Mutters
Agenda
ersten Band
Ohne Datum 1956
(Brief von Satprem an Mutter)
Pondicherry, 1956
Liebe Mutter, mit aller Aufrichtigkeit, derer ich fähig bin, möchte ich ein (für mich) wichtiges Problem vor Dir darlegen, damit Du mir hilfst, es zu lösen. Ich fühle, daß ich einen entscheidenden Wendepunkt erreiche und etwas mich hindert, weiterzugehen.
Meine ganze Vergangenheit bedrückt mich, nicht weil ich daran hänge, denn ich bedaure NICHTS in der Vergangenheit und meine einzige Hoffnung liegt vor mir, aber ich habe diese Vergangenheit nicht gänzlich wie eine Marionette durchlaufen, es scheint mir, daß "ich" sie geschaffen habe, aufgebaut wie ein Buch – seit fünfzehn Jahren, seit dem Konzentrationslager, suchte ich bewußt die Erfahrungen und durchlebte eine ganze Stufenleiter von Empörungen, von Situationen, um das Grundmaterial für ein Buch zu sammeln. Es fügt sich, daß nach und nach diese Ausarbeitung "meines" Buches mit der Suche nach meinem wahren Selbst zusammenfiel. Jetzt weiß ich, was ich suchte, aber das Buch ist in mir gewachsen, es ist wie eine machtvolle Formation, die mich beschwert, und sie beschwert mich um so mehr, da mir seit Sri Aurobindo alle meine vergangenen Erfahrungen mit Sinn beladen scheinen, wie ein Symbol; ich erkenne darin überall Deine Hand, ich entdecke den Zusammenhang all der zufälligen Erscheinungen, und es zeichnet sich eine außergewöhnliche Notwendigkeit heraus, die mich hierher führte – all das ergibt ein dichtes, lebendes, vibrierendes Buch, das wie ein Gewicht auf mir liegt. Ich muß das alles abwerfen, mich befreien, dieses Buch schreiben.
Aber ich muß nicht nur diese Vergangenheit auflösen, ich muß auch meine Wahl erneuern, meine Gegenwart hier bekräftigen – und dieses Buch fühle ich wie eine Verpflichtung, es wird mir helfen, meinen Weg in entschiedener Weise festzulegen. Es ist eine Probe.
Es gibt noch einen weiteren Gesichtspunkt, und wenn ich mich täusche, wirst Du mich aufklären: ich fühle, daß dieses Buch, wenn es Erfolg hat, anderen nützen und dem Werk von Sri Aurobindo dienen könnte. Denn ich hatte die Chance, viele der Fragen, die andere sich stellen, konkret und schmerzlich zu durchleben. So erscheinen mir alle meine vergangenen Erfahrungen wie die lebende Darstellung einer Lehre, deren Schlüssel Sri Aurobindo ist. Das, was abstrakt und philosophisch bereits erklärt wurde, kann ich in der Form eines lebendigen Romans sagen, der den Leser berührt. Ich glaube in mir eine Ausdruckskraft für diese Dinge zu spüren.
Liebe Mutter, es mag sein, daß ich mich täusche. Aber ich schreibe Dir gerade, damit Du mich aufklärst. Ich schreibe Dir das alles nicht, damit Du mein Bedürfnis zu schreiben gutheißt, sondern damit Du mir sagst, was Dein Wille ist. Ich will nicht "ein Schriftsteller" sein, sondern Dein Kind, Dein Instrument. Es gibt etwas in mir, das aufgelöst werden muß.
Das Problem stellt sich praktisch, denn es bedarf einer ziemlich langen Zeit stetiger Arbeit, um mich von all dem zu befreien. Aber ich habe dieses Buch so lange in mir herumgetragen, daß es in allen seinen Einzelheiten fertig ist – in sechs Monaten kann ich es beenden. Hier bin ich zu sehr in Anspruch genommen, um es schnell zu beenden; darüberhinaus verspüre ich das Bedürfnis, mein Leben hier von außen neu zu situieren. Ich dachte zu Brewster im Himalaja zu gehen. Ich könnte dort gewisse Arbeiten fortsetzen, die ich mit Pavitra mache. Es scheint mir, daß ich befreit und gestärkt in der Rechtfertigung meines Hierseins zurückkommen werde.
Liebe Mutter, mache ich mir etwas vor? Was ist Dein Wille? Es ist Dein Wille, den ich will, nicht meinen Wunsch, und ich bin sicher, daß Du mir die Kraft geben wirst, Deinen Anordnungen zu folgen, wie sie auch sein mögen. Erhelle mich.
In Dankbarkeit bin ich Dein Kind.
Bernard
P.S. Kann dieses Buch Dir dienen?