Mutters
Agenda
zweiten Band
20. Juni 1961
(Nach einer Meditation mit X)
Seit vier Tagen haben wir diese Meditationen, und es ist der vierte Tag der völligen Stille – keine Bewegung mehr, kein Laut (ich weiß nicht, ob es draußen Geräusche gibt oder nicht, ich weiß nichts). Eine vollkommene Unbewegtheit, bis zum Ende.
Wenn alles so unbewegt ist und scheinbar nichts geschieht, geschieht da etwas?
Ob etwas geschieht? – Ich weiß nicht. Aber das AN SICH ist etwas. Wenn der Körper sich dessen bewußt ist, bedeutet es genau, daß er seine Begrenztheit verlassen hat – es ist dieselbe Unendlichkeit, wie wenn man den Körper verläßt.
Was ich jetzt tue, wenn X kommt, ist, all das zu nehmen (Geste von unten bis oben) und damit so zu tun: (Geste der Darbietung nach oben) in einer Aspiration – und dann lasse ich es dort. Dann kommt diese Unbewegtheit, dieses Schweigen, dieses Licht, dieser Frieden von dort oben überall hin, und das rührt sich nicht mehr. Aber das an sich ist etwas... Es fällt dem Körper sehr schwer, das zu erreichen, sehr schwer: immer vibriert und bewegt sich irgend etwas.
Das ist, als brächte es alles wieder in Ordnung, aber nichts bewegt sich.
Als ich mich gestern in dieser Unbewegtheit befand, war es plötzlich, als nötige mich etwas, meinen Kopf zu wenden – ich wendete den Kopf nicht, aber das Bewußtsein wendete sich (Geste nach links), da sah ich mich in diesem Gang dort (der Gang zwischen dem Saal und Sri Aurobindos Zimmer), aufrecht, mit der Kleidung, die ich gewöhnlich draußen trage [ein indisches Hemd und leichte Hosen]. Ich stand aufrecht, sehr gerade, und über meinem Kopf hielt ich eine Kugel von einem solchen Licht! Funkelnder als diese grellen elektrischen Leuchten – blendend. Meine Kleidung war wie ein golden-rosa Licht. Ich stand ganz gerade und trug diese Kugel (Geste über dem Kopf). Als ich das sah, fragte ich mich: "Warum zeigt er mir das bloß?" Das war alles. Nichts weiteres geschah, nur was ich da sah. Aber in meiner Nähe stand eine Person, die ich nicht kannte, die mir einen ähnlichen Eindruck machte, wie dieser große Guru von X 1, den ich einmal sah. Er stand dort: eine große Figur. Es schien fast, als hätte er mich gezogen (er stand neben mir), um mir das zu zeigen.
Es war eine große Kugel. Man sah keine Strahlen, aber sie projizierte gleichsam unzählige blitzähnliche Strahlen. Ganz und gar funkelnd.
Was bedeutet das?
Weiß nicht. Ich kümmerte mich nicht weiter darum. Ich sagte mir, daß er mich das sicherlich sehen lassen wollte, aber was ist es?? Was bedeutet das? – Weiß nicht.
Es war die Kleidung, die ich draußen trage. Warum? Das mußte etwas bedeuten. Ich muß gestehen, daß ich mich nicht besonders anstrengte, zu verstehen! Ich sah es einfach, und lächelte (ich mußte darüber lächeln), das war alles. Es kam kurz vor dem Ende der Meditation.
Jedenfalls ist es der vierte Tag desselben Schweigens, so: (Mutter schließ beide Fäuste, wie um eine kompakte Masse anzudeuten). Nicht nur Schweigen: die Unbewegtheit (selbe kompakte Geste), OHNE ANSPANNUNG, ohne Spannung, ohne Anstrengung, nichts. Wie eine Art Ewigkeit – im Körper.
Mir fällt es auch nicht schwer, von dort herauszukommen – eigentlich komme ich nicht "heraus", das ist nicht wie eine Trance, aus der man sich herausziehen müßte, nein. Dieser Zustand erscheint mir völlig natürlich: ich komme heraus, wenn ich die Uhr schlagen höre.
*
* *
(Satprem macht eine Bemerkung über die Diskrepanz zwischen der inneren Verwirklichung mancher Yogis wie X und ihrem äußeren Benehmen, das nicht immer auf gleicher Höhe zu sein scheint:)
Ich habe wirklich den Eindruck einer Kluft zwischen dem X, den ich spüre, der mich anzieht, und dem äußeren Menschen.
Den äußeren X kenne ich nicht, ich habe mich wohl gehütet, mit ihm in Beziehung zu treten! Aber daß da eine Diskrepanz ist, spürte ich schon vom ersten Tag an.
Es ist seltsam!
Nein, das ist die alte Tradition: man zieht sich von der Natur zurück, und die Natur tut, was sie will, das berührt euch nicht. Ihr tragt keine Verantwortung dafür, "das seid nicht ihr". Das ist die alte Überzeugung.
Sri Aurobindo war sehr dagegen. Irgendwo macht er sich über diesen Mann lustig, der behauptet, er wäre der Herr und alles, was er tue, würde nicht er tun – und der wütend wurde, wenn sein Essen zu spät kam! Aber natürlich war nicht er wütend! Nur die Natur seines Magens war wütend! 2
Das ist eines der ironischsten Dinge, die Sri Aurobindo schrieb.
Ich kenne das und hütete mich immer sehr davor, denn das bedeutet ein offenes Tor für alle nur denkbaren Entstellungen. So war es auch bei Lele 3: er benahm sich wie ein Rüpel und sagte, das wäre nicht er, sondern die Natur, und er habe nichts damit zu tun. Das ist schön und gut, aber trotzdem besteht eine gewisse Verwandtschaft zwischen eurer physischen Seinsweise und eurem inneren Wesen, oder?!
Sri Aurobindo ließ das überhaupt nicht gelten.
Wie bei dieser Geschichte... X ist völlig in seine Familiengeschichten verwickelt. Zu Amrita sagte er: "Im August werden die Töchter zu ihren Gatten zurückkehren, der Sohn geht zur Schule, und dann werde ich endlich in Ruhe leben können." – Etwas anderes wird kommen! Es kommt natürlich immer etwas anderes!
Aber das macht nichts, ich versichere dir, während der halben Stunde, die er hier verbringt, ist er fabelhaft.
Oh, er ist fabelhaft! In ihm ist eine so sanfte, so gute Wärme, und eine Beherrschung (Beherrschung der inneren Bewegungen, der vitalen Bewegungen) mit der Fähigkeit, diesen Frieden, diese absolute Unbewegtheit im Physischen zu vermitteln, fabelhaft! Man kann sich gar nicht vorstellen, wie schwierig das ist, denn ich tue es seit fast vierzig Jahren, und es erfordert eine solche Anstrengung, um das zu erreichen! Mit ihm kommt es von alleine. Das ist die tantrische Beherrschung.
In einem gewissen Grad hat es die Macht zu heilen (in einem gewissen Ausmaß). Doch es ist nicht dieses Supramentale, das Sri Aurobindo hatte: er machte so (Mutter streicht mit der Hand über etwas), und es war völlig weg!
Das sah ich bei niemand anderem außer Sri Aurobindo.
1 Der verstorbene Guru von X, siehe Agenda 1 vom 4.10.58.
2 Siehe Sri Aurobindos Gedicht Self ["Selbst"] in Last Poems.
3 Der Tantra-Guru, dem Sri Aurobindo 1907 begegnete und der ihm das mentale Schweigen gab.