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Mutters

Agenda

zweiten Band

20. Dezember 1961

(Satprem liest Mutter Teile des Briefes von seinem Verleger in Paris vor)

Ich übergehe die höflichen Einleitungsklauseln:

"Sehr geehrter Herr..., gleich zu Beginn muß ich Ihnen sagen, daß dieses Buch, obgleich es ein hervorragender Essay ist, in seiner gegenwärtigen Form nicht für die Reihe 'Spirituelle Meister' geeignet ist. Lassen Sie mich versuchen, die Gründe hierfür anzuführen. Zunächst ist es der allgemeine Eindruck eines ABSTRAKTEN Textes. Natürlich kann ich mir vorstellen, was Sie mir darauf alles antworten können, und ich möchte unbedingt Mißverständnisse vermeiden! Aber ich versichere Ihnen, wenn ich mich in die Lage des Lesers versetze – und ich betone noch einmal, daß es sich hier um eine Reihe handelt, die für ein breites Publikum bestimmt ist, das wir inzwischen gut kennen –, daß dieses Publikum nicht über Seiten und Seiten hinweg Erwägungen über ein philosophisches oder spirituelles 'System' verfolgen kann (denn das ist es ja unbestritten)... Dieser Eindruck wird zunächst dadurch ausgelöst, daß Sie 21 Seiten lang annehmen, der Leser kenne bereits die historische Existenz Sri Aurobindos, die Merkmale der Veden und Upanischaden und ich weiß nicht wieviele Begriffe über Riten, Gottheiten, Weisheiten usw. usf... Meiner Meinung nach – und diese Lösung wird Ihnen grausam erscheinen, weil Ihnen natürlich an diesen 21 Seiten [über das Geheimnis des Veda] gelegen ist – sollten sie ganz einfach ausgelassen werden, weil alles, was Sie dort sagen – und es ist sehr bedeutungsreich –, erst verständlich wird, wenn man das Nachfolgende gelesen hat. In vielen Büchern darf man vom Leser verlangen, den Anfang erst zu verstehen, wenn er das Ende gelesen hat, aber nicht in jenen der populären Kultur. Eine drei- oder vierseitige Einleitung würde angemessen erscheinen, um die spirituelle und kulturelle Welt zu beschreiben, in der Sri Aurobindos Gedankengut entstand, aber auch hier müßte sie genügend 'deskriptiv' sein und keine Vorsynthese der nachfolgenden Darlegungen. Insgesamt sind Sie nicht analytisch genug (Sie werden lächeln und mich mit Recht kartesisch finden! Aber das Buch richtet sich ja an mehr oder weniger von diffusem Kartesianismus durchdrungene Leser, und wenn Sie wollen, können Sie ihnen helfen, ihre Methode zu wechseln, aber nur wenn Sie sich anfangs verständlich machen), und Sie geben vor der Analyse keine genügende Beschreibung der analysierten Gegebenheiten... Aus diesem Grund erscheinen uns die Trakte reiner philosophischer Analyse sehr lang ausgezogen, und selbst wenn man von der Abstraktheit des Kapitels über die Evolution, das gewiß gekürzt werden müßte, absieht, verliert man sich darin. Nachdem man geduldig oder manchmal auch ungeduldig eine Erläuterung Sri Aurobindos eigener Erfahrungen erwartet hat, liest man plötzlich mit Erstaunen auf einer einzigen Seite, daß man 'die Energien von oben schöpft anstatt in der materiellen Natur der Umgebung oder im animalischen Schlaf', oder daß man 'den Schlaf verändern und bewußt machen kann... die Krankheiten beherrschen kann, bevor sie in den Körper eindringen.' Und Sie fassen zusammen: 'Der Geist, der Sklave der Materie war, wird wieder zum Herr der Evolution.' Wäre es denn nicht wesentlich für das Verständnis des Lesers zu hören, was Sri Aurobindo zu diesem Schluß führte, welche Erfahrungen ihn dies bestätigen ließen und anderen erlauben würden, diese Methode als übertragbar zu betrachten, welche Schwierigkeiten, Hindernisse, Verwirklichungen auftraten?... Ich wiederhole, daß diese Pädagogik innigst mit dem Wesen unserer Reihe verbunden ist... Erlauben Sie mir auch hinzuzufügen, daß ich es beklagenswert finde, wenn ein Gedanke nicht um seiner selbst willen ausgedrückt werden kann, ohne daß seine Definition von aggressiver Ironie über Konzepte, die der Verfasser nicht teilt, begleitet wird. Es ist nutzlos und schadet dem dargestellten Gedanken um so mehr, als er in Kontrast zu den karikierten Begriffen steht: Ihre Bemerkungen über die Auffassungen von Seele, Schöpfung, Tugend, Sünde und Erlösung, so wie Sie sie darlegen, wären nur dann von Interesse, wenn der Leser diese Auffassung in sich selbst wiederfinden könnte. Aber unter Ihrer Feder werden sie so karikiert, daß sie einen zu leicht gewonnenen Kontrast zwischen bewunderten und mißachteten Eigenschaften entstehen lassen. Sie wären nur dann gerechtfertigt, wenn sie etwas Wirklichem im religiösen Bewußtsein des Westens entsprächen... Ich habe zu große Hochachtung für Sie und die spirituelle Welt, in der Sie leben, um dies aus Höflichkeit ungesagt lassen zu können..."

Amen.

(Schweigen)

Gestern nacht sagte mir Sri Aurobindo: "Sie wären nur zufrieden gewesen, wenn man ihnen ein ordentliches Bündel zweifelhafter Wunder aufgetischt hätte." (Ich übersetze vom Englischen.)

Genau das ist es. Sie wollen genau das: daß man ihnen Wundertaten erzählt.

Ich glaube nicht, daß dein Buch verändert werden kann – Teile herauszuschneiden ist sinnlos. Wenn du mich aufrichtig fragst, was ich tun würde, so würde ich ein anderes Buch schreiben, und zwar aus ihrer Perspektive: etwas, das einen verständlichen Sri Aurobindo zeigen würde, fast einen liebenswürdigen Sri Aurobindo, das heißt nur die konstruktive Seite seiner Lehre in ihrer äußerlichsten Form, ohne... nicht das Philosophische aber das wirklich Spirituelle daran, denn das bleibt ihrem Verständnis völlig verschlossen.

Sie sind nicht reif! Sie sind nicht reif.

(Schweigen)

Aus europäischer Sicht bedeutet Sri Aurobindo eine ungeheure spirituelle Revolution, die die Materie wieder in der Schöpfung rehabilitiert, während sie in der christlichen Religion im Grunde einen Sturz darstellte: es ist nicht ganz klar, wie das, was aus Gott hervorging, so schlecht werden konnte (!), aber man darf nicht versuchen, allzu logisch zu sein. Die Schöpfung ist ein Sturz. Aus diesem Grund lassen sie sich viel leichter vom Buddhismus überzeugen. Ich sah das in allen Einzelheiten bei Richard, der gänzlich in der europäischen Philosophie, unter christlichem und positivistischem Einfluß erzogen worden war. Nach diesen beiden Einflüssen erklärte er in seinem "Weltbild", als er Théons "kosmischer Philosophie" und später Sri Aurobindos Offenbarung begegnete, die Welt sei das Resultat der Begierde, die Begierde Gottes. Während Sri Aurobindo (vereinfacht ausgedrückt) sagte: "Gott schuf die Welt für die Freude der Schöpfung" oder besser "Er ließ die Welt aus sich hervorgehen, um die Freude eines objektiven Lebens zu haben." Auch Théons These war: die Welt IST das Göttliche in objektiver Form, aber auch für ihn lag der Ursprung dieser objektiven Form in der Begierde zu sein. Verstehst du, all dies sind Wortspiele, aber mit dem Ergebnis, daß die Welt im einen Fall verächtlich ist und im anderen liebenswert! Das verändert alles. Für die christlichen und europäischen Auffassungen ist die Welt verwerflich. Wenn man ihnen DAS demonstriert, können sie es nicht ertragen. Die normale Reaktion gegen diese Einstellung ist natürlich, das spirituelle Leben zu verneinen: nehmen wir die Welt, wie sie ist, ungeschminkt, materiell, "kurz aber gut" (mit diesem kurzen Leben hat es sich), tun wir deshalb alles, was in unseren Kräften steht, um uns in dieser kurzen Zeit gut zu amüsieren und so wenig wie möglich zu leiden, und denken wir an nichts anderes. Das ist die normale Folgerung daraus, das Leben verwerflich, verdammt und anti-göttlich genannt zu haben. Was tun? Man will sich nicht des Lebens entledigen, also entledigt man sich des Göttlichen.

Genau so ist es.

Folglich können sie nicht verstehen, selbst die Intelligentesten (dieser Mann ist hochintelligent): sie verschließen sich augenblicklich.

Mein Gefühl ist, daß das Hindernis nur dieser Mann ist, und wenn das Buch erschiene, würde es verstanden werden – nicht überall, nicht von denen, die in ihrem Katholizismus eingeschlossen sind (mit denen kann man nichts machen). Aber für all die, die sich nicht darum kümmern oder die keine christlichen Vorurteile haben, wäre es gewiß zugänglich.

Aber ich weiß, wenn wir es hier veröffentlichen und es von hier nach Europa und Amerika geht, wird man es wie heiliges Brot aufschnappen und es wird hervorragende Arbeit leisten – bei allen, die Französisch sprechen. Aber NUR, wenn es von hier kommt. Nicht wegen ihrer Meinung über uns [das Ashram], sondern wegen dem, was es enthalten wird.

Sie wollen dein Buch "bereinigen"! Sie können es nicht verkraften, das sah ich, als wir es abschickten: sie können es nicht. Sie verbarrikadieren sich, sie können nicht aufnehmen, was darin ist, und folglich tun sie, was sie können, um diese Wirkung aufzuheben.

Von hier aus wird es natürlich viel länger dauern, bis es ein breites Publikum berührt, aber ich sehe, wie die Dinge im Universum laufen: es wird sehr viel sicherer und direkter zu denen gehen, die bereit sind, es zu empfangen. Es wäre falsch zu glauben, dabei handele es sich um ein "elitäres" Publikum, daß besonders intelligente und kultivierte Leute davon berührt werden: sehr einfache Menschen mit offenem Herzen haben eine tiefe Intelligenz, die sich öffnet und diese Dinge viel besser versteht als sehr gelehrte Leute – viel besser –, denn sie spüren genau diese Schwingung der tiefen Hoffnung und Freude, die dem intensiven Drang ihrer Seele entspricht. Die anderen werden stattdessen raffiniert und stellen ihre Folgerungen an, die die halbe Kraft wegnehmen.

Vom praktischen Standpunkt ist mir viel lieber, wir drucken das Buch hier und geben uns die nötige Mühe, daß es möglichst viele Menschen berührt. Im Grunde ist der Verleger ein leichter Weg, der weniger Anstrengung erfordert, aber er ist überhaupt nicht der beste – bei weitem nicht. Ich weiß es, denn ich sehe das Buch die ganze Zeit mit Sri Aurobindos Auffassung, und es gefällt ihm sehr, mit großer Bestimmtheit, er hat viel hineingegeben und er sieht, daß es eine große Hilfe sein kann – allerdings nicht sehr kurzfristig. Da kommt immer der Eindruck, daß es an die hundert Jahre dauern wird, bis es seine volle Wirkung erreicht. Mit deinem Verleger hingegen wären es viel turbulentere, äußerliche Resultate, die viel mehr Lärm machen aber auch viel schneller verlöschen.

Mir erscheint es ziemlich wichtig, die Betonung der Bilder im Buch zu ändern. Ich ließ sie so gehen, weil es keine andere Möglichkeit gab, aber ich muß sagen, daß ich nicht sehr zufrieden damit war. 1 Sie stellen kein tiefes Verständnis dar, kein Verständnis der Seele – sondern genau das Verständnis einer sehr entwickelten Intelligenz.

Einige wenige Bilder, die eine einfache Öffnung der Seele bewirken, reichen völlig aus.

(Schweigen)

Eine Tatsache bleibt jedoch: trotz ihrer Blockiertheit in tiefer spiritueller Sicht stellen sie offenbar einen gewissen guten Willen dar, der genutzt werden kann und anerkannt werden muß, dem ein Platz gewährt werden muß. Deshalb meinte ich, du solltest ein anderes Buch schreiben, auf einer viel niedrigeren Ebene. Ein Buch... wie ich eines schreiben könnte, wenn ich schrieb!

Aber Mutter...

Du weißt, wie ich schreibe: es ist immer "einfach so", man spürt immer...

Das kannst nur du schreiben!

Nein, nein, ich glaube nicht. Man muß nur eine gewisse Haltung einnehmen.

Nein Mutter, das ist eine Frage der Erfahrung. Man muß immer aus der tiefen Erfahrung schreiben.

Ja!

Aber ich habe sie nicht! Ich habe eine bestimmte Erkenntnis, aber die wirkliche Erfahrung habe ich nicht... Wie auch immer, ich will es gerne versuchen, wenn du meinst, ich bin dazu fähig.

Ich glaube schon!

Mein Buch wäre offensichtlich... Auf Englisch würde ich sagen: What I have known of Sri Aurobindo [Was ich von Sri Aurobindo kannte], und ich denke das hoch oben. Was ich von Sri Aurobindo kannte ist... was ich vom Avatar erkennen konnte. Was er darstellt. So sehe ich ihn. Das "einfach" wiedergeben: what I have known, mit einem Minimum äußerer Ereignisse – so wenig wie möglich –, und alle Erfahrungen der Begegnungen: in dem Augenblick öffnete dies jenes; da erkannte ich das; da sah ich dies, fühlte jenes; da konnte ich das tun – und all das war Sri Aurobindo.

Ich weiß, daß es einen Aufruhr gäbe, wenn ich dieses Buch schriebe! Denn jeder beliebige Idiot könnte es wie eine Geschichte lesen und wäre völlig zufrieden damit – und er würde nicht merken, daß es ihn von innen ergreift und ihn verändert.

Kein philosophisches Buch. Kein spirituelles Buch, überhaupt nicht! Ein schönes kleines praktisches Buch, so würde es ihnen erscheinen!

Aber ich habe keine Zeit.

Ich könnte einige Notizen kritzeln, und du müßtest sie zusammensetzen und ein Buch daraus machen, aber... Ich habe keine Zeit und... Die Idee kommt mir jetzt zum ersten Mal. Vor zehn Minuten dachte ich noch nicht daran.

Jetzt sehe ich dieses Buch. Ich sehe es. Aber wenn ich hier weggehe, mit dieser Menschenmenge und Bergen von Arbeit, dann wird es verschwinden. Ich müßte viel Ruhe und nichts zu tun haben – das aufschreiben können, wenn es kommt, denn ich kann nicht – konnte nie – die Dinge in logischer Folge tun – nie. Die Erfahrung muß plötzlich kommen – eine Erinnerung, eine Erfahrung, dann notiere ich das, lege es beiseite und kümmere mich nicht mehr darum. Und wenn eine weitere kommt, dasselbe. Da ist kein Plan in dem Buch! (lächelnd) Aber es wäre sehr einfach: keine geplanten Ideen, keine Ausführung, nichts derartiges – einfach eine Geschichte.

Zum Beispiel die Bedeutung der Abreise 2: wie er die ganze Zeit, als ich nicht bei ihm war, gegenwärtig war, wie er mein ganzes Leben in Japan bestimmte, wie... Das wäre natürlich alles im Spiegel meiner eigenen Erfahrungen gesehen, aber es wäre Sri Aurobindo. Nicht ich, nicht meine Reaktionen, sondern er, durch meine Erfahrung, weil dies das einzige ist, von dem ich reden kann.

Da wären interessante Dinge, auch für...

Ich habe aber zwei ernsthafte Einwände dagegen. Der eine ist, daß es eine große okkulte Enthüllung wäre (es würde viel Okkultes enthalten, was die Leute "Wunder" nennen und ähnliches). Eine große Enthüllung, und ich zögere, das zu tun, weil ich die Zeit dafür noch nicht für reif halte. Das ist der Hauptgrund. Und dann wäre es natürlich auch notgedrungen viel zu persönlich. Selbst wenn es nicht in einem persönlichen Ton geschrieben ist, wäre es trotzdem viel zu persönlich. Es ist nicht der rechte Augenblick.

Es würde notgedrungen zu sehr von der physischen Person handeln, und das ist nicht das Interessante. Interessant wäre nur, wenn Die Person, mit großem "P", zur Sprache käme. Dann wäre es ungeheuer.

Eines Tages wird das geschehen, ich spüre es jetzt – aber dann wird Diese Person es schreiben. Jetzt ist es noch zu vermischt. Da ist zu viel von dem (Mutter berührt ihren Körper), diese Sammlung kleiner... Da ist noch ein bißchen zu viel von den Reaktionen der kleinen physischen Person – nicht in dem, was ich sagen würde, aber in dem HIRN, das die Niederschrift bewerkstelligen müßte.

Etwas anderes könnten wir aber versuchen... Schade, daß du ihn nicht kanntest... – Vielleicht ist es besser so? Es ist sehr schwer, sich über die Erscheinungen hinwegzusetzen. 3

Hier ist ein kleines Beispiel: Als ich zu arbeiten begann (nicht mit Théon persönlich, sondern in Frankreich mit einem seiner Bekannten, der mit meinem Bruder befreundet war 4), da hatte ich eine Reihe von Visionen, und in diesen Visionen... (du mußt wissen, daß ich zu der Zeit wie fast alle Europäer überhaupt nichts über Indien wußte: das ist "ein Land mit seltsamen Bräuchen und Religionen", einer verworrenen Geschichte, wo viele "außergewöhnliche" Dinge geschahen, von denen geredet wird – das heißt ich wußte nichts), in diesen Visionen sah ich Sri Aurobindo, so wie er physisch war, aber verherrlicht, das heißt derselbe Mann, wie ich ihn später zum ersten Mal sah, beinahe mager, von golden-bronzenem Teint, mit einem etwas scharfen Profil, einem wirren Bart, langen Haaren, in einen Dhoti gekleidet, dessen eines Ende über die Schulter des entblößten Oberkörpers geworfen war, barfüßig. Damals glaubte ich, es wäre ein "Visionsgewand"! – Du siehst, ich wußte nichts über Indien und hatte noch nie Inder in indischer Kleidung gesehen.

Ich sah ihn also, und es waren zugleich symbolische Visionen und spirituelle TATSACHEN: die absolut entscheidende spirituelle Erfahrung und Tatsache der Begegnung und der gemeinsamen Erkenntnis des zu vollendenden Werks. In diesen Visionen tat ich etwas, das ich physisch nie zuvor getan hatte: ich warf mich in der Hindu Art zu seinen Füßen. All das ohne jegliches Verständnis des kleinen Gehirns (das heißt ich wußte nicht, was ich tat oder warum). Ich tat es, und gleichzeitig fragte sich das äußere Wesen: "Was bedeutet das alles?!"

Diese Vision notierte ich (oder notierte sie später), sprach aber mit niemandem darüber (solche Dinge erzählt man natürlich nicht). Ich hatte bloß den Eindruck einer Vorankündigung, daß eines Tages etwas derartiges eintreten würde. Es blieb in the background of the consciousness [im Hintergrund des Bewußtseins], das heißt es war gegenwärtig, nicht aktiv, aber beständig.

Théon trug auch ein langes Gewand, aber ganz anders [violett], und er war Europäer (er war wohl Russe – entweder Pole oder Russe –, aber mein Eindruck war, daß er ein Russe jüdischer Abstammung war und deshalb sein Land verlassen mußte – er sprach jedoch nie darüber, es ist nur ein Eindruck). Als ich ihn sah, erkannte ich, daß er ein Wesen von großer Macht war. Gewisse Ähnlichkeiten bestanden: er war ziemlich hochgewachsen, ungefähr so groß wie Sri Aurobindo – nicht übermäßig groß, aber schlank – mit einem sehr ähnlichen Profil. Doch ich sah, daß er es nicht war... (ich sah es nicht sondern spürte es). Als ich ihn dann persönlich kennenlernte, hatte er nicht diese Vibration. Dennoch lehrte er mich viele Dinge, und in zwei aufeinanderfolgenden Jahren besuchte ich ihn in Tlemcen, um zu arbeiten. Doch dieses Andere blieb stets im Hintergrund meines Bewußtseins.

Als Richard dann hierher kam, traf er Sri Aurobindo (denn er war besessen von der Idee, dem "Meister", dem Guru, dem "großen Lehrer" zu begegnen), er besuchte Sri Aurobindo, der sonst niemanden empfing (er versteckte sich hier) und es nur auf Richards Beharren tat. Richard brachte ein Foto mit zurück. Es war eines der frühen Fotos, es enthielt nichts. Es hatte nichts, glich überhaupt nicht dem, was ich gesehen hatte – es war der Rest des politischen Aktivisten. Ich erkannte ihn nicht. Ich dachte: "Seltsam, das ist es nicht" (weil ich nur die äußere Vision und nicht den inneren Kontakt hatte). Trotzdem war ich neugierig, ihm zu begegnen. Jedenfalls kann ich nicht behaupten, beim Anblick dieses Fotos gefühlt zu haben: "Das ist er", keineswegs. Ich hatte den Eindruck eines sehr interessanten Mannes, aber mehr nicht.

Dann kam ich hierher... Etwas in mir verspürte das Verlangen, Sri Aurobindo beim ersten Mal ganz alleine zu treffen. Richard besuchte ihn morgens, und meine Verabredung war für den Nachmittag. Er wohnte in dem Haus, wo jetzt der Schlafsaal ist (der zweite), das frühere Guest House 5 . Ich stieg die Treppe hinauf, und er erwartete mich stehend, am oberen Treppenabsatz... Haargenau meine Vision! In derselben Kleidung, mit derselben Haltung, im Profil, den Kopf erhoben. Er kehrte mir den Kopf zu... und ich sah in seinen Augen, daß er es war. Die beiden Dinge trafen mit einem Schlag zusammen! (Geste des plötzlichen Zusammentreffens) Die innere Erfahrung verband sich augenblicklich mit der äußeren, und sie verschmolzen. Es war der entscheidende Stoß.

Doch das war nur der Anfang meiner Vision gewesen, und erst nach einer langen Folge von Erfahrungen, einem zehnmonatigen Aufenthalt in Pondicherry, fünf Jahren der Trennung und schließlich der Rückkehr nach Pondicherry und der Wiederbegegnung im selben Haus und auf dieselbe Weise trat das ENDE meiner Vision ein. In dem Augenblick stand ich dicht neben ihm – mein Kopf war nicht direkt auf seiner Schulter sondern an der Stelle seiner Schulter (ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll), physisch bestand so gut wie kein Kontakt –, wir standen so nebeneinander und schauten durch das offene Fenster, als wir GEMEINSAM spürten: "Jetzt wird die Verwirklichung stattfinden." Die Sache war besiegelt und die Verwirklichung würde geschehen. Ich spürte Das wie eine Masse in mich herabkommen: die Gewißheit (dieselbe Gewißheit, die ich in meiner Vision empfunden hatte, fühlte ich an diesem Tag). Von diesem Punkt an brauchten wir keine Worte mehr auszutauschen – wir wußten, es war DAS.

Zwischen diesen beiden Ereignissen fand eine ganze Folge von Erfahrungen statt, an denen er beteiligt war und die den Stufen des Bewußtwerdens entsprachen. Das ist zum Teil in Prières et Méditations wiedergegeben (ich ließ alles Persönliche aus). Eine Erfahrung erwähne ich dort allerdings nicht (das heißt ich gab nur das Ergebnis wieder, ohne die Erfahrung zu beschreiben), und zwar die, wo ich sage: "Der Mensch wollte nicht..." (ich weiß nicht mehr, wie es formuliert war). Ich bot dem Menschen die Teilnahme am universellen Werk und an der neuen Schöpfung an, und er weigerte sich, so übergebe ich sie jetzt Gott... 6

Ich drücke mich schlecht aus, aber diese Erfahrung war so konkret, daß ich sie physisch spürte (das war in einem japanischen Landhaus, in der Nähe eines Sees).

Eine ganze Reihe von Umständen führte zu diesem Punkt – eine lange, ereignisreiche Geschichte –, und eines Tages, als ich alleine war, befand ich mich in Meditation (meine Meditationen waren nie sehr tief sondern eher wie eine Bewußtseinssammlung – Mutter zeigt mit einer Geste, wie das ganze Wesen sich sammelt und nach oben schnellt) und ich sah... Du weißt, ich hatte den Versuch unternommen, den Herrn der Lüge zu bekehren; ich versuchte es durch eine in einem physischen Wesen verkörperte Emanation zu tun 7, und die größte Anstrengung fand während diesem vierjährigen Aufenthalt in Japan statt. Jetzt nahmen die vier Jahre ihr Ende mit der absoluten inneren Gewißheit, daß nichts zu machen war, daß es nicht möglich war – nicht auf diese Weise –, es war hoffnungslos. So verharrte ich sehr konzentriert und fragte den Herrn: "Ich schwor dir, das zu tun, ich hatte gesagt: 'Selbst wenn ich in die Hölle hinabsteigen müßte, so würde ich es tun...' Jetzt sage mir, was ich zu tun habe."... Die Macht war offenbar zugegen, und plötzlich wurde alles in mir unbewegt – das ganze äußere Wesen wurde vollkommen reglos –, und ich hatte eine Vision des Höchsten... schöner als die der Gita. Eine Vision des Höchsten. Dann nahm mich diese Vision buchstäblich in ihre Arme, wandte sich gen Westen, das heißt nach Indien, und bot mich dar. Ich sah, daß am anderen Ende Sri Aurobindo war... Ich spürte ihn physisch. Meine Augen waren geschlossen, aber ich sah ihn... unbeschreiblich (diese Vision des Höchsten hatte ich zweimal: das erste Mal dort und das zweite Mal hier, viel später). Es war, als verringerte sich diese Unermeßlichkeit zur Größe eines ziemlich riesigen Wesens, das mich wie einen Strohhalm emporhob und darbot – kein Wort, nichts anderes, nur das.

Dann verschwand alles.

Am nächsten Tag begannen wir unsere Vorbereitungen für die Abreise zurück nach Indien.

Als ich nach dieser Vision von Japan zurückkam, fand diese Wiederbegegnung mit Sri Aurobindo statt, mit der Gewißheit, daß die Mission erfüllt würde.

(Schweigen)

All das läßt sich sehr einfach erzählen, es sind keine metaphysischen Dinge. Natürlich hat es mit Okkultismus zu tun, aber es ist völlig konkret und einfach: Dinge, die ein Kind verstehen kann.

Das sind die wahren Etappen der ganzen Geschichte.

Ich habe das Gefühl, daß es eines Tages erzählt werden wird. Doch zuerst muß sich das (Mutter berührt ihren Körper) genügend ändern. Erst dann wird es seinen vollen Wert haben.

Verstehst du, keine meiner Gewißheiten – ohne Ausnahme – kam JEMALS durch das Mental. Das intellektuelle Verständnis kam lange Zeit danach. Sämtliche Erfahrungen wurden lange Zeit nachher verstanden. Nach und nach wird all das fähig zu begreifen, worum es geht – ich meine nicht all das, was man philosophisch wissen kann, das ist ohne Bedeutung, Gelehrten-Latein, das mich überhaupt nicht interessiert –, aber das Verständnis oben, im intellektuellen Bewußtsein, kam immer lange nach der Erfahrung. Seit meiner frühsten Kindheit kamen die Erfahrungen so, massiv – das ergreift einen, und es ist nicht nötig, zu glauben oder nicht zu glauben, zu wissen oder nicht zu wissen: wrumm! Es gibt nichts zu sagen: man steht vor der Tatsache.

Gerade das, sagte mir Sri Aurobindo einmal in den letzten schwierigen Jahren, machte meine Überlegenheit aus – er sagte mir, aus diesem Grund bestünde eine größere Chance, daß ich bis ans Ende gehe.

Davon weiß ich noch nichts. Am Tag, wo ich das weiß... wird es wahrscheinlich vollbracht sein. Denn es wird genau so kommen, als massive Tatsache: es wird so sein. Erst lange Zeit, nachdem es "so" ist, wird das Verständnis sagen: "Ah, das ist es ja!"

Es kommt zuerst, und nachher weiß man es.

Bis jetzt ist das noch nicht da.

(Schweigen)

Ein solches Buch stelle ich mir vor (natürlich genügend verschleiert), so einfach wie möglich formuliert – so wie ich La Science de Vivre schrieb –, des weiteren spricht man mit den Leuten in ihrer eigenen Sprache. Nur keine Philosophie! Man erzählt diese außergewöhnlichen Geschichten genauso, wie man materielle Gegebenheiten beschreiben würde. Doch die Geschichte ist darin enthalten, und das ist, was zählt!

Das fing an, als ich ganz klein war, und die Geschichte war bereits da.

Aber nie ging das zuerst durch meinen Kopf – nie! Manche der Erfahrungen, die ich als Kind erlebte, begriff ich erst, als Sri Aurobindo mir bestimmte Dinge erklärte, da sagte ich: "Ah, das war es also!..." Niemals verspürte ich die Neugier, auf diese Weise zu verstehen [mit dem Kopf], das interessierte mich nicht – mich interessierte das Resultat: wie sich das im Innern veränderte, wie sich die Einstellung gegenüber der Welt veränderte, wie sich die Haltung gegenüber der Schöpfung veränderte, das interessierte mich bereits, als ich ganz klein war. Wie kam es, daß meine Beziehung zu dieser ganzen kleinen Welt, die Kinder um sich haben, durch bestimmte, dem Anschein nach völlig banale Vorfälle von Grund auf verändert wurde? Und immer war es dies: anstatt sich als darunter stehend zu empfinden, mit einer Bürde auf dem Kopf wie ein Lastesel den Weg entlang kriechend, tat man so (Geste des Aufrichtens) und war oberhalb, man konnte anfangen, es zu ändern. Und warum sollte man das, was schief lag, nicht gerade rücken? Wie man eine Schublade aufräumt.

Warum? Wie? Was bedeutet es? – Was soll mir all das ausmachen! Wichtig ist nur, daß es gerade ist!

Das begann im Alter von fünf Jahren – bald sind es achtzig Jahre her.

Wenn Gott will und wir das Ende erreichen, werden wir einfach erzählen, was geschah, das ist alles – ABER KEINE LEHRE!

Das ist es, mein Kind.

Denke an das, was ich dir sagte. Mein Wunsch wäre dies: daß wir dein Buch hier so veröffentlichen, wie es ist, mit all seiner Kraft und allem, was Sri Aurobindo hineingab, und daß wir uns etwas Mühe geben, es zu verbreiten und seine Arbeit tun zu lassen. Und dann, daß du dich mit diesen Leuten einigst... Du müßtest es fast alles in einem sehr einfachen Ton schreiben, weißt du, sehr einfach und positiv: der ganze sehr konstruktive Aspekt – sehr konstruktiv und einfach. Nicht versuchen zu überzeugen, keine großen Probleme – nichts derartiges, keine großen Probleme!... Sri Aurobindo kam, um der Welt zu sagen, daß der Mensch nicht die letzte Schöpfung ist – daß es eine weitere Schöpfung gibt, und er sagte das nicht, weil er es wußte, nicht weil er es dachte, sondern weil er es spürte. Und er begann es zu tun. Das ist alles.

Das braucht nicht lang zu sein.

Du möchtest, daß ich ein neues Buch schreibe!?

Ja... ohne dich all zu sehr anzustrengen! (Mutter lacht) Einfach so – wenn du willst, wenn du es spürst. Du verstehst, was ich meine: ein Buch, das WAHR ist, im Sinne, daß du nichts sagst, was nicht vollkommen wahr ist, aber auf einer zugänglichen Ebene... nicht für "höhere" Menschen zugänglich sondern für den einfachen Menschen, der das Leben wirklich nicht gut und angenehm findet und sich fragt, ob es nicht einen Weg gäbe, daß es besser würde.

Ohne... ohne große Spekulationen.

Manche Schriften von Sri Aurobindo sind so, in seinem Buch On Himself sind viele solche Dinge.

Wenn du Lust hast, versuch es, mein Kind.

Wenn du Lust hast.

Schreibe es entspannt. Dann geben wir ihnen einige schöne kleine Fotos... wie in illustrierten Zeitschriften! Das wäre eine sehr schöne Antwort: "Oh, ist es das, was Sie wünschen? Aber gerne doch! Ich nehme mir nur das Recht, mein erstes Buch selber zu veröffentlichen. Dabei werde ich Ihnen keine Konkurrenz machen, weil es in Indien veröffentlicht wird. Geben Sie mir bitte mein Manuskript zurück, und wir machen Ihnen ein nettes anderes Buch."

In seiner Einfachheit kann das eine sehr große Schönheit haben, eine Schönheit, die für Leute zugänglich ist, die Kummer haben, Leute, die das Leben leid sind, Leute, denen all das Argumentieren den Kopf zerreibt, die es leid sind, immer überlegen zu müssen.

Ich bin die erste! Nichts ermüdet mich mehr als die Philosophen.

 

1 Die Bilder waren von einem Dritten ausgewählt worden.

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2 Als Mutter 1915 Pondicherry verließ und nach Frankreich und später nach Japan reiste.

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3 Tatsächlich hatte Satprem Sri Aurobindo einmal 1946 oder 1947 gesehen.

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4 Thémanlys

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5 Rue François Martin

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6 Wahrscheinlich bezieht sich Mutter auf folgende Stelle (3. September 1919): "Weil der Mensch das Mahl nicht akzeptieren wollte, das ich mit so viel Liebe und Sorgfalt zubereitete, lud ich Gott ein, es zu nehmen..." Im Juni 1932 erläuterte Mutter einem Schüler: "In diesem Gebet spricht die Universelle Mutter in ihrer Form als irdische materielle Natur. Das Mahl ist die Welt, die sie durch die Evolution aus ihrer Unbewußtheit herauszog. Sie wollte den Menschen zum Gipfel dieser Evolution und zur Krönung dieser Welt machen. Über lange Zeitalter hinweg wartete sie in der Hoffnung, der Mensch würde seine Rolle erfüllen und der Welt ihre göttliche Verwirklichung geben. Aber der Mensch zeigte sich so unfähig, daß er nicht einmal gewillt war, sich den für die Vorbereitung auf diese Rolle notwendigen Bedingungen zu unterziehen. So gelangte die materielle Natur schließlich zur Überzeugung, daß sie sich auf dem falschen Weg befand, und wandte sich direkt an das Göttliche mit der Bitte, Es möge diese Welt in Besitz nehmen, die für die göttliche Verwirklichung bestimmt war. Mit diesem Schlüssel erklärt sich der Rest von selber."

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7 Richard – siehe Gespräch vom 5. November 1961.

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