Mutters
Agenda
dritten Band
Jetzt kommt Weihnachten und Neujahr. Früher erhielt ich zehn Briefe täglich, jetzt sind es fünfundzwanzig. Nolini kommt und will nicht mehr fortgehen... Ich bin wieder zu spät dran 1 .
Hast du dein Buch mitgebracht?
Es ist nicht sehr brillant.
Das macht nichts!
Ist es das Ende des Kapitels?
Nein, es folgt noch ein Abschnitt.
Wovon handelt er? Von der Transformation? Das Ende der "Transformation" – die Transformation ist nicht beendet!
(Satprem liest einen Abschnitt aus seinem Manuskript vor, in dem es um die "brillante Periode" des Ashrams im Jahr 1926 geht, als Mutter eine Schöpfung des Übermentals herbeiführte und die Götter sich zu manifestieren begannen.)
Zu guter Letzt sagte mir Sri Aurobindo: "Aber das ist eine übermentale Verwirklichung, es ist nicht die Wahrheit." Er sagte wörtlich: "Ja, das ist eine übermentale Schöpfung, aber es ist nicht die Wahrheit, die wir wollen. Es ist nicht die Wahrheit, the highest truth – es ist nicht die höchste Wahrheit."
Ich sagte nichts, kein Wort: In einer halben Stunde hatte ich alles wieder aufgelöst – ich baute alles ab, baute wirklich alles ab, zertrennte die Verbindung zwischen den Göttern und den Menschen und zerstörte alles, alles. Denn ich wußte, solange das vorhanden war, schien es so attraktiv (man sah die ganze Zeit die erstaunlichsten Dinge), daß man versucht gewesen wäre, damit fortzufahren, und gesagt hätte: Wir werden Verbesserungen anbringen, was unmöglich war. Ich blieb eine halbe Stunde ruhig sitzen, und baute alles ab.
Wir mußten etwas anderes in Angriff nehmen.
Aber ich sagte nichts, ich sprach mit niemandem darüber, außer mit ihm. Niemand wußte es in dem Moment, denn es hätte sie völlig entmutigt.
*
* *
Etwas später
Ich habe Arbeit für zehn Leute...
Oder ich müßte es wie Sri Aurobindo anstellen: die ganze Nacht mit Schreiben verbringen – wenn ich die ganze Nacht damit verbrächte zu schreiben, könnte ich auf dem laufenden sein, aber ich beabsichtige nicht, dies zu tun, denn meine Nächte sind sehr interessant.
Ich hatte... Manche Dinge sind ziemlich seltsam. Ich weiß nicht, ob du den Unterschied zwischen der Erinnerung an eine innere Erfahrung (im Bereich des Subtilphysischen oder des Unterbewußten, alle inneren Bereiche) und der Erinnerung an eine physische Tatsache kennst? – Da besteht ein sehr großer Qualitätsunterschied. Es ist derselbe Unterschied wie der zwischen einer inneren Sicht und der materiellen Sichtweise. Die materielle Sicht ist präzise, abgegrenzt und zugleich flach – ich weiß nicht, wie ich es erklären soll: sehr flach, völlig oberflächlich, aber sehr exakt. Diese Genauigkeit und Präzision, die Dinge definiert, die gar keine definierte Form haben. Der Unterschied zwischen den beiden Erinnerungen ist derselbe wie der Unterschied zwischen den zwei Sichtweisen. Ich merkte in diesen Tagen, wie ich mich erinnerte, hinabgegangen zu sein, Leute gesehen zu haben und Dinge gesagt zu haben, gewisse Dinge organisiert zu haben – mehrere unterschiedliche Szenen... PHYSISCHE Erinnerungen. Keineswegs Dinge, die ich in einem außerkörperlichen Zustand mit meiner inneren Sicht sah, sondern die MATERIELLE Erinnerung, gewisse Dinge getan zu haben.
Nachher mußte ich mir das anschauen: es war eine Erinnerung. Das verwunderte mich plötzlich, und ich fragte mich: "Aber bin ich denn nun materiell hinabgegangen?"... Jedermann kann mir beweisen, daß ich nicht hinabgegangen bin, daß ich mich nicht von hier fortbewegt habe. Dennoch habe ich die materielle Erinnerung, dies und auch gewisse andere Dinge getan zu haben, sogar hinausgegangen zu sein.
Ich stehe also vor einem Problem. Nicht nur ist die Erinnerung völlig materiell, sondern meine Worte und Taten hatten sogar eine AUSWIRKUNG.
Ja, wirklich?
Ja. Kleine Dinge, bestimmte Anordnungen in einem Zimmer, kleine Veränderungen in der Ernährung, ganz kleine Dinge, die in sich selbst nicht die geringste Bedeutung haben – die kleinen Dinge, die man ständig tut, von denen das Leben immer voll ist, keine großen Ereignisse (ich weiß wohl, daß eine Wirkung auf die irdischen Geschehnisse stattfindet, all das weiß ich, aber das ist die andere Erinnerungsart).
Konntest du diese Veränderungen überprüfen?
Ja, die gab es! Da ist keine Frage des Überprüfens.
Ach, die gab es!
Ich hatte gesagt: "Das muß so sein", und dann wurde es so. Wenn ich zum Beispiel jemandem sagte: "Leg das dorthin", legte die Person es dorthin. Sie wußte nicht, daß ich es ihr gesagt hatte, aber sie tat es. Sie weiß es nicht, weil sie nicht dasselbe Bewußtsein wie ich hat.
Aber die Tatsache, daß eine sofortige Wirkung eintrat, zeigte sich sogar, bevor ich mich daran erinnerte, denn es verlief in umgekehrter Reihenfolge: Als so etwas geschah, sagte ich mir: "Wie zum Teufel ist das möglich? Diese Person ist wunderbar." Dann erkannte ich auf einmal: "Aber nein! Ich habe es ihr ja gesagt." Dann kam das Bild – "das Bild", nicht die Art Erinnerung, die man von einer Vision hat, sondern die Erinnerung an etwas, das man TAT. Diese Art Bild ist kein "Betrachten", sondern es stellt sich ganz natürlich ein. Es hat eine besondere Qualität. So merkte ich, was geschehen war. Ich selbst merkte es.
Es ist also bewiesen. Da gibt es nichts zu diskutieren: der Beweis ist da. Dennoch bewegte ich mich materiell, also dem äußeren Anschein nach, nicht von hier fort.
Aber WER, wer hat das bewirkt? Ich weiß es nicht.
Ist es keine außerkörperliche Erfahrung im Subtilphysischen?
Nein, nein! Nein, denn die Erinnerung an eine außerkörperliche Erfahrung im Subtilphysischen ist VÖLLIG anders. Schließlich habe ich eine reiche Erfahrung darin. Seit etwa sechzig Jahren kenne ich das Phänomen – völlig anders. Dies ist ausschließlich die Erfahrung, wie man sie in der physischen Falschheit hat, im gewöhnlichen, physischen Bewußtsein.
Ich sagte nichts, denn die Leute hier glauben jetzt schon, daß ich verrückt werde, da will ich nicht... ihren Eindruck verstärken. Aber sogar ich selbst... ich brauchte eine Weile (es geschah nicht nur einmal sondern zwei–, dreimal mit verschiedenen Dingen), ich blieb sehr ruhig, um mir das anzusehen und zu versuchen, es zu analysieren.
Aber ich habe den Schlüssel noch nicht gefunden.
Eine materielle Verdoppelung?
Das ist möglich. Vielleicht ist es das.
Vielleicht ist es das.
Etwas wie die Allgegenwart.
Wenn anderen Leuten solche Erfahrungen zustoßen (sie haben kein Wissen – Unwissenheit ist das übliche), halten sie all das für Träume. Es lohnt sich nicht einmal zu versuchen, es ihnen zu erklären – sie verstehen nicht. Alles wird als Träume abgetan: Träume, Träume, Träume.
Das spielte sich nachmittags ab, zwischen halb eins und halb zwei, als ich hier war – jedenfalls war mein Körper anscheinend hier ausgestreckt.
(Schweigen)
Nach allem, was wir wissen, wäre das ein Phänomen der Allgegenwart.
Aber wenn es zum Beispiel mit Leuten passiert wäre, die nichts von meinem Leben wissen, hätten sie gesagt: "Mutter ging nach draußen, ich sah sie." Ich hatte ähnliche Erfahrungen in Paris (nicht bei mir, sondern bei jemand anderem). Jemand schwor, daß eine Person (die übrigens in dem Augenblick mit mir zusammen war) gekommen sei und mit ihr gesprochen, ja, ihr sogar auf die Schulter geklopft habe – alles typische Phänomene der Allgegenwart, die sich durch eine mentale Konzentration erklärten. Aber diese Person wußte eben nicht, daß die andere nach der materiellen Logik unmöglich kommen konnte. Da sagte sie ganz einfach und natürlich: "Aber seht doch! Ich hab sie gesehen, mit ihr gesprochen, ihr auf die Schulter geklopft!"
Also sagt man nichts, denn... In ihrer Unwissenheit sagen die Leute immer zuerst: "Er hat den Verstand verloren!"
Deshalb sage ich nichts und warte. Ich werde sehen.
Es wäre interessant, wenn andere, bewußte Leute eine Bestätigung geben könnten.
Ja, aber ich sage dir, ich sah gewisse Dinge, und als ich fragte, antwortete man mir: "Ein Traum, ja, ich hatte einen Traum!" (Mutter lacht) Da sagte ich nichts.
Wir werden sehen.
Dann bis Weihnachten!
1 Das ist der Anfang eines Phänomens, das sich mit den Jahren zuspitzte, als ob eine unerbittliche Kraft meine Gespräche mit Mutter zunehmend verschlingen wollte – das heißt die Geschichte der Transformation, zugunsten der kleinen örtlichen Geschichten.