zimmer kam, sah ich, wie er das supramentale Licht herabzog. Sie war da, unbeugsam, unbeweglich, ohne sichtbare Gefühlsschwankung, umgeben von all den anderen. “Wir waren nie allein.” Er zog unablässig dieses Licht herab. Welch dringende Verbindung suchte er mit dieser rebellischen Erde herzustellen, dieser Erde, die er so liebte? Er, der in Savitri sagte:
Deine Knechtschaften auf Erden, o König, sind größer
Als alle glorreichen Freiheiten des Himmels420.
Wir wissen nicht wirklich, was er tat. Vielleicht erkennen wir nicht die Ungeheuerlichkeit, die dieser Tod bedeutet: ein zugestandener Tod in einem Körper, dessen jede einzelne Zelle, jedes Atom bewußt war – ein bewußter Tod. Ein bewußter Hinabstieg in den Sarg. Bewußt, mit anderen Worten, jede Zelle, jedes Atom, all das, was Sri Aurobindos Majestät ausmachte, trat mit weit offenen Augen in den Tod. Wer weiß, was das bedeutet?… Eines Tages hatte ich als bloßer Anfänger die lebendige Erfahrung, dort einzudringen, wobei ich noch mittels eines Fadens mit dem Körper verbunden war: es ist undenkbar dort einzudringen. Dort gibt es kein Denken. Es ist ein Abgrund aus schwarzem Basalt, wie eine ungeheure erstickende Verneinung – dieses schreckliche und nackte Nein in der Tiefe der Welt. Diese fürchterliche Weigerung, die alles, was sie berührt, erwürgt. Eine Art nackter Haß gegen das Leben. Etwas, das dem Leben seine Existenz nicht verzeiht und das alles zunichte machen will in seiner steinernen Schwärze. Ein Abgrund aus Basalt, ohne Atem, erwürgend. Vielleicht war es dieses Nein, diese Wurzel, dieser “unzugängliche Felsengrund”, den er mit dem ganzen Licht seiner bewußten Zellen konfrontieren wollte. Vollkommen bewußt dort eintreten. Das ist schrecklich.
Die unnachgiebige stumme Weigerung in des Lebens Tiefe,
Das unwissende Nein im Ursprung der Dinge421.
Dieses massive Nein, das sich tausendfach hinter all den kleinen Unwahrheiten unserer Gesten, Augen und Körper verbirgt, die abertausend Wurzeln des Todes, die den großen Tod erwarten wie eine endgültige Linderung dieses Elends des Seins und Lebens – der tiefverwurzelte Wille zu sterben, weil wir das wirkliche Leben nicht gefunden, es noch nicht erlebt haben! Das Leben lebt nicht! Das Leben ist noch gar kein Leben: es ist ein wandelnder Tod. Ein Tod in Eile, Schluß zu machen mit all diesem Schmerz des Seins, dem Schmerz, nicht zu sein, was wir sein sollten, was wir sind… Dahinter, in der tiefsten Tiefe, unter diesem Felsgestein, dieser Falschheit, diesem rebellischen Nein harrt etwas anderes, das seine Stunde erwartet. Ja, der “Honigbrunnen unter dem Felsen”, das Leben, das noch nicht ist. Das ist das Supramental: das wirkliche Leben. Dasjenige, das ohne Tod atmet. Dasjenige, das wirklich ist, ohne Schatten. Die Wahrheit, einfach – lebendig. Dort unter diesem Felsen. Dort unter den tausend kleinen Nein der vielen tausend Schritte, die kommen und gehen, die auf- und absteigen, ohne das Leben zu kennen, ohne es überhaupt zu wollen. Ein Automatismus des Schmerzes. Etwas, das sich an den Tod klammert. Wird ein Druck darauf ausgeübt, dann ist es, als würde man euch radikal entwurzeln – drei Tropfen von diesem Strahl genügen, und schon beginnen sämtliche kleinen Sümpfe zu revoltieren und zu protestieren: zehntausende Briefe. Ich versuchte, mich so tief wie möglich zu beugen, und dennoch erreicht ihr mich nicht422, sagte er zu seinem ältesten Schüler. Welchen verzweifelten Sprung in die Finsternis wird er da wagen? Und warum dieses Nein? Warum all das? Was war plötzlich fehlgegangen in diesem Leben?… Sri Aurobindo wird uns nie mehr sein Geheimnis verraten; niemand hatte ihm je die wirkliche Frage gestellt. Aber Mutter steht da, aufrecht, unbeugsam an seiner Seite – niemals akzeptiert sie eine Niederlage. Noch dreiundzwanzig Jahre lang setzte sie in jeder Sekunde des Tags und der Nacht jeden Atemzug dafür ein, dieses Mysterium, diesen Tod in ihrem eigenen Körper zu entwurzeln – um Satyavan wieder zurückzuerobern, Schritt für Schritt und unter tausend Arten des Todes, unter tausend häßlichen kleinen Unwahrheiten, die sie bis zum Schluß heimsuchen, umgeben und erdrücken werden – in jeder einzelnen wird sie Satyavan zurückerobern. In jeder einzelnen wird sie den Tod konfrontieren. Wir ahnen nicht und werden wohl nie ahnen, was sie alles tat, auch sie… es sei denn, alles wird sich eines Tages “von selbst erklären”, und das wirkliche Leben, von seiner Verneinung befreit, wird uns direkt ins Auge springen und alle Pygmäen in einem großartigen göttlichen Gelächter wegfegen.
Eines Tages werde ich zurückkehren, seine Hände in den meinen,
Und Du wirst das Antlitz des Absoluten erblicken423.
Tatsächlich glaube ich, daß das drastische Wegfegen der Pygmäen bereits begonnen hat.
Vielleicht machte sich Sri Aurobindo daran, dieses gewaltige Erdbeben tief im Inneren in Gang zu bringen. Draußen toben die Pygmäen, sie haben die Partie verloren. Je wilder sie toben, desto näher rückt ihr Tod: der Tod des Todes. Jeder einzelne, jeder von uns steht vor dem Tod, unserem Tod, oder der Möglichkeit des wirklichen Lebens. Jetzt kommt der Augenblick der Wahl auf der Erde. Wir ahnen nicht, wie schicksalhaft diese Stunde in der gesamten Geschichte der Evolution ist, als sei die Erde in dem Übergang, wo sie wieder von Grund auf neugeboren wird oder in ihrem schwarzen Loch der Verneinung stirbt. Sowohl der Sieg als auch die Niederlage findet in jedem einzelnen von uns statt: in jedem einzelnen ist ein mikroskopisch kleiner Tod zu entwurzeln. Als hinge der Sieg von einem Staubkorn ab: von einer winzigen Zustimmung im Herzen, einem winzigen Ja, das man überall in sich trägt, sei es beim Treppensteigen, beim Gehen oder Essen, bei allem, trotz allem, sogar trotz der eigenen Fehler – ein unerschütterliches Ja für das, was das wirkliche Leben ist. Dieses wirkliche Leben wird automatisch seine Arbeit verrichten, wenn wir uns zu seiner Seite wenden. Wir müssen auf der richtigen Seite stehen – auf der Seite der Evolution.
Wir müssen wahr sein.
Sein Atem wurde kürzer, erstickter. Sie wollten ihn “pflegen”! Sie können es nicht lassen, euch im Namen des falschen Lebens medizinisch zu quälen, sie wollen euren Körper nicht in Frieden gehen lassen. “Wir bestanden auf gefährliche Arzneien424…” gestand einer von ihnen. Mutter lehnte ab, Sri Aurobindo lehnte ab – einmal. Dann sagte er nichts mehr, er ließ es geschehen, um des lieben Friedens in den “Herzen” der Schüler willen – bis zum Schluß trug er die Last ehrlich. Ein treuer Schüler, Chirurg aus Kalkutta, erschien: “Sri Aurobindo lag auf seinem Bett, die Augen geschlossen, wie eine Statue massiven Friedens.” Er öffnete die Augen: Qual? Nichts quält mich, und Schmerz… man kann darüber stehen, und er erkundigte sich, was es Neues über die bengalischen Flüchtlinge gab. Daraufhin tauchte er in sein Koma zurück. Er verliert das Interesse an sich selbst, sagte Mutter schlicht. “Sie sah so ernst und schweigsam aus”, notierte der Schüler425. Manchmal nahm er ein wenig Fruchtsaft oder etwas Wasser zu sich, das ihm Mutter reichte, lächelte, trank folgsam und tauchte wieder unter: “Ein merkwürdiges Koma,” bemerkte der Chirurg, “ein Körper, der sich vor einem Augenblick noch teilnahmslos und schwer atmend in Agonie befand, wird plötzlich ruhig; Bewußtsein kehrt in den Körper zurück, und er ist wach und normal. Wenn er fertig getrunken hat, zieht sich das Bewußtsein zurück, und der Körper verfällt von neuem dem Griff der Agonie.” Die Harnvergiftung gewann an Boden. Es war der 4. Dezember. Er zieht sich zurück, sagte Mutter. Aber Sri Aurobindo stand noch einmal auf, setzte sich in den großen blaßgrünen Sessel mit den kleinen weißen Arabesken, blickte majestätisch gelassen vor sich. “Sehen Sie, der Meister scheint wieder Interesse zu gewinnen,” sagte der Chirurg – Hmm… war alles, was Mutter erwiderte. Daraufhin ging er zurück in sein Bett, und dann galoppierte es auf das Ende zu. Um elf Uhr abends kehrte sie zurück, gab ihm ein wenig Tomatensaft, den er ruhig aus seinem Koma zurückkehrend trank. Dann, um Mitternacht, war sie ein letztes Mal zugegen. Sie stand kerzengerade am Fußende seines Bettes, ohne eine Geste, ohne die leiseste Bewegung: er öffnete die Augen, sie schauten sich lange an… Sie ging hinaus.
Um 1 Uhr morgens kam sie kurz herein: Ruft mich, wenn es soweit ist.
Jahre später erzählte sie mir mit einer so feurigen Intensität, als sei es gestern gewesen: Ich wollte es nicht glauben. Solange ich im Zimmer war, konnte er seinen Körper nicht verlassen. Das verursachte eine schreckliche Spannung in ihm: der innere Wille zu gehen und dieses Etwas [Mutter], das ihn hier in seinem Körper festhielt – denn ich wußte, daß er lebendig war, er konnte nicht anders als lebendig sein… Er mußte mir ein Zeichen geben, damit ich in mein Zimmer zurückgehe, angeblich, um mich auszuruhen (was ich nicht tat) – und sobald ich sein Zimmer verlassen hatte, ging er. So riefen sie mich sofort zurück.
Es war 1 Uhr 26 morgens.
“Ich bemerkte einen leichten Schauer in seinem Körper,” notierte der Schüler, “kaum wahrnehmbar, er legte seine Hände auf seine Brust, die eine Hand über die andere… Dann hörte alles auf.”
Sie blieb aufrecht am Fuße seines Bettes stehen, die Haare aufgelöst: “Ihr Blick war so heftig, daß ich diese Augen nicht ertragen konnte,” sagte der Chirurg.
Ich stand neben ihm, und auf ganz konkrete Weise – es war so konkret und stark empfunden, daß man hätte meinen können, es wäre sichtbar gewesen – ging die ganze supramentale Kraft, die in ihm war, von seinem Körper in den meinen über. Ich konnte die Reibung der Kräfte durch die Poren meiner Haut fühlen… Und die Menschen sagen: er ist tot.
Da, beim Verlassen seines Körpers und dem Eintreten in den meinen, sagte er mir: “Du wirst weitermachen. Du wirst bis ans Ende der Arbeit gehen.”
Jetzt ist sie ihm unter den großen Baum mit den gelben Blüten gefolgt. Beide sind gegangen. Und was ist getan?… Uns obliegt es, diesen langsamen Wandel der Kräfte zu entziffern, die eines Tages eine andere Geschichte bilden werden. “Wird die Arbeit diesmal getan werden?” fragte der alte Purani im Jahr 1924. So viele Male sind sie gegangen, doch die Erde setzt ihre Schmerzensrunde fort. Ich kann nichts prophezeien, antwortete Sri Aurobindo. Ich kann nicht sagen: Es wird getan. Das aber kann ich sagen: Etwas wird diesmal getan werden… something will be done426. Nie machte Sri Aurobindo leere Versprechungen. Und er kümmerte sich nicht darum, ob man ihn anerkannte oder bewunderte, nicht einmal, ob man ihn las – er brauchte keine Anbeter! Er hatte es nicht nötig, daß man an ihn glaubte, er wußte nur zu gut, daß der Glaube der Menschen kommt und geht und wie eine Wetterfahne flattert – aber die Arbeit mußte getan werden, ein unzerstörbares Samenkorn mußte in diesen rebellischen Boden hier gepflanzt werden, daß es wachse, trotz unseres ganzen Glaubens und Unglaubens, unserer Anbeterei und was sonst noch alles. Warum wollen die Menschen anbeten! rief Mutter aus. Sie sollten werden, anstatt anzubeten. Die Leute beten an, weil sie zu faul sind, sich zu ändern427. Wird sich diesmal etwas ändern – uns selbst zum Trotz?… Wird der Mensch sich entscheiden zu werden?… Es ist wahr, sie sagte: Der Mangel an Empfänglichkeit der Erde und das Verhalten von Sri Aurobindos Schülern sind zum großen Teil verantwortlich für das, was mit seinem Körper geschah. Das ist noch wahrer, was Mutters Schüler angeht. Und sie ist gegangen.
Was ist geschehen? Was ist ihr Geheimnis?
Bis zum Schluß schaute sie von dort oben zu, vom großen Korridor oberhalb des Ashramhofes aus, wie sie Sri Aurobindo hinuntertrugen unter den Flamboyanten mit den goldgelben Blüten. Sie war ganz in Weiß gekleidet, blaß und stand aufrecht. Allein. Sie war zweiundsiebzig Jahre alt. Als sie ihm begegnet war, war sie sechsunddreißig. Drei Wochen zuvor hatte er geschrieben:
Ein Tag mag kommen, da sie ohne Hilfe stehen muß,
An einem gefährlichen Grat des Schicksals der Welt und des ihren,
Sie trägt die Zukunft der Erde in ihrer einsamen Brust,
Trägt des Menschen Hoffnung in einem verlassenen Herzen,
Zu erobern oder zu scheitern an einer letzten verzweifelten Grenze.
Allein mit dem Tod und dem Rande des Erlöschens nahe,
Ganz ihrer Größe in dieser letzten schrecklichen Szene überlassen,
Muß sie allein die gefahrvolle Brücke der Zeit überschreiten
Und den Höhepunkt des Schicksals der Welt erreichen,
Wo für den Menschen alles gewonnen oder verloren wird428.
Dies waren die letzten Worte, die er diktierte.
Dreiundzwanzig Jahre später schaute ich zu, wie der andere Sarg unter den gelbblühenden Flamboyanten neben den seinen getragen wurde, während das “Herz” der Schüler, die sie bis zum Schluß so hart behandelt hatten, lamentierte. Und ich betrachte all das mit einer schwerwiegenden Frage, die wie die eigentliche Frage der Welt ist. Was ist dieses Mal erreicht worden?… Die Schüler sind nur die Repräsentanten der Erde, und sie – Mutter und Sri Aurobindo – waren sich im Klaren darüber, daß dies die Bedingungen waren, die es restlos, total und ehrlich zu konfrontieren galt. Wurde es verloren oder wurde es gewonnen?… Wir verfügen über mehr als sechstausend Seiten, die sie geheim gehalten hatte, ihre “Agenda”: sie enthalten fünfzehn Jahre eines schrecklichen Yogas im Körper, den sie mir Schritt für Schritt mit ihrer leisen, klaren Kinderstimme erzählte, die dem Schmerz immer voll ins Gesicht lachte, die sich weiter und weiter entfernte und mehr und mehr außer Atem kam – als müsse sie weite Zeiträume durchqueren, um uns zu erreichen –, die schließlich immer langsamer, immer keuchender wurde, als tauche sie aus Schichten des Todes hervor. Alle Geheimnisse sind darin enthalten. Sind wir diesem ungeheuren Geheimnis gewachsen? Werden wir es wenigstens richtig zu lesen verstehen? Werden wir den Hebel zu benützen wissen?… Die “Sache” einfach zu verstehen, würde fast bedeuten, sie zu tun – oder sie zumindest in Erscheinung treten zu lassen. “Andere Dunkelheiten drohen, die Menschheit zu umschatten oder gar zu verschlingen,” sagte er. Er sah. Sie sah. Werden wir sehen? Werden wir den wahren Hebel ergreifen, den magischen Hebel, wie er es nannte. Ja, etwas, das alles umwälzt, wenn alles hoffnungslos und verloren scheint. Es gibt einen Hebel. Es gibt ein Geheimnis. Es gibt eine Kraft. Aber wir werden es bis zum Schluß nicht wissen. Dennoch bleibt eine Wahl zu treffen, bevor die Erde auf die richtige Seite überwechseln kann. Jeder einzelne von uns muß eine Wahl treffen – es ist so dringend, daß wir es verstehen! Das zu verstehen, ist fast eine Frage von Leben oder Tod. Wir ahnen nicht, an welchem Punkt – an welch kritischem und zugleich wunderbaren Punkt wir angelangt sind. Was sonst…?
Eines Tages im Jahr 1962, zwölf Jahre später, hielt Mutter plötzlich inne und schaute – sie schaute auf die ganze Erde vor sich – und es war wie ein Schrei, der sich ihrem Herzen entrang, fast ein Schmerz: Plötzlich sagte ich mir: “Wie ist es möglich? Während der ganzen Zeit, als er hier war, während der ganzen Zeit, als wir zusammen waren, hatte das Leben – das Leben hier auf der Erde – eine so wunderbare, göttliche Möglichkeit gelebt, so… wahrhaftig so einzigartig, dreißig Jahre lang, wie sie nie zuvor auf diese Weise und bis zu diesem Grad existierten – und das ging unbeachtet vorbei?…” Ich sagte mir: “Wie ist es möglich, daß Leute, die hier so nah lebten, daß auf der Erde Wesen, die eine Aspiration haben und deren Bewußtsein auf solche Dinge gerichtet ist, diese Möglichkeit lebten, daß diese Möglichkeit ihnen zur Verfügung stand, ohne daß sie fähig waren, sie zu nutzen!… Daß hier diese so wunderbare, einzigartige Sache existierte und die Leute sich ein so kindisches, kleinkariertes und äußerliches Bild davon machten!…” Da dachte ich wirklich: “Ist die Zeit überhaupt reif? Ist es überhaupt möglich? Oder ist es wieder für später?”
Auch sie trug man in ihrem Sarg hinunter, und wir stehen vor derselben Frage, die noch schwerer wiegt. Mögen all die kleinen Menschen von heute vergehen, und sie werden mit ihrem Anteil an Dummheiten und Missetaten vergehen, doch die große Dummheit, die ewig gleiche, wird in Millionen von Menschen bestehen bleiben – alles ist ein einziges Ganzes. Werden wir den Hebel ergreifen? Werden einige es diesmal verstehen? Was sonst…? Es ist fast, als sei sie es, die diese Frage von der anderen Seite des Grabes an uns richtet – als gäbe es noch eine Chance.
Es gibt Augenblicke, wo die Dinge zusammentreffen. Es ist selten, einen solchen Augenblick in der Geschichte zu erreichen, denn gewöhnlich erstreckt es sich über lange, lange Perioden, über einen fast unendlichen Zeitraum hinweg. Aber einen Augenblick zu erlangen, der zu etwas Wirklichem im Leben der Erde wird [und hier schlug Mutter ihre Faust auf die Erde], das ist sehr schwierig. Wenn dieser Augenblick verpaßt oder versäumt wird… Aber ich frage mich noch immer – denn Sri Aurobindo ist gegangen, ohne sein Geheimnis zu enthüllen. Er sagte mir, daß er absichtlich ginge (das hat er mir gesagt), er sagte mir genau das, was ich wissen mußte. Er hat aber nie gesagt, ob der Augenblick gekommen ist oder nicht… Er hat nie gesagt, ob er sah, daß die Dinge nicht genügend bereit sind. Er sagte mir, daß die Welt nicht bereit ist (das hat er mir gesagt). Er sagte mir, daß er absichtlich ginge, weil es “notwendig” ist. Und er sagte mir, daß ich bleiben und weitermachen müsse, daß ich es sei, die weitermachen müsse. Doch er hat mir nie gesagt, ob es mir gelingen würde oder nicht. Er hat mir nie gesagt, ob ich den Augenblick zurückbringen könnte oder nicht.
Aber in dieser Minute fühle ich, daß der Augenblickexistiert. Daß er hier ist und wir uns voll und ganz darin befinden. Daß es aber abhängt… von was? Vielleicht von unserem Verständnis. Etwas, das sich im Bewußtsein der Erde öffnet, ein winzig kleiner Schrei, damit der Strom hindurchfließen kann. Es erfordert nichts “Großes”. Manchmal scheint es, als hinge das Schicksal der Welt von einer Kleinigkeit ab. Ein winziger reiner Tropfen inmitten einer Million alltäglicher Gesten, die nur zum Grab führen.
Wird irgendwo ein reiner Tropfen zu finden sein?
Nandanam
15. Mai 1975
Ende des erstes Bandes
1 Die Verweise beziehen sich auf das Quellenverzeichnis am Schluß des Buches.
2 On Himself, 26.457
3 Entretiens, 14.10.53
4 Entretiens, 8.1.51
5 Entretiens, 4.12.57
6 Entretiens, 4.12.57
7 Savitri, 6.2.461
8 The Hour of God, 17.196
9 Savitri, 10.3.629
10 Walter Pater : Studies in the History of the Renaissance, p. 103
11 Savitri, 7.1.468
12 L’École Polytechnique, die Pariser Hochschule zur Ausbildung von Ingenieuren, vom französischen Armeeministerium verwaltet, ist eine der höchsten Mathematiklehrstätten Frankreichs, durch deren geheiligte Pforten die Elite der Technokraten schreitet
13 Savitri, 1.4.61
14 Entretiens, 25.7.56
15 Savitri, 4.3.370
16 Entretiens, 12.8.53
17 Entretiens, 8.2.56
18 Entretiens, 24.3.54
19 Essays on the Gita, 13.22.530
20 The Life Divine, 19.1023
21 Entretiens, 10.3.51
22 Entretiens, 23.4.51
23 Savitri, 2.6.428
24 The Hour of God, 17.149
25 Le Grand Secret, p.16
26 Entretiens, 20.10.54
27 Entretiens, 30.9.53, 10.2.54
28 Das “Bewußtsein der Form” ist das Körperbewußtsein oder, genauer gesagt, das in den Zellen des Körpers enthaltene Bewußtsein, das auch in einer Mumie fortdauert, wenn sie gut erhalten ist, und das einen Bewußtseinskontakt mit der Mumie ermöglicht, wie ihn Mirra im Guimet Museum erlebte – denn man kann keine Verbindung mit etwas aufnehmen, das kein Bewußtsein hat. Das Bewußtsein ist die Brücke.
29 Der Faden, der einen mit dem Körper verbindet, ist sehr zerbrechlich, und im Falle abrupten Erwachens besteht die Gefahr, daß die Verbindung gestört wird, das heißt, daß es sehr schwierig wird, wieder in seinen Körper zurückzukehren, wie in einem Alptraum – manchmal kann der Faden sogar reißen, aber das ist selten und gefährlich, denn man ist dann nicht mehr imstande, in seinen Körper zurückzukehren, das heißt, man ist klinisch tot
30 Entretiens, 4.1.56
31 Entretiens, 8.2.56
32 Entretiens, 19.2.51
33 Entretiens, 11.5.55, 21.9.55, 25.5.55
34 Entretiens, 26.11.58
35 Entretiens, 2.6.54
36 Entretiens, 28.4.51, 7.3.56
37 The Synthesis of Yoga, 20.42
38 Prières et Méditations, 22.2.1914
39 Entretiens, 4.4.56, 15.2.56
40 Entretiens, 9.6.54
41 Entretiens, 16.9.53
42 Entretiens, 9.4.51
43 Entretiens, 1.6.55
44 Entretiens, 14.4.54
45 Entretiens, 17.3.54
46 Entretiens, 17.4.51
47 The Life Divine, 18.232
48 Savitri, 2.10.238
49 Entretiens, Aphorismes et Paradoxes, p.147
50 Vers l’Avenir, p.3
51 Entretiens, 29.3.51
52 Prières et Méditations, 2.12.1912
53 Entretiens, 9.2.55
54 Entretiens, 8.1.58
55 Entretiens, 7.10.53
56 Entretiens, 7.11.52 (inédit)
57 Entretiens, 3.3.51
58 Musa Spiritus, 5.589
59 Entretiens, 13.7.55
60 Letters on Yoga, 22.368
61 Pensées et Aphorismes, 27.2.62
62 Entretiens, 3.2.54
63 Pensées et Aphorismes, 3.8.69
64 Synthesis of Yoga, 21.831
65 Entretiens, 6.5.53
66 Entretiens, 27.1.51
67 Entretiens, 5.12.56
68 Entretiens, 6.5.53
69 Entretiens, 16.6.1929
70 Entretiens, 11.5.55
71 Entretiens, 28.4.1929
72 Entretiens, 10.3.54
73 Pensées et Aphorismes, 27.2.62
74 Entretiens, 3.6.53
75 Prières et Méditations, 16.2.1914
76 Entretiens, 3.9.58
77 Entretiens, 6.7.55
78 Entretiens, 10.3.54
79 Entretiens, 31.7.57
80 Some Talks of Sri Aurobindo, Mother India, May 1974
81 Thoughts and Aphorisms, 17.82
82 C. Thémanlys, Un séjour chez les Grands Initiés, p. 11
83 Entretiens, 15.3.57
84 C. Thémanlys, Un séjour chez les Grands Initiés, p.12
85 C. Thémanlys, Un séjour chez les Grands Initiés, p.6
86 Some Talks of Sri Aurobindo, Mother India, May 1974
87 Entretiens, 15.3.57
88 C. Thémanlys, Un séjour chez les Grands Initiés, p.10
89 Entretiens, 15.3.57
90 Entretiens, 15.3.57
91 Entretiens, 15.3.57
92 Entretiens, 15.3.57
93 Entretiens, 15.3.57
94 Letters on Yoga, 22.214
95 Entretiens, 30.11.55
96 The National Value of Art, 17.237
97 Entretiens, 2.4.51
98 Centre Universitaire International
99 Message, 23.8.52
100 Letters on Yoga, 22.78
101 Entretiens, Aphorismes et Paradoxes, p. 46
102 C. Thémanlys, Un séjour chez les Grands Initiés, p.13
103 C. Thémanlys, Un séjour chez les Grands Initiés, p.19
104 C. Thémanlys, Un séjour chez les Grands Initiés, p.12
105 II Pierre 3.13
106 The Synthesis of Yoga, 20.281
107 Entretiens, 19.2.58
108 Entretiens, 28.5.58
109 Isha Oupanishad
110 Gopi Oupanishad
111 Entretiens, 28.5.58
112 Katha Oupanishad, 2.1.10
113 Taïttiriya Oupanishad, 10
114 Thoughts and Aphorisms, 17.124
115 The Life Divine, 19.891
116 A.B. Purani, Evening Talks, I, p.45
117 Katha Oupanishad
118 Entretiens, 28.8.57
119 Entretiens, 25.8.54
120 Entretiens, 9.4.58
121 Entretiens, 25.8.54
122 Entretiens, 25.8.54
123 Entretiens, 25.8.54
124 Entretiens, 17.8.55
125 Entretiens, 6.6.56, 17.8.55
126 Entretiens, 8.6.55
127 Entretiens, 2.3.55
128 Entretiens, 8.4.53
129 Entretiens, 27.5.53
130 Entretiens, 27.5.53
131 La Découverte Suprême, p.16
132 Entretiens, 28.12.55
133 Prières et Méditations, 29.8.1914
134 Prières et Méditations, 5.9.1914
135 Prières et Méditations, 15.6.1914
136 Paroles d?Autrefois, 21.5.1912
137 Quelques Paroles, 8.6.1912
138 Quelques Paroles, 7.5.1912
139 Paroles d?Autrefois, 21.5.1912
140 Prières et Méditations, 9.2.1914
141 The Human Cycle, 15.250
142 Entretiens, 14.5.58
143 Entretiens, 14.12.55
144 Sri Aurobindo on The Mother, 25.372
145 Entretiens, 17.2.51
146 Entretiens, 28.3.56
147 Entretiens, 6.10.54
148 Entretiens, 15.2.56
149 Entretiens, 24.9.58
150 Entretiens, 16.11.55
151 Pensées et Aphorismes, 21.12.69
152 Entretiens, 12.2.51
153 Entretiens, Aphorismes et Paradoxes, p.7
154 Savitri, 10.6.642
155 Entretiens, 15.12.54
156 Entretiens, 14.3.56
157 Commentaires sur le Dhammapada, p.126
158 Entretiens, 3.5.51
159 Savitri, 3.3.330
160 Prières et Méditations, 17.6.1914
161 Entretiens, 9.11.55
162 The Synthesis of Yoga, 21.855
163 Entretiens, 20.2.57
164 Paroles d?Autrefois, p.29
165 Entretiens, 29.7.53
166 Commentaires sur le Dhammapada, p.21
167 Mère Répond (quatrième série), 9.12.64
168 Entretiens, 8.9.54
169 Entretiens, 19.12.56
170 Prières et Méditations, 16.10.1914
171 Savitri, 1.4.55
172 Mother India, May 1974
173 Prières et Méditations, 29.12.1913
174 Prières et Méditations, 29.11.1913
175 Prières et Méditations, 25.5.1914
176 Prières et Méditations, 9.1.1914
177 Prières et Méditations, 6.9.1914
178 Prières et Méditations, 20.5.1914
179 Quelques Paroles, 7.5.1912
180 Prières et Méditations, 30.12.1916
181 Prières et Méditations, 5.12.1912
182 Prières et Méditations, 29.8.1914
183 Prières et Méditations, 7.4.1914
184 Prières et Méditations, 2.11.1912
185 Prières et Méditations, 14.10.1914
186 Gandhi kehrte im Januar 1915 von Afrika nach Indien zurück. Erst 1920 startete er seine “Non-Cooperation”-Bewegung.
187 Entretiens, 19.9.55
188 The Harmony of Virtue, 3.347
189 The Hour of God, 17.196
190 Thoughts and Aphorisms, 17.87
191 Prières et Méditations, 29.11.1913, 17.8.1913, 2.6.1914
192 Quelques Paroles, 13.6.1937
193 Causerie du 10.3.1912
194 Centre Universitaire International
195 Entretiens, 8.4.53
196 Entretiens, 8.4.53
197 Paroles d?Autrefois, 25.6.1912
198 Letters on Yoga, 22.151
199 Prières et Méditations, 1.2.1914
200 Entretiens, 21.4.51
201 Pensées et Aphorismes, 10.10.69
202 Prières et Méditations, 9.5.1914
203 La Découverte Suprême, 1912
204 Entretiens, 23.9.53
205 A Fragment, Advent, Aug. 73, p.10
206 On Himself, 26.458
207 Prières et Méditations, 30.3.1914
208 Savitri, 5.1.389
209 On Himself, 26.456
210 Entretiens, 12.10.55
211 Prières et Méditations, 15.6.1914, 6.7.1914, 9.6.1914
212 Prières et Méditations, 8.4.1914
213 Entretiens, 7.12.55
214 In der Tat seit dem Buddhismus. Dies traf jedoch nicht auf das vor-buddhistische Indien zu und vor allem nicht auf die vedische Epoche.
215 Savitri, 5.3.407
216 Isha Oupanishad, 9
217 Vichnou Pourâna, 6.1.28, 30
218 Das Vishnu Purana, das ungefähr auf das 3. Jahrhundert vor Christus zurückgeht, sagt noch andere bemerkenswerte Dinge über unser Kali Yuga, zum Beispiel: “Im Kali Yuga werden die Könige sich nicht um ihre Untertanen kümmern, und dennoch werden sie die Güter ihrer Untertanen unter dem Vorwand der Steuereintreibung stehlen… Im Kali Yuga werden die Shudras (die Arbeiter) die gleichen Rechte beanspruchen wie die Brahmanen. Die Völker werden von Hunger, Steuern, Krankheiten geplagt sein… Die Wolken werden sehr wenig Wasser spenden, und die Saat wird kaum aufgehen… Alle Kasten werden beinahe wie die Shudras sein… Aber ungeachtet all dieser Mängel, liegt die große Macht des Kali Yuga darin, daß der spirituelle Fortschritt, der zur Zeit des Satya Yuga (das anfängliche Zeitalter, das Zeitalter der Wahrheit) nur mit großen asketischen Mühen erreicht wurde, vom Menschen im Kali Yuga mit einer sehr geringen Anstrengung vollbracht werden kann.”
219 The Supramental Manifestation, 16.27
220 Entretiens, 26.6.57
221 On Himself, 26.167
222 Savitri, 11.1.700
223 Commentaires sur le Dhammapada, p.137
224 The Synthesis of Yoga, 20.68
225 Savitri, 1.4.49
226 Vgl. Nolini Kanta Gupta, Reminiscences, dem die meisten hier zitierten Einzelheiten entnommen wurden
227 Purani, Life of Sri Aurobindo, p.142
228 The Supramental Manifestation, 16.70, 64
229 Purani, Evening Talks, III. 106
230 Early Letters, 27.43
231 Message, 14.2.1961
232 Early Letters, 27.423
233 On Himself, 26.469
234 Sri Aurobindo benützt das englische Wort permeation: die Substanz selbst wird permeabel.
235 Letters on Yoga, 22.78
236 The Hour of God, 17.14
237 Early Letters, 27.458
238 Early Letters, 27.428
239 Early Letters, 27.433
240 On Himself, 26.450
241 Correspondence with Nirodbaran, 91
242 Early Letters, 27.458
243 Purani, Evening Talks, III. 4
244 Early Letters, 27.434
245 Early Letters, 27.459
246 Early Letters, 27.423
247 Early Letters, 27.434
248 Savitri, 7.6.541
249 On Himself, 26.374
250 Purani, Evening Talks, 1.274
251 Barin, Sri Aurobindo as I understand Him, 13.78 (unpublished)
252 Entretiens, 29.8.56
253 Conversations avec Pavitra, p.156
254 Purani, Evening Talks, 1.274
255 Early Letters, 27.475
256 The Hour of God, 17.393
257 Entretiens, 14.10.53
258 Essays on the Gita, 13.372
259 Early Letters, 27.480
260 On Himself, 26.390
261 La Mère, pp.42-44
262 The Hour of God, 17.398
263 Savitri, 2.6.192
264 Taïttiriya Oupanishad, 2.6
265 Early Letters, 27.475
266 On Himself, 26.7
267 Nolini, Réminiscences, p.56
268 Purani, Evening Talks, 1.183
269 On Himself, 26.445
270 Purani, Evening Talks, 1.183
271 Prières et Méditations, 10.7.1914
272 Prières et Méditations, 10.4.1914
273 Entretiens, 19.5.54
274 Purani, Life of Sri Aurobindo, p.159
275 Prières et Méditations, 7.7.1914
276 Prières et Méditations, 6.7.1914
277 Prières et Méditations, 10.7.1914
278 Prières et Méditations, 11.7.1914
279 Prières et Méditations, 15.1.1916
280 Prières et Méditations, 18.6.1914
281 Prières et Méditations, 3.3.1915
282 Lettres à André, 6.4.1926
283 Prières et Méditations, 7.3.1915
284 Lettres à André, 6.4.1925
285 Prières et Méditations, 26.5.1914
286 Prières et Méditations, 26.11.1915
287 On Himself, (16.9.1915) 26.424
288 On Himself, (28.7.1915) 26.425
289 Prières et Méditations, 31.7.1915
290 On Himself, (20.5.1915) 26.425
291 Entretiens, 7.4.54
292 Entretiens, 12.4.51
293 Entretiens, 23.6.54
294 Entretiens, 22.3.51
295 Talk to the Women of Japan
296 Talk to the Women of Japan
297 Inédit
298 Talk to the Women of Japan
299 On Himself, 26.483
300 Prières et Méditations, 3.9.1919
301 Interview with Ohkawa (Sri Aurobindo Mandir Annual, no. 17, 1958)
302 Entretiens, 17.2.54
303 Entretiens, 21.12.55
304 Entretiens, 17.2.51
305 On Himself, 26.121
306 Entretiens, 21.12.55
307 Purani, Evening Talks, 11.315
308 Entretiens, 21.12.55
309 Entretiens, 21.12.55
310 Entretiens, 21.12.55
311 Das “Vital” stellt für Sri Aurobindo und Mutter die Bewußtseinsregionen und -zentren dar, die unterhalb des Mentals zwischen Hals und Geschlecht liegen, das heißt die ganze Region der Gefühle, Empfindungen, Leidenschaften usw., welche die verschiedenen Ausdrücke der Lebensenergie darstellen
312 On Himself, 26.159
313 Barin, Sri Aurobindo as I understand Him, 14.79 (unpublished)
314 Purani, Evening Talks, 1.12 sqq
315 Barin, Sri Aurobindo as I understand Him, 14.86.84 (unpublished)
316 Early Letters, 27.481
317 Champaklal Speaks, p.14
318 Early Letters, 27.481
319 On Himself, 26.112
320 On Himself, 26.111
321 On Himself, 26.140
322 Purani, Evening Talks, 11.309
323 The Synthesis of Yoga, 20.95-96
324 Entretiens 1930-31, p.93
325 Nirodbaran, Talks, 1.43
326 Purani, Evening Talks, 11.309 sqq.
327 Purani, Evening Talks, 11.310
328 Purani, Evening Talks, 11.319
329 Purani, Evening Talks, 11.312
330 Purani, Life of Sri Aurobindo, p.207 sqq.
331 Purani, Evening Talks, 1.25
332 Purani, Evening Talks, 1.25
333 Purani, Life of Sri Aurobindo, p.211
334 Collected Poems, 5.563
335 Correspondence with Nirodbaran, 29.8.1935
336 Savitri, 11.1.700
337 Early Letters, 27.496
338 Lettres à André, 4.11.1924
339 Nirodbaran, Talks, 1.6
340 Lettres à André, 23.8.1930
341 Voir : Conversations avec Pavitra
342 Conversations avec Pavitra, 31.10.1926
343 Nirodbaran, Twelve Years?p.l23
344 Entretiens, 27.1.51
345 On Himself, 26.167, 169
346 Correspondence with Nirodbaran, 8.10.35
347 On Himself, 26.146
348 On Himself, 26.465
349 On Himself, (5.10.1935) 26.108
350 Purani, Evening Talks, 11.298
351 Purani, Life of Sri Aurobindo, p.210
352 On Himself, 26.147
353 Purani, Life of Sri Aurobindo, p.196
354 Letters to Dilip, 27.4.1944
355 On Himself, (14.1.1932) 26.122
356 A God?s Labour, 5.99 sqq.
357 Lettres à André, 12.1.1925
358 Nirodbaran, Twelve Years? p.146
359 “Ich appelliere an Sie, die Feindseligkeiten einzustellen,” schrieb er in seinem Brief vom 2. Juli 1940, “… weil Krieg im Kern schlecht ist. Sie wollen den Nazismus zunichte machen: Ihre Soldaten üben das gleiche Werk der Vernichtung aus wie die Deutschen. Der einzige Unterschied besteht vielleicht darin, daß Ihre nicht so gründlich sind wie die Deutschen.… Ich wage es, Ihnen einen nobleren und mutigeren Vorschlag zu machen, des mutigsten Soldaten würdig. Ich wünschte, Sie würden den Nazismus ohne Waffen bekämpfen oder… mit gewaltlosen Waffen. Ich wünschte, Sie würden Ihre Waffen niederlegen, denn sie sind unfähig, Sie oder die Menschheit zu retten… laden Sie Herrn Hitler und Signor Mussolini ein, von den Ländern, die Sie Ihr Eigentum nennen, das zu nehmen, was sie wollen. Sollen sie Besitz ergreifen von Ihrer schönen Insel mit ihren vielen schönen Bauten. Sie werden ihnen all das geben, jedoch weder Ihre Seele, noch Ihren Geist…”
360 On Himself, 26.396
361 Letters to Dilip, 10.6.1944
362 Nirodbaran, Twelve Years? p.130
363 Purani, Evening Talks, (15.8.1925) II. 316 sqq.
364 Purani, Evening Talks, (15.8.1925) II. 316 sqq.
365 Purani, Evening Talks, (15.8.1925) II. 316 sqq.
366 Correspondence with Nirodbaran, 25.11.1935
367 Nirodbaran Talks? 1.85
368 On Himself, 26.450
369 On Himself, 26.144
370 On Himself, 26.186
371 On Himself, 26.187
372 Correspondence with Nirodbaran, 6.2.1935
373 On Himself, 26.153
374 On Himself, 26.154, 78
375 On Himself, 26.188
376 Nirodbaran, Twelve Years? p.60
377 Purani, Evening Talks, II. 148
378 Purani, Evening Talks, II (15.8.1925)
379 On Himself, (30.8.1932) 26.469
380 On Himself, 26.147
381 On Himself, 26.470
382 Purani, Life of Sri Aurobindo, p.218
383 On Himself, 26.144
384 Correspondence with Nirodbaran, 27.5.1935
385 Correspondence with Nirodbaran, 16.8.1935
386 Correspondence with Nirodbaran, 16.8.1935
387 Correspondence with Nirodbaran, 25.11.1935
388 Nirodbaran, Talks? 1.52
389 Purani, Evening Talks, III. 107
390 On Himself, 26.189
391 On Himself, 26.170
392 Letters to Dilip, 17.7.1948
393 Nirodbaran, Twelve Years? p.60
394 On Himself, 26.152
395 Nirodbaran, Twelve Years? p.19
396 On Himself, 26.171
397 On Himself, 26.169
398 Entretiens, 8.3.51,25.11.53
399 Collected Poems, 5.570
400 Purani, Evening Talks, (15.8.1924) 11.310
401 Champaklal Speaks, p.121
402 Nirodbaran, Twelve Years? p.78
403 On Himself, 26.489
404 Savitri, 2.4.136
405 Nirodbaran, Twelve Years? p. 49 sqq.
406 Nirodbaran, I am Here ! I am Here !, p. 9
407 Die meisten dieser Einzelheiten sind Nirodbarans Twelve Years with Sri Aurobindo und anderen Werken entnommen.
408 Die erste Version von Savitri wurde bereits 1899 in Baroda geschrieben, wo Sri Aurobindo im Dienst des Maharadschas stand, bevor er seine revolutionäre Aktion in Angriff nahm
409 Early Letters, 27.154
410 Savitri, 11.1.708
411 Savitri, 3.4.343
412 Savitri, 11.1.709
413 Prières et Méditations, 30.3.1914
414 Prières et Méditations, 5.9.1914
415 Prières et Méditations, 16.2.1914
416 Prières et Méditations, 1.2.1914
417 Prières et Méditations, 9.5.1914
418 Nirodbaran, I am Here ! I am Here !
419 Nirodbaran, Twelve Years? p.53
420 Savitri, 11.1.686
421 Savitri, 3.3.317
422 Savitri, 7.4.521
423 Nirodbaran, I am Here ! I am Here !
424 Dr. Prabhat Sanyal, A Call from Pondicherry
425 Purani, Evening Talks, 11.149
426 Message, février 1970
427 Savitri, The Book of Fate, 6.2.461
428 Savitri, 1.2.20