Mutters
Agenda
sechsten Band
(Bei jedem Treffen mit Satprem übersetzt Mutter einen Vers aus Savitri, den man in großer Schrift für sie abschreibt. Dieses Mal handelt es sich um den Dialog zwischen dem Tod und Savitris Herz:)
And never lose the white spiritual touch
(Mutter wiederholt)
And never lose the white spiritual touch
Sans jamais perdre le blanc contact de l'Esprit 1
(Schweigen)
Gestern las ich mit H die Reihe von Savitris Erfahrungen, die mit der Auslöschung beginnt: Annul thyself so that God alone exists (ich erinnere mich nicht mehr, aber das ist die Idee). "Annule toi pour que Dieu seul existe" 2 . Es beginnt mit ihrer Auslöschung, dann hat sie die Erfahrung, das Ganze zu SEIN, das heißt der Höchste (der Höchste in ihr) und die ganze Manifestation, alle Dinge zu sein. Es geht über drei Absätze. Das ist eine absolut... eine wirklich wunderbare Beschreibung von außerordentlicher Schönheit. 3
Es ist ein Kapitel ohne Titel.
(Mutter sucht den Abschnitt vergeblich in Savitri)
Zunächst begegnet sie ihrer Seele, in einem Haus aus Flammen. Sie betritt dieses und vereint sich mit ihrer Seele (Das Finden der Seele, VII.V). Das ist der Anfang. Dann kommt das Nirvana (Nirvana und die Entdekkung des alles verneinenden Absoluten, VII.VI). Sie geht in das Nirvana ein und ist nur noch eine violette Spur im Nichts. 4 Danach gelangt sie wieder in ihren Körper, dort beginnt es wirklich. Ein Kapitel ohne Titel (VII.VII).
Ich werde es ein andermal finden.
(Mutter legt das Buch weg)
Ich erwähne das, weil es eine Revolution in der Atmosphäre bewirkte. Alle die dort beschriebenen Erfahrungen entsprechen nämlich genau den meinen. Im Körper entstand plötzlich... Ich war unten im Musikzimmer, H las mir das vor, und als sie fertig gelesen hatte, richtete sich der Körper plötzlich in einer ungeheuren Aspiration und mit einem so intensiven Gebet auf! Es war eine schreckliche Bedrängnis: "Die ganze Erfahrung ist da [in Mutter], vollständig, total, vollkommen, und nur weil das [der Körper] zu lange gelebt hat, kann er sie nicht mehr ausdrücken." Er sagte: "Aber Herr, warum denn? Warum, warum nur nimmst du mir das Ausdrucksvermögen, weil er schon zu lange gelebt hat?" Es war eine Art Revolution im Bewußtsein des Körpers.
Seitdem geht es sehr viel besser. Eine entscheidende Wende ist eingetreten.
Es war die genaue Beschreibung des Zustands, in dem sich der Körper befindet, und dennoch hat er stets das Gefühl, gebrechlich und in einem bedrohten Gleichgewicht zu sein. Er sagte mit seiner ganzen Aspiration: "Aber WARUM? Warum nur?... Die Erfahrung ist doch da – warum kommt sie nicht zum Ausdruck?"
Wie immer (lachend) hatte ich den Eindruck, daß der Herr lachte und mir sagte: "Weil du es so willst, wird es auch so sein!" Was einfach bedeutet: es war DEINE EIGENE Entscheidung, so zu sein.
Das stimmt absolut. Nur diese törichte Materie wählt all unsere Unfähigkeiten, all unsere Begrenzungen, all unsere Unmöglichkeiten – nicht mit dem Licht der Intelligenz, sondern mit einer Art Gefühl, daß es "so sein müsse", daß dies "natürlich" sei. Ein idiotisches Festhalten an der Seinsart der niederen Natur.
Ich brach in Lachen und Tränen aus, eine ganze Revolution, und danach ging alles gut.
Aber niemand in der Welt wird mich davon abbringen können, daß diese materielle Natur eben nur deswegen so ist, weil sie so sein will.
Und der Herr schaut, lächelt und wartet... (lachend), auf daß sie ihre Torheit überwinde.
Er tut alles Nötige, aber... wir nehmen es nicht zur Kenntnis.
Die Antriebskraft des GLAUBENS fehlt, dieser berühmte Glaube, von dem Sri Aurobindo immer spricht.
Wenn die Leute mir lange Briefe schreiben (was für Briefe ich erhalte! Endloses Gejammer: Probleme mit der Gesundheit, mit der Arbeit, mit den Beziehungen – nichts als Gejammer), sehe ich stets dieses Bewußtsein dahinter – leuchtend, voller Glanz und wunderbar, wie die Sonne selbst –, so, als wollte es sagen: "Wann wirst du diesen Wahnsinn endlich leid sein!" Den Hang zum Tragischen und Minderwertigen.
Mit der Vernunft versteht man das irgendwo – die Vernunft begreift das Problem schon, aber ihr geht jegliche Kraft ab, um diese Materie zum Gehorsam zu zwingen.
Jetzt empfinde ich jeden Augenblick als eine Wahl zwischen Sieg und Niederlage, Sonne und Schatten, Harmonie und Unordnung, der leichten Lösung und... ja, zwischen dem Bequemen oder Angenehmen und dem Unangenehmen. Wenn man nicht mit Autorität eingreift, herrscht... oh, eine Art Feigheit und Schlaffheit, etwas Schlappes, weißt du, schlapp und kraftlos.
Wenn man so redet, wirkt es sehr einfach, es klingt sehr leicht, aber in JEDER MINUTE ist man mit drei Möglichkeiten für den Körper konfrontiert (gewöhnlich sind es drei): Ohnmacht (wenn nicht akutes Leiden), eine indifferente mechanische Bewegung oder aber glorreiche Meisterschaft. Dabei kann es um Dinge wie Augenwaschen, Mundspülen, um all die kleinen, absolut bedeutungslosen Dinge gehen. Bei den großen Dingen geht es meistens gut, weil die Natur gewohnheitsmäßig denkt, angesichts besonderer Umstände gelte es, sich "schicklich" aufzuführen. Das ist alles völlig lächerlich, aber bei den kleinen Dingen ist es so: Kaum wendet man sich ab, und hopp...! Man sieht – und zwar mit extremer Genauigkeit – die drei Möglichkeiten, und wenn man nicht die ganze Zeit aufpaßt (Geste der Autorität und Kontrolle mit geballter Faust), läßt sich die physische Natur mit einer widerwärtigen, ja geradezu abstoßenden Schlaffheit gehen.
Das wiederholt sich hundert und aberhundertmal am Tag... Wenn man das nicht "Sadhana" nennen kann, dann weiß ich nicht, was eine Sadhana ist! Essen ist Sadhana, Schlafen ist Sadhana, Waschen ist Sadhana, alles ist Sadhana. Am wenigsten Sadhana ist es noch, jemanden zu empfangen, weil der Körper sofort ganz ruhig wird – er ruft den Herrn und sagt: "Sei jetzt hier!", und alles geht gut (weil er sich ruhig verhält). Der Besucher kommt, der Körper lächelt, und dann geht alles gut – der Herr ist da, also verläuft alles sehr gut. Aber wenn es um sogenannte "materielle" Dinge geht, die Dinge des Alltags, ist es die Hölle – eben wegen dieses Dummkopfs.
Nachdem du letztes Mal gegangen warst, konnte ich nichts zu mir nehmen. Ich konnte nicht essen, weil der Körper das Gefühl hatte, er löse sich in der Welt auf (Geste der Ausbreitung). Er löste sich also auf (das ist sehr gut, die Erfahrung ist in Ordnung), aber er hatte den Eindruck, nicht essen zu können – warum? Ich weiß es nicht. Es war einfach unmöglich. Der Arzt, der wie immer bei meinen Mahlzeiten zugegen war, sagte: "Was ist los?..." Voriges Mal war es nämlich zu einem tückischen Anfall gekommen, ich mußte mich erbrechen. Es kommt alle sechs oder sieben Jahre vor, eine lange Geschichte. Es war ernsthaft, dauerte aber nicht lange an. Doch letztes Mal war es anders: Ich hatte den Eindruck, daß sich der Körper auflöste (du erinnerst dich, du sagtest, ich sei blaß), und als ich essen sollte, sagte der Körper (in klagendem Tonfall): "Schau mal, ich kann nicht essen." Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, (lachend) hätte ich ihm einen kräftigen Klaps gegeben und ihm gesagt, er solle sich zusammenreißen! Aber ich hatte keine Zeit, es war Mittag, ich mußte mich setzen und essen – ich konnte nicht. Ich hatte dann den ganzen Tag Schwierigkeiten, denn solche Possen erschweren das Leben natürlich.
All die Dinge, die den Leuten nicht bewußt sind, die sie nicht verstehen oder die sie "Krankheiten" nennen, sind für mich sonnenklar. Sie sind immer das Resultat einer ENTSCHEIDUNG, in jedem Augenblick steht die materielle Natur vor einer Entscheidung, und wenn der Wille nicht unerschütterlich ist, wenn man sich nicht mit einer jeder Prüfung trotzenden Verbissenheit auf den höheren Willen abstützt, läßt man sich gehen. Dann wird der Körper töricht: er wird ohnmächtig, er hat Schmerzen... Nach der Mahlzeit lege ich mich immer ein Weilchen hin, damit... das sind die Stunden, wo ich den Körper die Kraft direkt empfangen lasse (nicht lange, ich habe nicht viel Zeit). Aber an jenem Tag hatte ich solche Schmerzen, kaum hatte ich mich auf dem Sofa ausgestreckt! Schmerzen zum Schreien, die einen an Stellen packen (Geste zur Taille), die für feindliche Angriffe offen sind. Ich hatte mich hingelegt, war aber vollkommen bewußt und sagte mir: "Ach ja! Du möchtest, daß ich jetzt ein Riesenaufhebens mache... Nun, ich werde alles ertragen und nichts sagen – ich rühre mich nicht, und du wirst ganz ruhig bleiben." Dann begann ich, ruhig mein Mantra zu wiederholen, als ob die Schmerzen nicht existierten. Und nach einem Augenblick verschwanden sie tatsächlich. Der Körper sah ein, daß es nichts brachte, und so hörte es auf!
Ich WEISS, daß dies für alles gilt, für alle "Krankheiten", ohne Ausnahme. Ich sehe, ich erkenne die "Ursprünge" der Krankheiten, der verschiedenen Störungen, all dies ist jetzt kristallklar (darüber könnte man für Stunden und Tage sprechen), und es ist, wie ich sagte. Wenn also die Weisen mehr oder weniger dogmatisch oder hochtönend sagen: "Die Unordnung existiert, weil die Natur beschlossen hat, in Unordnung zu sein", ist das gar nicht so dumm.
Es ist... oh! Diese Schlaffheit ist eines jener Dinge, die der göttlichen Herrlichkeit am stärksten widersprechen. Eine Schlappheit, die akzeptiert, krank zu sein. Ich sage dies meinem eigenen Körper, keinem anderen – die anderen gehen mich nichts an, das ist ihre Arbeit, nicht die meine. Für die anderen bin ich lediglich als göttliches Bewußtsein anwesend, und das ist dann sehr leicht, das ist eine sehr leichte Arbeit. Aber die Arbeit hier, die Sadhana im Körper...
Doch die Kranken... wenn ich ihnen sage: "Seid aufrichtig!", weiß ich genau, was ich damit ausdrücken möchte: Wenn sie das Göttliche WIRKLICH wollen, muß all dies aufhören.
Ich habe mich schon wieder verspätet.
Weißt du, was man self-pity nennt? (Mutter streichelt ihre Wange): "Armes Kind, wie du leidest, wie arm du dran bist!" Die materielle Natur ist so, sie sagt: "Ich möchte sein wie Du, Herr. Warum läßt Du mich dann in diesem Zustand!" – Ein kräftiger Klaps und marsch!
1 It can drink up the sea of All-Delight
And never lose the white spiritual touch
(X.III.635)
Es kann das Meer des Allentzückens austrinken,
Ohne je die weiße spirituelle Verbindung zu verlieren.
2 Annul thyself that only God may be.
(VII.VI.538)
Lös auf dich selbst, damit allein Gott sei.
3 The world of unreality ceased to be...
She was a single being, yet all things
The world was her spirit's wide circumference
(VII.VII.554, 556)
Die Welt der Irrealität war nun zu Ende...
Sie war ein Einzelwesen, doch sie war auch alle Dinge.
Die Welt war ihres Geistes weiter Umfang...
(Savitri, dt. Ausgabe, Verlag Hinder + Deelmann, 1985, S. 568, 570)
4 Unutterably effaced, no one and null,
A vanishing vestige like a violet trace,
A faint record merely of a self now past,
She was a point in the unknowable.
(VII.VI.549)
Unaussprechlich ausgelöscht, niemand und nichts,
Violetter Fährte gleich verschwindende Spur,
Schwache Erinnerung nur nun vergangenen Selbsts,
Ein Punkt war sie im Unerkennbaren.