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Mutters

Agenda

sechsten Band

19. Mai 1965

In bezug auf ein altes Entretien vom 14. März 1951

Ich möchte dir eine sehr einfache Frage stellen. Du sagst: "Wenn man dauernd das Gefühl hätte, daß unter allen Umständen stets das Beste geschieht, würde man keine Angst haben ..." Geschieht denn wirklich unter allen Umständen immer das Beste?

Es ist das Beste in Anbetracht des Zustands der Welt – kein absolut Bestes.

Man muß zwei Dinge beachten: auf totale und absolute Weise geschieht in jedem Augenblick das Bestmögliche für das göttliche Ziel des Ganzen; und für den, der sich bewußt auf den göttlichen Willen ausrichtet, ist es das Hilfreichste für seine eigene göttliche Verwirklichung.

Ich glaube, das ist die korrekte Erklärung.

Für das Ganze geschieht immer und in jedem Augenblick das Hilfreichste für die göttliche Evolution. Und für den einzelnen, der sich bewußt auf das Göttliche ausrichtet, ist es das Beste für die Vervollkommnung der Vereinigung.

Dabei darf man allerdings nicht vergessen, daß sich alles dauernd ändert, daß es kein statisches Bestes ist. Es ist ein Bestes, das, wenn man es bewahren wollte, einen Augenblick später nicht mehr das Beste wäre. Und weil das menschliche Bewußtsein immer die Tendenz hat, was es gut findet oder für gut erachtet, statisch halten zu wollen, kommt es zum Schluß, daß dieses "Beste" nicht faßbar ist. Dieser Versuch, es festhalten zu wollen, verfälscht die Dinge.

(Schweigen)

Ich vertiefte mich in dieses Problem, als ich die Haltung Buddhas verstehen wollte, der der Manifestation ihre Unbeständigkeit vorwarf. Für ihn bedeutete Vollkommenheit Beständigkeit. In seinem Kontakt mit dem manifestierten Universum hatte er einen ständigen Wandel beobachtet. Er schloß daraus, daß die manifestierte Welt unvollkommen sei und verschwinden müsse. Da es diesen Wandel (die Unbeständigkeit) im Nichtmanifestierten nicht gibt, hielt er das Nichtmanifestierte für das wahre Göttliche. Als ich mich auf diesen Punkt konzentrierte, sah ich auch, daß seine Feststellung korrekt war: Die Manifestation ist absolut unbeständig, sie befindet sich in ständiger Wandlung.

Aber in der Manifestation besteht die Vollkommenheit darin, der essentiellen göttlichen Bewegung durch eine Bewegung der Transformation oder der Entfaltung zu folgen, während alles, was zur unbewußten oder tamasischen 1 Schöpfung gehört, sein Dasein unverändert erhalten will, anstatt im stetigen Wandel fortzudauern.

Deshalb vertraten gewisse Denker die Ansicht, daß die Schöpfung das Ergebnis eines Irrtums sein müsse. Allerdings findet man alle möglichen Vorstellungen: die vollkommene Schöpfung, dann ein "Fehler", der den Irrtum säte; die Schöpfung selbst als eine niedere Bewegung, die enden muß, da sie begonnen hat; und schließlich die Konzeption der Veden, wie sie uns Sri Aurobindo dargestellt hat, als eine fortschreitende und unendliche – unbegrenzte und unendliche – Entfaltung oder Entdeckung des Ganzen durch Ihn selbst... Natürlich sind all dies menschliche Umschreibungen. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge, solange man sich menschlich ausdrückt, bleibt es bei einer menschlichen Umschreibung. Aber je nach dem Ausgangspunkt des menschlichen Interpreten (je nachdem, ob man davon ausgeht, daß es sich um einen anfänglichen "Irrtum" oder einen "Unfall" in der Schöpfung oder seit Anbeginn um den bewußten höchsten Willen in fortschreitender Entfaltung handelt) sind die Schlußfolgerungen, oder was sich in der yogischen Haltung niederschlägt, verschieden... Es gibt Nihilisten, "Nirvanisten" und Illusionisten, es gibt all die Religionen, die wie die christliche eine teuflische Intervention in der einen oder anderen Form voraussetzen, und es gibt den reinen Vedismus der ewigen Entfaltung des Höchsten in einer fortschreitenden Objektivierung. Und je nach Neigung vertritt man dies oder das oder jenes oder Nuancen davon. Aber wenn man Sri Aurobindos Auffassung eines fortschreitenden Universums folgt, die er als die umfassendste Wahrheit empfunden hat, muß man sagen, daß sich in jedem Augenblick das für die Entfaltung des Ganzen Bestmögliche ereignet. Das ist absolut logisch. Ich glaube, daß alle Widersprüche lediglich von einer mehr oder weniger ausgeprägten Neigung zu der einen oder anderen dieser verschiedenen Haltungen herrühren. Natürlich können all die Denker, die die Intervention einer "Ursünde" oder eines "Fehlers" und den daraus resultierenden Konflikt zwischen rückwärts und nach vorn gerichteten Kräften voraussetzen, diese Möglichkeit bestreiten. Dazu kann man nur sagen, daß sich für den, der sich spirituell auf den höchsten Willen oder die höchste Wahrheit ausrichtet, in jedem Augenblick notwendigerweise das für seine persönliche Verwirklichung Beste ereignet – das gilt in jedem Fall. Ein unbedingtes Bestes kann nur jener akzeptieren, der das Universum als eine Entfaltung, als ein Bewußtwerden des Höchsten durch Ihn selbst betrachtet.

(Schweigen)

In Wirklichkeit sind all diese Dinge völlig unwichtig, denn das, was IST, übersteigt in jeder Hinsicht gänzlich und absolut alles, was sich das menschliche Bewußtsein darüber vorstellen kann. Man kann erst wissen, wenn man aufhört, menschlich zu sein. Aber sobald man sich ausdrückt, wird man wieder menschlich, und man hört auf zu wissen.

Das ist unbestreitbar.

Wegen dieser Unfähigkeit ist es eigentlich zwecklos, das Problem um jeden Preis auf etwas reduzieren zu wollen, was dem menschlichen Verständnis zugänglich ist. Es ist daher sehr weise, mit Théon zu sagen: "Wir sind hier; wir haben eine Arbeit zu verrichten; und es kommt einzig darauf an, sie so gut wie möglich zu tun, ohne uns um das Warum oder das Wie zu kümmern." Warum ist die Welt so, wie sie ist?... Wenn wir fähig geworden sind zu verstehen, werden wir verstehen.

In praktischer Hinsicht ist das offensichtlich.

Jeder nimmt eben eine Position ein... Ich habe hier alle möglichen Beispiele, eine kleine Mustersammlung aller Haltungen, und ich sehe die Reaktionen sehr deutlich. Ich sehe eine einzige gleichbleibende Kraft in dieser Mustersammlung handeln und natürlich verschiedene Wirkungen hervorrufen; aber diese "verschiedenen" Wirkungen sind für eine tiefe Schau sehr oberflächlich. Es ist nur: "Sie denken gern so, also denken sie so." Aber in Wirklichkeit berührt das den inneren Weg, die innere Entwicklung, die essentielle Schwingung überhaupt nicht. Der eine strebt aus vollem Herzen zum Nirvana, der andere mit ganzer Zielstrebigkeit zur supramentalen Manifestation, und für beide ist das Ergebnis auf der Schwingungsebene fast dasselbe. Es ist eine ganze Masse von Schwingungen, die sich mehr und mehr darauf vorbereitet ..., das zu empfangen, was sein muß.

Es gibt einen Zustand, einen im wesentlichen pragmatischen, spirituell pragmatischen Zustand, in dem die Metaphysik von allen menschlichen Nichtigkeiten die nichtigste ist.

*
*   *

Wenig später bittet Sujata um Mutters Erlaubnis, einen Augenarzt aufsuchen zu dürfen:

Geht es nur darum, um die Gläser anzupassen?

Auch untersuchen.

Untersuchen? Mein Kind, wenn du zehn Personen fragst, wirst du zehn verschiedene Antworten kriegen! Die Ungewißheit der Diagnose steht für mich fest. Es gibt nämlich keine zwei gleichen Fälle – es gibt Analogien, es kann sogar Fallgruppen geben, aber es gibt keine zwei identischen Fälle. Folglich ist es bei jedem anders, und wenn der Herr nicht sehr intuitiv ist, fängt er an, Schlußfolgerungen zu ziehen. Er täuscht sich dann bestimmt oder wird Vages sagen wie: "Sie sind kurzsichtig" oder "Sie sind weitsichtig"! Es gibt nicht einmal zwei genau gleiche Fälle von Grauem Star – die Symptome wiederholen sich zwar, Symptome von großer Ähnlichkeit, aber es gibt keine zwei genau gleichen Fälle. Die wirklich Aufrichtigen sagen einem das, aber unter Tausend gibt es nicht einen solchen. Sie halten hochtrabende Reden und verkünden großspurig, was sie nicht wissen.

(Zu Satprem:) Wenn dein Bruder mich hörte, würde er sich nicht freuen!

Oh, doch!

Er wäre einverstanden, dein Bruder ist ein aufrichtiger Mensch. Ich habe einen oder zwei aufrichtige Ärzte gekannt, und diese gaben mir gegenüber offen zu, daß es so ist. Ich sagte ihnen: "In spiritueller Hinsicht kann es keine zwei gleichen Fälle geben. Die Natur wiederholt sich nie. Es gibt Gruppen, es gibt Ähnlichkeiten, es gibt Analogien, aber es gibt keine zwei gleichen Fälle. Folglich wissen Sie sehr wohl, daß Sie nichts wissen. Wenn Sie die physische Wirklichkeit auf ihrer eigenen Ebene studieren wollen, ergibt sich eine so ungeheure Komplexität von Möglichkeiten, daß Sie nur dann wissen können, was geschehen wird, wenn Sie eine direkte innere Wahrnehmung haben."

Der Körper weiß jetzt ein wenig davon. Wenn etwas nicht funktioniert, wenn etwas aus dem einen oder anderen Grunde gestört ist (das kann wegen der Transformation oder wegen eines Angriffs sein – es gibt unzählige mögliche Gründe), sagen meine Zellen: "Nein! Keinen Arzt, nur keinen Arzt!..." Sie fühlen, daß dies die Störung kristallisieren, verhärten würde und ihnen die Plastizität raubt, die sie brauchen, um auf die Kräfte aus der Tiefe zu reagieren. Die Störung würde sonst einem äußeren, materiellen Verlauf folgen, der kein Ende nimmt. Ich habe keine Zeit zu warten.

Den Leuten, die mich fragen, sage ich das allerdings nie; ich sage ihnen immer: "Gehen Sie zum Arzt und tun Sie, was er sagt", denn der Körper ist nur bereit, wenn er sich selbst sagt: "Nein-nein-nein! Ich will nicht." Manche Leute haben das, aber es sind nicht viele – sehr wenige. Wenn einem der Körper sagt: "Vielleicht zieht mich der Arzt aus dem Schlamassel, vielleicht wird er fündig ..." – Dann gehen Sie, gehen Sie zu ihm! Tun Sie, was er Ihnen sagt.

Die Zellen müssen zu fühlen beginnen, daß der Fortschritt dadurch bedroht ist, ein Rückgriff auf die nicht endenwollende Geschichte: "Wenn dich diese Geschichte amüsiert, können wir sie von vorne beginnen lassen." Nein, das amüsiert sie nicht mehr, sie haben keine Lust, sich wieder darauf einzulassen.

(Zu Sujata:) Wenn du aber einen netten Arzt hast, der guten Willens ist, große Geduld und Erfahrung bei der Auswahl der Gläser hat und eine prächtige Sammlung davon besitzt, dann ist es etwas anderes. Wenn du zu ihm gehst und er sich Mühe gibt, wird er dir helfen können. Aber ein Herr, der dir vom hohen Roß seiner angeblichen Wissenschaft herab sagt: "Du hast diese und jene Verzerrung ..."

(Sujata:) Ich glaube, es ist keine Verzerrung, es ist eher im Innern, so als ob die Kanäle nicht sauber wären, so daß die Sicht nicht durchkommen kann.

(Mutter lacht) Was du da sagst, klingt nicht sehr wissenschaftlich!

(Satprem:) Ihre Stirnhöhlen sind schlecht dran.

Dann wird der Herr Chirurg sagen: "Wir müssen operieren", (lachend) und der Nichtchirurg wird Spritzen geben wollen... Nein, um besser lesen oder arbeiten zu können, kannst du geeignete Gläser auswählen. Mein eigenes Heilmittel lautet: Setz dich sehr ruhig hin, mit den Ellbogen auf dem Tisch und den Handflächen über den Augen. Wenn du dann in deinem Herzen eine Aspiration spüren und zum Herrn sagen kannst: "Herr, ergreif Besitz von deinem Reich, betritt dein Königreich hier und reinige es ein wenig", so... Selbst wenn du das ganz kindlich formulierst (der Herr ist kein Oberpriester, er wünscht sich keine Zeremonien sondern Aufrichtigkeit), du brauchst da (Geste zum Herzen) etwas, das sagt: "Oh, oh!...", etwas, das wirklich will – das ist alles. Sag ihm: "Komm hierher, komm, komm in meine Augen, komm-komm-komm, sieh mit diesen Augen!" Das ist viel stärker als alles andere.

Inzwischen kannst du für deine Arbeit durchaus eine Brille benützen. Aber dafür brauchst du keinen Oberpriester; du brauchst einen Menschen guten Willens, der Brillen auszuwählen versteht.

 

1 Tamas: Trägheit oder Dunkelheit

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