Mutters
Agenda
dritten Band
Wie geht es dir?
Ich weiß überhaupt nicht, woran ich bin.
Du fühlst dich apathisch.
Ja, ich verstehe überhaupt nichts mehr.
Apathisch. Ja, was man im Englischen dull nennt. (Lachend) Du hast große Mühe, dich nicht zu ärgern.
Warum? Was ist passiert?
Ach, nichts! (Mutter lacht) Nichts Besonderes. Nur der Eindruck, daß du explodieren würdest, wenn man dich berührte!
Ich verstehe wirklich nichts mehr. Schon immer hatte ich ein absolutes Vertrauen in etwas anderes, und das bleibt unverändert. Aber... ich habe den Eindruck, daß ich keine Fortschritte mache. Vor und hinter mir sehe ich nichts. Ich bin jetzt schon einige Jahre hier, und ich habe nicht den Eindruck, nur ein Atom vorangekommen zu sein, nichts – ich sehe nichts. Meinen Glauben verliere ich nicht, denn das ist mein einziger Daseinsgrund; wenn das nicht wäre, würde ich mich umbringen – wenn da nicht die Sicherheit von etwas anderem wäre. Aber praktisch...
Solche Perioden gibt es.
Da ist aber auch gar nichts, was mir einen Fortschritt anzeigt, mir Vertrauen gäbe: "Ja, ich bin auf dem Weg!" Nichts.
Dieser Zustand an sich muß etwas sein, das es zu überwinden und zu besiegen gilt. Denn... vor ein paar Tagen erzählte ich dir von dieser ungeheuerlichen Erfahrung im Körperbewußtsein 1 – ja, dieses so eintönige, so stumpfe Bewußtsein in der materiellen Welt. Da hat man genau den Eindruck von etwas, das sich nicht bewegt, sich nicht verändert, das unfähig ist zu antworten – daß man Millionen Jahre warten kann, ohne daß sich irgend etwas rührt. Diese Erfahrung kam nach einem ziemlich schwierigen Übergang – damit sich etwas in Bewegung setzt, sind immer Katastrophen erforderlich, das ist höchst eigenartig. Nicht nur das, auch der kleine Funken an Vorstellungskraft, den dieser Zustand hat (wenn man das überhaupt als Vorstellungskraft bezeichnen kann), ist immer katastrophal. Wenn hier etwas vorausgesehen wird, dann immer das Schlimmste. Ein sehr kleines, armseliges, gemeines Schlimmstes – immer das Schlimmste. Das ist... das ist wirklich die widerwärtigste Verfassung des menschlichen Bewußtseins und der Materie. Jetzt stecke ich seit Monaten mittendrin, und für mich bedeutet das, der Reihe nach alle möglichen Krankheiten und physischen Schwierigkeiten durchzumachen.
Ich sagte dir, daß die Dinge in letzter Zeit wirklich etwas... ekelhaft und gefährlich geworden sind. Eine Stunde, anderthalb Stunden lang machte ich eine solche Sadhana (Mutter ballt beide Fäuste), ich HIELT diesen Körper und dieses Körperbewußtsein, und während diese Kraft innen arbeitete (wie wenn man einen sehr widerspenstigen Teig knetet), sagte mir ständig etwas: "Siehst du, du kannst nicht mehr leugnen, daß es Wunder gibt!" Das sagte es dem Körperbewußtsein (natürlich nicht mir): "Jetzt siehst du es! Du kannst nicht mehr behaupten, daß es keine Wunder gibt." Es mußte sehen – es sperrte vor Verwunderung Mund und Augen auf, wie ein Idiot, dem man den Himmel zeigt. Es ist so dumm, daß es sich nicht einmal über diese Entdeckung freuen konnte. Es mußte sie aber sehen, sie war vor seiner Nase; es konnte nicht davonlaufen, es mußte die Tatsache anerkennen. Doch stell dir vor: Sobald der Druck nachließ, war alles vergessen!
Ich erinnere mich natürlich der gesamten Erfahrung – das Körperbewußtsein hat sie aber vergessen. Sobald die kleinste Schwierigkeit auftaucht, schon beim kleinsten Schatten, kommt sofort die Erinnerung an die Schwierigkeit, und wieder heißt es: "Oh, nein! Was wird passieren?" Dieselben Ängste, dieselben Dummheiten.
Dadurch wurde mir klar, daß man einfach weitermachen muß.
Ärgerlich ist nur, daß ich physisch ziemlich kritische Augenblicke durchmache, die aber notwendig sind, um das aufzurütteln. Du siehst also, daß ich verstehe, was es für die anderen bedeutet! Denn ich bewahre stets das Bewußtsein oder den Kontakt mit... nicht nur dem Wissen sondern mit der absoluten ERFAHRUNG der Identifikation. Nur die Arbeit hier in der Materie ist so. Ich verstehe jene, die von einem Tag zum nächsten leben, von einer Minute zur nächsten, für die es keine ständige, durchgehende, absolut bewußte und gewollte Arbeit jeder Sekunde ist... und dabei hat der Körper einen solch guten Willen – ich habe dieses arme Ding manchmal überrascht, als es wie ein Kind weinte und flehte: "Was muß ich tun, um da herauszukommen?" Das veranlaßte alle Leute, die die innere Verwirklichung erreichten, zu behaupten: "Es ist unmöglich!" Das ist nur ihre eigene Unmöglichkeit. – Ich weiß, daß es nicht unmöglich ist, ich weiß, daß es sein wird, aber... Wie lange wird es dauern? Das weiß ich nicht.
Ich habe den Eindruck, wenn man sich beeilen und Druck machen will, schneller gehen will, klemmt es, und er wird zum Stein – er fällt zurück in den Zustand des Steins. Der Stein brauchte sehr lange, um ein Mensch zu werden... Das will ich also nicht. Man kann nicht über eine bestimmte Ungeduld hinausgehen – nicht einmal Ungeduld: einen bestimmten Druck. Jenseits eines bestimmten Drucks versteinert er. Daher verstehe ich die Leute, die eine Verwirklichung erreichten und im Glück der Verwirklichung leben – sie geben all dem einfach einen Tritt und sagen: "Ich verzichte darauf!"
So ist es immer geschehen.
Ich kann das aber nicht tun.
Ich verhalte mich immer so: "Nun gut ..." Ich sage dem Herrn mit einem Lächeln: "Wenn Du jetzt entschieden hast, daß ich gehen soll, gehe ich sehr gern!"
Gäbe Er Ohrfeigen, bekäme ich sicherlich eine! – Ich weiß es, ich fühle es, selbst während wir darüber sprechen.
Das geschieht nur, um sicherzustellen, daß das Bewußtsein in einem Zustand vollkommener Gelassenheit ist, das heißt, ob es so oder so ist oder noch anders, ist mir vollkommen egal: "Was Du willst" – spontan, gänzlich, ausschließlich – Mein Wille. Ich sage absichtlich "Mein" Wille, um auszudrücken, daß eine totale Zustimmung besteht – es ist keine Unterwerfung, es hat nichts mit einer Unterwerfung zu tun: es ist so (Geste der vollkommenen Hingabe). Trotzdem sind keine großen Fortschritte festzustellen.
Doch... (das sieht nach nichts aus, aber im gegenwärtigen Stadium der Dinge...) plötzlich erkennt man zum Beispiel den ersten Schimmer einer bewußten Beherrschung der einen oder anderen Körperfunktion. Das läßt uns einen Zeitpunkt vorhersehen, wo all das durch den bewußten Willen gesteuert werden wird. Das entwickelt sich. Es ist aber erst ein winzig kleiner Anfang. Und die geringste mentale Einmischung der alten Bewegung verdirbt alles – das heißt, die alte Art, sich in seinem Körper zu verhalten: Man will dies, man will jenes, man zwingt ihn, dies oder jenes zu tun... – sobald sich das zeigt, hört alles auf. Der Fortschritt hört auf. Man muß in einem Zustand der glückseligen Vereinigung bleiben, dann... dann erkennt man die Anfänge der neuen Funktionsweise.
Das ist ein so feines Spiel geworden. Die GERINGSTE Kleinigkeit kann alles stören, bereits eine gewöhnliche Bewegung, die Bewegung der üblichen Funktionsweise (nichts Großartiges, das sind keine Dinge, die man leicht sieht: etwas Hauchdünnes, man muß ÄUSSERST aufmerksam sein, um es zu bemerken), gleitet man aus Gewohnheit dahinein, so hört alles auf. Dann muß man warten, bis es sich wieder legt, das heißt, man muß sich in Meditation, in Andacht versenken – den ganzen Weg noch einmal verfolgen. Hat man Das dann wieder eingefangen, so kann man einige Sekunden darin verbleiben, manchmal einige Minuten... (wenn es einige Minuten sind, ist es wunderbar). Dann kommt es erneut zum Stillstand, und wieder muß man von vorne beginnen.
Ich sage dir das nicht, um dich zu entmutigen, sondern um dir zu sagen, daß man wirklich viel Geduld haben muß. Die einzige Lösung ist, es in einer gewissen Passivität zu tun: kein Ergebnis zu WOLLEN. Wenn man das Ergebnis WILL, bringt man eine Bewegung des Egos hinein, die alles verdirbt.
Schon vor langer Zeit sagte ich dir, daß wir SEHR nahe sind – seit langem.
Wenn die Leute mich fragen, sage ich (um ihnen etwas zu erwidern): "Wir werden sehen." Es ist überhaupt nicht so, als wüßte ich nichts – ich weiß genau, wie es sein wird. (Lachend) Ich weiß nur nicht wann. Das weiß ich nicht. Auch jetzt weiß ich nicht, wann es sein wird.
Denn das, was den Zeitpunkt wissen will, verspürt immer noch eine Eile.
Man muß ein Heiliger sein, mein Kind! (Mutter lacht hellauf)
(Satprem verzieht das Gesicht)
Ja, ich auch nicht. Ich sagte das auch! Als Sri Aurobindo da war, sagte ich allen: "Ich bin keine Heilige und will keine Heilige sein!" Und jetzt ist es mir passiert.
Man muß ein Heiliger ohne Heiligkeit sein.
Überhaupt keine Heiligkeit.
Weißt du, jede kleinste Regel, wie jene, die man einem einschärft: "Tu das nicht, tu jenes nicht, vergiß das nicht!", wie zum Beispiel die rituellen Waschungen, die Haltungen, die Ernährung – Unmengen von "das nicht und jenes nicht und dies und jenes doch" –, all das wurde weggefegt. So gründlich weggefegt, daß es manchmal sogar zum Hindernis wird. Besonders bei den Empfehlungen: "Tu unbedingt dies, tu jenes!" (eine Haltung oder eine Sache), ich wage es kaum zu sagen; ein Beispiel ist die Regelmäßigkeit: die Waschung immer zur gleichen Stunde durchführen, sein Japa immer auf die gleiche Weise machen, all das. Ich sehe, ich weiß sehr genau, daß es Sri Aurobindo ist, der mir die verschiedensten lächerlichen Hindernisse hinstellt – Hindernisse, die ich mit einer einzigen Sekunde der Reflexion wegräumen könnte –, er stellt sie mir wie spielerisch in den Weg! Wie in diesem Aphorismus, wo er sagte, daß er sich mit dem Herrn stritt und daß der Herr ihn in den Schlamm fallen ließ, erinnerst du dich 2? Ich habe durchaus diesen Eindruck! Er wirft mir Knüppel zwischen die Beine und lacht. Dann sage ich: "Es ist gut, das reicht, ich mache mir nichts daraus! Ich tue alles, was Du willst, ich kümmere mich nicht darum: Ich tue es, oder ich tue es nicht, ich tue es so, oder ich tue es anders ..." All das verfliegt wie Rauch.
Was jedoch zu einem Dauerzustand geworden ist (ich dürfte es nicht sagen, denn das wird mir wieder Schwierigkeiten bereiten!), was jedenfalls versucht, dauerhaft zu werden, ist DAS UNTERSCHEIDUNGSVERMÖGEN. Die Fähigkeit, alle Dinge einzuordnen: die Umstände, die Schwingungen, die Beziehungen, was von der Umgebung kommt, was antwortet. Ein Unterscheidungsvermögen in jeder Sekunde. Ich erkenne, woher die Dinge kommen, warum sie da sind, welche Wirkung sie haben, wohin sie mich führen, all dies. Das wird immer häufiger, beständiger, automatischer – wie ein Dauerzustand.
Das ist im wesentlichen die einzige Sache, wo ein deutlicher Fortschritt zu erkennen ist. Ich hoffe, davon zu sprechen, trägt mir keine Schwierigkeiten ein!
Aber jede Ungeduld und Gereiztheit... Außer wenn dich das erleichtert. Manche Leute brauchen das als Überdruckventil. Dadurch verlieren sie allerdings viel Zeit.
An einem Tag war ich angespannt, es war so "unerträglich", wie man sagt, daß etwas im materiellsten Vital in einen Zustand geriet, den man gewöhnlich als Zorn bezeichnet (er war vollkommen beherrscht, in dem Sinne, daß er als Überdruckventil wirkte und als solches in all seinen Schwingungen beobachtet wurde). Ich war allein im Badezimmer, keiner sah mich: ich ergriff irgendeinen Gegenstand und peng, schmetterte ich ihn auf den Boden.
Uff! Das war eine Erleichterung.
Was soll man denn unterdessen tun?
Ich sage dir, was ich tue – ich erkläre dem Herrn: "Gut, wenn es so ist, dann tue ich überhaupt nichts mehr; ich lege mich in Deine Arme und warte." Ich tue es wirklich (ich hätte fast gesagt: materiell), konkret – und ich rühre mich nicht mehr: "Du wirst alles tun, ich tue gar nichts." Ich verbleibe wirklich so. Natürlich stellt sich sofort eine große Freude ein, und ich rühre mich nicht mehr.
Ich bin völlig mit materieller Arbeit überlastet – mit Briefen, Leuten, Dingen, die vorbereitet und entschieden werden müssen, umständlichen Organisationsaufgaben –, das überfällt mich von allen Seiten und will all meine Zeit und Energie in Ansprung nehmen. In manchen Augenblicken wird es wirklich zuviel. Dann sage ich einfach: "Gut, Herr, jetzt lege ich mich in Deine Arme." Ich verharre so, denke an nichts mehr, befasse mich mit nichts, und... die Glückseligkeit ist da. Meistens geht nach zehn Minuten alles gut.
Die Schwierigkeit ist, daß die mentalen Mechanismen nicht mehr funktionieren. Vorher unternahm man dieses oder jenes mit dem Mental; ich aktiviere das aber nicht mehr, und nun setzt mich nichts in Bewegung.
Natürlich. Das ist auch ein großer Fortschritt.
Aber vielleicht sollte ich ja etwas tun!
Nein.
Nein. Das ist ein großer Fortschritt. Es ist ein ungeheurer Fortschritt.
Gut. Ich habe aber den Eindruck, nichts zu tun. Zum Beispiel...
Ja.
Außer dem Allernötigsten. Weil das getan werden muß, tue ich es, sonst... Ich habe keine Lust, das Mental in Bewegung zu setzen, ich suche etwas anderes.
Ja, natürlich! Gott sei Dank. Ich sage dir doch: Das ist ein ungeheurer Fortschritt. Du solltest froh darüber sein!
Ja, praktisch tue ich aber nichts.
Was macht das schon!
Du kannst dich auf eine Matte legen, eine Blume oder ein Stück Himmel betrachten, wenn du ihn sehen kannst; bei Bedarf (neckend) kannst du eine Zigarette rauchen, um dich zu beschäftigen, und verharrst so, entspannt. Wenn du dein Pranayama machst, wirst du feststellen, daß du mit dieser Entspannung sehr stark wirst, deine Energien immer mehr auflädst. Dann wird jede Anstrengung mühelos sein, sie wird wie ein Kinderspiel.
Das ist die alte Gewohnheit, Angst vor der Faulheit zu haben. Ich mußte... Sri Aurobindo hat mich sehr schnell davon kuriert. Bevor ich ihn traf, war ich so. Als erstes machte er dem den Garaus, und jegliche Aktivität verschwand, vollkommene Stille, alle mentalen Konstruktionen, Gewohnheiten, all das war aus, vorbei... im Handumdrehen.
Dann habe ich sehr darauf geachtet, daß es nicht zurückkam.
Danach...
Er beschreibt das dort, wo er den mentalen Gleichmut erklärt 3 . Er sagte, daß man einen Zustand erreicht, in dem man unfähig ist, to initiate, eine Aktivität auszulösen, und wenn man nicht eine Art Anstoß von oben erhält, rührt man sich nicht – man tut nichts, man verbleibt mental vollkommen reglos (nicht nur physisch sondern auch mental, besonders dort): man fängt nichts an.
Vorher wirkte das Denken immer schöpferisch, löste Handlungen, Willensäußerungen, Bewegungen aus, verursachte Konsequenzen. Wenn es aufhört, macht man sich zunächst große Sorgen, daß man schwachsinnig wird. Genau das Gegenteil trifft aber zu. Keine Idee, kein Wille, kein Impuls mehr, nichts! Dann tut man die Dinge nur, wenn etwas einen dazu veranlaßt – man weiß weder warum noch wie.
Natürlich kommt das nicht von unten, das darf nicht von unten kommen. Man kann das aber wirklich erst dann erreichen, wenn man alle Arbeit unten erledigt hat.
1 Die Heilung von Mutters Beinen: "Jetzt, o ungläubige Substanz, kannst du nicht mehr behaupten, daß es keine Wunder gibt." (Agenda vom 24. Februar).
2 Aphorismus 463 – Wenn ich anfangs in die Sünde verfiel, weinte ich jedesmal und geriet in Wut gegen mich selbst und gegen Gott, weil er es zugelassen hatte. Später wagte ich nur zu fragen: "Warum hast du mich wieder im Schlamm gewälzt, o mein Spielkamerad?"...
3 In Die Synthese des Yoga.