Mutters
Agenda
ersten Band
26. Juli 1960
Ich wachte um drei Uhr auf ("wachte auf", kam jedenfalls aus meiner Tätigkeit). Mir blieb noch eine Stunde vor dem Aufstehen. Also konzentrierte ich mich und ging nach innen.
Um zehn nach vier kam ich aus meiner Konzentration – sehr spät. Denn ich war SEHR beschäftigt (!), ich war in einer Art kleinem Haus, wie mein Zimmer, aber oben auf einem Turm, denn ich sah die Landschaft von oben. Es war wie mein Zimmer, mit großen Fenstern; ich war viel größer als ich eigentlich bin, denn unter jeder Fensterbank war ein Schrank, wie in meinem Zimmer, und ich überragte die Fensterbank weit mehr als hier; in meinem Zimmer reicht sie mir bis zur Brust, während sie in der Vision viel tiefer lag. Und von dort... ah, welch schöne Landschaften!... Ein Fluß lief vorbei, da waren Wälder, die Sonne schien – wirklich schön!... Und ich war sehr beschäftigt, Worte in einem Lexikon nachzuschlagen!
Ich hatte ein Wörterbuch hervorgeholt und sagte: "Hier, dieses ist es." Jemand stand neben mir – aber dieser Jemand ist stets symbolisch: jede Tätigkeit nimmt eine besondere Form an, die dieser oder jener Person ähneln kann. (Die Personen, die mich in meiner täglichen Arbeit umgeben, sind wie Familien in diesen Welten; dort sind es Typen – jeder stellt einen Typus dar – so weiß ich, daß die Erfahrung in Beziehung zu allen Personen desselben Typus steht; wären sie bewußt, wüßten sie, daß ich bei ihnen war und ihnen dies oder jenes sagte. Aber es handelt sich nicht um eine einzelne Person: es ist ein Typus. Kein Typ von Charakter: ein Typ von Tätigkeit oder Beziehung mit mir.)
Ich war bei einem bestimmte "Typ" und suchte ein Wort, ich wollte das Verb vaincre [siegen] konjugieren: je vaincs, tu vaincs, il vainc – ah! und nous vainquons [wir siegen], wie schreibt man das? Das war so komisch! Und ich suchte vainquons im Wörterbuch, wie schreibt man das?
Gleichzeitig ließ mich das fühlen, wie vollkommen willkürlich dieses ganze Wissen ist, wie unwirklich. Eine völlig willkürliche Konvention, die in keiner Weise auch nur dem geringsten Licht entspricht.
Und ich war sehr, oh, sehr, sehr... besorgt zu wissen, wie je vaincs, tu vaincs, wie das weitergeht: nous vainquons, vous vainquez. Und ich wachte um Viertel nach vier auf... ohne das Wort im Lexikon gefunden zu haben!
Dann, als ich aufwachte, fragte ich mich plötzlich: "Aber wie schreibt man das jetzt wirklich?" Ich brauchte eine halbe Minute. Das war so komisch!
Am Ende der Nacht ist es immer eine Erforschung irgendeines Teils der unterbewußten mentalen Tätigkeit. Dort macht man Entdeckungen... unglaublich! Aber es ist schön. Es ist selten unangenehm. Einige Zeit war es sehr unangenehm, eine Zeit, wo es eine Bedrückung, eine Anstrengung, Widerstände bedeutete: ich wollte irgendwo hingehen, und es war unmöglich; ich mühte mich und kämpfte, aber alles stellte sich quer: die ebenen Wege fielen plötzlich steil ab wie eine Kluft und ich mußte die Kluft überqueren. Jahrelang war das so. In letzter Zeit ließ ich auch diese Periode an mir vorbeilaufen... Doch jetzt ist das vorbei. Jetzt ist es... schön, amüsant, ein bißchen... es hat die Einfachkeit eines Kindes.
Aber das ist kein persönliches Unterbewußtes: es ist das Unterbewußte von... mehr als das Ashram. Für mich stellte das Ashram keine getrennte Individualität dar (nur in dieser Vision neulich [12. Juli 1960], das erstaunte mich auch). Das ist es nur in sehr geringem Ausmaß. Es ist noch die Bewegung des Ganzen, das Ganze wird mit aufgenommen. So ist es, als beträte ich das Unterbewußte der ganzen Erde, und es kleidet sich in Formen, die mir sehr geläufig sind, die aber gänzlich symbolisch und sehr amüsant sind, sehr amüsant! Ich brauchte einen Moment, um mir zu sage, daß vainquons mit quons geschrieben wird. Und ich war mir nicht sicher! Ich hatte vor, Pavitra um ein Lexikon mit den Konjugationen der Verben zu bitten; wenn ich beim Schreiben auf Schwierigkeiten stoße, kann ich dann nachschauen!
Neulich hatte ich etwas geschrieben (einen Brief, den ich Pavitra zu lesen gab). Er sagte: "Ich glaube, da ist ein Rechtschreibfehler." Ich erwiderte: "Das ist gut möglich, ich mache viele!" Er holte ein hervorragendes Wörterbuch. Ich hatte geschrieben aie [habe], im Imperativ – ich erinnerte mich vage, früher gelernt zu haben, daß nur die Verben der ersten Konjugationsform im Imperativ kein s nehmen: sie enden mit e, ohne s nach dem e. Und avoir gehört nicht zur ersten Konjugationsform (das ist die Logik), deshalb hatte ich ein s geschrieben! Pavitra sagte, es sei ein Fehler. Er holte ein Wörterbuch, und es war tatsächlich ein Fehler, den man nicht machen sollte! Heute morgen hatte ich vor, ihn um ein Wörterbuch zu bitten.
Das ist etwas sehr Einfaches, eine Konvention, ein konventionelles Gebilde, das irgendwo im Unterbewußten des Gehirns liegt, und man schreibt automatisch. Wenn man aber versucht, das Licht einer etwas höheren Vernunft dort hineinzubringen, wird es schrecklich! Es hält nicht mehr zusammen, man hat alles vergessen.
Man muß in der automatischen Konvention stecken, um sich zu erinnern: das ist sehr schwierig (Mutter lacht). Deshalb mache ich eine Fülle von Rechtschreibfehlern... (halblaut, mit schelmischer Stimme) Ich glaube, ich werde ihn um sein Wörterbuch bitten! (lachen)
Vaincre!... Ich wollte gerade jemandem schreiben, um ihm den Sieg zu verkünden. Der Gedanke war sehr klar, sehr schön. Und plötzlich wurde ich unterbrochen: wie schreibt man vainquons? und wie schreibt man vaincs? Die Person neben mir wußte überhaupt nichts, nichts. Sie sagte: "Das schreibt man vain", v-a-i-n [vain: vergeblich]. Ich sagte: "Nein, ich glaube nicht!" (lachen) So ging es, das war so komisch!...
Und du, bist du gut in Rechtschreibung?
Oh, das kommt darauf an! Wenn ich nicht darauf achte, geht es... Meistens mache ich keine Fehler – nicht zu viele!
Ja, ja, das geschieht völlig automatisch in einer Art Konvention irgendwo.
Hat man aber das Pech, die Konvention zu verlassen, und schaut hin, ist es vorbei, man weiß nichts mehr.