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Mutters

Agenda

fünften Band

18. September 1964

Ich stehe an der Schwelle zu einer neuen Wahrnehmung des Lebens.

Die übliche Reaktion der Menschen gegenüber den Aktivitäten der andern, gegenüber allem, was sie umgibt, ihre allgemeinübliche Weise, die Dinge zu sehen, all dies kommt einer gewissen Haltung des Bewußtseins gleich: die Dinge werden von einer bestimmten Ebene aus betrachtet. Als ich neulich diese Aphorismen kommentierte, bemerkte ich auf einmal, daß das Niveau und der Blickwinkel sich verändert hatten, und zwar so sehr, daß die andere Haltung, die übliche Sichtweise, unverständlich erschien – man fragt sich, wie man sie einnehmen konnte, so sehr ist alles anders. Und während ich noch sprach, hatte ich eine Art Empfindung oder Wahrnehmung, daß diese neue "Haltung" sich als etwas Natürliches und Spontanes zu etablieren begann – es war nicht die Wirkung eines Bemühens um Transformation, nein, die Transformation war schon etabliert.

Es ist noch nicht abgeschlossen, weil die beiden Funktionsweisen immer noch wahrnehmbar sind, aber ich bin guter Hoffnung, daß die Sache im Gange ist. Dann wird es interessant sein.

Es ist so, als ob gewisse Teile des Bewußtseins vom Zustand der Raupe zu dem des Schmetterlings übergingen, ungefähr so.

Es ist im Gange und immerhin so weit fortgeschritten, daß der Unterschied sehr deutlich wahrnehmbar wird. Wenn es abgeschlossen ist, wird etwas fest begründet sein.

(Schweigen)

Durch die Umstände bedingt liest man mir zuweilen Dinge vor, die ich vor zehn Jahren sagte (Erklärungen und Bemerkungen, die ich machte): Ich habe tatsächlich den Eindruck, jemand anderer habe das gesagt! Es scheint mir so seltsam.

In jenem Moment aber war es der aufrichtigste Ausdruck des Bewußtseins... Das gibt mir das Gefühl: "Ah, damals stand ich noch da ..." Ein seltsames Gefühl!

Für die Schriften von Sri Aurobindo (nicht alle) gilt das gleiche; gewisse Sachen hatte ich wirklich verstanden, und zwar in einem tieferen und wahreren Sinn, als sie selbst von einer fortgeschrittenen Mentalität verstanden werden – es war schon etwas Gefühltes und Erlebtes –, und jetzt nimmt es einen ganz anderen Sinn an.

Ich las einige von diesen Sätzen und Ideen, die in einigen wenigen Worten ausgedrückt sind, wo er die Dinge nicht voll ausspricht: er scheint sie einfach fallenzulassen wie Wassertropfen. Als ich das damals las (unlängst, vielleicht vor zwei, drei Jahren), verfügte ich über eine Erfahrung der Sache, die schon viel tiefer und umfassender war als jene der Intelligenz, aber jetzt... scheint mir plötzlich ein funkelndes Licht darin enthalten zu sein, und ich sage mir: "Sieh an, das war mir aber bis jetzt entgangen!" Und es besteht ein Verständnis oder ein KONTAKT mit den Dingen, welche ich früher nie erfahren hatte.

Erst gestern abend ist mir das wieder passiert.

Und ich sagte mir: Aber dann... dann müssen Dinge darin enthalten sein... wir müssen noch einen langen, langen Weg zurücklegen, um das wirklich zu verstehen. Denn dieser Lichtfunke ist etwas sehr, sehr Reines – sehr intensiv und sehr rein –, mit etwas Absolutem darin. Und weil es das enthält (ich habe das nie so empfunden; ich habe etwas anderes gespürt, eine große Macht, etwas, das schon ein Licht auf alles warf, aber dies ist etwas anderes, etwas, das jenseits davon liegt), also schloß ich daraus (lachend): "Wir haben also noch ein weites Stück Wegs zu gehen, ehe wir Sri Aurobindo verstehen!"

Das war recht tröstlich.

Der Eindruck einer Gewißheit, daß er Wege eröffnet hat und wir durch diese Pforten schreiten werden, sobald wir dazu fähig sind.

Erst gestern. Das ist interessant.

Aber das verschlägt einem wirklich die Sprache.

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*   *

(Ein wenig später, den Kommentar zum letzten Aphorismus betreffend, wo Mutter von der Hetze spricht, in der die Menschen leben.)

Auch das habe ich bemerkt (ich weiß nicht, ob du es auch festgestellt hast): je ruhiger und unbewegter man in sich ist und je mehr man sich von dieser Hast, von der ich sprach, lösen kann, desto schneller vergeht die Zeit. Und je mehr man in dieser Hetze verfangen ist, desto langsamer verrinnt die Zeit, sie schleppt sich dahin... Das ist merkwürdig.

Die Jahre, die Monate vergehen jetzt mit schwindelerregender Geschwindigkeit – und ohne eine Spur zu hinterlassen (eben das ist interessant). Wenn man sich das anschaut, beginnt man zu verstehen, wie man fast unbegrenzt lange leben kann – denn diese Reibung der Zeit existiert nicht mehr. 1

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*   *

Am Schluß des Gesprächs, zu Satprems nächstem Roman, "Der Sannyasin":

Hast du etwas zu sagen?

Ich habe eine Frage, die ich mir schon seit geraumer Zeit stelle, und ich möchte, daß du mir eine Antwort darauf gibst... Man glaubt, daß ich eine Fortsetzung meines Romans Der Goldgräber schreibe – oder vielmehr, man erwartet es von mir, und ich gedenke es auch zu tun –, aber ich möchte mich wirklich nicht aufgrund einer willkürlichen Entscheidung darauf einlassen. Ich möchte... Verstehst du, ich möchte nicht, daß "ich" darüber entscheide.

Vor einiger Zeit sagtest du mir das (im "Traum").

(Neckisch) Ich schaute mir das an und sah, was du schreiben wolltest, aber ich werde es dir nicht sagen!

Ich sah zwei Dinge, die wie ineinandergingen oder einander überlagerten (sie nahmen denselben Raum ein); das eine schien mir das zu sein, was du schreiben wolltest, das andere schien das zu sein, was du tatsächlich schreiben wirst. Ich sah dasselbe Buch, aber sehr anders – völlig verschieden. Und trotzdem war es dasselbe Buch. Ich sah sogar Bilder und Szenen, ich sah Sätze und fast die ganze Geschichte (wenn man das eine Geschichte nennen kann). Es war sehr interessant, denn das eine erschien mir stumpf und konkret (es war wie eine Härte darin, so präzis), während das andere vibrierend und noch ungewiß erschien, mit Lichtfunken darin, die eine Sache riefen, die etwas "herabziehen" wollten. Und das eine war bestrebt, den Platz des anderen einzunehmen. 2

Ich folgte dem also sehr genau, und als die Arbeit abgeschlossen war (Geste, als ob ein Vorhang fällt) verschwand es wie immer.

Aber ich hatte dir das nicht erzählt, weil ich nichts sagen wollte; ich wollte zuerst sehen, was geschehen würde.

Ich habe das Gefühl, daß du erst schreiben wirst, wenn dieses... dieses alte Gewand abgelegt ist – wenn das andere seinen Platz eingenommen haben wird.

Vor einigen Tagen, es ist vielleicht eine oder zwei Wochen her, ich erinnere mich nicht mehr (ich habe keinen Bezug zur Zeit mehr), aber jedenfalls hatte ich das Gefühl, daß sich etwas in deiner feinstofflichen Atmosphäre vorbereitete und daß es zu gegebener Zeit einfach so kommen wird (Geste eines senkrechten Falls), es wird dir auf den Kopf fallen (!), und dann wirst du dich gedrängt fühlen zu schreiben.

Und ich wartete auf diesen Moment.

Ich habe nicht das Gefühl, daß es unmittelbar bevorsteht, aber es ist ganz klar auf dem Weg der Verwirklichung. Das ist alles, was ich zu diesem Thema sagen kann.

Ich sah sogar recht interessante Dinge, denn es waren Ereignisse darunter, die wie Reminiszenzen deiner früheren Leben erschienen, und dies fand seinen Platz in deinem Buch. Diese Dinge befinden sich immer noch gänzlich im Subliminalen (ich glaube, man nennt das "Subliminal", nicht wahr; es handelt sich um etwas, das weder zum Unterbewußtsein noch zum reinen Überbewußtsein gehört, es ist eine Art unterschwelliges Unterbewußtsein). Es ist da, es blieb wie eine Erinnerung und ist sehr klar. Und diese Reminiszenzen sind wie... Weißt du, was man in eine Lehmfigur einsetzt, um ihren Zusammenhalt zu verstärken?

Das Gerippe.

Es ist das Gerippe des Buchs.

Aber ein Gerippe, das sich wahrscheinlich nicht manifestieren wird; es handelt sich nur um etwas, das einen Zusammenhalt ergeben wird – allerdings keinen sichtbaren – ein nicht ausgedrückter Zusammenhalt.

Das ist alles, was ich sah.

Es ist allerdings interessant, denn nachdem ich all diese Dinge gesehen hatte, sagte ich mir: "Sieh an, denkt er etwa gerade an das Buch, das er schreiben will?"

Ich befaßte mich damit, aber ich wollte eine willkürliche Entscheidung vermeiden.

Ja, es ist noch nicht bereit; wenn es bereit ist, wird es dir auf den Kopf fallen.

(Mutter schaut auf den Bereich
oberhalb von Satprems Kopf)

Dort oben ist es gut etabliert – es ist sehr, sehr... es wird immer klarer und präziser. Es ist gut begründet, oberhalb deines Kopfes, sehr gut begründet.

 

1 Unglücklicherweise nahm Satprem den Rest des Gesprächs nicht auf Tonband auf, da er dachte, es sei von rein persönlichem Interesse. Er hatte damals noch nicht verstanden, daß es in dieser Agenda nicht um eine bestimmte "Person" ging, sondern lediglich um eines der menschlichen Symbole.

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2 Tatsächlich schrieb Satprem den Roman Der Sannyasin zwei Jahre später, im Jahre 1966. Die erste Fassung des Buchs war wie eine griechische Tragödie konzipiert – natürlich sehr unerbittlich und sehr tragisch.

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