Mutters
Agenda
ersten Band
Ohne Datum 1956
(Brief von Satprem an Mutter)
Pondicherry, 1956
Liebe Mutter, es scheint mir gut zu sein, Dir zu berichten, was gestern abend während der Austeilung in mir geschehen ist, wenn auch nur, um Dir meinen unendlichen Dank zu sagen.
Zu allererst begann ich mit vollkommener Klarheit zu fühlen und wahrzunehmen, daß Du es warst, und Du allein, die mein Yoga ausführte, daß Du alles für mich tatest und daß Du seit jeher da warst, um jeden meiner Schritte zu lenken. Leuchtend spürte ich, daß ich ohne Dich niemals einen Schritt vorwärts hätte gehen können und daß alle meine Anstrengungen im Grunde dazu dienten, mich in gewisser Hinsicht die Nutzlosigkeit aller meiner Anstrengungen zu lehren und mich zu diesem Punkt der Ohnmacht zu führen, wo man sich vollkommen in die Hände einer größeren Macht geben muß, in Deine Hände. Und ich fühlte so unbedingt, daß durch Dich ALLES für mich getan werden wird, wenn ich mich Dir ganz anvertraue. Und es war wie eine Befreiung, wie wenn Du ein Gewicht von meiner Brust höbest. Ich mußte mich nicht mehr innerlich festklammern, stoßen und zerren, bis ich innerlich gekrümmt wurde, es genügte, Dich wirken zu lassen.
Dann fühlte ich, wie eine doppelte Bewegung sich in mir einrichtete, eine fast physische Bewegung, die dem Rhythmus meiner Atmung folgte, als würde ich jedesmal, wenn ich einatmete, etwas empfangen, und mein Ausatmen war wie eine Darbietung meiner selbst. Diese doppelte Bewegung des Empfangens und der Darbietung schien in mir zu wachsen, wie wenn es die eigentliche Atmung der Welt wäre, die Atmung der Welt, die empfängt und sich gibt. Und ich bemerkte, daß die Atmung irgendwann anhalten, der Kreis sich schließen könnte, die beiden Atemzüge sich in einer leuchtenden Unbeweglichkeit vereinigen könnten. Und unbestimmt, wie von weitem, hinter einem Schleier, wurde ich einer Art von reinem, strahlenden, weißen Licht gewahr, und das warst Du im Herzen der Welt. Dann fühlte ich, wie wunderbar es war, sich geben zu können. Es erschien mir als das Wissen um das Geheimnis der Dualität, um die Freude des Gebens, um die Freude der Liebe. Dann hatte ich den Eindruck, daß ich anfing zu mentalisieren, ich fürchtete, zu genau aufzuzeichnen, was vor sich ging, und wandte mich einfach zu Dir, im Schweigen und in der Liebe, es schien mir, daß die Erfahrung ein Hindernis sein könnte, ein Ort, wo man stehenblieb, während man doch immer weiter gehen muß. Dann schien es mir, daß Du da warst, ich sah Dich nicht genau, aber ich fühlte: ich fühlte, daß Du mir zulächeltest wie hinter einem Schleier. Die Austeilung war zu früh beendet und dann hatte ich eine Unterrichtsstunde. Aber selbst heute morgen bleibt mir eine Art freudiger Sicherheit im Herzen, und das Bedürfnis, Dir meine unendliche Dankbarkeit, meine Liebe zu sagen. Ich gehöre Dir, Mutter, mit meinem Körper, meinem Leben, meinem Geist.
Ich will nur, was Du willst.
Alles ist Gnade.
Dein Kind
Bernard
P.S. Wenn etwas derartiges geschieht, soll ich Dich dann durch mein Schreiben stören oder besser mich mit innerer Dankbarkeit zufrieden geben?
(Mutters Antwort)
Das stört mich überhaupt nicht, und Du hast gut daran getan zu schreiben. Deine Erfahrung ist hervorragend, und ich war sehr glücklich sie zu lesen – sie strahlt wie ein Licht über einem neuen Horizont.
Immer bei Dir.
Mutter