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Mutters

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ersten Band

Ohne Datum Januar (?) 1956

(Brief von Satprem an Mutter)

Pondicherry

Mutter, ich muß mich entlasten von dem, was mir das Herz zuschnürt, und wenn das Göttliche irgendwo existiert, möchte ich ihm meinen tiefen Widerwillen aussprechen. Denn das alles ist zutiefst skandalös, widersinnig und empörend. Ich weiß, daß die äußere Welt absurd ist und daß die Menschen dort vergebens leben; aber die Welt des Ashrams ist nicht weniger absurd, nicht weniger vergebens. "Man" macht sich lustig über uns, "man" mißbraucht uns – denn wenn es wirklich jemanden gibt, der der Zeuge dieser Tragikomödie ist, und wenn die ganze Welt sein "Spiel" ist, dann ist es ein grausames Spiel und er ist ein Betrüger, denn er hält alle Trümpfe in seiner Hand und gibt vor, ein Spiel mit uns zu spielen, bei dem wir verlieren müssen, ein Spiel, das wir nicht spielen können, denn wir sind machtlos, leidend, ohne Kräfte, ohne Licht.

Und alle unsere Anstrengungen sind vergebens und traurigst lächerlich. Jeden Augenblick muß alles wieder begonnen werden, ein Schritt scheint uns voran zu führen, der nächste zieht uns zurück. Wir drehen uns verzweifelt im Kreise, und manchmal gewahren wir in unserem Taumel Lichter, aber es sind kleine tanzende Lichter unserer eigenen Müdigkeit, unserer eigenen Schwäche. Es gibt keinen Sieg, es gibt nur Atempausen. Die Meditationen bringen wohl Ruhe und Frieden, aber das tut der Schlaf auch. Wir alle sind auf der Suche nach Befreiung: durch Liebe, durch Opium, Tätigkeit, Krieg oder Macht – oder durch Yoga; aber das eine Mittel ist so vergeblich wie das andere. Es gibt keine wahre Lösung, es gibt lediglich mehr oder weniger wirksame Mittel, für eine Stunde oder einen Tag zu vergessen, daß wir Menschen sind und daß wir allein sind und daß wir machtlos sind.

Es ist wohl möglich, sogar wahrscheinlich, daß ich in einer Stunde oder einem Tag ganz das Gegenteil von dem denke, was ich jetzt schreibe. Aber die Person, die ich morgen bin, widerlegt nicht den, der ich jetzt bin, sie macht ihn nur noch sinnloser, unerträglich sinnlos. Der ich jetzt bin, vielleicht für eine Stunde, verspürt das Bedürfnis, seinen Ekel vor diesem namenlosen Possenspiel herauszuschreien. Wir sind Hanswürste, Hampelmänner, und ich will gerne glauben, daß all das nur ein Bewußtseinszustand ist – aber dennoch ein Bewußtseinszustand des Hampelmanns. Der Hanswurst von morgen, der vielleicht das Göttliche um Gnade bittet und daran glaubt, ist immer noch ein Hanswurst – nur ein resignierter und ruhiger Hanswurst, aber nicht weniger eine sinnlose Marionette, die ein nicht weniger sinnloses Spiel spielt. Ich verstehe jene, die überall ein wenig Dynamit streuen; wenn sie den Tod suchen, dann weil sie verzweifelt leben wollten und es unmöglich ist zu leben. Man kann nicht leben, sondern nur in der einen oder anderen Weise diesem unerträglichen Dasein entfliehen. Mutter, es ist für den Menschen unmöglich, sich fünf Minuten in voller Klarheit ins Gesicht zu schauen – SONST WÜRDE ER SICH TÖTEN... So frage ich, ob das Göttliche – wenn es existiert – jemals das Leiden der Menschen gekannt hat. Wenn es existiert, warum gibt es den Menschen nicht die Kräfte, diesen "Teufelskreis" zu durchbrechen, in dem wir wie Gefangene in einer Zelle kreisen. Vor zwölf Jahren war ich zwanzig und drehte ich mich in einer Zelle in Bordeaux im Kreise und wartete auf die Hinrichtung 1 – doch ich bin immer noch dieser gleiche Gefangene: wenn ich während dieser zwölf Jahre Fortschritte gemacht habe, dann in Verzweiflung, im Leiden. Das alles ist unwürdig und empörend, wenn das Göttliche existiert.

Das Ashram verlassen? – Aber die übrige Welt ist ganz genauso sinnlos. Der Mensch ist sinnlos, und Gott, wenn er existiert, ist ein reiner Skandal. Mutter, ich bin EMPÖRT und ich fühle in mir die Empörung und die Verzweiflung von all den Menschen, die das wirklich nicht verdient haben.

Bernard

 

1 1943 wurde Satprem als Widerstandskämpfer von der Gestapo festgenommen und verbrachte anderthalb Jahre in den Konzentrationslagern Buchenwald und Mauthausen.

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