Mutters
Agenda
vierten Band
(Mutter fragt Satprem, ob er für das nächste Bulletin eine Frage zum Aphorismus über die "Entsagung" vorbereitet hat. Dann fügt sie hinzu:)
Darüber hielt ich dir große Reden, ich erinnere mich aber nicht mehr daran. (Lachend) Nachts hielt ich dir eine lange Rede darüber, und mitten in der Nacht sagte ich mir sogar: "Halt, das muß ich morgen Satprem erzählen!"
Ich sagte dir, daß der einzige Vorgang der Entsagung, den ich je kannte und der sich mehrmals in meinem Leben wiederholte, das Aufgeben eines Irrtums betraf. Man hielt etwas für wahr – wahrscheinlich war es das auch während einer bestimmten Zeit –, und basierte zum Teil seine Handlungen darauf, aber tatsächlich war es nur eine Anschauung. Man hielt es für einen wahrheitsgetreuen Befund mit allen logischen Konsequenzen, und die Aktion (ein Teil der Aktion) basierte darauf, das Ganze lief automatisch ab. Dann warnt einen plötzlich eine Erfahrung, ein Umstand oder eine Intuition, daß der Befund nicht ganz so wahr ist, wie man glaubte. Darauf folgt eine längere Zeit der Beobachtung und des Studiums (oder manchmal kommt es wie eine Offenbarung, ein massiver Beweis), und dann müssen sich nicht nur die Auffassung und das falsche Wissen ändern sondern auch alle Konsequenzen, vielleicht sogar die gesamte Handlungsweise in einem bestimmten Zusammenhang. In solchen Augenblicken empfindet man etwas, das der Entsagung ähnelt: Eine ganze Konstruktion von Dingen, die man errichtet hatte, muß wieder demontiert werden. Manchmal kann das beachtliche Ausmaße annehmen, andere Male ist es eine Kleinigkeit, aber die Erfahrung ist dieselbe: Die Bewegung einer Kraft oder einer Macht löst etwas auf, und man spürt den Widerstand all dessen, was aufgelöst werden muß, aller vergangenen Gewohnheiten. Die Einwirkung der Auflösungsbewegung auf den entsprechenden Widerstand muß sich im gewöhnlichen menschlichen Bewußtsein durch ein Gefühl des Verzichts ausdrücken.
Vor kurzem beobachtete ich das wieder. (Der Anlaß ist unbedeutend, die Umstände an sich haben überhaupt keine Bedeutung, nur im Zusammenhang der Studie als Ganzes wird es interessant.) Dies ist das einzige vergleichbare Phänomen, das sich in meinem Leben mehrmals wiederholte, weshalb ich es gut kenne. Mit dem Fortschritt des Wesens erhöht sich auch die Kraft der Auflösung, sie wird unmittelbarer, und der Widerstand nimmt ab. Ich erinnere mich noch an die Zeit des größten Widerstands (vor mehr als einem halben Jahrhundert), und selbst damals war es stets nur etwas außerhalb von mir Stehendes – nicht außerhalb meines Bewußtseins, sondern außerhalb meines Willens, etwas, das sich dem Willen widersetzte. Ich hatte nie den Eindruck einer Entsagung, sondern das Gefühl, Druck auf Dinge ausüben zu müssen, um sie aufzulösen. Jetzt hingegen wird der Druck immer weniger spürbar, er wirkt unmittelbar: sobald die Kraft eingreift, um die betroffenen Konstruktionen aufzulösen, löst sich alles widerstandslos auf. Im Gegenteil, ein kaum spürbares Gefühl der Befreiung ist zu erkennen – etwas amüsiert sich gar und sagt: "Ach, schon wieder! Wie oft man sich doch einschränkt..." Wie oft glaubt man, beständig und unbehindert voranzuschreiten, und wie oft begrenzt man seine Aktion (nicht in einem großen Ausmaß, weil es sich um etwas ganz Kleines innerhalb eines immensen Ganzen handelt, aber es ist immerhin eine Grenze). Wenn dann die Kraft eingreift, um die Grenze aufzulösen, fühlt man anfangs eine Befreiung, eine Freude. Auch das ist jetzt verschwunden: es bleibt nur ein Lächeln. Denn es ist kein Gefühl der Befreiung mehr, sondern ganz einfach so, als ob man einen Stein vom Weg entfernte, um weitergehen zu können.
Ungefähr das teilte ich dir letzte Nacht mit, aber mit allen Erläuterungen. Man könnte damit Seiten füllen, verstehst du! (Lachend) Deshalb verschwanden die Erläuterungen, sonst würde das ein ganzes Buch ergeben. Die Erfahrung wurde von sämtlichen Erklärungen und Einzelheiten begleitet.
Die Vorstellung des Verzichts kann nur in einem egozentrischen Bewußtsein entstehen. Natürlich halten Leute (in einem völlig unentwikkelten Stadium) an den Dingen fest – wenn sie etwas haben, wollen sie es nicht mehr loslassen. Das scheint mir derart kindisch!... Wenn sie es hergeben müssen, tut es weh, weil sie sich mit dem, was sie besitzen, identifizieren. Aber das ist kindisch. Der wahre Vorgang dahinter hängt vom Ausmaß des Widerstands in den auf einer bestimmten Wissensgrundlage basierenden Dingen ab – ein vermeintliches Wissen, das nun keines mehr ist, nicht direkt ein flüchtiges Wissen, aber doch ein unbeständiges Teilwissen. Ein ganzer Komplex von Dingen basierte auf diesem Wissen, und diese Dinge widersetzen sich der Kraft, die sagt: "Nein, das ist nicht wahr, (lachend) deine Basis stimmt nicht mehr, sie wird beseitigt!", und dann, oh, wie weh das tut –, und dies empfinden die Leute als Verzicht.
Die Schwierigkeit besteht nicht so sehr darin, zu verzichten, sondern zu akzeptieren... [Mutter lächelt] Wenn man vom Leben, so wie es ist, ausgeht, und soll es nun akzeptieren, wie kann man nur inmitten von all dem leben und diese "ungetrübte Verzückung" empfinden – die ungetrübte Verzückung nicht dort oben sondern hier? 1
Seit Wochen stehe ich vor diesem Problem.
Ich bin zu folgendem Schluß gekommen: Im Prinzip entsteht die Verzückung durch das Bewußtsein und die Vereinigung mit dem Göttlichen (dies ist das Prinzip), folglich müßten das Bewußtsein und die Vereinigung mit dem Göttlichen, ob in der gegenwärtigen Welt oder beim Aufbau einer zukünftigen Welt, dieselben sein – im Prinzip. Ständig sage ich mir deshalb: "Wie kommt es, daß du nicht diese Verzückung spürst?"
Ich spüre sie dann, wenn das gesamte Bewußtsein in der Vereinigung ausgerichtet ist. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt, inmitten einer beliebigen Situation, läßt sich durch diese Bewegung der Konzentration des Bewußtseins auf die Einheit die Verzückung erreichen. Ich muß aber zugeben, daß sie wieder weggeht, wenn ich in dieser ganzen... sehr chaotischen Welt zu arbeiten habe, wo ich auf alles einwirke, was mich umgibt, denn um darauf einwirken zu können, muß ich notwendigerweise auch alles aufnehmen. Inzwischen habe ich einen Zustand erreicht, wo mich alles, was ich empfange, sogar das, was als äußerst schmerzhaft gilt, absolut ruhig und gleichgültig läßt – "gleichgültig": keine untätige Gleichgültigkeit sondern einfach die Abwesenheit jeglicher schmerzlichen Reaktion, vollkommen neutral (zum Ewigen gewandte Geste), eine vollkommene Ausgeglichenheit. In diesem Gleichmut weiß ich jedoch genau, was alles gesagt, getan, geschrieben, entschieden werden muß, alles, was die Handlung erfordert. Das spielt sich alles in einem Zustand vollkommener Neutralität ab, verbunden mit dem Gefühl der Macht: die Macht geht durch, die Macht handelt, und die Neutralität bleibt – es kommt aber zu keiner Verzückung. Ich empfinde keinerlei Begeisterung, Freude und Fülle in der Handlung.
Auch muß ich sagen, daß der Bewußtseinszustand dieser Verzückung beim jetzigen Zustand der Welt gefährlich wäre... Er hätte nämlich fast absolute Reaktionen zur Folge – ich sehe, daß dieser Zustand der Verzückung eine UNGEHEUERLICHE Macht hat. Ich bestehe auf dem Wort "ungeheuerlich" in dem Sinne, daß dieser Zustand für all das, was ihm nicht entspricht, unverträglich oder unerträglich (eher unerträglich) ist. Hier gilt dasselbe oder fast dasselbe (nicht ganz) wie für die höchste göttliche Liebe: die Schwingung dieser Ekstase oder dieser Verzückung vermittelt eine Ahnung von der Schwingung der göttlichen Liebe, und die ist absolut... ja, es gibt kein anderes Wort: unverträglich, weil sie die Gegenwart von nichts Gegenteiligem zuläßt.
Für das gewöhnliche Bewußtsein hätte dies fürchterliche Auswirkungen. Ich sehe das deutlich, denn manchmal kommt diese Macht. Wenn diese Macht kommt..., hat man den Eindruck, daß alles explodiert. Sie kann nur Vereinigung dulden, nur eine akzeptierende Reaktion – Aufnahme und Akzeptanz. Und dies nicht aus Willkür, nein, die alleinige TATSACHE IHRER EXISTENZ macht sie allmächtig – nicht "allmächtig", wie der Mensch die Allmacht versteht: eine tatsächliche Allmacht, die gänzlich, total, ausschließlich besteht. Sie enthält alles, und alles, was ihrer Schwingung zuwiderläuft, muß sich ändern, denn nichts kann verschwinden; und diese sofortige, sozusagen brutale, absolute Veränderung würde in der jetzigen Welt eine Katastrophe bedeuten.
Diese Antwort erhielt ich zu meinem Problem.
Denn das war meine Frage: Warum bin ich noch... In jeder beliebigen Sekunde brauche ich nur so zu machen (Geste nach oben), und... es gibt nur noch den Herrn, alles ist DAS – aber auf eine derart absolute Weise, daß alles, was nicht DAS ist, verschwindet! Bei den jetzigen Verhältnissen... (lachend) müßte zu vieles verschwinden!
Das habe ich verstanden.
(Schweigen)
Für den Körper bedeutet das Leben eine ständige Arbeit, eine Mühsal in den kleinsten Details, in jeder Minute, eine unaufhörliche Anstrengung mit kaum wahrnehmbaren Ergebnissen (äußerlich sind sie jedenfalls vollkommen inexistent). Für jemanden, der nicht mein Bewußtsein hat, hieße dies ganz offensichtlich, daß sich der Körper dem Anschein nach abnutzt, daß er altert und langsam seiner Auflösung entgegengeht – diese Anschauungsweise liegt in der Atmosphäre, im Bewußtsein aller (Mutter lacht), diese Art Einschätzung und Schwingung wird ständig auf diesen armen Körper abgeladen, der sich seiner Gebrechlichkeit durchaus bewußt ist und sich keine Illusionen macht. Diese ruhige, friedliche, aber UNABLÄSSIGE Ausdauer bei der Bemühung um Transformation führt jedoch dazu, daß sich der Körper manchmal nach ein wenig Ekstase sehnt – kein Erlöschen, keine Auflösung, keineswegs, aber als würde er sagen: "O Herr, bitte laß mich in aller Ruhe Du sein." Im Grunde genommen ist dies sein Gebet jeden Abend, wenn die Leute ihn in Ruhe lassen sollten – leider lassen sie ihn allerdings nur physisch in Ruhe, nicht aber mental. Doch das... Ich könnte mich abtrennen, vor sehr langer Zeit habe ich das gelernt, ich könnte es tun, aber... etwas oder "jemand" will dem nicht zustimmen! (Mutter lacht) Offensichtlich will dieser Jemand – der große Jemand – einen vollkommenen Frieden realisiert sehen, eine vollkommene Ruhe und Freude, eine passive Freude (sie muß nicht sehr aktiv sein, eine passive Freude genügt), eine konstante, passive Freude, OHNE die Arbeit aufzugeben. Das heißt, die individuelle Erfahrung wird nicht als die einzig bedeutsame Sache betrachtet – weit gefehlt: die Hilfe für die Gesamtheit, das Ferment, welches das Ganze emporhebt, ist MINDESTENS ebenso wichtig. Darin liegt wahrscheinlich auch der Hauptgrund für die Ausdauer dieses Körpers.
Im Innern stellen sich keine Fragen, da gibt es kein Problem – all diese Probleme stellen sich im Körper und für den Körper. Innen ist alles vollkommen, alles ist genau so, wie es sein soll. Und das gilt wirklich absolut: Was man "gut" nennt, was man "schlecht" nennt, das "Schöne" oder "Häßliche"... all das ist Teil einer kleinen Unermeßlichkeit (keiner großen Unermeßlichkeit), die aber immer mehr auf eine progressive Verwirklichung zusteuert – innerhalb eines integralen Bewußtseins, das ganzheitlich (wie soll ich sagen?) enjoys (nicht im Sinne eines "Genießens"), man könnte sagen: das an der Fülle Seines Schaffens teilnimmt – an dem, was Er schafft, was Er ist usw. (das läuft alles auf dasselbe hinaus). Doch dieser arme Körper...
Wahrscheinlich... Sicherlich darf man nicht zu schnell vorangehen (hier gilt dasselbe wie bei der Frage der Entsagung): Wäre diese Freude, diese Ekstase, diese Verzückung ständig im Körper vorhanden, würde das gewiß zu einer allzu raschen Transformation führen – erst müssen noch sehr viele Dinge geändert werden, sehr viele.
Wenn man diesen Körper betrachtet, sieht man nur seine Erscheinung, sie ist aber der Ausdruck von etwas anderem... (Schweigen) Eine Art Wissen (ist es ein Wissen?) oder Vorahnung wurde ihm gegeben, wie sich diese Erscheinung verändern wird. Dies scheint sehr einfach und leicht zu sein, und es kann sehr rasch eintreten, weil es sich ÜBERHAUPT NICHT auf die Weise abspielen wird, wie die Leute glauben oder erwarten... Wahrscheinlich wird sich einfach die Schau der WAHREN inneren Bewegung DURCHSETZEN, so daß die falsche Schau verdrängt wird, die die Dinge so sieht (oberflächlich). Das ist sehr schwierig zu erklären, aber... Ich habe es schon mehrmals einige Sekunden lang gefühlt (eine dahingehende Empfindung besteht bereits): Es existiert etwas Wahres, das wahre Physische, aber unsere jetzigen Augen können es nicht erkennen, durch eine INTENSIVIERUNG könnte es jedoch sichtbar werden. Diese Intensivierung würde äußerlich die Transformation verwirklichen: sie würde die falsche Erscheinung durch die wahre Form ersetzen.
Ich habe aber keine Ahnung, ob die falsche Erscheinung nicht für diejenigen weiterbestehen würde, die für die Schau der wahren Sache nicht bereit sind... Jedenfalls wäre dies ein Zwischenstadium: jene mit offenen Augen könnten sehen (was die Schriften "offene Augen" nennen), sie könnten sehen – nicht durch eine Bemühung oder ein Suchen, sondern es würde sich ihnen aufzwingen –, während jene, die keine offenen Augen haben... für eine bestimmte Zeit würden sie jedenfalls nichts sehen – sie sähen noch die alte Erscheinung. Beide Zustände können gleichzeitig bestehen.
Ich SAH mich, wie ich wirklich bin, und ganz offensichtlich... (Mutter lacht) wurde mein Körper verkleinert, damit ich ihn mühelos beherrschen und auf allen Seiten über ihn hinausgehen kann. Er macht den Eindruck, er sei geschrumpft. Das englische Wort shrunk bringt das sehr gut zum Ausdruck (Mutter lacht).
Wenn man das jetzt so erzählt, stellen sich die Leute vor, es handle sich um eine psychische oder mentale Sichtweise – davon rede ich nicht! Ich rede von einer PHYSISCHEN Sicht mit diesen Augen (Mutter berührt ihre Augen). Allerdings eine WAHRE physische Sicht anstelle der jetzt bestehenden verfälschten Sicht.
Folglich ist die wahre Wirklichkeit viel wunderbarer, als wir sie uns je vorstellen können, weil wir uns immer nur eine Transformation oder Verherrlichung dessen vorstellen, was wir sehen – aber so geschieht es nicht. Darum geht es nicht!
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich nicht sogar physisch schon mit einem wahren Körper existiere 2 – ich sage, "ich bin mir nicht ganz sicher", weil die äußeren Sinne keinerlei Beweise dafür haben. Aber... Ich habe nie versucht, es zu sehen oder zu wissen, ich suche nicht danach, aber manchmal zwingt sich etwas auf: eine Minute lang sehe ich mich, fühle ich mich, objektiviere ich mich so, wie ich wirklich bin. Das hält einige Sekunden an, und dann, pfft, verschwunden – wieder durch die alte Gewohnheit überdeckt.
Wir können uns doch immer nur solche Dinge vorstellen, die sich von einer Form in eine andere verwandeln: man wird wieder jung, alle Zeichen des Alters verschwinden usw. – das sind die alten Geschichten, darum geht es nicht. Das ist es nicht!
Ich erinnere mich, wie mein Körper einmal von einem großen Kummer gleich dem eines Kindes erfaßt wurde, er beklagte seinen Zustand. Da hörte er eine Stimme – eine gewaltige Stimme –, die ihm sagte: "Warum fühlst du dich nicht so, WIE DU BIST?" Darauf folgte die Erfahrung – sie dauerte aber nur eine Sekunde lang. Eine Sekunde, ein Blitz.
Dann mischt sich dieser großartige Verstand ein, der uns korrumpiert (ich sage nicht einmal "durchsetzt" sondern "korrumpiert"), der sich fragt: "Wie kann das sein, wie kann man effizient und mit der übrigen Welt in Kontakt bleiben, wie kann man dies und wie jenes...?" Deshalb ließ ich ab, brachte alles zum Stillstand. "Was wird aus diesem Körper hier, wie wird seine Seinsweise sein?..."
Man könnte sich durchaus vorstellen, daß Wesen anders geboren werden und sich ohne all unsere Mängel materialisieren, zum Beispiel durch eine Macht der Konzentration – das ist schön und gut, aber es ist für später. In diesem Zwischenstadium liegt die ganze Schwierigkeit.
1 "... entsage lieber, um jenseits davon zur Freiheit und ungetrübten Verzückung zu gelangen."
2 Man denke an die Erfahrung vieler Schüler, die Mutter in ihren "Träumen" größer sahen, als sie äußerlich war.