Mutters
Agenda
vierten Band
(In bezug auf das Gespräch vom 9. März und die "Erfahrung einiger Sekunden, die den Eindruck erweckte, daß das zentrale Problem gelöst sei." Mutter hatte diese Erfahrung "den Tod des Todes" genannt.)
Diese Dinge sind erstaunlich... Aktiv erinnert man sich nicht mehr, das heißt, die Erfahrung kann durch keinen Gedanken ausgedrückt werden; selbst die aktive Empfindung der Erfahrung klingt ab, und dennoch ist man nicht mehr dieselbe Person – bemerkenswert! Dieses Phänomen habe ich mehrere Male erlebt (ich erinnere mich nicht genau, wie oft), aber es geschah mehrere Male in meinem Leben, und das Ergebnis war immer dasselbe: nicht mehr dieselbe Person zu sein, man ist ein anderer geworden. Alle Beziehungen zum Leben, zum Bewußtsein, zur Bewegung, alles wandelt sich. Dennoch bleibt von der zentralen Sache nur ein vager Eindruck. Während man die Erfahrung hat, herrscht eine Sekunde lang eine überwältigende Klarheit und Präzision. Wahrscheinlich kann das zerebrale System und das Nervensystem es nicht bewahren. Alle Beziehungen haben sich jedoch verändert, man ist eine andere Person.
Dieses Phänomen konnte ich sehr oft beobachten. Zum Beispiel der Eindruck, den man im gewöhnlichen Leben hat, "etwas zu unterstehen" (wenige Leute sind sich dessen bewußt, aber ich weiß, daß alle diesen Eindruck haben)... den Eindruck einer Bestimmung, eines Verhängnisses, eines Willens, einer Gesamtheit von Umständen (Worte spielen keine Rolle). Etwas lastet auf einem und will sich durch einen manifestierten. Aber es lastet auf einem. Die erste meiner Erfahrungen war die, sich darüber zu erheben (das liegt sehr lange zurück, es geschah um die Jahrhundertwende). Das war eine solche Erfahrung, in einer Sekunde: ja, plötzlich steht man darüber. Ich erinnere mich, denn damals sagte ich den Leuten, mit denen ich zu tun hatte (ich beschäftigte mich vielleicht schon mit der Revue Cosmique, als ich damit anfing, oder vielleicht schon früher): "In einem bestimmten Zustand steht es einem frei zu entscheiden, was man tun wird. Wenn man sagt: "ich will" bedeutet es, daß es sein wird." Mit diesem Eindruck lebte ich. Anstatt mir zu sagen: "Ich würde dies gerne tun... ich möchte, daß jenes geschieht...", mit dem Gefühl eines Schicksals, das über einen bestimmt, hatte ich den Eindruck, daß man darüber steht und selber entscheidet: es WIRD so sein, es WIRD so sein.
Das ist meine Erinnerung vom Anfang des Jahrhunderts.
Ich hatte mehrere Erfahrungen dieser Art – etliche. Und seit dieser letzten Erfahrung (der Tod des Todes), die eine Sekunde andauerte, habe ich den Eindruck... einen ähnlichen Eindruck. Wenn ich vorher für die Leute handelte, sei es, um sie vor dem Sterben zu bewahren oder um ihnen zu helfen, wenn sie schon tot waren – Hunderte von Dingen, die ich ständig tat, aber stets mit dem Eindruck verbunden, daß der Tod so sei (Geste über Mutter), wie etwas, das man besiegen oder beherrschen muß, dessen Folgen man wiedergutmachen mußte. Jedenfalls war es immer so, der Tod stand... (lachend) ein klein bißchen höher. Doch seit diesem Augenblick (der Tod des Todes) war mein Kopf höher – der Kopf, das Bewußtsein, der Wille stand darüber, und zwar auf der Seite des Herrn.
Vor sehr langer Zeit, als Sri Aurobindo noch da war, hatte ich eine Erfahrung: Eines Nachts hatte ich die Erfahrung, mit dem Höchsten Herrn in Kontakt zu sein, es war sehr konkret:
"Man stirbt nur, wenn Du es willst."
Ich erinnere mich nicht mehr genau (ich schrieb es auf), aber es war folgende Idee: der Herr läßt euch nur mit eurer Zustimmung sterben – man muß seine Zustimmung geben, um zu sterben. Wenn Er nicht so entscheidet, kann man niemals sterben. Diese zwei Dinge: um zu sterben, muß etwas (das heißt die Seele in ihrem innersten Kern) zustimmen, die Seele muß ja sagen, dann stirbt man. Und wenn die Seele ja sagt, dann entscheidet der Herr. Seither herrscht diese Gewißheit, daß man nur stirbt, wenn der Herr es will, daß es ganz und gar von Seinem Willen abhängt, daß es keine Unfälle gibt, keine "unvorhergesehenen Mißgeschicke", wie die Menschen glauben – das gibt es nicht: Er ist es, der will. Von jenem Augenblick an bis hin zur letzten Erfahrung (der Tod des Todes) lebte ich in diesem Wissen, aber mit dem Eindruck von... nicht etwas gänzlich Unbekanntem aber doch Unbegreiflichem, mit dem Gefühl, daß etwas im Bewußtsein nicht versteht. Mit "verstehen" meine ich die Macht, es schaffen und auflösen zu können. Die Macht auszuführen und aufzulösen bedeutet wahres Verstehen, die MACHT. Dies fehlte noch. Das war noch ein Geheimnis des Unendlichen Höchsten. Mit dieser Erfahrung (der Tod des Todes) spürte ich: "Ja, nun ist es soweit! Ich hab's, ich habe es erfaßt! Diesmal halte ich es fest."
Ich habe es nicht behalten (lachend), es ist verschwunden! Aber meine Einstellung hat sich verändert. Nun ist es eine weitere Sache, die ich von oben betrachte; ich bin höher gestiegen, meine Position liegt jetzt darüber.
Wenn jemand hier im Ashram starb, beobachtete ich es jedesmal eingehend (seit dieser Erfahrung sind ein oder zwei Personen gestorben, insbesondere die Schwester des alten Doktors), und ich stellte fest, daß es VÖLLIG ANDERS geworden ist. Ich sehe es von oben. Es birgt keine Geheimnisse mehr. Wenn man allerdings eine Erklärung von mir verlangen würde... das kann ich nicht – die Worte, das Mental, nein. Aber die POSITION des Bewußtseins ist anders – die Stellung des Bewußtseins ist jetzt völlig anders.
Jedesmal geschah es auf dieselbe Weise 1 . Aber manchmal braucht es Jahre, damit sich das in eine bewußte Macht verwandeln kann. IN DIESEM FALL würde die bewußte Macht bedeuten, den Tod gleichermaßen bewirken als auch verhindern zu können. Die notwendige Bewegung der Kräfte herbeiführen zu können... fast eine direkte Wirkung auf die Zellen, eine mechanische Wirkung auf die Zellen. Mit dieser Macht könnte man den Tod herbeiführen oder auch verhindern.
Es herrscht ÜBERHAUPT NICHT MEHR dieses Gefühl eines brutalen Gegensatzes zwischen dem Leben und dem Tod als seinem Gegenteil – der Tod ist nicht das Gegenteil des Lebens! Von diesem Augenblick an verstand ich, und ich vergaß es niemals: der Tod ist NICHT das Gegenteil des Lebens 2 .
Es wird gleichsam eine Veränderung in der Funktionsweise der Zellen oder in ihrer Anordnung vorgenommen 3... Was ich da sage, gleicht dem Versuch, eine vergrabene Erinnerung zurückzurufen, aber so ist es jedenfalls. Wenn man das einmal verstanden hat, kann man es ausführen (alles, was man versteht, kann man auch tun). Dann ist es sehr einfach: Man kann sehr leicht verhindern, daß es hier oder dort geschieht. Man kann so oder so oder so handeln (Mutter scheint Kräfte zu lenken oder die Position des Bewußtseins zu verändern). Sterben oder leben zu lassen wird beinahe zu einem Kinderspiel. Aber das spricht man besser nicht aus.
Doch es ist gewiß. Es wird eintreten... Ich weiß nicht, in wie vielen Jahren, ich weiß es nicht, aber es ist offensichtlich geworden. Wie ich kürzlich sagte, scheint mir das ein zentrales Geheimnis zu sein – nicht das zentralste von allen, aber ziemlich zentral für das irdische Leben.
Offensichtlich käme das einer neuen Phase des irdischen Lebens gleich.
(Schweigen)
Das könnte sich fast durch ein MATERIELLES Wissen ausdrücken (später, nach einer steten Weiterentwicklung der modernen Wissenschaft). Es wäre nicht dies (Mutters Erfahrung) sondern sein Abbild – wie Sri Aurobindo sagt: a figure, a representation. Das Wort "Bild" kommt dem am nächsten. Es ist ein Abbild, nicht die Sache selbst, sondern ihre Projektion, wie auf einer Kinoleinwand.
(Schweigen)
Offensichtlich... offensichtlich laufen die Dinge auf etwas zu, das für das gewöhnliche Bewußtsein ein Wunder ist.
(langes Schweigen)
Die Schöpfung zu verstehen, bedeutet im Grunde, sie gestalten zu können – das ist es. Wenn man versteht, kann man handeln. Die Menschen tun alles mit einem bewußten Willen hier (Mutter macht eine Geste, als trüge sie Scheuklappen), aber eine unsichtbare Macht kommt oder kommt nicht, steht ihnen zur Verfügung oder nicht. Und diese unsichtbare Macht ist die eigentliche ausführende Kraft. Die Menschen haben Vorstellungen, aber keine Macht. Wenn man es schafft, von hier nach DORT überzugehen (Geste nach oben), erkennt man, daß all diese Vorstellungen fast wie die Tasten eines universalen Instrumentes sind. Man kann auf allen Tasten spielen, das ist sehr schön und ergibt ein gutes Orchester, aber es ist nicht wesentlich, es ist eine Nebensache. Notwendig ist DAS (die unsichtbare Macht). DAS weiß, wie man es machen und wie man spielen muß.
1 Etwas später fügte Mutter hinzu: Das heißt, es handelt sich um eine äußerst machtvolle Erfahrung, die aber nicht bestehen bleibt, außer in ihrer Auswirkung: daß ich eine andere Person werde und sich meine Haltung ändert. Ich könnte die Erfahrung nicht beschreiben, aber meine Haltung hat sich geändert. Das ist jedesmal so geschehen. Es ist ganz anders als die sonstigen Erfahrungen – die erhalten bleiben, die man vollkommen versteht, die nicht verblassen –, die aber nicht die Macht haben, die Person zu verändern. Beide Arten von Erfahrungen sind sehr nützlich, aber sehr unterschiedlich. Jene Erfahrungen, die zuerst sehr stark, aber auch sehr kurz auftreten, kehren später in der anderen Form zurück. Dann FESTIGEN sie in irgendeinem Bereich des Bewußtseins das, was die erste Erfahrung brachte, die nur schlagartig kam – ein zwingender aber vergänglicher Schock. Manchmal vergeht eine lange Zeit. Früher verstrichen Jahre zwischen der ersten Erfahrung und den folgenden, jetzt scheint es etwas kürzer zu sein, aber es braucht immer noch Zeit. Jedesmal geschieht es so: Etwas ereignet sich und erzielt die gewollte Wirkung. Dann ist es, als ob das Bewußtsein dieses Thema beiseite ließ, als wäre eine stille Inkubationszeit erforderlich – man beschäftigt sich nicht mehr aktiv mit dem Problem. Und nach einer langen Schleife kommt es zurück, als ob es verarbeitet, assimiliert wäre und man nun für die volle Erfahrung bereit ist.
2 Mit einem unbegreiflichen Verständnis denken wir an die Worte der vedischen Rishis: "Er entdeckte die beiden Welten, ewig und IN EINEM Nest." (Rig Veda, I.62.7.)
3 Demnach findet man den Schlüssel, den Ort des Übergangs, an den Grenzen der Zellen – nicht in einer "anderen" Welt, sondern in derselben, wo der Tod nicht das Gegenteil des Lebens ist, wo der Tod nicht mehr besteht (vielleicht ist das die Welt, in der man ohne Schwerkraft und ohne Kratzer auf die Schottersteine fällt?).