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Mutters

Agenda

dritten Band

21. Juli 1962

Neulich sprachst du von Europa, du sagtest: "Die alte Welt ist wirklich alt ..."

Ach, sieh an! Gerade gestern las man mir einen Brief von Sri Aurobindo vor, den er im April 1920 an seinen Bruder Barin schrieb, einige Tage vor meiner Rückkehr aus Japan... Er war in Bengali geschrieben – ungeheuer interessant! Er spricht vom Zustand der Welt, besonders dem Zustand Indiens und auch, wie er sich einen Teil seiner Tätigkeit nach Vollendung seines Yogas vorstellte, überaus interessant. Darin schreibt er auch sehr anerkennende Dinge über Europa. Sri Aurobindo sagte ungefähr folgendes: "Ihr glaubt alle, daß Europa auf das Ende zugeht, aber das ist nicht wahr, es ist noch nicht am Ende", das heißt, seine Macht besteht noch.

Das war 1920.

Aber es war vor dem Krieg...

Das ist sehr interessant.

Dennoch hat man den Eindruck, daß die Europäer sehr schnell voranschreiten könnten, wenn sie mit der Aufrichtigkeit, die ihnen eigen ist, verstehen würden.

Genau das sagte Sri Aurobindo.

Denn sie sind aufrichtig.

Ja, sie sind aufrichtig, aber auf einer anderen Ebene als der spirituellen. Sie sind von einer materiellen Aufrichtigkeit, einer materiellen EHRLICHKEIT, und mit dem nötigen Verständnis könnten sie sehr schnell voranschreiten.

Aber ich glaube, es ist eine Frage der Individuen, nicht der Allgemeinheit.

Du wirst das selber lesen. Es zeigt einen neuen Aspekt aus Sri Aurobindos Gedankenwelt. Im Gespräch mit Indern war er kritischer und sprach ausführlicher über seine Erfahrungen mit dem Westen.

 

Addendum

Ein Brief Sri Aurobindos an seinen jüngeren Bruder Barin

7. April 1920

Lieber Barin,

Ich erhielt Deinen Brief, kam aber bis jetzt noch nicht dazu zu antworten. Auch daß ich mich jetzt zum Schreiben hingesetzt habe, ist ein Wunder; einen Brief zu verfassen, bedeutet für mich ein Ereignis, das alle Schaltjahre einmal eintritt – besonders Bengali habe ich seit fünf oder sechs Jahren nicht mehr geschrieben. Wenn es mir gelingen sollte, diesen Brief zu vollenden und der Post zu übergeben, wird das Wunder vollbracht sein!

Zunächst zu Deinem Yoga. Du willst mir die Verantwortung für Deinen Yoga übertragen, und ich bin bereit, dies anzunehmen. Das bedeutet aber, die Verantwortung an Den zu übergeben, der durch seine Göttliche Shakti [Energie], ob offenbar oder verborgen, sowohl Dich als auch mich bewegt. Und Du mußt wissen, daß das notwendige Ergebnis davon sein wird, daß Du den besonderen Weg beschreiten mußt, den Er mir gewiesen hat, den Weg, welchen ich den Weg des Integralen Yogas nenne. Das, womit ich anfing, was Lele 1 mir gab, war ein Suchen nach dem Weg, ein Kreisen in viele Richtungen – ein erstes Berühren, ein Aufnehmen, ein Damit-Umgehen und Erforschen von diesem und jenem aus all den alten, partiellen Yoga-Arten, eine umfassende Erfahrung des einen und dann das Verfolgen eines anderen Weges.

Später, als ich nach Pondicherry kam, nahm dieser unstete Zustand ein Ende. Jener Welt-Guru, der in uns allen ist, gab mir vollständige Anweisungen für meinen Weg – seine vollständige Theorie, die zehn Glieder dieses Yoga-Körpers. In den letzten zehn Jahren hat Er mich dazu veranlaßt, dies durch Erfahrung zu entwickeln, und diese Phase ist noch nicht abgeschlossen. Es mag zwei weitere Jahre dauern, und solange sie noch nicht abgeschlossen ist, bezweifle ich, daß ich in der Lage sein werde, nach Bengalen zurückzukehren. Pondicherry ist der Ort, der für meine Yoga-Siddhi [Verwirklichung] bestimmt ist, mit einer Ausnahme, und das ist jener Teil, der die Handlung betrifft. Das Zentrum meiner Arbeit liegt in Bengalen, obwohl ich hoffe, daß ihr Wirkungskreis ganz Indien und die gesamte Welt umfassen wird.

Ich werde Dir später schreiben, wie diese Art von Yoga aussieht. Oder, wenn Du hierher kommst, kann ich mit Dir darüber sprechen. In dieser Sache ist das gesprochene Wort besser als das geschriebene. Gegenwärtig kann ich lediglich sagen, daß sein Urprinzip darin besteht, die Harmonie und Einheit vollkommenen Wissens, vollkommener Werke und vollkommener Bhakti [Hingabe] herzustellen, all das über das Mental zu erheben und ihm auf der supramentalen Ebene des Vijnana [Gnosis] die vollkommene Vollendung zu geben. Hier lag der Fehler des alten Yogas – das Mental und den Geist kannte er und begnügte sich mit der Erfahrung des Geistes im Mental. Das Mental kann aber einzig das Getrennte und Partielle begreifen, das Unendliche und Unteilbare kann es nicht fassen. Die Mittel des Mentals, das Unendliche zu erreichen, sind Sannyasa [Verzicht], Moksha [Befreiung] und Nirvana – andere kennt es nicht. Der eine oder andere mag in der Tat dieses formlose Moksha erreichen, aber was hat man davon? Brahman, das Selbst, Gott sind allgegenwärtig. Was Gott im Menschen erreichen will, ist, sich hier zu verkörpern, im Individuum wie auch in der Gemeinschaft – Gott im Leben zu verwirklichen.

Mit dem alten Yoga gelang es nicht, diese Harmonie und Einheit von Geist und Leben zu vollziehen. Stattdessen wurde die Welt als Maya [Illusion] oder als vergängliches Spiel verworfen. Das Ergebnis davon ist ein Verlust an Lebenskraft und die Degeneration Indiens. Wie es in der Gita heißt: "Diese Völker würden zugrundegehen, wenn Ich die Werke nicht vollbrächte." Die Völker Indiens sind tatsächlich zugrundegegangen. Einige Sannyasins und Bairagis [Verzichtende], um heilig und vollkommen und befreit zu sein, einige Bhaktas [Gottesliebende] für den Tanz in einer hellen Ekstase der Liebe und der innigsten Empfindung und des Anandas [Wonne], und ein ganzes Geschlecht wird leblos, bar jeder Intelligenz und versinkt in tiefem Tamas [Trägheit] – ist das die Auswirkung wahrer Spiritualität? Nein, zuerst müssen wir alle partiellen Erfahrungen zu erlangen versuchen, die auf der mentalen Ebene möglich sind, und das Mental mit spiritueller Freude durchfluten und es mit dem spirituellen Licht erleuchten, danach aber müssen wir darüber hinaus gehen. Können wir nicht darüber hinaus gehen, das heißt bis zur supramentalen Ebene, ist es kaum möglich, das letzte Geheimnis der Welt zu ergründen, und das Problem, das es stellt, bleibt ungelöst. Denn dort löst sich die Unwissenheit auf, welche die dualistische Gegenüberstellung von Geist und Materie, der Wahrheit des Geistes und der Wahrheit des Lebens schuf. Dort besteht keine Notwendigkeit mehr, die Welt als Maya anzusehen. Die Welt ist das Ewige Spiel Gottes, die ewige Manifestation des Selbsts. Unter diesen Umständen wird es möglich, Gott voll und ganz zu erkennen und zu verwirklichen, das zu tun, was die Gita sagt, "Mich integral zu erkennen." Der physische Körper, das Leben, das Mental (der Verstand), das Supramental und das Ananda – dies sind die fünf Ebenen des Geistes. Je höher der Mensch sich in diesem Aufstieg erhebt, desto mehr nähert er sich dem Zustand der höchsten Vollendung, die seiner spirituellen Evolution offensteht. Steigt man zum Supramental auf, wird es leicht, das Ananda zu erlangen. Man erreicht eine solide Basis im Zustand des unteilbaren und unendlichen Anandas, nicht allein im zeitlosen Parabrahman [Absoluten] sondern im Körper, im Leben, in der Welt. Das integrale Sein, das integrale Bewußtsein, das integrale Ananda erblühen und nehmen im Leben Gestalt an. Das ist der Kern meines Yogas, sein grundlegendes Prinzip.

Dieser Wandel ist nicht einfach zu erreichen. Nach 15 Jahren gelange ich erst jetzt in die unterste der drei Ebenen des Supramentals und versuche, alles Darunterliegende heraufzuziehen. Wenn diese Siddhi vollendet ist, bin ich aber absolut sicher, daß Gott durch mich diese supramentale Siddhi anderen mit weniger Anstrengung geben wird. Dann wird meine eigentliche Arbeit beginnen. Ich begehre keinen schnellen Erfolg in der Arbeit. Was zu geschehen hat, wird in Gottes dafür vorgesehener Zeit geschehen. Ich hege keine voreiligen oder unklaren Bestrebungen, mich ausgehend von der Stärke des kleinen Egos auf das Arbeitsfeld zu stürzen. Selbst wenn mir in meiner Arbeit kein Erfolg beschieden wäre, würde mich das nicht erschüttern. Es ist nicht meine sondern Gottes Arbeit. Ich werde keinem anderen Ruf folgen; wenn Gott mich bewegt, werde ich mich bewegen.

Ich weiß sehr genau, daß Bengalen nicht wirklich bereit ist. Die eingetretene spirituelle Flut ist größtenteils ein Wiederaufguß des Alten. Sie ist keinesfalls die wirkliche Transformation. Nichtsdestotrotz war auch sie nötig. Bengalen hat in sich die alten Yoga-Arten geweckt und erschöpft ihre Samskaras [überkommene, altgewohnte Tendenzen], zieht hieraus die Essenz und befruchtet den Boden damit. Zuerst kam der Vedanta an die Reihe – Adwaita [Nicht-Dualität, Lehre vom einen Dasein], Sannyasa, Shankaras Maya und alles übrige. Nun beschäftigt man sich mit dem Vaishnava Dharma – dem Lila [Weltspiel], der Liebe, dem Rausch emotionaler Erfahrung. All das ist sehr alt, nicht geeignet für das neue Zeitalter, und es wird nicht von Dauer sein, denn solche Erregung kann nicht dauerhaft sein. Die Bedeutung der Vaishnava Bhava [emotionalen Begeisterung] liegt jedoch darin, daß sie eine Verbindung zwischen Gott und Welt herstellt und dem Leben Sinn gibt; da es sich aber um eine partielle Bhava handelt, fehlt der Gesamtzusammenhang, die volle Bedeutung. Die Tendenz, Sekten zu gründen, die Du bemerkt hast, war unvermeidlich. Es liegt in der Natur des Mentals, sich einen Teil herauszugreifen, ihn als Ganzes zu behandeln und alle anderen Teile auszuschließen. Der Siddha [erleuchtetes Wesen], der den Enthusiasmus (Bhava) aufbringt, obwohl er sich nur auf einen Teilaspekt stürzt, behält doch ein Wissen des integralen Ganzen, selbst wenn er vielleicht nicht in der Lage ist, diesem Gestalt zu verleihen. Aber seine Schüler erhalten dieses Wissen eben deswegen nicht, weil ihm die Gestalt fehlt. Sie packen ihre kleinen Bündel – laß sie machen! Die Bündel werden sich von selbst öffnen, wenn Gott sich voll offenbart. All diese Dinge sind Anzeichen von Unvollständigkeit und Unreife. Das beunruhigt mich nicht im geringsten. Soll die Kraft der Spiritualität im Lande spielen, in wievielen Arten und Sekten auch immer es ihr beliebt. Wir werden später sehen... Wir befinden uns noch im Säuglingsstadium oder im Embryonalzustand des neuen Zeitalters. Es sind erste Vorzeichen, noch nicht einmal der Anfang.

Es liegt im Wesen dieses Yogas, daß die Basis nicht vollkommen wird, bevor die Siddhi oben besteht. Die Anhänger meiner Richtung haben noch viele der alten Samskaras beibehalten; einige Tendenzen haben sich erschöpft, andere bestehen noch. Es gab zum Beispiel das Samskara des Sannyasa, sogar den Wunsch, ein Aravinda Math [Sri Aurobindo Kloster] zu gründen. Jetzt hat die Vernunft eingesehen, daß es nicht um Sannyasa geht, doch der Eindruck dieser alten Idee wurde noch nicht vom Prana [Atem, Lebensenergie] getilgt. Als nächstes kam die Rede darauf, inmitten der Welt zu stehen, ein Mensch mit allen weltlichen Händeln zu sein und dabei doch ein Mensch der Entsagung zu bleiben. Die Notwendigkeit, auf das Begehren zu verzichten, wurde verstanden, aber das Gleichgewicht zwischen dem Verzicht auf Begehren und dem Genießen des Anandas ist vom Mental noch nicht richtig begriffen worden. Auch haben sie meinen Yoga begonnen, weil er dem bengalischen Temperament sehr entgegenkam, nicht so sehr in Betracht der Seite des Wissens als hinsichtlich Bhakti und Karma [Werke]. Ein bißchen Wissen und Erkenntnis haben sich mit eingestellt, aber der größte Teil hat sich verflüchtigt; der Nebel der Rührseligkeit ist noch nicht aufgelöst, die Bahn des sattvischen Bhavas [religiösen Eifers] ist ungebrochen. Das Ego ist noch vorhanden. Ich habe keine Eile und erlaube jedem, sich gemäß seiner Natur zu entwickeln. Es geht mir nicht darum, jeden in dieselbe Form zu pressen. Das Grundlegende wird tatsächlich eins in allen sein, aber es wird sich in vielen Gestalten ausdrücken – jeder wächst und gestaltet sich von innen heraus. Ich will nichts von außen aufbauen. Die Grundlage ist vorhanden, der Rest wird sich einstellen.

Worauf ich abziele, ist keine Gesellschaft wie die gegenwärtige, die in Gespaltenheit wurzelt. Was mir vor Augen schwebt, ist eine Sangha [Kommune], die sich auf dem Geist und Bild der Einheit gründet. Von diesem Gedanken ausgehend, hat man sie als Deva Sangha bezeichnet – eine Kommune jener, die das göttliche Leben wollen. Eine solche Sangha muß zunächst an einem Ort eingerichtet werden, um sich dann über das ganze Land auszubreiten. Fällt aber auch nur ein Schatten von Egoismus über dieses Bestreben, wird sich die Sangha in eine Sekte verwandeln. Der Gedanke mag sich wie selbstverständlich einschleichen, daß dieser oder jener Kollektivkörper die einzig wahre Sangha der Zukunft sei, das eine und alleinige Zentrum, und daß alles andere sein Umfeld zu sein hat und daß jene außerhalb dieser Grenzen nicht dazugehören oder, falls sie dies doch tun, daß sie irrig und abtrünnig geworden sind, weil sie anders denken.

Du magst fragen, was für eine Notwendigkeit für solch eine Sangha bestehe? "Laß mich frei sein und in jedem Gefäß leben; laß alle eins werden ohne Form, und laß all das, was sein muß, inmitten dieser ungeheuren Formlosigkeit geschehen!" Darin liegt eine Wahrheit, aber allein eine Seite der Wahrheit. Wir haben es nicht einzig mit dem form- und gestaltlosen Geist zu tun; wir müssen ebenso der Bewegung des Lebens eine Richtung geben, und ohne Form und Gestalt kann es keine wirksame Bewegung des Lebens geben. Das Gestaltlose hat Gestalt angenommen, und diese Annahme von Namen und Gestalt ist keine Laune der Maya. Form und Gestalt existieren, da sie unabdingbar sind. Wir wollen keine der weltlichen Aktivitäten aus unserem Gebiet ausklammern. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Dichtung, Literatur, Kunst, all das wird bleiben, doch wir müssen ihnen eine neue Seele und eine neue Gestalt geben.

Warum habe ich mich aus der Politik zurückgezogen? Weil die Politik dieses Landes nichts ist, was Indien echt angehört. Es ist ein Impuls aus Europa und eine Imitation. Es gab eine Zeit, in welcher eine Notwendigkeit dafür bestand. Auch wir haben nach europäischem Muster Politik betrieben. Hätten wir dies nicht getan, wäre das Land nicht aufgestanden, und wir hätten auch keine Erfahrung gewonnen und eine abgerundete Entwicklung erlangt. Es besteht noch immer eine gewisse Notwendigkeit dafür, nicht so sehr in Bengalen als vielmehr in den übrigen Provinzen Indiens. Aber die Zeit ist gekommen, den Schatten in seiner Verbreitung aufzuhalten und die Realität beim Schopfe zu packen. Wir müssen zur wahren Seele Indiens vordringen und alle Arbeiten in ihrem Bilde vollbringen.

Die Leute reden jetzt davon, Politik zu vergeistigen. Das Ergebnis, falls es ein dauerhaftes Ergebnis gibt, wird eine Art Bolschewismus indischer Prägung sein. Selbst einer solchen Arbeit gegenüber habe ich keine Vorbehalte. Laß jeden Menschen nach seiner eigenen Inspiration verfahren. Hier liegt aber in keiner Weise die wahre Aufgabe. Gießt man die spirituelle Macht in all diese unklaren Formen – die Wasser des kausalen Ozeans in grobe Gefäße – so brechen entweder die Gefäße, und das Wasser wird vergeudet, oder aber die spirituelle Macht verdunstet, und allein die unklare Form bleibt zurück. Das ist auf allen Gebieten das gleiche. Ich kann die spirituelle Macht geben, aber diese Macht wird dazu verwendet werden, das Götzenbild eines Affen zu bauen und es im Tempel Shivas aufzustellen. Ist der Affe mit Leben versehen und mit Macht ausgestattet, mag er die Rolle des Verehrers Hanuman spielen und viel für Rama 2 ausrichten können, solange dieses Leben und diese Macht bestehen bleiben. Was wir allerdings im Tempel Indiens wollen, ist nicht Hanuman, sondern Gott, den Avatar, Rama selbst.

Wir können uns mit allem befassen, aber nur, um alles auf den wahren Weg zu bringen und wenn wir dabei den Geist und die Gestalt unseres Ideals bewahren. Tun wir das nicht, werden wir unsere Richtung verlieren, und die wirkliche Arbeit wird nicht getan werden. Bleiben wir individuell überall zersplittert, wird zwar etwas getan; bleiben wir aber überall als Teile einer Sangha, wird hundertmal soviel erreicht werden. Bis jetzt ist die Zeit dafür noch nicht gekommen. Versuchen wir, ihr hastig eine Gestalt zu verleihen, wird es vielleicht nicht genau das sein, was wir wollen. Die Sangha wird zunächst eine nicht-konzentrierte Form haben. Jene, welche das Ideal teilen, werden geeint sein, aber an verschiedenen Orten arbeiten. Später werden sie eine Art spirituelle Kommune bilden und eine konzentrierte Sangha schaffen. Sie werden dann all ihren Werken einen Rahmen geben, welcher den Erfordernissen des Geistes und der Notwendigkeit des Zeitalters entspricht – keinen bedingten und starren Rahmen, kein Achalayatana 3, sondern eine freie Form, die sich gleich der See ausbreiten wird, sich in vielen Wellen ergießt, um etwas hier zu umspülen oder dort zu überfluten und schließlich alles in sich aufzunehmen. Wenn wir daran weiterarbeiten, wird sich eine spirituelle Kommune aufbauen. Soweit meine gegenwärtige Vorstellung! Noch ist nicht alles voll entwickelt. Alles liegt in Gottes Händen; was immer er uns tun läßt, werden wir tun.

Laß mich jetzt auf einige bestimmte Fragen Deines Briefes eingehen. Ich möchte mich hier nicht allzu ausführlich zu dem äußern, was Du über Deinen Yoga geschrieben hast. Wir werden bessere Gelegenheit dazu haben, wenn wir uns treffen. Den Körper als eine Leiche zu betrachten, ist ein Zeichen von Sannyasa, dem Weg des Nirvanas. Mit einer solchen Idee kannst Du nicht der Welt angehören. Du mußt an allen Dingen Freude haben können – sowohl im Geiste als auch im Körper. Der Körper besitzt ein Bewußtsein, er ist Gottes Form. Wenn Du Gott in allem sehen kannst, was es in der Welt gibt, wenn Du diese Vision hast, daß all das hier Brahman ist, Sarvamidam Brahma, daß Vasudeva all das hier ist – Vasudevah sarvamiti –, dann kennst Du die universelle Freude. Der Fluß dieser Freude stürzt in den Körper und breitet sich dort aus. Bist Du in einem solchen Zustand, erfüllt von spirituellem Bewußtsein, so kannst Du durchaus ein Eheleben führen, ein Leben in der Welt. In all Deinen Aufgaben und Arbeiten findest Du den Ausdruck der Göttlichen Freude. Bisher habe ich alle Gegenstände und Wahrnehmungen des Mentals und der Sinne in Freude auf der mentalen Ebene verwandelt. Nun nehmen sie die Form supramentaler Freude an. In diesem Zustand herrscht die vollkommene Vision und Wahrnehmung von Sat-Chit-Ananda.

Du schreibst über die Deva Sangha und sagst: "Ich bin kein Gott sondern nur ein Stück gründlich behämmertes und gehärtetes Metall." Niemand ist ein Gott, aber in jedem Menschen ist ein Gott gegenwärtig, und diesen zu offenbaren ist Ziel und Zweck des göttlichen Lebens. Das können wir alle tun. Ich räume ein, daß es große und kleine Adharas [Gefäße] gibt. Ich vermag jedoch nicht anzuerkennen, daß die Beschreibung Deiner selbst zutreffend ist. Wie auch immer die Natur des Gefäßes beschaffen sein mag, ist es einmal von Gott berührt, ist einmal der Geist erwacht, so spielen die Größe oder Geringfügigkeit und all das keine besondere Rolle mehr. Es mag einmal mehr Schwierigkeiten geben, es mag länger dauern, es mag Unterschiede in der Art der Offenbarung geben, aber selbst dies ist nicht gewiß. Der innere Gott schenkt diesen Hindernissen und Mängeln keine Beachtung. Er bahnt sich seinen Weg durch sie. War die Summe meiner Fehler etwa gering? Gab es in meinem Denken und Herzen und Vital-Wesen und Körper weniger Widerstände? Hat es nicht auch Zeit in Anspruch genommen? Hat Gott mich weniger mit dem Hammer bearbeitet? Tag um Tag, Augenblick um Augenblick wurde ich geformt, ich weiß nicht ob in einen Gott oder was. Aber ich wurde oder werde etwas. Das genügt, denn Gott wollte es erbauen. Dies gilt für jeden anderen genauso. Nicht unsere eigene Stärke sondern die Shakti Gottes ist der Sadhaka [Arbeiter] in diesem Yoga.

Laß mich Dir in Kürze ein oder zwei Dinge sagen, die ich lange vorausgesehen habe. Meines Erachtens liegt der Hauptgrund für die Schwäche Indiens weder in der Unterjochung [durch die Engländer] noch in der Armut oder dem Mangel an Spiritualität oder Dharma [Ethik], sondern im Niedergang der Kraft des Denkens, der zunehmenden Unwissenheit im Mutterland der Weisheit. Überall sehe ich eine Unfähigkeit oder Unwilligkeit zu denken – Unfähigkeit oder Abscheu zu denken. Was immer die Verhältnisse im Mittelalter gewesen sein mögen, der gegenwärtige Stand der Dinge ist Anzeichen einer entsetzlichen Degeneration. Das Mittelalter war die Nacht, die Zeit des Sieges der Unwissenheit. Die Moderne ist das Zeitalter des Sieges der Erkenntnis und des Wissens. Wer immer am meisten denkt, sucht, arbeitet, kann die Wahrheit der Welt erforschen und erlernen – und entsprechend mehr Shakti erlangen. Betrachtet man Europa, wird man zweier Aspekte gewahr: eines ungeheuren Meeres von Gedanken und des Spiels einer gewaltigen und rapide fortschreitenden, aber doch disziplinierten Kraft. Darin besteht die gesamte Shakti Europas. Und in der Kraft dieser Shakti droht es, die Welt zu verschlingen, gleich den Tapaswins [Asketen] unserer Antike, durch deren Kraft selbst die Welten-Götter in Angst und Schrecken versetzt und unterjocht wurden. Es heißt, Europa stürze sich in die Fänge der Zerstörung. Ich bin nicht dieser Meinung. All diese Revolutionen und Umstürze sind im Gegenteil die Voraussetzungen für eine neue Schöpfung.

Nun betrachte Indien! Mit Ausnahme einiger einsamer Giganten gibt es überall den "einfachen Mann von der Straße", das heißt den durchschnittlichen Menschen, der nicht denken will und nicht denken kann, der nicht die geringste Shakti sondern einzig eine kurzlebige Erregtheit in sich trägt. In Indien sucht man den schlichten Gedanken, das bequeme "Wort". In Europa will man den tiefen Gedanken, das tiefe "Wort"; dort verlangt es auch den gewöhnlichen Arbeiter oder Handwerker danach zu denken, zu wissen, er gibt sich nicht mit oberflächlichen Phänomenen zufrieden, sondern verlangt danach, hinter die Dinge zu sehen. Es besteht allerdings noch ein Unterschied, und zwar eine fatale Beschränkung von Europas Stärke und Denken. Berührt es nämlich die spirituelle Sphäre, kommt seine Gedankenkraft nicht mehr weiter. Dort sieht Europa nur noch Rätsel – nebulöse Metaphysik, yogische Halluzinationen. Man reibt sich die Augen wie im Rauch und sieht nichts mehr klar. Dennoch wird eine gewisse Anstrengung unternommen, um selbst diese Beschränkung zu überwinden. Wir besitzen den spirituellen Sinn bereits – wir verdanken ihn unseren Vorvätern – und wer immer über diesen Sinn verfügt, erhält damit ein solches Wissen und Shakti, daß sich die gesamte und gewaltige Macht Europas in einem Atemzug gleich einem Grashalm wegblasen läßt. Um diese Shakti zu gewinnen, muß man ein Verehrer der Shakti sein. Wir aber sind keine Verehrer der Shakti. Wir sind Verehrer des Weges des geringsten Widerstandes. Auf diesem Weg ist die Shakti nicht zu erlangen. Unsere Vorväter tauchten in ein Meer unermeßlicher Gedanken, und sie erlangten unermeßliches Wissen und gründeten darauf eine mächtige Zivilisation. Im Verlauf ihres Fortschreitens kamen Überdruß und Erschöpfung über sie. Die Kraft des Gedankens verminderte sich und damit zugleich der starke Strom der Shakti. Unsere Zivilisation ist zu einem Achalayatana [Gefängnis] geworden, unsere Religion eine bigotte Ansammlung von Äußerlichkeiten, unsere Spiritualität ein schwacher Abglanz des Lichts oder eine augenblicksbedingte Welle religiösen Rausches. Solange diese Situation anhält, ist jedes dauerhafte Wiederaufleben Indiens unwahrscheinlich.

In Bengalen findet sich diese Schwäche in ihrer extremsten Ausprägung. Der Bengale verfügt über quicklebendige Intelligenz, emotionale Kapazität und Intuition. In all diesen Qualitäten ist er in Indien erstrangig. All das ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Würden sich zu den vorgenannten Qualitäten die Tiefe des Gedankens, gelassene Stärke, Heldenmut sowie die Fähigkeit und die Lust auf langanhaltende Arbeit hinzugesellen, so wäre der Bengale nicht allein führend in Indien sondern in der Menschheit. Gerade das aber will er nicht aufbringen. Es verlangt ihn nach einer bequemen Erledigung der Dinge, nach einer Ansammlung von Wissen ohne Denken, nach den Früchten der Arbeit ohne Arbeit, Siddhi durch eine leichte Sadhana [Disziplin]. Seine Stärke und sein Rückhalt sind die leichte Erregbarkeit seines Gefühlsmentals. Ein Übermaß an Emotion bar jeden Wissens ist jedoch gerade das Symptom der Krankheit. Letztlich führt dies nur zu Ermüdung und Trägheit. Das Land befindet sich in einem anhaltenden, allmählichen Niedergang, einer Ebbe der Lebenskraft. Was ist aus dem Bengalen in seinem eigenen Land geworden? Er verdient sich keine ausreichende Nahrung zum Essen oder Kleidung zum Tragen, allerseits hört man nur Klagen; sein Reichtum, sein Handel und seine Ländereien, selbst seine Landwirtschaft sind dabei, in andere Hände überzugehen. Wir haben die Sadhana der Shakti aufgegeben, und die Shakti hat uns aufgegeben. Wir verfolgen die Sadhana der Liebe, aber wo es an Wissen und Shakti fehlt, bleibt auch die Liebe nicht erhalten, und Engstirnigkeit und Kleinlichkeit machen sich breit, und in einem kleinen und engstirnigen Mental gibt es keinen Platz für die Liebe. Wo gibt es Liebe in Bengalen? Es gibt mehr Streitigkeiten, Eifersucht, gegenseitige Geringschätzung, Unverständnis und Abspalterei als irgendwo sonst, sogar in Indien, das so stark von Spaltung zerrüttet ist.

In der edlen heroischen Epoche des arischen Volkes 4 gab es kein solches Geschrei und Gezänk, aber die unternommenen Anstrengungen wirkten unerschütterlich über viele Jahrhunderte hinweg. Die Anstrengung des Bengalen überdauert bestenfalls ein bis zwei Tage.

Du sagst, eine rasende Begeisterung wäre vonnöten, um das Land mit emotionaler Erregung zu erfüllen. In der Zeit des Swadeshi [Kampf um die Unabhängigkeit Indiens, Boykott englischer Güter] hatten wir all das auf politischer Ebene erreicht, aber was wir erreichten, liegt heute im Staub. Wird es in der spirituellen Sphäre günstigere Ergebnisse geben? Ich sage nicht, daß es keine Ergebnisse gab. Es gab sie wohl. Jedwede Bewegung zieht irgendwelche Folgen nach sich, meistenteils aber in bezug auf eine Vermehrung der Möglichkeiten. Das ist jedoch keinesfalls die geeignete Methode, die Dinge auf dauerhafte Weise zu verwirklichen. Aus diesem Grunde habe ich nicht mehr die Absicht, emotionale Erregung oder irgendeine andere Art von mentalem Rausch als Grundlage zu nehmen. Es ist meine Absicht, einen weiträumigen und starken Gleichmut zum Fundament des Yogas zu machen. Auf dieser inneren Ausgeglichenheit will ich eine uneingeschränkte, unerschütterliche, unverwüstliche Shakti mit der erforderlichen Systematik und in all ihren Bewegungen begründen. Mein Wille zielt auf eine weite Entfaltung des Lichts der Erkenntnis im Ozean der Shakti ab. In dieser leuchtenden Unermeßlichkeit wünsche ich die stille Ekstase unendlicher Liebe, Freude und Einheit. Mein Wille ist es nicht, Hunderttausende von Schülern zu haben. Es wird vollauf genügen, wenn ich einhundert ganze Menschen bekommen kann, die, geläutert von kleinlichem Egoismus, Instrumente Gottes sein werden. Ich schenke dem gewohnten Gehabe des Gurus keinen Glauben. Ich will kein Guru sein. Wenn jemand aufwacht und von innen heraus seine schlummernde Gottheit manifestiert und das göttliche Leben erreicht – sei es durch meinen Fingerzeig oder durch einen anderen – so ist das mein Ziel. Ein solcher Schlag Menschen wird die Erhebung des Landes vollbringen.

Wenn bei Dir nach dieser Lektion der Eindruck entsteht, ich verzweifle an der Zukunft Bengalens, so ist das falsch. Auch ich hoffe, daß sich – wie man sagt – jetzt ein großes Licht in Bengalen offenbaren wird. Jedoch habe ich versucht, die andere Seite der Münze zu zeigen, wo der Fehler, der Irrtum, der Mangel liegt. Sollten sich diese nicht ändern, so wird das erreichte Licht kein großes Licht sein, und es wird nicht von Dauer sein.

Der Sinn meines ungewöhnlich langen Briefes ist der, daß auch ich mein Bündel schnüre. Aber ich bin überzeugt, daß dieses Bündel gleich dem Netz des Petrus allein mit dem Fang der Ewigkeit erfüllt ist. Ich werde das Bündel jetzt noch nicht öffnen. Würde ich dies tun, bevor die Zeit dafür gekommen ist, wäre alles vertan. Ich begebe mich auch gegenwärtig nicht nach Bengalen zurück, nicht weil Bengalen nicht bereit ist, sondern weil ich nicht bereit bin. Wenn der Unreife unter die Unreifen geht, was kann er ausrichten?

Dein Sejda 5,

Sri Aurobindo

 

1 Lele, ein tantrischer Lehrmeister, den Sri Aurobindo 1908 traf und der ihm die Verwirklichung des mentalen Schweigens und des Nirvanas gab.

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2 Rama, der göttliche Avatar, der mit Hilfe von Hanuman und den anderen Affen den Dämonen Ravana tötete.

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3 Ein Gefängnis, ein Ort, wo alles bis auf die kleinste Einzelheit reglementiert ist.

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4 Im vedischen Zeitalter.

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5 Sejda: älterer Bruder.

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